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- 18.12.2001
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Der innere Panzer
Die Hölle, das sind die Anderen.
Jean-Paul Sartre
Der innere Panzer
Alexandra, eine junge, attraktive Frau mit blondem, kurzem Haarschopf und stets adrett gekleidetem Äußeren, konnte dank ihrer für jeden sichtbar nach außen gekehrten Selbstsicherheit niemand etwas anhaben. Selbst, wenn das jemand mit allerlei Boshaftigkeit zu beabsichtigen suchte. Egal, ob es sich dabei nur um kleinere Sticheleien oder aber schon eher um mehr oder weniger mutwillige Anfeindungen aller Art handelte: Sie wusste diese stets souverän zu kontern. Das Repertoire ihrer verbalen Entgegnungen reichte dabei vom schlagfertigen wie harmlosen, aber nichtsdestoweniger doch meist entwaffnenden Witz bis hin zu mehr oder weniger wüsten, gekonnt platzierten Beschimpfungen. Sie war es längst gewohnt, gar nicht erst die Gefahr einzugehen, durch böse Worte oder Blicke - ob nur aus Unachtsamkeit entstanden oder aber vorsätzlich sei hier einmal dahingestellt - verletzt zu werden. Es schien für alle so, dass sie im Laufe der Jahre etwas gar Unantastbares erworben hatte. Und diese Unantastbarkeit, die sie in dieser langen Zeit so sorgsam erzog wie ein Kind, wuchs prächtig heran und wurde zu ihrem unsichtbaren, inneren Panzer, der sie überallhin begleitete und geschickt und unnachgiebig gegen die Welt zu schützen verstand.
Mit diesem unsichtbaren, inneren Panzer also, der ihr in der Tat vorzüglich zu passen schien und sie wohl behütete, ging sie nun schon seit langer Zeit durch ihr Leben. Schon seit Jahren. Seit damals.
Sie war nun durchaus aufrichtig und uneingeschränkt stolz auf ihren, für ihr Dafürhalten, undurchdringbaren Panzer, den sie da in mühevoller, aber geliebter Fürsorge damals erschuf und seitdem pflegte und behütete. Mit steigender, unbezähmbarer Selbstsicherheit konnte sie jetzt zwischen den Menschen wandeln. Sie lernte zu prahlen, zu provozieren, zu verletzen.
Doch nach und nach begann sich alles um sie herum zu verändern. Ohne aber, dass ihr das wirklich bewusst zu werden schien. Menschen, die ihr näher kommen wollten, wies sie jetzt ab. Freunde, die ihr Vertrauen gewinnen wollten, ernteten jetzt nur ihr neu erworbenes, bisher von allen ungekanntes Misstrauen.
Sie ahnte nicht, wie unachtsam sie dabei immer weiter ihre verletzte Seele verleugnete, je mehr sie auf ihren eigenen Schutz bedacht war. Alexandra wusste es nicht anders und schloss sie damals, in ihren dunkelsten Stunden, voller Bitterkeit in einen finsteren Kerker in ihrem tiefstem Inneren und sprach in ungebändigtem Zorn zu ihr: "Du! Du wirst mich nie wieder soweit bringen, verletzbar zu sein! Ich kenne dich nicht mehr! Ich brauche dich nicht mehr! Ich komme fortan ohne dich zurecht. Scher' dich fort!"
Und von diesem Tag an erschuf sie ihren geliebten, inneren Panzer. Und er strahlte mit jedem neuen Tag, der anbrach, in immer größerer Pracht.
Nur manchmal, Nachts, wenn sie gerade einschlafen wollte (und der Glanz ihres strahlenden, neuen Panzers etwas nachließ), kamen ihr eigenartige Zweifel in den Sinn. Sie wusste nicht, ob sie das Richtige tat. Irgendetwas schien sich an ihrem Leben verändert zu haben. Ihre Freunde, ihre Bekannten, ja selbst der nette Herr aus dem Zeitschriftenladen um die Ecke, bei dem sie hin und wieder eine Zeitung besorgte, benahmen sich ihr gegenüber jetzt seltsam reservierter als in früheren Tagen.
"Wie kann ich dir näher kommen, wenn du nur immer so abweisend bist?", kam es ihr wieder in Erinnerung. Es war noch nicht so lange her.
Sie verstand diese Worte schon gar nicht mehr. Was meinte er damit? Weshalb abweisend? Was erwartete er denn?
Ihre Selbstliebe, ihre zunehmende Blindheit allen Menschen gegenüber nahm dann Tag für Tag zu. Ihr großartig strahlender Panzer breitete nun langsam sein Gift über sie aus.
Er machte sich bereit, ihre Augen zu verkleben. Ihr Herz zu verschließen. Und ihre Welt in ein Meer von tiefem Schwarz zu tauchen.
Es kam schließlich der Tag, an dem sie in ihrem einst so liebevoll gepflegten inneren Panzer einen wahren Dämon erkannte. Die Menschen mieden sie immer mehr, pflegten nur noch einen unverfänglichen Umgang mit ihr. Blickkontakte mit ihr wurden nun immer beiläufiger, flüchtiger. Niemand vermochte es mehr, die Seele in ihren Augen zu erblicken, denn diese verschwand eines Tages einfach - ohne Spuren zu hinterlassen. Und ihr Blick wurde nun leer und schwarz.
"Was ist mit mir?" rief sie verzweifelt. Doch nur zu sich selbst. Zu niemand anderem.
"Wie geschieht mir?" rief sie erneut. Doch ihre einst von ihr verstoßene Seele, tief in ihrem inneren Kerker, konnte sie nicht mehr hören. Ihr prachtvoller Panzer, dieser Dämon, ließ keinen Ruf mehr durch seine Wache nach seiner geknechteten und von ihr vergessenen Gefangenen. Und sie wurde schließlich immer einsamer.
So lebte Alexandra auch die weiteren Tage, Wochen und Monate dahin, wusste schon bald nicht mehr ein noch aus. Niemand konnte sie zwar mehr beleidigen. Sie verletzen. Sie demütigen. Ihr unermüdlich wachender Panzer umhegte sie tagaus, tagein ohne Fehl und Tadel. Jedoch zugleich schien auch jedes Leben aus ihr gewichen zu sein. Sie vergaß, welche Farben das Vertrauen, die Sehnsucht und die Liebe besaßen. Alles erschien ihr jäh in unendlich weites, tiefes Schwarz gehüllt. Und selbst der Himmel schien nun mit ihr zu weinen, wenn es regnete.
Einmal dachte sie daran, ihren Panzer wieder los zu werden. Ihn einfach abzulegen und zu vergessen. Zu sagen: "Ich will dich nicht mehr! Lass ab von mir!" Aber ohne ihre Seele verlernte sie zu leben. Und ohne ihren prachtvollen Panzer würde auch ihre Angst wiederkehren. Angst vor den Anderen. Angst vor der Hölle.
An einem dieser schweren Tage, es war gerade Winter und es schneite vor ihrem Haus ein wenig, ging Alexandra bereits früh zu Bett. Früher als sie es sonst gewohnt war. Sie wusste keine Erklärung dafür, weshalb sie an diesem Tag so eigenartig müde war, gab sich jedoch mit diesem Umstand ab und legte sich schlafen. Und sie träumte in dieser Nacht...
Ein prachtvolles, riesiges Schloss tat sich vor ihr auf. Es ragte hoch in den Himmel hinein. Jedoch: Der Himmel war schwarz. Aber die Sonne schien. Sie hörte Heuschrecken zirpen. Aber es lag keine Wiese vor ihr. Ihr war schrecklich kalt. Aber sie trug zu ihrer Verwunderung einen dicken, eigentlich wärmenden und wertvollen Hermelinmantel auf ihrer Haut. Sie hatte Angst. Sie überkam das Gefühl, dass etwas hinter ihr stehen könnte. Etwas, das genauso schwarz wie der Boden unter ihren Füßen und überhaupt alles jenseits des Schlosses und der Sonne war. Doch sobald sie sich umdrehte, konnte sie dort nichts erblicken. Aber wie hätte sie auch schwarze Gestalten auf schwarzem Grund erkennen sollen?
Plötzlich rannte Alexandra zum Schlosstor um Zuflucht zu finden. Sie fand keine andere Lösung. Doch sobald sie ansetzte, um loszurennen, wurde plötzlich das Zirpen der sie umgebenden Heuschrecken mit einem Male immer aufdringlicher, lauter. Alexandra lief und lief, aber es war noch weit bis zum Schloss. Doch während sie so lief formierten sich die Heuschrecken hinter ihrem Rücken zu einem immer größer werdenden, bizarr sich auftürmenden Gebilde aus Abertausenden ihrer Art. Es bildete sich mit rasender Eile ein eigenständiger Organismus, der sie nun in seiner Riesenhaftigkeit zu verfolgen begann. Er hatte keine Augen, und doch konnte er sie sehen. Die Heuschrecken schienen ihr Eigenleben verloren zu haben und sich für diesen Moment völlig ihrem neu formierten, übergroßen Körper geopfert zu haben. Und er wuchs in nur immer größerer Eile, je schneller Alexandra zu laufen dachte.
Doch auch das Schloss mit seinem Tor kam ihr immer näher, je länger sie lief. Ihr langer, schwerer Mantel brachte sie hier und da fast zum Stolpern. Aber jedesmal konnte sie gerade noch rechtzeitig ihr Gleichgewicht wiedererlangen.
Schließlich erreichte Alexandra das Schloss und verriegelte sofort das große Tor. Und gerade, als das Tor geschlossen war, schmetterten die Myriaden Heuschrecken gegen diese, das laute Zirpen erstarb plötzlich und das Monster zerbrach.
Nun stand sie erschöpft im Inneren dieses Schlosses und sah sich langsam um. Doch nichts erschien ihr bemerkenswert. Mit Ausnahme einer abwärts führenden Steintreppe, nicht weit von ihr entfernt. Wie selbstverständlich und ohne Bewusstsein steuerte Alexandra nun diese Treppe an. Während sie in diese Richtung ging, wuchs langsam Gras unter ihr. Gras, das außerhalb des Schlosses noch gar nicht da war. Es wuchs während ihrer Schritte so schnell, dass sie ohne Mühe dabei zusehen konnte. Doch je weiter Alexandra schritt, desto mehr verlor sie auch ihr Bewusstsein. Es schien sich wie nach außen zu verlagern. Sie wusste nur noch ihr Ziel: Diese eine Treppe hinabzusteigen.
Sie erreichte diese Treppe und das Gras unter ihr war bereits hoch gewachsen. Ein behutsam aufkommender Wind blies jetzt mit einem Male Leben zwischen diese Grashalme und sie schienen für sie eine glückverheißende Aura auszustrahlen.
Alexandra stieg die Treppe aus Stein hinab. Das Licht der Sonne verschwand. Es wurde dunkel.
Aber Alexandra brauchte kein Licht mehr. Ein fremder Geist schien sie zu lenken. Er führte sie sicher weiter. Stufe um Stufe. Um Ecken und Kanten. Lange Gänge und weite Räume entlang.
Schließlich kam sie an einen Ort, irgendwo in der Tiefe des Schlosses. Und dort begegnete sie ihrer eigenen Seele. Sie war das einzige, was sie dort zu erblicken vermochte. Umgeben von tiefer Dunkelheit ging sie auf ihre Seele zu. Sie lag zusammengekauert am Boden. Nackt. Ihre Haut schien verletzt zu sein, doch Alexandra konnte das aus ihrer Entfernung noch nicht recht erkennen.
Als Alexandra schließlich vor ihr stand, reichte sie ihr halb zögernd, halb wie aus einem Impuls heraus eine Hand. Es war nicht ganz ihr eigener Wille, doch sie tat es. Ihre Seele blickte auf, blickte auf Alexandra, und blickte sie sehnsüchtig an.
Alexandra sah, dass ihre Geste erwidert wurde: Eine Hand ihrer Seele streckte sich jetzt auch ihr entgegen.
Und so reichte sie ihrer verängstigten Seele nun ihre kalte Hand; und als sie deren warme Hand in der ihren spürte, hatte sie plötzlich das Gefühl, niemals mehr loslassen zu können. Sie sah nun, dass ihre Seele wie gebrandmarkt war von vielen kleinen, zarten wie auch tiefen, schweren Verletzungen. Sie bildeten ein bizarres Muster auf ihrer nackten Haut. Manche dieser Verletzungen waren längst vernarbt. Manch andere dagegen waren offen und bluteten.
Alexandra zog ihre Seele nach oben bis sich diese ganz aufgerichtet hatte und vor ihr stand. Während nun Alexandras leiblicher Körper völlig unverletzt war und in seinem Hermelinmantel jedem bezaubernd schön erscheinen musste, verband sie sich nun langsam in dieser seltsam isolierten Leere, fern von jeder Bedrängnis ihrer Ängste, mit ihrer verstoßenen und geschundenen Seele - einst verdrängt durch ihren beständig fester und unbarmherziger gewordenen Panzer, der Alexandras Leben zu bewahren schien, doch ein anderes dafür verstieß. Und das neu erschaffene Vertrauen floss von einem Körper in den anderen und entlang der warmen, gegenseitig umschlossenen Hände strömte eine neue Energie der Verbundenheit.
Die Wunden ihrer Seele begannen zu heilen. Zunächst nur die ganz kleinen, die leichten Schnitzer hier und da: Sie schlossen sich langsam, und verschwanden. Nur die tiefen Wunden blieben noch. Aber sie bluteten nicht mehr. Und im selben Zug mit dieser Heilung verlor dafür ihr Panzer, diese innere, zähe Eisenhaut ihres so lange verborgenen Innerstem, immer weiter an Stärke, Glanz und Festigkeit. Er schwand dahin wie eine einst mächtige, doch jetzt vergessene Blüte, die zu vertrocknen begann. Und sein Gift verlor jetzt seine Macht über sie.
Auch der zuvor noch so feine und schmuckvolle Mantel ihres leiblichen Körpers verlor im selben Maße dieses Zaubers fortwährend seinen Glanz und verblasste schließlich. Er wurde grau und schmutzig. Sie passte sich ihrem wahren Ich an und verbarg nun nichts mehr.
Alexandra erwachte wieder und begann ein neues Leben.
© 2002 - Die philosophische Ratte
[ 24.07.2002, 02:47: Beitrag editiert von: Die philosophische Ratte ]