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"Der Penner"

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31.07.2002
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"Der Penner"

Ich habe in meinem Leben schon sehr viele Menschen getroffen, alle waren sie auf ihre ganz persönliche Art einzigartig und dennoch glichen sie einander, wie ein Ei dem anderen. Ob sie nun groß oder klein, dick oder dünn, klug oder dumm waren, alle hatten sie die gleiche Ansicht über den Sinn des Lebens. Der bestand ihrer Ansicht nach aus Studium, reich werden und Familie gründen und wenn ich ehrlich sein soll, ich war viele Jahre lang eine von ihnen.
Ein einziges Erlebnis brachte meine gesamte Lebenseinstellung durcheinander, ein einziger Augenblick war entscheidender für mein späteres Leben als die restlichen 20 Jahre!
Ich hetzte gerade aus einem Kaffeehaus heraus, in dem ich mir mein tägliches Sandwich genehmigt hatte und wollte zurück zu meinem Arbeitsplatz, da stolperte ich über ein zusammengekauertes Bündel. Zuerst dachte ich, ich sei über einen herumliegenden Müllsack gestolpert, erst als ich ihn genauer betrachtete, fiel mir auf, dass es ein Mensch war! Es war ein alter Penner, einer von denen, die man hundertfach auf der Straße findet. Und doch war er kein gewöhnlicher Obdachloser, der mit starrem Blick, die Welt um sich herum kaum wahrzunehmen scheint, nein, er hatte etwas an sich, dass mich sofort fesselte. Als er sich schließlich von seinem Lager erhob und mir direkt in die Augen sah, wusste ich sofort, was an ihm so einzigartig war. Es war seine Augen. Sie beobachteten die Welt um ihn herum genau, sie nahmen jede Bewegung ganz genau wahr, das waren nicht die Augen eines stumpfsinnigen Penners, es waren die Augen eines hochintelligenten Mannes der weiß, was er tut.
Ich weiß nicht, wie lange ich dagesessen und ihn angestarrt hatte, aber plötzlich bewegte der Alte seine Lippen, als wollte er etwas sagen, würde aber von etwas daran gehindert. Da fiel mein Blick auf meine Uhr - Oh Gott, ich sollte schon seit einer halben Stunde wieder arbeiten.
Sofort rannte ich hektisch los, trotzdem musste ich mir von meinem Chef einen Vortrag über Unpünktlichkeit und Disziplin am Arbeitsplatz anhören. Danach ging ich zurück an die Arbeit. Ich war Kundenberaterin bei einer Versicherung, ein sehr spannender Job. Ich hatte zwar sehr viel zutun, aber ich war eigentlich nicht richtig bei der Sache, denn irgendwie dachte ich immer an die Augen des alten Mannes zurück, die mich mit ihrer Lebendigkeit und dieser Intelligenz, die sie ausstrahlten beeindruckt hatten. Sie ließen mich nicht los, ich konnte mich einfach auf Nichts konzentrieren.

Am selben Abend ging ich wieder zu diesem Lokal zurück. Ich wollte den Penner wieder sehen, wollte mit ihm sprechen, seine Ansichten hören. Ich suchte nach ihm, ich fragte Leute, ob sie ihn gesehen hatten. Diese sahen mich jedoch immer nur verwirrt an und meinten, warum ich um Himmels Willen einen Obdachlosen suchte. Durch ihre Blicke und Antworten wurde mir wieder einmal klar, wie engstirnig und intolerant unsere Gesellschaft doch war.
Weiter irrte ich herum, durch Parks und verfallene Straßen, doch nirgends sah ich das kleine, zusammengekauerte Bündel. Ich musste ihn finden, ich musste mit ihm reden…seine Augen…sein Blick, ich musste seine Geschichte hören.
Plötzlich sah ich ihn, warum ich wusste, dass er es war, weiß ich heute nicht mehr, ich hatte dieses Gefühl und es sollte mich nicht trügen. Ich setzte mich zu ihm auf die Parkbank…er sah mich an, als hätte er mich schon erwartet, dieses Lächeln auf seinen Lippen. „Ich muss ihre Geschichte hören, warum sind sie obdachlos?“ meinte ich verschämt, denn ich wollte ja nicht zu neugierig erscheinen oder taktlos. „Viele meinen, dass du obdachlos wirst, weil du kein Geld mehr hast, weil du deinen Job verlierst, oder deine Frau dich verlässt! Bei mir war es anders, ich hatte ein passables Leben, einen guten Job, eine nette Wohnung, mit fehlte es eigentlich an nichts! Nur ich war einfach nicht glücklich…Ich fühlte mich, als ob meine Flügel zusammengebunden wären, als ob ich davonfliegen wollte, aber niedergedrückt würde. Eines Tages beschloss ich, alles aufzugeben, der Gesellschaft einen Strich durch die Rechnung zu machen. Von uns wird erwartet, Obdachlose, Arbeitlose und andere „Parasiten“ als Abschaum zu betrachten, etwas, dass uns dazu antreiben sollte, Höchstleistungen zu erbringen, denn wir wollten doch nicht so enden, wie die! Doch in Wirklichkeit haben wir, Obdachlose das schönste Leben, zumindest in einem Bezug, wir sind frei, ungebunden, wir können gehen wohin wir wollen, wir sind mittellos und doch reich. Frag einen Penner was er schon erlebt hat, frag ihn, ob er irgendwelche Bindungen hat…Wir sind frei und deshalb habe ich diesen Weg gewählt!“ sagte der Penner und seine Augen leuchteten. “Haben sie denn ein Ziel, oder eine Aufgabe?“ meinte ich. „Und ob ich die habe, ich suche nach dem Sinn des Lebens. Und wie könntest du diese Aufgabe besser erfüllen, als wenn du unverhaftet bist in Luxusgüter!?!“ antwortete der Penner, ich musste meine nächste Frage nicht mehr stellen. Ich wusste, dass er seine Entscheidung nie bereut hatte.
Ich stand auf, völlig verwirrt, ich konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen. Ich ging nach Hause, doch schlafen konnte ich nicht mehr. Am nächsten Tag hatte ich einen Entschluss gefasst, ich würde meinen Job kündigen, ich fühlte mich nicht frei, wenn ich mit irgendwelchen reichen Typen diskutieren musste, ich fühlte mich, wie der Penner gesagt hatte, als ob meine Flügel niedergedrückt würden. Ich wollte auch ungebunden sein, der Gesellschaft einen Strich durch die Rechung machen.
Mit der Kündigung war mein Grundstein gelegt. Das Problem war jedoch, dass meine Eltern, bei denen ich im Übrigen gewohnt hatte, mich für verrückt erklärten und damit drohten mich in eine Anstalt einweisen zu lassen. Da bemerkte ich erst, dass auch meine Eltern nicht anders waren, als die Menschen, vor denen ich zu fliehen versuchte. Auch sie verstanden meinen Drang nicht, ich musste weg, sie machten mich krank. Ich zog aus, musste jedoch alles, was mir lieb und teuer war zurücklassen, denn ansonsten hätten meine Eltern die Polizei gerufen. Ich war noch nicht so weit, ihm völlig zu entsagen. Ich würde gehen, würde den Leuten zeigen, was leben wirklich bedeutet, ich würde um die Welt reisen, anderen Menschen vom Sinn des Lebens berichten, würde die Welt verändern – Okay, Stopp, das war doch leicht übertrieben. Mein erstes Ziel würde es sein, das Land irgendwie zu verlassen.
Doch war das nicht so einfach, denn ohne Geld geht gar nichts.
Ich hatte keine Wohnung mehr und praktisch keinen Besitz…war das nicht auch irgendwie ein Zeichen von Unabhängigkeit. Nichts, das einen hält, nichts das einen bindet, die Freiheit, zu gehen, wohin der Wind einen trägt – das war es doch, was ich gewollt hatte. Warum sich also beschweren? Fort von hier, hinaus aus dieser Stadt, auf in die weite Welt ! Stop, stop, stop, ich hatte immer noch kein Geld. Freiheit, schön und gut, aber ohne Zahlungsmittel
Würde ich doch höchstens bis Salzburg oder München kommen per Autostop, aber sicher nicht an die „Grenzen dieser Erde“!

Okay, eigentlich sollte das nur ein Teil der Geschichte sein...naja, aber Leute haben schon gemeint, ich solle es dabei belassen, weil das Ende einfach aussagekräftig sei...ich weiß nicht so recht...!

 

Hi Palantiri,

eine ganz nette Geschichte. Gut finde ich die etwas andere Sicht in puncto Obdachlose und Penner. Andererseits ist mir das ein bißchen zu positiv; wo bleibt die Abhängigkeit der Penner? Sie müssen immerhin um ihr Geld betteln... sie müssen oft genug hungern... und und und... Es ist also nur begrenzte Freiheit, genau, wie man sie im Berufsalltag hat.

Trotzdem gefällt mir Deine Geschichte recht gut.

Gruß,
stephy

 

es geht in meiner Geschicht ja weniger, um die "Penner" ansich, sondern eher, um das Ausbrechen aus der Gesellschaft!
Deswegen habe ich nur diesen einen Gesichtspunkt des "Obdachlosendaseins" beschrieben :)

 

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