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Windwanderer

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30.06.2004
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Windwanderer

Kapitel 1 - Schwanenzug

The trees are in their autumn beauty,
The woodland paths are dry,
Under the October twilight the water
Mirrors a still sky;
Upon the brimming water among the stones
Are nine-and-fifty swans.

Der erste Frost war noch nicht gefallen, aber die Luft roch schon nach dem kommenden Winter. Trockenes Laub knisterte unter Fennas Füßen, als sie zum See hinunter lief. Die Kälte biss sich durch ihre Pelzjacke und der Wind färbte ihre Wangen rot. Ihr Atem ging stoßweise. Lange konnte sie nicht mehr laufen, das wusste sie. Und wenn sie nicht mehr laufen konnte, musste sie sich der Wahrheit stellen.
Ein Häher schoss direkt vor Fenna über den Weg, erschrocken fuhr sie zurück. Mit lautem Kreischen verschwand der Häher tiefer im Wald, doch nun hatte sie schon inne gehalten. Erschöpft stützte Fenna die Hände auf ihre Knie und schnappte nach Luft. Sie spürte ihre Tränen, warm auf ihren kalten Wangen. Ärgerlich wischte sie sie weg. Heulsuse. Du musst jetzt stark sein.
Sie entdeckte einen gestürzten Baum und ließ sich darauf nieder. Die Feuchtigkeit des Mooses drang durch ihre Hose, aber das störte sie nicht besonders. Fenna zog die Beine an den Körper, schlang ihre Arme darum und vergrub ihr Gesicht zwischen ihren Knien. Mit Gewalt versuchte sie, die Tränen zurück zu drängen. Herunter zu schlucken. Ganz gelang es ihr nicht. Immer wieder wurden ihre Augen feucht. Schließlich biss sie sich so lange auf die Unterlippe, bis der Schmerz überhand nahm und den Tränen einen Grund gab.
„Hier seid Ihr, Fenna.“ Ingeld, der Berater ihres Vaters, war so leise an sie heran getreten, dass sie ihn in ihrem Kummer überhaupt nicht bemerkt hatte.
„Lass mich in Ruhe!“ Fenna blickte nur kurz auf und wandte dann ihr Gesicht wieder ab. Das fehlte ihr gerade noch, dass Ingeld ihre Tränen sah.
Sanft legte der Berater seine Hand auf Fennas Schulter. „Ihr wusstet doch, dass Euer Vater sich früher oder später eine neue Frau nehmen würde, Fenna.“
Jetzt blickte sie doch auf, Vorwurf in ihren Augen. „Aber doch nicht Thryth! Wie kann er Thryth heiraten. Sie ist ein … ein Trampel. Eine ignorante Kuh!“
Ingeld, der Fennas Stimmungen nur zu gut kannte, lächelte nur sanft. „Thryth wird noch Kinder bekommen, und Euer Vater ist schon alt, Fenna. Er braucht einen männlichen Erben.“
„Ich reiche ihm wohl nicht, was?“ Trotzig starrte sie Ingeld an. Der lächelte nur weiter.
„Fenna, Ihr wisst selber, dass Ihr nicht erben könnt. Aber ich weiß, was euch aufheitern wird. Ich habe mit Eurem Vater gesprochen. Sobald die Heirat vorüber ist, dürft Ihr bei Frawarad in die Lehre gehen.“
Fennas Augen wurden groß. „Ich darf zaubern lernen? Ist das wahr?“ Ihr ganzer Kummer schien von ihr abzufallen wie Herbstlaub. Ingeld lachte leise.
„Euer Vater war der Meinung, dass Ihr sowieso nicht davon abzubringen seid. Und nun kommt nach Hause, Fenna!“

***

Zwei Jahre später

***

„Es ist ungerecht!“ Beinahe hätte Fenna mit dem Fuß auf den Boden aufgestampft, aber sie konnte sich gerade noch beherrschen. Sie war schließlich kein kleines Mädchen mehr.
„Es ist Tradition, Fenna.“ Ihr Vater Breca saß vor ihr auf seinem pelzbespannten Stuhl und zeigte keinerlei Regung. Thryth – die Kuh, wie Fenna sie immer noch heimlich nannte – ruhte an seiner Seite, lächelte dümmlich und schaukelte den kleinen Nilas auf ihren Knien.
„Du bist nun wirklich alt genug, Fenna. Wie sieht das denn aus, wenn ich als Jarl eine unverheiratete Tochter in meinem Haus habe. Und Scyld ist ein guter Mann. Er ist ein Jarl.“
„Er ist zwanzig Jahre älter als ich und hat eine Tochter in meinem Alter!“
„Das zeigt, dass er gesunde Kinder zeugen kann. Hör mal, Fenna, ich habe dir alle Freiheiten gelassen, die du haben wolltest. Vielleicht war das falsch. Vielleicht hätte ich härter zu dir sein sollen. Aber leider erinnerst du mich eben an deine verstorbene Mutter, mögen die Götter ihre Seele aufgenommen haben. Nun möchte ich, dass du einmal etwas für mich tust und dich verhältst, wie eine folgsame Tochter sich verhalten sollte.“
Fenna sah verlegen auf den Boden. Es war ja wahr, ihr Vater tat alles für sie. Und wie dankte sie es ihm? Aber wenn sie an den alten, verbrauchten Scyld dachte, wurde ihr beinahe übel. Sie atmete tief durch. Gut. Sie würde es versuchen. Für ihren Vater. Schließlich musste das doch alles irgendwie zu ertragen sein.
„In Ordnung, Vater.“ Sie brachte kaum die Kraft auf, es auszusprechen. Ihre Stimme klang heiser und ungewohnt in ihren Ohren. „Sobald ich meine Ausbildung abgeschlossen habe, werde ich Scyld heiraten.“
Ihr Vater seufzte schwer. „Das wird nicht möglich sein, Fenna. Scyld will nicht noch ein Jahr warten. Wenn du ihn jetzt nicht heiratest, wird er sich eine andere Frau suchen. Und wenn du deine Ausbildung abgeschlossen hast, bist du schon sechzehn. Die meisten werden das zu alt für eine Heirat finden.“
Wieder stieg der Zorn in ihr hoch. „Aber ich will Zauberin werden!“
„Frauen sollten eigentlich gar nicht dieses Handwerk lernen“ Die Kuh mischte sich ein. „Es schickt sich nicht für ein Mädchen.“
„Meine Mutter war Zauberin, warum darf ich keine sein?“, Fenna schrie jetzt. „Das ist ungerecht“
„Deine Mutter war auch eine Vagabundin. Du kannst froh sein, dass ein so feiner Mann, wie Breca sie geheiratet hat, sonst wärst du dein Leben lang ein kleiner heimatloser Bastard geblieben! Schließlich legt sich nicht jeder Mann ein fremdes Ei in sein Nest.“ Thryths Stimme war kalt, wie Eis.
Plötzliches Schweigen legte sich über den Raum. Völlig verblüfft starrte Fenna den Mann an, den sie immer für ihren Vater gehalten hatte. Ihr war es, als hätte man sie mit einem Kübel voller Eiswasser übergossen.
„Fenna…“ Brecas Stimme klang unnatürlich laut in die Stille der Halle. Doch Fenna wollte nicht hören, was er zu sagen hatte. Abrupt drehte sie sich um.
„Wenn ich also nur ein herrenloser Bastard bin, dann hat mir auch keiner etwas zu sagen.“ Damit verließ sie die Halle. Erst auf ihrem Zimmer gestattete sie es sich, zu weinen, während sie rasch das Nötigste an Gepäck in ihren Rucksack stopfte. Eine Vagabundin war ihre Mutter gewesen? Gut, dann wollte sie auch eine sein.
Sie verließ das Haus um die Mittagszeit. Sie spürte die Blicke in ihrem Rücken, aber niemand machte Anstalten, sie aufzuhalten. Die kennen mich ja jetzt schon nicht mehr, dachte sie und schluckte weitere Tränen hinunter. Den Kopf stolz erhoben schritt sie den Pfad hinunter.
Der See, schon immer ihre Zuflucht, wenn es ihr schlecht ging, lag still im Herbstsonnenlicht. Ein klarer eisblauer Himmel spannte sich über ihm und lieh ihm seine Farben. Nur einige welke Blätter störten die Ruhe seiner Oberfläche. Und im Schatten des Dickichts trieben zwei Schwäne.
Fenna hielt inne und starrte die Vögel an. Sie lagen so ruhig im Wasser, dass sie keine einzige Welle verursachten. Erst, als sie sich einige Schritte näher ans Ufer wagte, drehten sie die Köpfe in ihre Richtung und blickten sie aus klugen schwarzen Augen an.
Schwäne. In ihrer Lehre bei Frawarad hatte Fenna gelernt, ihre Seele zu erkennen, und das Tier, das in ihr wohnte. Sie hatte ihrem Lehrer erzählt, es sei ein Hund, treu und stark. Aber was sie tatsächlich gesehen hatte war der unruhige Flügelschlag eines Schwans gewesen. Schwäne, die im Wind trieben. Immer und immer wieder.
„Windwanderer“, flüsterte sie. „Führt mich. Bringt mich nach Hause!“
Einen langen Moment lang starrten die beiden Schwäne sie nur an. Dann begannen sie, mit den Flügeln zu schlagen, die stille Oberfläche des Sees wurde von heftigen Schlägen durchbrochen, kräftige Muskeln spannten sich unter weißen Feder und dann waren sie in der Luft, zogen einen weiten Kreis über dem See und wandten sich dann gen Norden. Zu den ewigen Wäldern.
Fenna lächelte ihnen hinterher, wischte sich eine Träne aus dem Gesicht und zurrte die Gurte ihres Rucksacks enger. Dann machte sie sich auf den Weg, den Schwänen zu folgen.

 

Kapitel 2 – Schwanenseele

Suddenly I knew that you'd have to go
My world was not yours, your eyes told me so
Yet it was there I felt the crossroads of time
And I wondered why.

In der eisblauen Weite des Himmels zogen die Schwäne dahin, glitten auf dem sanften Strömen des Windes, der sie nach Norden trug. Nur das Geräusch ihrer rhythmischen Flügelschläge durchschnitt die Stille, die hier oben herrschte. Unter ihnen leuchtete es rot und gelb zwischen verblassendem Braungrün: dort dehnten sich die herbstlichen Wälder von Westrheim, weit und geheimnisvoll, aber nicht zu vergleichen mit den ewigen Wäldern des Nordens. Westrheim war noch Menschenland, ein tüchtiger Wanderer brauchte keine drei Tage, um die Wälder hier zu durchqueren, und an ihren Säumen lagen kleine Dörfer und einsame Gehöfte.
Langsam senkten sich die beiden Schwäne auf das bunte Meer aus Baumkronen nieder, kreisten ein oder zweimal über ihnen, ehe sie endgültig zum Landeanflug auf eine kleine Lichtung ansetzten. Hier, in der Stille des Waldes, lag ein kleiner See; seine Wasser waren eisig und finster. Fast unwillig liefen die Wellen wie kleine Schauer über die Oberfläche des Sees, als die Schwäne sich im Wasser niederließen und zielstrebig auf das Ufer zuhielten. Unter den Menschen von Westrheim gingen seltsame Geschichten um den Einsamen See. Man suchte ihn nicht gerne auf.
Hätte sich jetzt aber ein Beobachter nahebei verborgen, er hätte mit ansehen können, wie die beiden Vögel etwas ungelenk aus dem Wasser kamen, ihr Gefieder schüttelten, es in einer einzigen Bewegung abstreiften und sich aufrichteten.
„Das soll sie gewesen sein?“, fragte das kleinere der beiden Schwanenmädchen und warf ihr dunkles Haar zurück, während sie das weiße Schwanengewand in ihren Händen drehte. „Dieses zierliche, weinerliche Kind?“
„Hüte deine Zunge, Svanfjadra“, antwortete ihre Gefährtin, bedachte sie mit einem ernsten Blick und ließ sich auf einer kräftigen Wurzel nieder. „Sie ist ein starkes Mädchen, stärker als sie selbst es ahnt. Und sie ist eine von uns.“
Svanfjadra schwieg, aber ihre Lippen kräuselten sich.
„Sie ist in Westrheim großgeworden und weiß rein gar nichts von uns“, sagte sie schließlich. „Gut, sie ist sehr hübsch. Ihr Haar glänzt wie Kupfer, Jalmvit.“ Ihre dunklen Augen blickten über den See, und Jalmvit zuckte leicht zusammen.
„Vielleicht weiß sie jetzt nichts von uns, aber sie wird lernen“, entgegnete sie knapp.
„Und die Prüfungen bestehen?“ Svanfjadras Stimme klang beinahe spöttisch. Sie stemmte die Arme in beide Hüften und schaute ihre Gefährtin herausfordernd an. Jalmvit seufzte.
„Das hoffe ich.“
Für einen Moment schwiegen sie beide. Svanfjadras Finger trommelten gedankenverloren auf ihrem Harnisch herum, während Jalmvit auf die dunkle Wasseroberfläche starrte.
„Sie wird nicht einverstanden sein“, sagte Svanfjadra schließlich. „Sie will schließlich Zauberin werden.“
„Verdammt, Svanfjadra!“ Jalmvit sprang auf und ballte eine Faust. „Warum bist du so missgünstig? Wir haben lange nach ihr gesucht. Man könnte meinen, du hättest sie gar nicht finden wollen.“
Svanfjadra zuckte die Achseln.
„Sie hätte ich nicht unbedingt finden wollen, das ist wahr. Denn wer ist sie? Ein Mädchen aus Westrheim, das in seinem Leben noch keinen Speer gehalten hat!“
„Vor allem einmal“, erwiderte Jalmvit kühl, „ist sie Menjas Tochter.“
„Menja.“ Svanfjadra zischte es förmlich, und Jalmvits Augen wurden schmal, als sie auf ihre Gefährtin zutrat.
„Kein Wort mehr, Svanfjadra. Dieses Mädchen gehört zu uns. Du hast gesehen, dass sie uns folgen wird.“
„Vielleicht wird sie umkehren.“
Jetzt lächelte Jalmvit.
„Kehrt der Wind um? Er wird sie nach Norden tragen.“

***

Es gab einen Pfad, der nach Norden führte. Er war schmal und ausgetreten, und er führte sie sacht bergan, durch den kargen felsigen Landstrich, der so lange ihre Heimat gewesen war. Während sie mit festen Schritten voranging, spürte Fenna wieder einen Kloß in ihrem Hals. Erst langsam wurde ihr klar, dass ihr Leben im Begriff war, sich vollkommen zu verändern. Nein, mehr: Dass sie im Begriff war, ihr Leben zurückzulassen, und damit sich selbst. Denn Fenna, Brecas Tochter, gab es nun nicht mehr. Es gab jetzt nur noch Fenna, den Bastard, Fenna, die Vagabundin. Was sie bis heute gewesen war, konnte sie nicht länger sein. Aber was blieb von ihr übrig?
Das Geräusch von Hufen auf festem Lehm riss Fenna aus ihren Gedanken, doch sie schaute sich nicht um, sondern trat nur ein paar Schritte beiseite in das kurze harte Gras am Wegrand, um den Reiter vorbeizulassen. Sie hielt den Blick gesenkt.
Die Hufe kamen in ihr Blickfeld und mit ihnen schlanke, dunkle Pferdebeine. Ihr Herz machte einen Ruck, aber erst, als das Pferd neben ihr von einer rauen Stimme zum Stehen gebracht wurde, wusste sie, dass sie die dunklen Beine richtig erkannt hatte. Dennoch blickte sie noch nicht hoch.
„Fenna, wohin gehst du? Dieser Pfad führt dich nur in die Wälder.“
Jetzt schaute sie auf, ließ ihren Blick über die knochige Gestalt ihres Lehrmeisters aufwärts gleiten, bis sie sein Gesicht sah. Die stahlgrauen Augen blickten wie immer scharf und forschend auf sie nieder, aber heute glaubte sie eine Milde in ihnen zu sehen, die ihr neu war.
Sie schluckte und hoffte, dass man ihrer Stimme die letzten Tränen nicht mehr anhören konnte.
„Dieser Pfad führt nach Norden, Meister“, sagte sie, „und dorthin muss ich.“
„Dann stimmt es, dass du fortgehst.“
Es war keine Frage, sondern eine Feststellung. Sie dachte gar nicht erst darüber nach, woher er das wissen konnte. Jemand konnte es ihm gesagt haben, sicher, aber Frawarad hatte noch andere Mittel und Wege, Dinge zu erfahren. Fenna hob die Schultern.
„Es ist schade“, setzte Frawarad hinzu. „Deine Ausbildungszeit ist noch nicht vorbei und du warst immer eine gute Schülerin.“ In seinen Augen glomm ehrliches Bedauern.
„Ich kann sie nicht beenden“, antwortete Fenna und spürte, wie ihre Augen wieder zu brennen begannen. Eilig schaute sie zur Seite und wischte sich mit dem Ärmel übers Gesicht. Dann erst hob sie den Blick wieder. „Ich könnte es nicht einmal, wenn ich bliebe.“
„Ich weiß“, sagte Frawarad trocken. „Breca möchte das letzte Jahr nicht bezahlen.“
Fenna überlegte plötzlich, ob sie ihn um Hilfe bitten sollte. Ob sie ihn anflehen sollte, sich bei ihm wohnen zu lassen, sie weiter auszubilden. Sie konnte ihm das Geld später geben. Sie würde Mittel und Wege finden, es zu beschaffen. Die Gedanken jagten binnen weniger Sekunden durch ihren Kopf, aber noch während sie das taten, wusste Fenna, dass sie Frawarad nicht fragen würde. Er hätte ihr vielleicht geholfen. Aber sie spürte, dass das falsch gewesen wäre. Ihr Platz war nicht mehr hier.
„Eines musst du mir noch sagen, Fenna. Was siehst du, wenn du in deine Seele blickst?“
Ihr Inneres zog sich erschrocken zusammen. Sie versuchte Frawarads Blick standzuhalten, der sie zu durchbohren schien – nicht böse, aber mit einer Aufmerksamkeit, die wehtat. Es war ihr immer schwergefallen, ihn anzulügen, aber sie hatte es für nötig gehalten. Heute fehlte ihr die Kraft dazu. Heute war es auch nicht mehr nötig.
„Ich sehe einen Schwan“, murmelte sie und biss sich verlegen auf die Lippen. Ihre Wangen brannten. Es war nicht leicht, eine Lüge einzugestehen.
„Kein starker, treuer Hund also“, sagte Frawarad mit einem leicht spöttischen Unterton, so als habe er es schon lange gewusst. „Ein Schwan, frei und flatterhaft, ruhelos und ungebunden.“
Fenna senkte den Kopf. Eben das hatte sie nicht hören wollen.
„Man sagt, dass Schwäne Unglück bringen“, fuhr Frawarad fort. „Unglück und Tod.“
Seine Stimme wurde sanft.
„Sieh mich an, Fenna. Ich glaube nicht an diese Geschichten. Ich weiß es besser.“
Überrascht sah sie hoch. Seine Miene war unbewegt, aber in den grauen Augen leuchtete etwas, das sie an ein Lächeln erinnerte.
„Wenige Menschen erkennen in ihrer Seele einen Schwan. Ich habe immer geahnt, dass du mir nicht die Wahrheit gesagt hast, dass das Tier in dir kein Hund ist.
Lass dich nicht von deinem Weg abbringen, Fenna. Man erzählt viel über Schwäne. Eines Tages wirst du begreifen, auf welche dieser Geschichten du hören darfst. Geh getrost nach Norden.“
„Gibt es etwas, das Ihr wisst und mir nicht sagt, Meister?“
„Nichts, was du nicht selber herausfinden kannst, mein Kind. Und ich ahne mehr als ich weiß. Auf jeden Fall bin ich gekommen, um dir dies zu geben.“
Er griff in seine Tasche, förderte ein kleines graues Leinensäckchen zutage und reichte es ihr. Sie spürte etwas hölzern hart durch den Stoff.
„Was ist das, Meister?“
„Mein Abschiedsgeschenk.“
Frawarad zog sacht an den Zügeln seines Rappen und wendete ihn. „Du wirst noch ein bisschen üben müssen, damit umzugehen, aber es wird dir gute Dienste leisten. Leb wohl, Fenna.“
Sie schloss ihre Finger schmerzhaft fest um das Säckchen, während sie ihm nachsah.

 
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Kapitel 4 - Abgründe

How beautiful, to rest and dream
The night in the whispering wood.
When with the gloomy trees and bush’s
Our oldest fairytale echoes.

Mit einem Mal verschwanden die Geister, so plötzlich, als hätte jemand eine Kerze ausgeblasen. Die Lage blieb ernst. In ihren Augenwinkeln sah Fenna weitere Trolle aus den nächtlichen Schatten schlüpfen. Vielleicht zehn, oder gar zwanzig. Diese wankenden Gestalten mussten die ganze Zeit auf sie gewartet haben, denn auf ihren Hüten türmte sich der Schnee. Beinahe wäre sie aufgesprungen und davongelaufen, aber sie spürte, wie sich die Schneide des Messers allmählich an ihren Hals presste, und einen feinen Riss in ihrer Haut hinterließ. Die Bluttropfen funkelten rot im dichten Schneegewirr. Lachend stieß sie der Troll – er reichte Fenna nur bis zur Hüfte, schien aber umso kräftiger – an die Mauer zurück. Erst jetzt bemerkte sie den brennenden Schmerz. Ihr Gesicht zerfloss in Tränen, die an ihren bleichen Wangen hinab rannen, und sich mit dem Blut vermischten. Sei keine Heulsuse! Wie oft war Mutter von solchen Gesindel überfallen worden.

Fenna raffte sich zusammen, und begann in einem ungezähmten Ton – nicht auszudenken, hätten die Trolle ihre wahre Herkunft erkannt – mit dem brutalen Unhold zu reden: „Was fällt euch Winzlingen ein? Ich bin eine Zauberin. Ich zerquetsche euch im Handumdrehen wie Insekten.“ Dabei wollte ihr beim besten Willen der Spruch zur Bekämpfung von Trollen und anderen Zwergen nicht einfallen. Wichtig vollführte sie ein paar Kunststücke mit ihren Händen, und murmelte, dass es klang wie das Tropfen von Wasser auf einen heißen Stein. Gänzlich unbeeindruckt näherten sich die fiesen Gesellen. Der Schnee erbebte unter ihren vielen kleinen Schritten. Bald darauf war sie vollständig von der Horde umringt. Fenna schrie mit ganzer Kraft, in der Hoffnung, jemand möge sie hören und ihr zur Hilfe eilen. Vergebens. Ihr Ruf hallte aus dem gespenstischen Wald wieder, und schreckte lediglich ein Dutzend Krähen aus den Baumkronen. Arme und Beine gehorchten Fenna nur noch widerwillig. In ihrer Verzweiflung klammerte sie sich an die Erinnerung, wie sie als Kind heimlich in Frawarads Zauberbuch gestöbert hatte. Der wohlige Geruch des Pergaments klomm ihr ins Gedächtnis, und vor ihrem geistigen Auge erwachten die unzähligen Zeichnungen von Einhörnern, Harpyien und Trollen zu neuem Leben; eben jene stanken nun aber nach Schweiß, Blut und fauligen Essensresten. Und da war es wieder, dieses Nichts. Abgrundtief und hässlich. Dieses Gefühl verloren zu sein, aussichtslos auf Rettung zu warten, fernab von der Küste im unbekannten Meer zu treiben. Da das Grauen seinen widerlichen Atem anhielt, schien die Wirklichkeit noch unerträglicher. Es glotzte sie an, erwog nur einen günstigen Moment, um zuzupacken. Und es ließ sich Zeit, schrecklich viel Zeit.

Die mondlose Nacht unterdes hüllte alles in kühles Schweigen, die Landschaft wirkte verlassen und ausgestorben, wie in Blei gegossen. Fenna zog die Wolldecke noch fester um sich. Die Finsternis schien sich wenige Meter vor ihr aufzutun. Die Trolle scharrten mit ihren Klauen, grinsten, und ihre hervorstechenden Augen bargen einen unheimlichen Glanz. Schäbige Umhänge bedeckten ihre Bäuche, und aus ihren wilden Gesichtern fielen Bärte, die ihnen bis zu den nackten Fußspitzen reichten. Der Wind blies Fenna kalt ins Gesicht, ohrfeigte sie für ihren Leichtsinn. Benommen hockte sie da, unfähig, auch nur den geringsten Versuch zu unternehmen, sich zur Wehr zu setzen. Mit ihren taub gefrorenen Fingern umschloss sie den Sack, der sich als winzige Wölbung unter der Decke abzeichnete. Ein letztes Mal erhob Fenna ihre Stimme – Nein, kampflos will ich mich nicht geschlagen geben. Doch die eisige Kälte schnürte ihr die Kehle zu, und der Schrei platzte nicht einmal über ihre wunden Lippen, sondern verhallte in den Tiefen ihrer Seele. Nur ein einzelner, hilfloser Flügelschlag, um dem drohenden Unheil zu entfliehen. Dann, als die Trolle sie mit magischem Pulver bewarfen, und im düsteren Chor einige Verse anstimmten, wurde alles schwarz.

* * *

Fenna musste lange geschlafen haben, denn als sie aufwachte, war es kurz vor Sonnenuntergang. Es hatte aufgehört zu schneien. Ein blendender Schneeteppich überzog die Ebene, und glitzerte in den letzten Sonnenstrahlen. Die Ruinen warfen lange Schatten, eine unnatürliche Ruhe schwebte in der Luft. Fenna jedoch war sehr aufgewühlt, sie schien schlecht geträumt zu haben. Ihr Geist verirrte sich im Labyrinth verzerrter Erinnerungen, und stolperte zuweilen auf der Suche nach dem Ausgang, den das grelle Licht der Wirklichkeit ankündigte. Unter den hohen Tannen, deren vereiste Wipfel wie Glas schimmerten und im Wind brachen, sah sie Kaninchen und Rehe verschnaufen. In ihren Familien kamen diese zusammen, um gemeinsam die Nacht zu verbringen, die nun ungewiss hereinbrach. Im Westen schwoll die Sonne blutrot an, sammelte ein letztes Mal Luft, um das nächtliche Abtauchen zu überstehen. Fenna senkte ihren Blick, und strich sich mit dem Ärmel ihrer Jacke über die glühenden Augen – Immer dieser verflixte Schlaf. In Wirklichkeit musste sie an daheim, an Breca, und Ingeld, und seltsamerweise auch an Thryth denken. Aber umzukehren, und die eigene Schande auf sich zu nehmen, daran dachte sie nicht eine Sekunde lang. Fenna ging ein paar Schritte im Schnee, um auf andere Gedanken zu kommen. Das klappte recht gut, denn von jetzt an froren ihr die Füße. Und ihr Magen rumorte. Sie wusste nicht mehr, wann sie zuletzt etwas gegessen hatte.

„Im Beutel ist noch ein wenig Fett.“, schoss der Jarlstochter mit der Schwanenseele durch den Kopf. Sie stapfte zurück, nur um festzustellen, dass ihre gesamte Habe verschwunden war. Es überkam ihr wie siedendheißes Wasser. „Verflucht seien die Trolle, diese feigen Räuber. Das werden sie mir büßen.“ Sie hatte nicht einmal die Kraft, sich die Lippen aufzubeißen, was sie für gewöhnlich tat, da in ihr alle Fäden rissen. Aber sie entdeckte die Wunde unter ihrem Kinn, und rieb sie auf. Die Vergangenheit quoll eitrig heraus. Eine Narbe, sichelrund wie das Lächeln des Neumondes, sollte sie ewig an die Begegnung mit den Trollen erinnern. Schließlich fuhr sie eher ungewollt mit den Händen über ihre Brust. Der Sack, er war auch weg.

* * *

Nicht weit entfernt hielten sich zwei Schwäne im Dickicht des Waldes versteckt. Das weiße Gefieder ließ sie mit der Umgebung verschmelzen, ein Teil von ihr werden. Durch die Zweige flimmerte die untergehende Sonne, und lieh den herabhängenden Eiszapfen ihr Feuer. Es war klirrend kalt. Der sanfte Atem der Tiere kristallisierte sofort an der Luft. Hartnäckig hielt sich der Reif um ihre Nüstern, und ihre Federn glänzten vor Eis. Ein Vorbeilaufender hätte meinen können, das Paar läge in Winterstarre. Doch als die ersten Sterne am Himmel anfingen, zu leuchten, und der Nordwind sich für einen Augenblick legte, knackte und splitterte es aus dem Inneren der gefrorenen Statuen. Die Starre bröckelte förmlich von den bezaubernden Wesen ab. Ringsum lagen ihre perlmuttschimmernden Federn verstreut, versanken mit der Zeit im Schnee.

„Das wird ihr eine Lehre sein. So unvorbereitet aufzubrechen, das konnte nicht gut gehen.“
Obwohl gerade erst erwacht, verfinsterte sich Svanfjadras Stimme merklich.
„Halte dich zurück mit solchem Unfug. Ein Umweg kann sie nicht von ihrem Ziel abbringen. Im Gegenteil, sie wird dazulernen, und eine noch größere Zauberin als Menja werden.“
Jalmwit brach ab, einen Moment lang trennte die beiden die winterliche Stille, dann fuhr sie fort:
„Hüte dich bloß davor, sie zu unterschätzen. Sie wird ihren Weg gehen, und allen Gefahren trotzen, wie auch der Fels dem steten Wind weichen muss.“
Jalmwit sprach ruhig und sehr gewissenhaft, und es fiel nicht schwer, jedem ihrer Worte Glauben zu schenken.
Svanfjadra dagegen blickte ihre Gefährtin ungläubig an.
„Ihr zartes Wesen wird an diesen Prüfungen zu Grunde gehen, das sage ich dir, so wahr ich hier stehe. Siehst du denn nicht, wie sehr sie an dem Verlust des Säckchens ihres geliebten Lehrmeister Frawarads leidet? Die Reise auf den Spuren ihrer Mutter wird sie nie und nimmer durchstehen.“
– „Svanfjadra, wir wollen hoffen, dass es ihr gelingt, das Geheimnis ihrer Herkunft zu lüften. Sollte sie es nicht schaffen, so sei es drum. Dann wissen wir wenigstens, dass sie nicht diejenige ist, welche uns aus unserem Fluch erretten kann.“
Svanfjadra stemmte beide Arme in die Hüften, stand nach vorne gebeugt, als wolle sie ihre Entrüstung heraus speien.
Jalmwit aber winkte ab.
„Lass uns an der Stelle nicht weiter streiten, teure Svanfjadra. Die Zukunft wird uns alle Lügen strafen.“
Der Wind erhob sich aus dem Wald, und strich in langen, weißen Wellen über das Land.

* * *

Noch im selben Augenblick rannte Fenna los, fest entschlossen, den Unterschlupf der Trolle zu finden, und sich ihr Recht zu verschaffen. Die Schwanenritter folgten ihr mit gehörigem Abstand.

 
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Kapitel 5 – Rabenbote

Once it smiled a silent dell
Where the people did not dwell;
They had gone unto the wars,
Trusting to the mild-eyed stars,
Nightly, from their azure towers,
To keep watch above the flowers,
In the midst of which all day
The red sun-light lazily lay.

„Sie ist aufgebrochen.“ Agil schob die Knochen auf dem weichen Wolltuch zusammen. „Sie ist aufgebrochen und auf dem Weg nach Norden. Sie kommt her.“
Lethro betrachtete das Gesicht ihrer Lehrmeisterin. Scheinbar ohne Regung, ein gemeißelter Stein. Doch Lethro kannte Agil zu gut. Die Aufregung der Alten blieb ihr nicht verborgen. Sie registrierte das leichte Zittern der runzeligen Hände, das Zucken der Augenlider, die zusammengepressten Lippen. Sie erhob sich.
„Ich werde sie finden, Mor*“, sagte sie. „Ich finde sie und bringe sie zu dir. Und es wird so werden wie früher.“ Damit griff sie nach Speer und Messer und verließ die kleine Höhle.

Der Eiswind pfiff durch das schmale Tal. Schneekristalle wirbelten durch die Nacht, verschleierten gnädig die schroffen Felsen und kahlen Hänge. Für einen Moment blieb Lethro stehen und ließ ihren Blick über ihre Heimat schweifen. So war es immer gewesen, so lange sie denken konnte. Doch Agil hatte ihr von der anderen Zeit erzählt, von früher, als der Boden des Tales grün und fruchtbar gewesen war, die Winter mild und die Dockálfar zahlreich. Jetzt waren nur noch wenige von ihnen übrig. Lethro war das letzte Kind, das den Dockálfar geboren worden war. Wenn sie gestorben war, würde es keine anderen mehr geben.
Sie stieg den Pfad hinab zur Talsohle. Sie spürte, wie die Blicke der anderen ihr folgten, auch wenn niemand zu sehen war. Die Dockálfar waren nicht gerade bekannt für herzliche Abschiede.
Lethro erreichte die Stallungen. Warmer Tiergeruch schlug ihr entgegen. Aus dem hinteren Teil des Stalles drang ein Fauchen und Knurren, das ihr sagte, dass zwei der Dachse wohl mal wieder in Streit geraten waren. Sei’s drum, Schneewitterer, ihr eigenes Reittier, war viel zu vernünftig, sich auf solche Kabbeleien einzulassen. Vielleicht hatten die anderen Tiere auch Respekt vor ihm. Schließlich überragte er sie beinahe alle mit seinen zweieinhalb Spann* Schulterhöhe.
„Ein großes Tier für eine große Kriegerin“, hatte Agil gesagt, als Lethro stolz ihre Zügel in Empfang genommen hatte.
Sie zäumte Schneewitterer auf und befestigte die Rabenfedern an seinem Zaumzeug. Nun bist du eine Jägerin, ging es ihr durch den Kopf, und Stolz überschwemmte sie. Stolz und der brennende Hass eines Volkes. Entschlossen schwang Lethro ihr Bein über Schneewitterers Rücken und ließ die Zügel schnalzen. „Lauf! Lauf und finde!“

Schnee stob unter den Sohlen des Dachses zu allen Seiten, wehte auf Lethros dunkle Mähne und verlieh ihr eine glitzernde Aura der Schönheit. Eng an den Körper ihres Tieres gepresst ließ sie sich durch die Dunkelheit tragen. Sie lenkte Schneewitterer nicht, verließ sich ganz auf seine scharfen Sinne, seinen Instinkt. Das Gesicht in seinem Fell vergraben nutzte sie seine Augen und Ohren, seine feine Nase. Es gab keine zwei Wesen mehr, nur noch eines, und das war auf der Jagd.

Nach Stunden wurde Schneewitterer allmählich langsamer. Nur widerwillig kehrte Lethros Geist in die Wirklichkeit zurück. Sie zog die Zügel an, hob ihren Kopf und sah sich um.
Sie befanden sich so tief in den wilden Wäldern, wie sie noch nie zuvor gewesen war. Nur selten hatte sie die relative Sicherheit des Tales verlassen. Jetzt war sie umgeben von dichtem Unterholz, durchwoben mit Brombeerranken und überschattet von gewaltigen Baumriesen, wie Lethro sie noch nie gesehen hatte.
Sie legte den Kopf in den Nacken und starrte nach oben. Weit über ihr konnte sie blass den Morgenhimmel erkennen. Ihr schwindelte und rasch senkte sie ihren Blick wieder auf den Nacken Schneewitterers. Irgendetwas musste ihn zum Anhalten bewegt haben. Sie war nicht darauf vorbereitet gewesen, jetzt schon eine Pause zu machen. Hatte sie sie etwa schon gefunden? Lethro legte die Hand an den Griff ihres Messers und sah sich rasch um. Doch der Wald lag still unter seiner Schneedecke. Wo auch immer die Tochter Menjas war, hier nicht. Sie ließ das Messer fahren und beugte sich über Schneewitterers Nacken.
„Was ist?“, flüsterte sie. „Gefahr?“
Wie zur Antwort spürte sie sein dumpfes Grollen durch ihren ganzen Körper vibrieren. Der Dachs hob den Kopf und witterte in den auffrischenden Morgenwind. Lethro tat es ihm gleich.
Trolle! Beinahe zu spät traf sie die Erkenntnis. Grade noch rechtzeitig flog ihr Speer in ihre Hand, als die ersten kleinen, struppigen Wesen aus dem Unterholz hervor schossen. Hinterhältige kleine Kriecher, dass ihr es wagt…
Den ersten durchbohrte sie mit ihrem Speer, dem zweiten riss Schneewitterer den Hals auf. Der Troll kreischte schrill, sein Blut spritzte über Lethros Gesicht und Kleidung. Selber Schuld, Kleiner, hat dir denn niemand erzählt, dass man eine Dockálfar nicht angreift, selbst wenn sie alleine ist? Sie leckte sich das salzige Blut von den Lippen, riss ihren Speer aus dem Körper des ersten Trolles und zielte auf den nächsten.
Der Rausch ergriff sie. Roter Nebel umschloss ihren Geist, verschleierte ihre Augen. Sie lebte nicht mehr, sie kämpfte. Sie konnte ihr Herz hämmern hören und das Blut, das durch ihre Adern pulsierte. Ihre Hände zuckten beinahe ohne ihr Zutun hin und her, schwangen Speer und Messer, fegten die Gegner hinweg, als seien sie Schneeflocken im Wind. Mehr Blut, das ihre Kleidung tränkte, aber nicht ihr Blut. Töte sie, töte sie alle! Der stärker werdende Wind riss einen wilden Schrei von ihren Lippen. Das hier war schön, das war das wahre Leben. Es gab keine Lethro mehr, nur noch eine Dockálfar und ihren Zorn.

Der rote Nebel schwand. Allmählich klärte sich das Bild um Lethro wieder. Blut, so viel Blut. Sie kniete im rotdurchtränkten Schnee und zitterte am ganzen Körper. Um sie herum lagen die Überreste der Trolle verteilt. Eben das, was Schneewitterer und sie von ihnen übrig gelassen hatten. Nasse Pelzkörper, aufgerissene Leiber. Der Geschmack des Blutes in ihrem Mund verursachte Lethro auf einmal Übelkeit. Zitternd beugte sie sich nach vorne und erbrach sich in den Schnee, wieder und wieder.
Nur langsam wurde es besser. Sie erhob sich, ihre Knie fühlten sich merkwürdig schwach an. Nicht weit von ihr entfernt kauerte Schneewitterer. Auch sein grauer Pelz war blutgetränkt. Lethro wankte zu ihm herüber, griff nach seinem Zaumzeug und klammerte sich daran fest, presste ihren Körper an den des Dachses. Sein regelmäßiger Herzschlag und das Gefühl seines Atems auf Lethros Gesicht beruhigten sie langsam wieder.
Das ist er also, der Rausch, dachte sie bitter. Agils Worte kamen ihr in den Sinn: „Nur wenn du in größter Not bist, koste das Blut deiner Feinde. Der Rausch mag dich retten, aber er verlangt auch viel von dir. Und eines Tages wirst du den Preis zahlen müssen!“ Lethro spuckte in den Schnee. Ihr Speichel war blutig. Der Preis. Nur zu oft war der Preis Wahnsinn und Tod. Ein ewiger Rausch.
„Ich werde vorsichtiger sein!“, versprach sie Schneewitterer halblaut. „Die Trolle hätte ich auch so besiegt.“ Der Dachs fuhr ihr mit seiner rauen Zunge durchs Gesicht. Sie musste lächeln. „Ja, ich weiß, du verstehst das nicht. Du musst keinen Preis zahlen, für deine Kämpfe.“ Schneewitterer stupste sie mit der Schnauze, wollte gestreichelt werden, doch gerade, als Lethro ihre Hand zwischen seine Ohren gelegt hatte, zuckte sein Kopf plötzlich hoch und ein erneutes Knurren drang aus seiner Kehle.
Lethros Hand flog zu ihrem Messer. Schneewitterer knurrte nochmals, dann schoss er wie von einer Feder geschnellt ins Dickicht. Ein spitzer Schrei drang an Lethros Ohren, ein Trollschrei, aber nur einer.
„Halt, Schneewitterer!“ Hastig kroch sie hinter dem Dachs zwischen die Ranken. Dort stand er, die Pfoten auf die Schultern eines schmächtigen Trolls gestemmt, die Zähne gebleckt, bereit, zuzuschnappen. Aber Lethro hatte eine andere Idee.
„Runter mit dir!“
Schneewitterer knurrte unwillig.
„Los doch!“
Mit einem deutlichen Zögern trat er von dem Troll zurück, stellte sich dann aber an Lethros Seite und zog die Lefzen hoch. Sie packte den Troll an den Lumpen, die er trug und riss ihn auf die Füße. Er stieß ein kleines, jämmerliches Wimmern aus. Offensichtlich war er ein niederes Stammesmitglied, ohne Rechte oder Waffen, außer seinen Klauen. Gut, dann wusste er ja schon, dass das Leben nicht freundlich war. Lethro schüttelte den Kerl heftig, bis sich das Jammern zu einem Heulen verstärkte. Dann erst beschloss sie, ihn zu befragen.
„Gut, ich weiß, dass ihr Schleicher alles wisst, was in diesem Wald vor sich geht. Glaub also nicht, du könntest mich belügen. Du hast ja gesehen, was mit deinen Gefährten passiert ist. Deswegen frage ich dich auch nur einmal. Lügst du, überlasse ich dich Schneewitterer. Der ist bestimmt noch hungrig. Verstanden?“
Der Troll nickte eifrig. Lethro triumphierte innerlich. Trolle mochten widerwärtige Feiglinge sein, aber Nachrichten verbreiteten sich bei ihnen in Windeseile. Wenn die Tochter Menjas irgendwo in der Nähe der Wälder war, würde es der Troll wissen.
„Also, ich suche ein Mädchen. Ein Menschenkind mit einer Schwanenseele und Zauber im Blut. Ganz alleine, auf dem Weg nach Norden. Wo ist sie?“
Einen Moment lang presste der Troll seine Lippen aufeinander und schwieg trotzig. Schneewitterer knurrte leise. Das brach seinen Widerstand rasch.
„Mädchen, ja, ja, ein Kind, im Süden von hier, Waldrand. Brüder haben sie gesehen. Beim Heim von toten Menschen. Ganz alleine. Gute Beute für dich, große Jägerin!“
Lethro spürte sein Zittern und fühlte, wie ihr Herz schneller schlug. Der Geschmack von Blut in ihrem Mund wurde wieder deutlicher. Rasch stieß sie den Troll von sich.
„Gut so, und nun verschwinde, Stinker, bevor ich es mir anders überlege!“
„Ja, Jägerin, danke.“
Lethro achtete nicht mehr auf ihn. Sie griff nach Schneewitterers Zügeln und führte ihn aus dem Gebüsch heraus. Einen Moment lang blieb sie noch stehen, um die Leichen der Trolle noch mal zu begutachten.
„Im Grunde haben sie es nicht anders verdient“, knurrte sie, als sie sich wieder auf den Rücken des Dachses schwang. Wieder ließ sie die Zügel schnalzen. „Auf, Schneewitterer, die Jagd geht weiter!“


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* Mor = Mutter
* 1 Spann = 20cm

 
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Kapitel 7 – Elsternherz

My soul is an enchanted boat
Which, like a sleeping swan, doth float
Upon the silver waves of thy sweet singing;
And thine doth like an angel sit
Beside a helm conducting it,
Whilst all the winds with melody are ringing.

Die bleiche Wintersonne warf bereits ihr weißliches Licht durch die Wolkendecke, als Fenna im Windschatten eines mächtigen Baumes zusammensank. Sie konnte nicht mehr. Zarter steter Flockenfall hatte ihren Schal und ihren Mantel klamm werden lassen, die Kälte war ihr bis ins Mark gekrochen und hatte sich einer lähmenden Maske gleich über die freien Stellen ihres Gesichts gelegt. Dazu kam die bleierne Erschöpfung eines langen nächtlichen Marsches durch den fast knietiefen Schnee. Fenna fragte sich, ob es auch die Erschöpfung des Flammenzaubers war. Für einen Zauberer wie Frawarad hätte ein solches magisches Kunststück kein Problem dargestellt, aber sie hatte wenig Übung. Ja: Eigentlich hätte ihr klar sein müssen, dass der kleine Zauber an ihren Kräften nagen würde. Aber es war nun einmal nötig gewesen.
Sie presste sich gegen den breiten Stamm und schlang die Arme um ihren Körper. Am liebsten hätte sie die Augen geschlossen und geschlafen, doch das kam nicht in Frage. Wenn der Schneefall wieder stärker würde, wäre sie verloren. Nein, sie durfte sich nicht der Verlockung des Schlafes überlassen. Sie durfte sich nur eine kurze Pause gönnen und dann weiterziehen. Irgendwo würde sie auf menschliche Siedlungen stoßen, und wenn es nur eine vereinzelte Holzfällerhütte war. Irgendwo würde sie sich an einem Feuer wärmen können. Irgendwo würde es auch zumindest ein Lager im Heu für sie geben, würden stabile Wände sie von der Rohheit des Winters abschirmen.
Und du willst nach Norden, flüsterte eine innere Stimme ihr halb spöttisch, halb belustigt zu. Du sehnst dich doch jetzt schon nach Hause zurück.
Nach Hause? Nein, das, woran sie dachte, war nicht mehr ihr zuhause. Fenna schluckte ein paar Mal und schüttelte heftig den Kopf, um das Bild des Jarlshofs aus ihren Gedanken zu vertreiben. Ihr Weg führte nicht zurück, für sie gab es nur eine Richtung. Sie würde sich angewöhnen müssen, konsequent daran zu denken.
Nur eine Richtung – und wenn sie im weißen Tod endet.
Fenna zitterte und kauerte sich noch ein bisschen enger gegen den Baum. Sie fühlte sich elend.
„Bei der brausenden Schwinge des Sturmes!“, sagte eine raue Stimme neben ihr.
„Wer bist du denn, Menschenkind?“
Fenna sah auf und blickte in zwei große Augen, schwarz wie ein stürmischer Nachthimmel. Dann erst sah sie, wem diese Augen gehörten, und erschauerte.
Über sie gebeugt stand eine Gestalt mit dem Antlitz eines jungen Mädchens: harte, aber nicht hässliche Züge. Dichtes schwarzes Haar fiel ihr in Wellen über den Rücken. Der Körper war schmal und drahtig. Die Schultern wölbten sich seltsam nach hinten und endeten in glänzenden schwarzen Flügeln, weißgetupft vom vereinzelten Flocken. Fenna spürte einen leichten Schwindel. Aus Frawarads Büchern wusste sie, was für ein Wesen sie vor sich hatte. Eine Nóttsdotr, eine Tochter der Nacht, ein Mischwesen aus Mensch und Vogel. Legenden hatte sie einige gelesen. Nachtkinder gebar die Finsternis sich alleine und gab ihnen seltsame Seelen. Von den Seelen erschlagener Wechselbälger war die Rede, von vertriebenen Albträumen, von freien Tierseelen der Dunkelheit. Den Nachtkindern musste man nicht mit Magie in die Seele schauen, um ihr wahres Wesen zu kennen. Sie trugen es nach außen gestülpt.
„Wer bist du, Menschenkind?“, wiederholte die Gestalt.
Fenna schluckte schwer und verbannte den Gedanken an die Schauermärchen, die man sich über Nachtkinder erzählte, aus ihrem Kopf.
„Ich bin Fenna“, sagte sie. Ihre Zunge war belegt.
In den dunklen Augen blitzte es belustigt auf.
„Beim sanften Säuseln des Südwindes! Da bist du ganz alleine im Wald unterwegs und hast doch Angst vor mir. Was mag da erst werden, wenn du einen Troll triffst?“
Fenna suchte den Blick der Fremden nach irgendwelchen warmen Regungen ab. Sie fand nur ein spöttisches Leuchten und unverhohlene Neugier.
„Ich habe bereits Trolle getroffen“, antwortete sie mühsam. „Und ich habe sie mit einem Schlafzauber belegt.“
„Sieh an, sieh an. Aber jetzt sitzt du hier im Schnee und siehst mir nicht eben kräftig aus. Wohin des Wegs, Fenna Menschenkind?“
„Nach Norden.“
Die dunklen Augen wurden für einen Moment schmal. Die Nachttochter stemmte die Fäuste in die Seiten.
„Nach Norden! Ein Menschenkind, zart und fein wie Schwanenfedern, will nach Norden! Was hat dir denn das Herz gebrochen, dass du so jung schon deinen Tod im Eis suchst?“
Nur mit Mühe konnte Fenna dem Blick standhalten.
„Ich suche nicht den Tod“, sagte sie schwach.
Die Nachttochter lachte kurz auf.
„Was sonst solltest du finden, kläglich wie du jetzt bist?“
Mit klammen Fingern tastete Fenna unter ihrem Mantel nach dem Messer, das sie den Trollen abgenommen hatte.
„Willst du mich töten?“, fragte sie die Fremde und spürte, wie bei der Berührung mit dem Griff des Messers einige ihrer Lebensgeister zurückkehrten.
„Lass es ruhig stecken!“, beschied die Nachttochter sie und grinste. „Ich tanze gern mit dem Nordwind, so roh er auch ist; da werde ich ihm nicht ins Gehege kommen und ihm diesen Braten wegschnappen. Ist auch fast nichts dran an dir, Menschenkind. Nein, töten wird Saiwala dich nicht.“
Der Schneefall wurde langsam stärker.
„Saiwala heißt du?“
„Saiwala“, sagte die Nachttochter langsam, „kannst du mich nennen.“
Dann beugte sie sich plötzlich zu Fenna hinab. Das Mädchen fühlte sich auf zwei starke Arme gehoben. Die Nachttochter musste sehr viel stärker sein als ihre zierliche Gestalt es vermuten ließ.
„Ei, Menschenkind, was bist du für ein Federgewicht!“, sagte Saiwala und lachte. „Ein Schwanenfedergewicht, möchte ich wohl meinen. Das einzig Schwere an dir ist dein Herz.“
Fenna schloss die Augen. Sie hörte das heftige Flattern von Flügeln, sie glaubte zu spüren, wie Saiwala sie empor trug, aber gewiss war nichts mehr in diesem Meer aus Kälte und Müdigkeit, in dem sie versank. Ein Teil von ihr fragte sich, ob Saiwala in ihre Seele geblickt und den Schwan gesehen hatte.
„Wohin bringst du mich?“
Ihre Lippen formten die Worte mehr als dass sie sie aussprach. Jeden Ton musste der Wind ihr fortgerissen haben, aber sie hörte Saiwalas Antwort: „Wo du auftauen kannst, Fenna Menschenkind, auftauen und ausruhen, und dann lass uns weiter vom Norden sprechen, du Federkind!“
Dann wurde es schwarz um Fenna.

„Was soll das?“, flüsterte Svanfjadra, verborgen im dichten Mantel des Schneetreibens. „Ein Wesen der Nacht greift ein?“
„Eine Elsternseele“, murmelte Jalmvit neben ihr. Ihre Gefährtin wandte sich um.
„Und du glaubst noch immer, sie wird auf dem rechten Weg bleiben?“
„Elstern lockt das Funkeln an, liebe Svanfjadra. Und wenn es nur in der Seele ist.“
Für einen Moment durchdrang das seidene Geräusch schlagender Schwanenschwingen die Stille des Schneefalls. Danach gab es nur noch wirbelndes Weiß. Schnee fiel dicht und stetig, und die Fußabdrücke der beiden Schwanenmaiden auf dem Boden waren längst unter einem ebenmäßigen Teppich aus glitzernden Flocken verschwunden.

 
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Kapitel 8 - Winterwitterung

Nun stehst du bleich,
Zur Winter-Wanderschaft verflucht,
Dem Rauche gleich,
Der stets nach kältern Himmeln sucht.

Wirbelndes Weiß in dichten Flocken trübte die Sicht. Beißende Kälte drang durch Lethros Pelzkleidung, in ihren Körper, setzte sich in ihren Knochen fest. Sie kuschelte sich enger an Schneewitterers Körper, suchte danach, seine Wärme in sich aufzunehmen. Der Wind trieb ihr Tränen in die Augen und färbte ihre Wangen rot.
„Auf Schneewitterer, nur noch ein Stück weiter, und wir haben die Siedlung der Menschen erreicht!“ Sie flüsterte es mit brüchigen Lippen, ihre Stimme bebte vor Kälte. Der Winter erschien ihr eisiger als je einer zuvor. Der Nisunwinter steht bevor, wisperte Agils Stimme in ihren Gedanken. Der Winter, der unser Ende sein wird – oder unser Neubeginn. Letztes Jahr hatte die Alte Lethro davon erzählt. Und das Jahr davor auch, und davor. Eine lange Reihe von Jahren, in denen Agil den Untergang prophezeit hatte. Ob er nun endlich gekommen war, der Nisunwinter?
Tobende Stürme werden über das Land ziehen und die Wälder vernichten. Schnee wird fallen für sieben mal sieben Monde, bis selbst die Gipfel der Bäume bedeckt sind. Die Räuber der Natur werden voller Zorn sein, und die Menschen werden durch ihren Hass vernichtet werden. An dir allein liegt es, ob die Dockálfar dann Räuber oder Beute sein werden.

Unsinn! Lethro rief sich zurecht. Agil war weise, ja, aber was brachte es ihr jetzt, auf die dunklen Prophezeiungen einer alten Frau zu hören? Sie hatte eine Jagd zu vollenden. Sie richtete sich etwas auf und schnalzte nochmals mit dem Zügel.
„Lauf schon, du lahme Schnecke!“

Es war dunkelste Nacht, als die Bäume vor ihr zurück wichen und Schneewitterer auf eine Lichtung hinaus tapste. Am Fuß eines mächtigen gestürzten Baumes hielt er inne und senkte die Schnauze zu Boden. Undeutlich konnte Lethro eine Öffnung unter dem Wurzelballen ausmachen. Ein Eingang zu einer Trollhöhle.
„Warum hast du mich hierher gebracht? Wir suchen eine Menschin, keine Trolle.“
Ein tiefes Grollen stieg aus Schneewitterers Kehle. Er bleckte seine Zähne und trat noch einen Schritt auf die Höhle zu.
„Sie war hier?“
Er kratzte unbestimmt mit den Krallen in der Erde herum.
„Nun gut.“
Mit steifen Gliedern saß Lethro ab, tätschelte den Dachs nochmals zwischen den Ohren und gab ihm dann das Zeichen, dass sie ihn vorerst nicht mehr brauchte. Mit einem erleichterten Knurren setzte er sich wieder in Bewegung und verschwand zwischen den schneebedeckten Bäumen.
Lethro ließ sich auf die Knie nieder und steckte den Kopf in die Trollhöhle. Beißender Gestank nach nassem Pelz drang in ihre empfindliche Nase und sie musste niesen. Von weither war undeutliches Gemurmel zu vernehmen. Trolle, die offensichtlich stritten. Schnatterndes Gezänk und spitze Trollschreie.
Lethro hatte wenig Lust, in die stinkende Höhle zu kriechen. Diese Schleicher sollten sich gefälligst zu ihr bewegen. Sie beugte sich noch ein Stück weiter vor, spitzte die Lippen und stieß einen schrillen Pfiff aus, der von den Wänden des Stollens zurückhallte. Unvermittelt verstummte das Plappern. In der plötzlichen Stille konnte Lethro schabende Geräusche vernehmen. Die Trolle machten sich offenbar durch einen weiteren Eingang davon.
„Ich werde euch kriegen, egal, wohin ihr geht, das schwöre ich euch. Wenn ihr jetzt mit mir sprecht, könnte ich mir jedoch überlegen, euch am Leben zu lassen!“, rief sie in den Stollen hinunter. Das Schaben setzte aus. Dann kam es wieder, nur bewegte es sich diesmal auf Lethro zu. Mit einem zufriedenen Grinsen lehnte sie sich zurück und wartete. Die Nachricht ihrer Jagd hatte sich wahrscheinlich in Windeseile unter den Trollen ausgebreitet. Recht so.

Erde rieselte herab und ein winziger Troll kam aus dem Loch gekrochen. Er hatte einen dicken runden Kopf und große Kulleraugen. Ein Kind! Wahrscheinlich glaubten sie, dass selbst eine Dockálfar einem Kind nichts antun würde. Lethro grinste.
„Na, Kleiner, raus mit der Sprache. Du weißt, was ich will. Sie war hier.“
Das Trollkind bibberte, senkte den Blick zu Boden und kaute auf seinen Lippen. Lethro griff nach ihrem Messer. Nur ein kleines Stück weit zog sie es aus ihrem Gürtel, da begann der Troll auch schon zu sprechen.
„Nach Norden. Zu Anafghùn ist sie.“ Er redete so schnell, dass er sich beinahe verhaspelte. „Sie war hier, hat die Alten betäubt. Mit Zauber betäubt. Gestohlen hat sie, unsere Sachen. Sie sind ihrer Spur gefolgt, bis zum Anafghùn, dort haben wir sie verloren.“
Lethro sah dem Trollkind scharf ins Gesicht. Er zitterte vor Angst, aber er vermied es auch, in ihre Augen zu sehen. Was, wenn der Schleicher sie anlog? Zuzutrauen wäre es dem kleinen Bastard.
„Was will eine Menschin bei Anafghùn? Die Geister der Tryski werden sie vernichten. Du lügst doch, Kerl!“ Sie griff nach seinem zottigen Pelz, aber er wich hastig zur Seite. Jetzt richtete er seine großen braunen Augen direkt auf Lethro.
„Die Menschin will eine Zauberin sein. Sie erhofft sich Hilfe von den Tryski. Bei den Menschen sagt man sich, sie hätten die Macht, Zauber zu verleihen. Wenn man es wagt, sich ihnen zu stellen. Die Tryski schätzen den Mut.“
Ein Funkeln glomm in den Augen des Trolles. Es war Lethro unmöglich, ihren Blick abzuwenden. Seine Stimme wurde immer sanfter, immer eindringlicher.
„Es ist gar nicht weit bis zu Anafghùn. Mit deinem Dachs kannst du schneller da sein als das Menschenkind. Und wenn du den Tryski die Stirn bietest, dann geben sie dir vielleicht die Kräfte deines Volkes zurück. Mit ihnen wirst du das Menschenkind mit Leichtigkeit fangen können. Niemand kann sich dir dann noch in den Weg stellen.“ Es war, als spräche er gar nicht, sondern als wären es Lethros Gedanken, die nur aus seinem Mund kamen. Noch immer konnte sie den Blick nicht von seinen Augen abwenden. Sie glühten nun rötlich und tief, als wären es Kohlen, die in seinem Schädel saßen.
Für einen ganz kurzen Moment, blitzte in ihrem Kopf eine Warnung auf, die sie einmal von Agil gehört hatte. Trollschamanen, meide sie, denn sie können dich denken lassen, was sie wollen!
Ärgerlich wischte Lethro den Gedanken beiseite. Das hier war ein Trollkind und kein Schamane. Und es hatte Recht. Sie konnte zum Anafghùn ziehen, mit den Tryski würde sie schon fertig werden. Und dann... vielleicht musste sie das Menschenkind gar nicht mehr finden. Vielleicht konnte sie selber den Fluch von ihrem Volk nehmen.
Sie richtete sich auf und pfiff nach Schneewitterer. Es dauerte eine ganze Weile, bis er schließlich aus dem Wald getrabt kam, sein Maul verschmiert von Blut. Ohne noch weiter auf den Troll zu achten, schwang sie sich auf den Rücken des Dachses. Dann wandte sie ihren Blick nach Norden.
Gar nicht weit von ihr entfernt erhoben sich die roten Hänge des Anafghùn über die Bäume hinweg. Nur ein Tagesritt nach Norden, und... Lethro ließ Schneewitterer die Zügel schießen. Zum Anafghùn!

Sie achtete nicht mehr darauf, dass der Troll hinter ihr plötzlich alterte, wie seine Gestalt sich beugte und die Tätowierungen in seinem Gesicht erschienen, die ihn als Schamanen auswiesen. Sie bemerkte nicht, wie die anderen Trolle um ihn zusammen liefen und schwatzten. Noch sah sie sein Grinsen. Ihr Sinn war nur noch auf ein Ziel gerichtet. Der Anafghùn. Das Menschenkind hatte sie beinahe vergessen.
„Wenn der Jileken sie nicht erwischt, werden die Tryski sie töten“, kicherte ein beigefarbener Troll neben dem Schamanen. Doch der wiegte nur besorgt seinen Schädel.
„Sie ist stark, selbst für eine Dockálfar. Vielleicht kann sie den Jileken bezwingen. Wo ist das Menschenmädchen?“
„Nicht weit. Die Nóttsdotr hat sie. Und die Schwäne wachen.“
Der Schamane lachte. „Wir bekommen sie schon. Sie ist klein, schwach, hungrig nach Macht. Es wird ein Leichtes sein, auch sie zum Anafghùn zu locken. Wenn die Dockálfar sie dort trifft, werden sie sich gegenseitig vernichten, und der Nisunwinter kann endlich kommen!“

 
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Kapitel 10 - Schwanenflug

Aus den Lüften stürzt sie nieder,
Ihre Schwingen zerbrochen dann.
Frühling, Frühling, komm’ doch wieder,
In der Ferne Schwanensang?

Die Sonne kletterte langsam über die Baumwipfel. Fenna schmunzelte. Ich kann fliegen, schweben, noch viel höher als die Sonne. Unter ihr wichen die Schatten des Waldes der Morgenröte, die vom Horizont aus rotäugig auf die Erde blickte. Die Krähen flohen von den Bäumen und suchten Schutz im Schatten des Berges. Am Himmel, mochte man glauben, war es allein Fenna, die wie am helllichten Tag strahlte. Bloß eine Zeitlang vergaß sie das anmutige Schauspiel der Natur und fragte sich, durch welch göttliches Wirken es zu dieser Verwandlung kam. Warum konnte sie ohne weiteres fliegen? Die Antwort darauf gab ihr der Wind, der sich lind um ihr Gefieder schmiegte und sie wie ein weiches Federkissen durch die Lüfte trug.

Schon bald hängte sie die Nachttöchter ab, die ihr wie ein Schatten gefolgt waren. Sie vertragen das Sonnenlicht nicht. Sie tun mir Leid. Sie können weder sehen noch fühlen, wie die Natur erwacht. Fenna indes schloss die Augen, genoss den Moment, das abwechselnde Schweben und Gleiten, die Erfüllung ihres Traumes, den sie schon seit ihrer Kindheit hegte.

»Papa, Papa«, Fenna kam damals völlig außer Atem vom Ufer des Sees angerannt, sie hatte die Schwäne über dem Wasser aufsteigen sehen, »warum können Menschen nicht fliegen?« Breca strich sich über den schwarzen Bart, sah dann zu Menja, die ruhig lächelte. Er nahm Fenna auf den Schoß und sagte: »Nur den Menschen, die reinen Herzens sind, schenkt der liebe Gott Flügel.« Auch Frawarad, stellte sie fest, wusste diesmal keine Antwort auf ihre Frage. Tagelang beschäftigte er sich mit seinen vielen Büchern. Doch selbst sie schwiegen.

Allmählich erbleichten die Sterne, die Fenna glaubte, mit ihrer Flügelspitze berühren zu können, bis sie gänzlich im blauen Luftmeer versanken. Die Wälder rauschten zu ihren Füßen und die Flüsse glitzerten im Morgenschein. Alles kam ihr so vertraut war. Vom Wachtturm aus, der während ihrer Reise an den Rand der Welt gerückt war, hatte sie eine ähnliche Sicht gehabt. Nie aber reichte ihr Mut für einen Sprung. Nun endlich, da sie nicht mehr die Burgmauern um sich wusste, verspürte sie die vollkommene Freiheit. Flüchtig dachte sie sogar daran, nach Hause zurückzukehren, Thryth zu verjagen und an der Seite Brecas und Ingelds dem Reich zur Blüte zu verhelfen. Viel lieber aber mochte sie die Zeit anhalten, um auf ewig diesen erhabenen Augenblick zu erleben.

* * *

»Schnell, da kommt es.« Die dunkle Gestalt eines Kobolds hockte in den Ästen, er zischte laut, wobei er immerfort mit den kurzen Ärmchen umherwirbelte. Das Sonnenlicht tropfte schräg durch das dichte Blattwerk herein; man konnte seine hässliche, rote Zunge sehen, die ihm weit aus dem Schlund hing. Am Waldboden hatten sich die restlichen Kobolde auf die Lauer gelegt. Das Katapult in Stellung gebracht und gewartet. Auf den richtigen Moment. Nun aber, durch die Rufe ihres Häuptlings aufgeschreckt, waren sie allesamt in heller Aufregung. Einige machten lächerliche Verrenkungen, schnitten grässliche Gesichter in Vorfreude eines vortrefflichen Fanges. Anderen lief der Speichel über die wulstigen Lippen. Die Koboldkinder schrieen und zerrten an den Fellen ihrer Mütter. Mit einer blitzschnellen Wendung sprang der Schreihals vom Baum. Er ließ die doppelte Menge an Ihmelyt heranschaffen, setzte sich hinter das Katapult und spannte das Seil nach. Es gab nur diese eine Gelegenheit. Für einen zweiten Schuss würde die Zeit nicht reichen. Sorgfältig begann er, mit dem Fernrohr zu zielen. Er glaubte beinahe, am Widerschein der Kristallschwingen zu erblinden. Solch ein prächtiges Tier mussten damals auch seine Vorfahren zu Gesicht bekommen haben. An deren Prophezeiungen glaubte schon lang niemand mehr. Heute aber würde die Jagd ein Ende finden, davon war er fest überzeugt. Er lachte innerlich. Dann durchschnitt er das Seil. Das Netz schoss weit über das grüne Walddach in Richtung Himmel.

»Treffer!«

 

Kapitel 11 – Waldkinder

Sind in den grünen Tiefen geboren
Leben im flüsternden Unterholz
Sterben im Herbstlaub. Vom Walde erkoren
Sind wir sein Volk, sind wir Kobolde stolz.

Ein bohrender Schmerz zog mit jedem Atemzug durch ihre Magengrube. Fenna lag auf dem Rücken, den harten Boden unter sich. Ihre Gliedmaßen kamen ihr vor wie zerbrochenes Blei.
In der Nähe wisperte und raschelte es. Sie schlug die Augen auf. Grünes Blattwerk ließ nur wenig Sonnenlicht durch, dennoch blendete sie selbst der dämmrige Halbschatten.
Vorsichtig hob sie den Kopf. Der Schmerz jagte stärker durch ihren Leib. Fenna schaute an sich hinunter und stellte fest, dass sie menschlich war; kein weißes Federkleid mehr. Langsam setzte sie sich ganz auf. Es bereitete ihr Mühe, den Arm zu heben und sich über die Augen zu fahren, ehe sie sich umsah.
„Willkommen, Schwanenjungfrau.“ Eine leicht kratzende Stimme ließ sie zusammenzucken. Nur wenige Meter entfernt hockte ein Kobold, kaum größer als ein fünfjähriges Kind, von zottigem dunklem Pelz bedeckt. Er grinste sie an.
„Ich bin keine Schwanenjungfrau“, sagte Fenna, auch wenn sie nicht wirklich sicher war, ob das stimmte. Aber etwas musste sie ja sagen.
Der Kobold ließ ein schepperndes Lachen hören.
„Was erzählst du, Schwanenjungfrau! Wir haben lang auf dich gewartet.“
Fenna legte die Hand auf ihren Bauch.
„Ihr habt mich abgeschossen?“
„Nirgendwo wirst du fähigere Katapultmeister finden als im Nördlichen Wald“, erwiderte der dunkle Kobold achselzuckend. „Nun gut, Schwanenjungfrau. Hast du auch einen Namen, der mir nicht die Zunge bricht?“
„Fenna.“
„Ich bin Bilkje, der Häuptling vom Nördlichen Wald.“
Langsam nahm Fenna im Gebüsch um sie herum weitere Gestalten wahr, kleiner als der Häuptlingskobold, ihm ansonsten aber sehr ähnlich. Sie hockten hinter Sträuchern und Baumstämmen, kletterten leise, aber unruhig herum wie Eichhörnchen und zerbrachen nervös kleine Stöckchen in ihren Händen. Das waren also die Geräusche, die sie geweckt hatten. Fenna beschloss, ihnen keine weitere Beachtung zu schenken.
„Was wollt ihr von mir? Ich muss nach Norden.“
„Nicht jetzt!“ Bilkjes Augen leuchteten kurz auf. „Du wirst erst einmal bei uns bleiben. Wir haben so lange auf dich gewartet.“
„So sehr, dass ihr mich fast umbringt?“
Bilkje zuckte mit den Schultern.
„Es gibt keine andere Art, Schwanenjungfrauen aufzuhalten. Und nun bist du hier bei uns. Wenn du so klug bist, wie man es von deinesgleichen erzählt, dann wird dir auch kein Haar gekrümmt werden.“
„Was meinst du damit, ihr habt auf mich gewartet?“, fragte Fenna und verzog das Gesicht, weil der Schmerz sich zurückmeldete.
„Lehn dich zurück, Fenna“, sagte Bilkje. „Dann kannst du meiner Geschichte lauschen und wirst es bequem haben.“
Gehorsam rutschte Fenna rückwärts und lehnte sich gegen einen Baumstamm. Die Rinde wölbte sich schmerzhaft gegen ihren Rücken, aber seltsamerweise ließ der Schmerz in ihrer Magengrube tatsächlich nach. Dafür fiel ihr auf, dass ihr Mund trocken war. Doch Bilkje machte nicht den Eindruck, als würde er einer Bitte nach Wasser Folge leisten. Er musterte sie scharf aus grüngelben Augen und begann zu erzählen, in einem sicheren Tonfall, der weder Widerspruch noch andere Unterbrechung duldete.
„Mächtig und alt ist der Nördliche Wald, und wer es kann, der meidet ihn, denn die Kräfte des Waldes sind unberechenbar. Wir Kobolde haben gelernt, sie zu verstehen und zu besänftigen, sodass wir gefahrlos im dunklen Grün wohnen können. Aber ein normaler Vogel wird den Wald nicht überfliegen, weil sein Instinkt es ihm verbietet und ihn schnellstens forttreiben wird. So ist der Himmel leer über uns. Doch von Zeit zu Zeit gibt es Schwäne, die auf ihrem Zug nach Norden auch unsern Wald überfliegen. Die Schwanenjungfrauen sind es, tapfer und trotzig. Sie fürchten die Kräfte des Waldes nicht und vertrauen der Kraft ihrer Schwingen. Schon seit Generationen klettern wir mit unseren Kindern in die höchsten Wipfel hinauf und erwarten die Tage, wenn die Schwanenzüge kommen, denn es ist ein Schauspiel, das uns gefällt.
Vor vielen Jahren waren die Schwanenzüge lange vorüber gezogen und der Winter war bereits über unseren Wald hereingebrochen. Die letzten grünen Blätter waren vom kalten Nordwind schon von den Bäumen gepeitscht, und wir hatten uns zurück in unsere Schlupflöcher gezogen, wo die lange, eisige Jahreszeit sich warm und behaglich überdauern lässt. Da, eines Tages, erschien ein weißer Punkt im grauen Himmel. Wir sahen ihn durch Zufall und folgten ihm mit den Augen, es war ein einzelner Schwan. Er flog langsam und glitt tiefer mit jedem Flügelschlag, als ob es ihn sehr viel Mühe koste. Schließlich schien er für einen Moment fast auf der Stelle zu verharren, stieg nicht auf noch ab, flog nicht voran noch zurück, und stürzte dann wie ein Stein zur Erde. Wir kamen aus unseren Verstecken und suchten nach dem gestürzten Vogel. An der Stelle, wo das Tier auf den Boden aufgeschlagen war, lag ein junges Mädchen, vom Antlitz gerade wie du, dasselbe kupferne Haar, und am Leib hingen ihr noch einige zerrissene Federn. Wir hoben sie auf und nahmen sie mit zu uns, flößten ihr den Wurzeltrunk ein, der belebt und heilt, und pflegten sie den ganzen Winter lang. Es dauerte seine Zeit, bis sie die Augen aufschlug, und danach war sie noch sehr lange schwach. Während draußen die bittersten Stürme heulten, sprach sie kein Wort mit uns, obwohl wir sehr eifrig in sie drangen, weil ihre Geschichte uns interessierte. Wir verstanden aber nach einer Weile, dass ihr Schweigen undurchdringlich war, und kümmerten uns nicht weiter darum. Wenn es draußen besonders heftig schneite, dann barg sie das Gesicht in den Händen und weinte lautlos, und wir schmiegten uns an sie und trösteten sie ebenso stumm.
Erst als es langsam Frühling wurde, begann unsere gefallene Schwanenjungfrau zu sprechen, mit einer Stimme, die rau war vom langen Schweigen.
‚Ich danke euch für alles, liebe Freunde’, sagte sie zu uns, ‚ihr habt mir das Leben gerettet und sehr viel Geduld mit mir gehabt. Ich dachte, ich müsste sterben. Ich wollte nach Norden, aber meine Kräfte haben nicht ausgereicht. Das ist ein böses Zeichen.’
Sie verriet uns ihren Namen: Menja hieß sie. Da es Frühling war, wollte sie aufbrechen, aber sie war nicht mehr fähig, ein Schwanenkleid überzuwerfen. Oft sahen wir sie durch den Wald gehen und die Arme ausbreiten, aber sie blieb doch immer ein Mensch. Ihre Verzweiflung zehrte an ihr und leuchtete ihr aus den Augen, doch sie sprach nie darüber und wir begriffen, es war besser, nicht dran zu rühren. Über alles andere sprach sie mit uns und lebte viele Monate beinahe wie ein Kobold, und ihr kupferrotes Haar wurde länger und länger.“
Bilkje brach kurz ab und sah zur Seite. Fenna hatte den Eindruck, dass das Weiterreden ihm schwer fiel.
„Ach, wie schön sie war, die gefallene Schwanenjungfrau! Ich war noch kein Häuptling damals, es war noch lang hin … Und ich war einer von denen, die mit Menja durch den Wald strichen und ihr zeigten, was es zu entdecken gab, und die Geheimnisse verrieten, die offenbart werden durften. Und im Gegenzug sprach Menja zu uns von der Welt, die jenseits unseres Waldes lag und die uns so unerreichbar fern war. Wie liebte ich ihre Geschichten! Von sich selbst sprach sie nie, von ihrer Welt aber oft; und mir und wohl auch andern wurde das Herz ganz unruhig. Je länger die Tage wurden, je wärmer die Sonne schien, desto stärker wuchs in uns jungen Kobolden die Begierde, auch einmal den Nördlichen Wald zu verlassen und die Welt Menjas zu besuchen. Aber nicht nur sind die Wege weit und Koboldbeine kurz. Die Gesetze des Waldes hätten es nie zugelassen, dass einer von uns ihn verließ. Unsere alten Legenden künden davon, was denen geschah, die es versuchten.
Als der Sommer voll und schwer war und sich dem Herbst zuneigte, sagte Menja mir ganz im Geheimen, dass sie nun aufbrechen würde. Nicht geflügelt, denn zum Schwan konnte sie noch immer nicht werden, diese Fähigkeit hatte sie verspielt, wodurch auch immer. Aber zu Fuß wollte sie es wagen. Ich flehte sie an, mich doch mitzunehmen, aber sie ließ sich nicht darauf ein. Weder mich noch sonst einen Kobold würde sie aus dem Nördlichen Wald führen, sagte sie, denn mittlerweile kannte sie die Gesetze des Waldes so gut wie wir. Uns allen brach fast das Herz. Da, als Menja bereits zum Aufbruch bereit war, versprach sie uns wiederzukommen, wenn sie das Federgewand wiedererlangt hätte. ‚Und wenn ich es nicht kann, wird eine andere es tun, ihr werdet sie daran erkennen, dass sie so einsam fliegt wie ich geflogen bin, als ich in euren Wald stürzte. Und wenn ich wiederkomme, werde ich einen von euch mitnehmen und ihm meine Welt zeigen, und ich werde versuchen, die Gesetze des Waldes zu beenden, damit ihn alle Kobolde frei verlassen können, wann und wie es ihnen gefällt.’
So sprach sie und brach auf, ging mit langsamen Schritten in den Wald hinein. Wir sind ganz sicher, dass sie den Weg hinaus gefunden hat.
Jahrein, jahraus warteten wir auf Menjas Wiederkehr. Aber nichts geschah. Dann endlich, eines Tages, überflog ein einzelner Schwan unseren Wald. Voller Erwartungen sahen wir zum Himmel … aber der Schwan kam nicht tiefer, er flog einfach weiter und ließ den Nördlichen Wald hinter sich. Und so geschah es immer wieder: Wenn, was selten genug vorkam, ein einzelner Schwan unseren Wald überflog, beachtete er ihn nicht weiter. Wir waren lange geduldig, wurden aber immer trauriger und am Ende verbittert. So haben wir uns schließlich geschworen, den nächsten einzelnen Schwan vom Himmel zu holen, auf welche Weise auch immer. Und so ist es am Ende geschehen. Nun haben wir dich hier, um Menjas Versprechen einzulösen.“
Bilkje sah sie erwartungsvoll, aber bestimmt an. Fenna stützte sich mit beiden Händen auf den Boden. Ihr war schwindlig.

 
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Kaptel 13 - Schattenwanderung

Dim vales - and shadowy floods -
And cloudy-looking woods,
Whose forms we can't discover
For the tears that drip all over:
Huge moons there wax and wane-
Again - again - again -

Fenna zwang sich, ruhig zu atmen. Langsam schwand das Schwindelgefühl, als die frische Waldluft ihre Lungen füllte. Das Stechen in ihrer Magengrube setzte wieder ein, so plötzlich, dass sie schmerzerfüllt die Augen schloss.
Verdammt, Frawarad hat dir doch einen Zauber gegen Schmerzen beigebracht, erinnere dich!
Es fiel Fenna schwer, sich zu konzentrieren, während sie die Augen des Koboldes immer noch auf sich spürte. Sie biss die Zähne zusammen, versuchte, den Schmerz zu ignorieren und suchte im Geist nach den richtigen Worten. Plötzlich - noch bevor sie die Formel gefunden hatte - kam der Zauber zu ihr, in einem Schwall von Wärme, die ihren Körper durchzog. Das Pochen in ihrem Bauch ebbte rasch ab, die Trockenheit in ihrem Mund verschwand und ein warmes Kribbeln durchlief sie bis in die Fingerspitzen.
Überrascht riss Fenna die Augen auf. Bilkje vor ihr starrte sie immer noch erwartungsvoll an. "Was... was habt ihr mit mir getan?", stieß sie hervor. Noch nie im Leben war ihr ein solcher Zauber gelungen. So stark, so überwältigend. Der Häuptling des Nördlichen Waldes legte nur verwundert den Kopf zur Seite.
"Getan?"
"Ihr habt nicht... ihr habt keinen Zauber auf mich gelegt?" Das Kribbeln erfüllt immer noch Fennas gesamten Körper, sie konnte die Reste der Magie bei jedem Herzschlag spüren. Doch Bilkje schüttelte nur verständnislos den Kopf. Einige Momente starrten die beiden sich nur an, Fenna und der Kobold, dann hellten sich die Bilkjes Züge auf - sofern Fenna sein Mienenspiel richtig deutete.
"Anafghùn."
"Was?"
"Anafghùn, die Alte und Weise. Sie wacht über den Nördlichen Wald und schenkt den Kreaturen die Macht der Zauberei. Sie ist nicht weit von hier, es wird ihre Macht sein, die du spürst."
Dunkel kam eine Erinnerung in Fenna auf. Eine Erzählung, der sie gelauscht hatte, als sie noch ein kleines Kind gewesen war. Ingeld hatte vom Anafghùn gesprochen, Anafghùn dem Drohenden, dem Eiswächter. Verwirrt schüttelte sie den Kopf.
"Du musst dich irren. Anafghùn ist ein Berg, weit im Norden. Dort gibt es Schlangendrachen und Düstervolk. Niemand wagt sich dorthin. Er wacht über die Grenze zwischen den Eislanden und uns. Es ist ein böser Ort."
Bilkje wiegte den Kopf, in seinen gelben Augen ein nachsichtiges Lächeln. "Menschengeschwätz. Wir Völker des Nördlichen Waldes wissen, wer Anafghùn wirklich ist. Die Hüterin. Die schlafende Riesin. Sie gibt und nimmt. Und die Schlangendrachen, wie ihr sie nennt, sind ihre Vertrauten."
"Wie auch immer, sie ist niemand, dem ich begegnen möchte." Bei diesen Worten stemmte Fenna sich vorsichtig hoch. Ihre Beine trugen sie wieder, ja, sie fühlte sich kräftiger als je zuvor. Jetzt, wo sie den Häuptling des Nördlichen Waldes um mehrere Längen überragte, schwand auch langsam ihr Respekt vor ihm.
Was soll er mir schon anhaben, erbärmlich klein, wie er ist. Der Gedanke schoss ganz plötzlich durch ihren Kopf. Er fühlte sich ungewohnt an, irgendwie falsch, doch er ließ sich auch nicht verdrängen. Noch immer prickelte der Zauber in Fennas Körper und sie konnte eine unbekannte Macht in sich spüren, die sie übermütig machte. Es war, als hätte diese Macht nur darauf gewartet, dass Fenna sie weckte, damit sie nun von ihr Gebrauch machen konnte.
Bilkje jedoch schien überhaupt nicht beeindruckt zu sein von ihrer Größe. Er wiegte nur weiterhin nachdenklich den Kopf. "Wenn du zum See der Tryski möchtest, wirst du Anafghùn passieren müssen, Schwanentochter, ob du möchtest, oder nicht. Er liegt jenseits der Grenze, in den Eislanden."
Fenna klopfte Erde und trockene Nadeln von ihrer Kleidung. Seltsam, dass sie sich mit mir verwandelt hat, dachte sie, und tastete gleich darauf nach Frawarads Beutel. Er hing immer noch sicher an ihrem Gürtel. Sie konnte das glatte Holz spüren. Irgendwann wird ich nachsehen müssen, was darin ist. Doch die Zeit dazu war noch nicht gekommen. Das wusste sie mit einer beinahe unheimlichen Sicherheit.
"Warum sollte ich zum See der Tryski wollen?", fragte sie Bilkje etwas verspätet. Sie hatte noch nie von diesem See gehört und konnte sich nicht vorstellen, was sie bei allen Göttern in den Eislanden suchen sollte.
Er warf ihr einen erstaunten Blick zu, so verwundert, als hätte sie ihn gerade gefragt, wo sich ihre Füße befänden.
"Es ist deine Heimat, oder nicht? Die Heimat der Schwanenmaiden. Menja sprach immerzu von dem See."
Fenna hörte auf, ihre Kleidung zu säubern und starrte nun ihrerseits Bilkje völlig verblüfft an. "Die Heimat der Schwanenmaiden liegt im Eisland?"
Auf einmal glitt der Wald um sie herum weg und es tauchten Bilder vor ihrem geistigen Auge auf. Wirbelnder Schnee, glitzernde Eisflächen und Wasser. Ja, Wasser, dunkelblau, beinahe schwarz, das sich von ihren Füßen bis zum Horizont zog. Und auf dem Wasser weiße Tupfer, hingesprenkelt wie Sterne am Nachthimmel.
Sie hatte davon geträumt, so fiel ihr jetzt ein. Immer und immer wieder, nur war der Traum nach dem Erwachen stets verschwunden gewesen. Doch jetzt konnte sie den See wieder deutlich sehen, und, was noch wichtiger war, sie konnte ihn hören. Den Ruf, den er an ihr Herz sandte, den Ruf, dem sie in den Norden gefolgt war. Sie konnte sogar das Plätschern des Wassers vernehmen, und sie selber schwebte, leicht wie eine Feder, segelte über die glitzernde Fläche, um endlich nach Hause zu kommen.
"...mit, wenn du dorthin gehst?" Bilkjes Stimme drang nur langsam in Fennas Bewusstsein. Der See war wieder verschwunden, sie fühlte den Waldboden unter ihren Füßen, roch den harzigen Duft der Kiefern. Bilkjes gelbgrüne Augen glühten.
"Ich kann dich nicht mitnehmen, ich weiß nicht, wie ich dich aus diesem Wald heraus bringen soll", antwortete sie etwas abwesend. Wie kann ich so schnell wie möglich zum See gelangen? Denn ich muss dorthin. Dort liegt meine Heimat, dort werde ich endlich ich selber sein. Und alles wird gut sein.
"Menja hat versprochen, dass du es kannst. Du wirst mich mitnehmen in die Lande jenseits des Waldes. Und wenn ich zurück kehre, kann ich mein Volk ebenfalls aus dem Wald führen." Es war keine Frage mehr, es war ein Befehl, doch Fenna achtete nicht mehr auf Bilkje. Der Ruf in ihrem Herzen war so stark geworden, dass er beinahe schmerzte.
Und auf einmal fiel es ihr ein. Die alten Worte, die Frawarad ihr einmal zugeflüstert hatte. Damals, vor dem Kamin in seiner kleinen Hütte, als die Dunkelheit draußen schon gefallen war und Fenna eigentlich nach Hause hatte gehen sollen. "Worte, die dir die Schattenwege öffnen, die Pfade durch die Welt der Geister. Du darfst sie nicht vergessen, Fenna, doch du darfst sie auch nicht anwenden, es sei denn, du befindest dich in höchster Not." Sie hatte damals nicht gewusst, wann sie die Worte jemals gebrauchen konnte, doch nun, in genau diesem Augenblick fühlte sie sich mehr in Not als je zuvor. Sie musste einfach zu diesem See. Sofort.
Sie atmete tief durch, dann wandte sie sich von Bilkje ab und hauchte die Worte in die Waldluft.
Ein Windstoß fegte sie beinahe von den Füßen, er war eiskalt, wie der Atem des Todes selbst. Die Bäume um sie herum ächzten jämmerlich, als litten sie schreckliche Schmerzen. Tränen stiegen in Fennas schmerzende Augen und sie versuchte, sie fort zu blinzeln.
Als der Wind abklang und sie wieder sehen konnte, unklar durch den Tränenschleier, war die Welt um sie herum verschwunden. Nein, eigentlich nicht richtig verschwunden, nur - anders, ging ihr durch den Kopf. Schattenhafte Bäume um sie herum, unbewegt. Nebelhafte Fetzen, die zwischen ihnen umher trieben. Ob das Geister sind? Es war kühl, aber nicht kalt. Kein Geräusch war zu hören, die Stille war so vollkommen, dass es ihr vorkam, als wäre sie von einem Moment auf den anderen taub geworden. Fenna schauderte. Was hatte sie da getan? Warum hatte sie sich dazu hinreißen lassen? War ihre Not wirklich so groß gewesen?
Sie horchte in sich hinein, doch der drängende Ruf war in dem Moment verstummt, in dem sich die Schattenwelt vor ihr aufgetan hatte. Es war, als gäbe es überhaupt keine Gefühle mehr in ihr, nur noch eine schreckliche, kühle Leere, nicht unähnlich der Gegend um sie herum. Fenna wusste, dass sie Angst haben sollte, doch selbst dieses Gefühl erreichte sie nur gedämpft, eher eine Art Unwohlsein, als echte Angst.
Und was mache ich jetzt? Wohin soll ich gehen? Ohne den Ruf weiß ich nicht einmal wo Norden ist. Gibt es überhaupt ein Norden in dieser Welt?
Sie blickte sich unsicher um. Weit konnte sie nicht sehen. Grau und schwarz, schleierhafte Schemen von Bäumen, Felsen, Hügeln, mal nahe, mal fern, als trieben sie mit unbestimmtem Ziel durch diese seltsame Welt. Dann entdeckte sie etwas, das nun tatsächlich lähmende Angst durch ihren Körper sandte. Menschen. Zumindest menschenähnliche Nebelfetzen, die langsam auf sie zuglitten. Aus dem unbestimmten grauen Wabern leuchteten ihr rote und gelbe Funken entgegen, bösartige Augen mit geschlitzten Pupillen, wie Raubtiere.
Fenna wollte schreien, doch sie brachte keinen Ton hervor, sie wollte rennen, aber ihre Beine gehorchten ihr nicht. Die Schemen trieben immer näher. Nebelhafte Arme mit glitzernden weißen Klauen griffen nach ihr...
Urplötzlich war eine kleine Gestalt an ihrer Seite, dicht bepelzt mit leuchtenden gelbgrünen Augen. Bilkje warf sich zwischen sie und die nebelhaften Gestalten. "Fort, weicht von ihr!" Seine Stimme dröhnte in der unheimlichen Stille viel lauter als sie im Wald gewesen war. Und das Wunder geschah. Die Schatten wichen vor ihm zurück, schwebten davon, zwischen die dunklen Bäume, um dort inne zu halten und zu lauern. Bilkje drehte sich zu Fenna um.
"Ich wusste, dass du mich aus den Wäldern bringen kannst."
"Bitte?" Fennas Stimme klang so krächzig, als wäre sie selber ein Kobold. Der Häuptling kicherte.
"Mein Volk hat lange die Worte vergessen, die die Geisterwelt öffnen. Die Welt, in der es keine Grenzen gibt. Sonst wären wir schon lange aus unserem Wald fortgewandert. Doch du hast mich eingelassen, und nun können wir zu Anafghùn wandern, und niemand wird mich aufhalten." Er kicherte nochmals, er schien ausgesprochen gute Laune zu haben.
"Aber... aber, ich weiß nicht... ich meine, ich kenne den Weg nicht." Fennas Stimme war beinahe ein Flüstern, doch durch die unnatürliche Stille klang sie erschreckend laut.
Bilkje grinste nur breit. "Wir mögen die Worte der Öffnung vergessen haben, aber wir haben noch nicht vergessen, dass wir einst die Führer durch die Geisterwelt waren, vor langer Zeit. Vertrau mir nur, ich kenne den Weg. Wenn du bei mir bleibst, wird dir kein Leid geschehen. Die Schattenkreatur ist noch nicht erschaffen, die einen Kobold nicht fürchtet." Und damit drehte er sich um und stapfte entschlossen auf die nahen Bäume zu. Voller Angst, alleine gelassen zu werden, folgte ihm Fenna.
Bei jedem Schritt, den sie machte, federte der weiche graue Boden zurück, als liefe sie über ein gespanntes Segel. Fenna fand das ungewohnt und beängstigend, doch Bilkje lachte nur, als sie ihn einholte. Noch bevor sie ihm von ihrer Furcht erzählen konnte, winkte er ab. "Nichts wird dir geschehen, das sagte ich dir doch. Und nun nimm meine Hand!"
Zögernd griff Fenna nach unten. Kleine scharfe Nägel bohrten sich in ihre Handfläche, als Bilkje zugriff. "Mach immer einen Schritt, wenn ich es tue! Achte darauf, dass du meine Hand nicht verlierst!", wies er sie an, bevor er in einen lauten und ziemlich falschen Gesang ausbrach. Fenna konnte keine Worte verstehen, es war eine fremde, seltsam alt klingende Sprache, die ihr einen Schauer über den Rücken jagte.
Als sie zusammen mit Bilkje den ersten Schritt tat, flog die Landschaft an ihr vorüber, als hätte sie einen ganzen Tagesmarsch überbrückt. Hügel, Bäume, Täler, Felsen, alles flog grau und wolkengleich an ihr vorbei. Noch ein Schritt, und noch einer, die graue Landschaft änderte sich schneller, als sie es verfolgen konnte. Und immerzu sang Bilkjes alte dröhnende Stimme neben ihr.
Ihr wurde schwindelig, doch sie traute sich nicht, die Augen zu schließen. Sie durfte Bilkje nicht verlieren. So starrte sie fest auf seine Füße, um den immer nächsten Schritt nicht zu verpassen, und versuchte, sich nicht umzusehen.
Dann war es vorbei. Bilkje verstummte und blieb stehen. Fenna stolperte noch einige Schritte weiter, doch dieses Mal änderte sich die Landschaft um sie herum dabei nicht. Sie stürzte und fiel weich auf Hände und Knie. Der Boden federte sie zurück.
Sie sah auf. Vor ihr durchbrach ein blauer Schimmer und ein helles Glitzern das ewige Grau der Schattenwelt.
"Wir sind da", sagte Bilkje hinter ihr.

 

Kapitel 14 – Eislande

Was die Eiskristalle singen, ist ihr Traum von Ewigkeit;
Was da klingt in Zauberdingen, ist ein Traum aus alter Zeit.
Was die toten Seelen bringen, eines andren Lebens Leid.
Was mag endlich wohl entspringen aus der dreien Einigkeit?

Eis.
Nichts als Eis; eine weite, endlos scheinende Fläche, die sich unter einem gespenstisch rotleuchtenden Himmel erstreckte und doch irgendwo in einem grauen Zwielicht verlor.
Und doch wusste Fenna mit Bestimmtheit, dass unter dieser Decke der See schlief. Sie spürte förmlich die sanften Bewegungen der dunklen Wasser unter dem Eis, wie die sanften Atemzüge eines Schlafenden.
„Etwas Bedrohliches hat er, das ist nicht zu leugnen“, brummte Bilkje neben ihr und rieb sich fröstelnd die Arme. Fenna blickte erstaunt auf ihn herab.
„Bedrohlich?“
Der Kobold blinzelte zurück, ein wenig überrascht.
„Spürst du es nicht? Nun ja, vielleicht flattern dir zu viele Schwäne in der Seele …“
Fenna schüttelte leicht den Kopf und wandte ihre Aufmerksamkeit wieder dem See zu. Tatsächlich war es ein seltsames Gefühl, das sie erfüllte, doch mit Bedrohung hatte es nichts zu tun. Sie überlegte, wie sie es in Worte fassen konnte.
„Es ist, als würde ich einem sehr guten alten Bekannten wieder begegnen, weißt du? Alles kommt mir vertraut vor. Es mag Gefahr geben, aber keine Bedrohung. Nicht, wenn man ihn kennt.“
Bilkje lächelte schief, als wolle er sagen: Nun, dafür muss man wohl wirklich eine Schwanenjungfrau sein.
„Dennoch …“ Fenna zögerte. „Warum ist er zugefroren?“
So war es nicht in meinen Träumen. Ich habe das Wasser gesehen … Etwas ist anders.
„Dieser Teil des Sees ist immer zugefroren. Kennst du nicht die Legende? Es ist das Tote Ufer …“ Bilkje starrte nach unten und malte mit dem rechten Fuß Kringeln in den pulvrigen Schnee. „Der Teil des Sees, den die Schwanenjungfrauen aufsuchen, liegt jenseits der Insel.“
Fennas Augen versuchten, das schummrige Grau am Horizont zu durchdringen.
„Und diese Insel ist dort hinten“, sagte sie. Sie hatte es als Frage aussprechen wollen, aber es war eine Feststellung. In Wahrheit wusste sie, wo die Insel war. Das Eis mochte ihr fremd sein. Doch die Geografie des Sees schien sie plötzlich in sich zu tragen, wie eine Landkarte, die mit leuchtenden Linien in ihrer Seele brannte.
Bilkje zuckte die Achseln. „In der Mitte des Sees, so sagt man.“
Fenna fiel etwas ein.
„Und Anafghùn? Du hast gesagt, man müsste ihn … sie … man müsste Anafghùn passieren, um den See der Tryski zu erreichen.“
„Das muss man auch.“
„Aber wir sind schon hier.“
Der Kobold wies mit einer leichten Kopfbewegung hinter sich. Fenna drehte sich um.
Es gab keine Steigung, wie sie das erwartet hätte. Stattdessen ragten kaum fünfhundert Schritte entfernt fast senkrecht die nackten, rötlich schimmernden Flanken eines mächtigen Berges auf, hoben sich beinahe unnatürlich vom Weiß der Umgebung ab. Fenna legte den Kopf in den Nacken, schluckte. Die Konturen des Berges zeichneten sich scharf vor dem grauen Himmel ab, die Formen wirkten aber merkwürdig weich, fast wie Falten eines Kleides. Irgendwo in schwindelerregender Höhe endete der Berg in einer runden Kuppe.
„Anafghùn“, wisperte Bilkje. Das war eindeutig nicht als Information gedacht; er sprach das Wort so ehrfürchtig, als richte er es an eine Gottheit.
Fenna versuchte, sich aus dem Bann des Berges zu lösen.
„Schön und gut“, sagte sie und räusperte sich. „Aber der See ist hier, oder? Ich muss auf keinen Fall an diesem Berg vorbei.“
„Wovon redest du?“
Mit einer ungeduldigen Bewegung wies sie auf die Eisfläche.
„Wir können sofort los, zur Insel. Ich will nach Hause.“
Bilkjes grüne Augen glühten ungläubig.
„Bist du verrückt? Das können wir nicht!“
„Und wieso nicht?“, fragte sie, eine Spur angriffslustiger als beabsichtigt. Der Kobold gestikulierte hilflos. Offenbar stellte sie gerade etwas in Frage, das ihm selbstverständlich erschien.
„Du brauchst Anafghùns Segen. Ihre Erlaubnis. Ihren Zauber. Der See wird dich nicht passieren lassen, wenn du es ohne das versuchst.“
„Aber der See ist mir vertraut. Das spüre ich. Mir droht keine Gefahr.“
„Lass dich nicht täuschen und vertraue meinen Worten. Jedes Wesen, das diesen See überqueren will, muss vorher zu Anafghùn.“
Fennas Blick wanderte ein weiteres Mal zu den kahlen Bergflanken. Wie stellte Bilkje sich das überhaupt vor? Sollte sie an den glatten, steilen Wänden emporklettern? Und wie sollte sie wieder herunterkommen? Und schließlich war da ihr Gefühl. Es gab nichts zu befürchten. Sie würde das Eis beschreiten können. Was sollte auch passieren?
„Red keinen Unsinn, Bilkje. Ich bin eine Schwanenjungfrau.“
„Ich sagte doch: jedes Wesen.“
Sie verschränkte die Arme. Trotz keimte in ihr auf.
„Hast du schon jemals von Schwanenjungfrauen gehört, die hier über das Eis gelaufen sind? Nein, natürlich nicht. Dann kannst du nicht behaupten, dass auch sie Anafghùns Einwilligung brauchen. Dieser See ist mein Zuhause!“
„Nicht dieser Teil, Fenna“, sagte Bilkje eindringlich, doch in seiner Stimme schwang auch Erschöpfung mit. „Und überhaupt: Ich bin jedenfalls ein Kobold und keine Schwanenjungfrau.“
„Dann magst du Anafghùns Segen brauchen und kannst ihn dir gerne holen“, entgegnete Fenna und fand ihren Ton selbst eine Spur zu schnippisch. „Aber ich kann nicht mehr warten. Ich habe schon zu viele Umwege gemacht.“
Ihre Hand umklammerte das Beutelchen an ihrem Gürtel. „Außerdem habe auch ich Zauber. Ich kann dich beschützen, wenn wir übers Eis gehen!“
Bilkje schüttelte den Kopf und hängte sich an ihren Arm, als sie einen Schritt auf den See zu machte. „Was ist in dich gefahren, Fenna? Hat dir ein Geist die Sinne verwirrt? Dies sind die Eislande! Kälte und Wildheit, Zauber und Gefahr gibt es hier in ihrer reinsten, stärksten Form … Du kannst nicht so töricht sein, das zu unterschätzen!“
„Es ist mein Gefühl“, gab Fenna zurück und schüttelte ihn ab. „Keine Torheit. Über einen zugefrorenen See zu laufen ist jedenfalls nicht törichter als auf einen kahlen Berg zu klettern.“
Der Kobold schwieg und schaute sie nur an. Für einen Moment hatte sie das Gefühl, das Krachen von Eis in weiter Ferne zu hören und einen eisigen Hauch von Bedrohung zu spüren, doch dann herrschte wieder Stille und ihre Gewissheit, dass sie nichts zu fürchten hatte, wurde stärker.
„Ich werde jetzt gehen“, sagte sie entschieden.
Das Eis knirschte leicht unter ihren Füßen, als sie den ersten Schritt auf den schlafenden See tat.
Ein Schatten sauste durch die Luft, und es knackte bedrohlich, als Bilkje kurz vor ihr auf der Eisfläche aufschlug. Risse erschienen. Fenna taumelte, rutschte, fiel. Harte Kälte durchdrang ihren Körper, schmerzhafter als alles, was sie bis dahin erlebt hatte. Die Koboldaugen glühten, während die Eisdecke zu bersten begann.
„Geh zurück!“, schrie Bilkje.
Das Ufer. Nicht einmal zwei Schritte.
Fenna richtete sich auf, zögerte. Sie sah das Eis brechen, sah die Bewegung des schwarzen Wassers. Die Hände, die aus dem Wasser kamen, sah sie nicht sofort, aber sie hörte Bilkjes markerschütternden Schrei, als er in das eisige Loch gezogen wurde, und in einem Reflex schnellte sie vor und griff zu, umklammerte mit beiden Händen seinen Arm, während sich unter ihr weitere Risse im Eis abzeichneten.
„Geh zurück!“, japste der Kobold. Nur sein Kopf hielt sich noch über Wasser, und sein Arm, den Fenna nicht losließ, obwohl die Kraft der Finger, die Bilkje nach unten zogen, sie selbst über das Eis auf das tödliche Loch hin schleiften.
Vor ihren Augen verschwammen der See, der Tod, Bilkje. Sie hatte nicht gewusst, dass Tränen so kalt brennen konnten.
Ein weiterer Ruck, und Bilkje verschwand in der Schwärze.
Die Finger aus dem See umklammerten Fennas Handgelenk. Entsetzen durchzuckte sie.
Dann spürte sie, wie die Hände ihre eigenen Finger von Bilkjes Arm zu lösen begannen. Als ob sie nur ihn wollten und nicht sie.
„Hört auf!“, gellte Fenna. Ihre Stimme überschlug sich, schien ihr selbst fremd. Die Tränen gefroren auf ihren Wangen, und das Schluchzen schüttelte ihren ganzen Körper. Es war ihre Schuld, ihre Schuld, ihre Schuld.
Anafghùn, bitte … Dann brach das Eis auch unter ihr.

 
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Kapitel 14 - Eislilie

Lakes that endlessly outspread
Their lone waters, lone and dead, -
Their still waters, still and chilly
With the snows of the lolling lily.

Die Insel, sicheres Land, kaum dreißig Schritte von Lethro entfernt. Jetzt nur noch zwanzig. Das Krachen und Knirschen breitete sich rasend schnell um sie herum aus. Die Eisschollen schwankten und kippten unter ihren Füßen, mehr als einmal rang sie um Gleichgewicht. Die Sohlen ihrer Stiefel fanden keinen Halt auf dem nassen Eis, sie schlitterte, rutschte, fiel.
Eiswasser umspülte ihre Hände, blasse, nasse Finger krochen über die Schollen, tasteten nach ihrem Handgelenk. Lethro sprang auf und hetzte weiter. Zehn Schritte noch, ein schroffes felsiges Ufer im Abendsonnenlicht. Schemenhafte Umrisse von Krüppelkiefern, Steinhaufen auf flachen Gräbern. Die letzte Ruhestätte der Tryski, der Gedanke und das Schaudern, das damit verbunden war, fand seinen Weg selbst an Lethros jagendem Herzen vorbei. Einen kurzen Augenblick nur bremste sie ihren Lauf, scheute vor dem Ufer zurück.
Mit einem durchdringend hellen Ton zersprang das Eis unter ihr. Glucksend stieg schwarzes Wasser auf, der Boden sackte unter ihr weg. Verzweifelt versuchte sie sich mit einem Sprung an Land zu retten, doch ihr Stand war zu unsicher. Sie kam auf dem Rand einer Scholle auf, die sofort kippte. Scharfkantiges Eis schnitt ihre Finger blutig, als sie sich festzuhalten versuchte.
Dann schlug Kälte und Dunkelheit über ihr zusammen. Tief in sich verspürte Lethro den Zorn darüber, dass sie die Menschin hatte entwischen lassen, bevor ihr die Sinne schwanden.

Sie sank durch Finsternis, tiefer und tiefer. Zuerst war die Kälte furchtbar, lähmend, schmerzhaft in ihrem Gesicht, an Händen und Füßen. Doch nach und nach ließ der Frost nach, zurück blieb nur ein unbestimmtes schwereloses Gefühl der Geborgenheit. Lethro fragte sich, ob sie im Sterben lag. Doch wenn sie die Schwelle des Totenreichs überschritten hatte, wo waren dann die anderen Krieger? Die Männer und Frauen der Dockálfar, die im Kampf gegen die jungen Völker gefallen waren? Wo war der Blutsee, in dem sie ihren müden Körper reinigen konnte? Es gab nur die Dunkelheit und ein Gefühl der Leere. Lethro schloss die Augen. Sie war so müde.

Lichtblitze durchzuckten die Schwärze um sie herum, so hell, dass sie selbst durch ihre geschlossenen Lider drangen. Sie riss die Augen auf. Bleiche Schemen umgaben sie, schwebten über ihr, neben ihr, unter ihr, trieben träge dahin, Frauen und Männer mit langen blassem Haarmähnen, die sie umwehten wie Umhänge aus Licht. Sie glühten sanft in der Dunkelheit. Ihre Geschichte waren asketisch schmal, ihre Augen katzenhaft groß und grau, ohne Pupillen. Ihre schwimmhautdurchwebten Hände hatten sechs Finger, jeder von ihnen mit langen Krallen versehen. Sie alle starrten Lethro an, ausdruckslos, emotionslos.
Kalte Angst zog Lethros Herz zusammen. Die Tryski. Die Geister der Tryski. Ihre Hand suchte nach ihrem Speer, aber sie musste ihn verloren haben, als sie gestürzt war. Die Schemen trieben näher. Lethro schlug nach ihnen. Ihre Hand glitt durch sie hindurch. Die lidlosen Augen der Tryski starrten sie immer noch an, bohrten sich in ihren Geist.
Feind!, schrie Lethros gesamtes Bewusstsein. Fliehe! Es sind die Tryski, ewig Feind! Doch sie konnte nicht fliehen. Sie war von ihnen umgeben, sie würden sie nicht gehen lassen. Seltsamerweise war es genau dieser Gedanke, der Lethro neue Kraft gab. Ich bin eine Jägerin, ich jage bis zu meinem Tod. Und wenn er kommt, werde ich ihn freudig annehmen. Noch ist er nicht hier, noch lebe ich, auch wenn ich durch endloses schwarzes Wasser sinke, auch wenn die Tryski mich umzingelt haben. Sie haben mich noch nicht getötet. Ja, sie bewahren mich sogar vor Kälte und Ertrinken. Warum?
„Was wollt ihr?“ Lethro konnte ihre Stimme nicht hören, doch sie wusste, dass die Tryski sie dennoch verstanden hatten. Sie konnte die schwarzen Funken in den grauen Augen sehen.
„Was willst du?“, kam die Antwort zurück, ein nebelhafter Klang in Lethros Kopf. Sie schüttelte sich. Es war, als ob Eisfinger nach ihrer Seele griffen. „Was willst du?“
„Ich will das Mädchen. Das Schwanenmädchen mit dem Zauberblut.“ Die Tryski konnte sie nicht belügen. Sie würden Lethro auf der Stelle töten.
„Was willst du von ihr?“
„Ihr Blut soll mein Volk erlösen. Sie ist Yngra, die Gemischte.“
Eine silberne Haarwoge streifte Lethro, als ein Tryski näher an sie heran trieb und ihr direkt in die Augen sah. Sie konnte spüren, wie ein Teil ihres Lebens aus ihr heraus floss. Die Tryski brachten das Alter und das Sterben, ihre Berührungen waren sanft wie Schnee und tödlich wie ein Speer.
„Sag, Dockálfar, fürchtest du den Nisun?“
Sie blickte in die leeren Augen und schüttelte den Kopf. Im Moment fürchtete sie nichts außer den Tryski. Der Nisun war nur ein Winter, er würde vorbeigehen, und danach wären die Dockálfar wieder stark. Wenn sie das Mädchen fand.
Der Tryski lächelte und schwebte wieder davon. Statt dessen trieb eine hagere Frau in Lethros Blickfeld.
„Du bist die Richtige!“, sagte sie. „Es ist entschieden.“
„Was ist entschieden?“ Doch die Tryski antworteten nicht. Erstaunlich rasch glitten sie durch die Schwärze davon, verloren sich in der Dunkelheit, alle, bis auf den Tryski, der zuerst gesprochen hatte. Er schwebte noch immer an Lethros Seite, eine bleich schimmernde Blüte in seiner Hand.
„Es ist bestimmt“, sagte er, „dass zur Zeitenwende zwei Frauen am Anafghùn aufeinander treffen und kämpfen. Jägerin und Beute, alte und neue Welt. Sie kämpfen um den Winter. Sollte Beute gewinnen, so bricht eine weitere Zeit des Sommers an, der sanften Völker. Gewinnt die Jägerin, so ist die Zeit des Nisun gekommen, die Trolle kommen aus den Wäldern, die Tryski erwachen wieder, die alten Völker werden leben, bewahrt durch das Blut der Beute. Du bist die Jägerin. Gehe! Kämpfe! Für uns und den Nisun, für dein Volk.“
Lethro konnte nicht glauben, was sie vernommen hatte. Sie würden sie gehen lassen. Die Tryski, Feinde seit Anbeginn, halfen ihr. Es konnte nicht wahr sein. Niemals hatte es Frieden gegeben zwischen Dockálfar und Tryski. Allein der Gedanke, dass die Tryski im Nisunwinter wieder erstehen würden, brachte beinahe Lethros Herz zum Stillstand. Und doch... wenn sie erst das Blut der Yngra hatte, würden die Dockálfar ebenfalls wieder erstarken, ja, noch mächtiger sein als je zuvor. So hatte es Agil vorhergesehen. Mächtiger noch als die Tryski.
„Ich werde kämpfen.“ Mehr brachte sie nicht hervor. Der Tryski musterte sie weiterhin mit unergründlichem Blick. Dann nickte er, fast unmerklich. Mit einer leichten Handbewegung ließ er die Blüte, die er festgehalten hatte, auf Lethro zu treiben. Reflexartig griff sie danach. Es war eine Schwertlilie, weiß schimmernd, wie aus Eis. Lethro konnte die Kälte auf ihrer Haut spüren.
„Dies wird dich am Jileken vorbei zu Anafghùn führen. Ein Pfand für den Wächter, ein Pfand für jeden, der ihn passieren möchte.“
Lethro krallte die Finger so fest um die Blütenblätter, dass sie einen Moment Angst hatte, sie könnten zerspringen. Doch sie waren hart wie Stein. „Was ist mit dem Mädchen?“
„Sie kommt her. Sie ist bereits auf dem Weg. Du wirst acht geben müssen, sie ist stärker als du glaubst. Anafghùn gibt ihr Macht und die sanften Völker senden ihr Hilfe. Du musst listig sein, Jägerin, und du darfst nicht zögern, sie zu töten, verstehst du?“
Lethro nickte.
„Dann geh!“ Und damit verschwand der Tryski so plötzlich wie eine verlöschende Kerzenflamme. Einen Moment lang trieb Lethro noch durch die alles verschlingende Schwärze, dann plötzlich wurde sie in gleißendes Licht getaucht. Geblendet schloss sie die Augen.

Als sie die Lider wieder hob, fand sie sich am Rande des Sees wieder. Eine unberührte Eisfläche glitzerte vor ihr im Tageslicht, als wäre sie nie darüber geritten, als wären das schwarze, stille Wasser und die Tryski nur ein Traum gewesen. Doch zwischen ihren Fingern glänzten die Blütenblätter der Lilie, und als Lethro an sich herab sah, bemerkte sie, dass auch sie sich verändert hatte. Ihre Kleidung war verschwunden, barfuß stand sie im tiefen Neuschnee. Dennoch fror sie nicht.
Ihr ganzer Körper war überzogen von einem dünnen Panzer, silbrig und blau schimmernd, angenehm kühl an ihrer Haut. Sie konnte den Wasserfilm darauf glänzen sehen und wusste, dass es sich um Eis handelte. Sanftes, biegsames Eis, das ihren Bewegungen folgte wie feingesponnene Wolle. Ein Tryskipanzer. Lethro lächelte. Der Panzer der gefrorenen Herzen. Nun kann mich nichts mehr aufhalten.
Einige Schritte weiter steckte ihr Speer im Schnee. Lethro griff danach, genoss einen Augenblick lang das Gefühl des rauen Holzes in ihrer Handfläche. Gar nicht weit von ihr erhoben sich die schroffen Hänge des Anafghùn. Mit langen Schritten machte sie sich auf den Weg.

 

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