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Hit The Road

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01.12.2004
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Hit The Road

Teil 1 - Warten, rumhocken, auf die Folter spannen

»Liebes Tagebuch, heute ist mir ganz schön viel passiert. Hach, das ist ja alles so schrecklich aufregend, ich weiß gar nicht wo ich anfangen soll, aber ich erinnere mich noch, als ob es gestern geschehen ist. Erst wurde ich vor einer Woche entführt und jetzt bin ich auf der Flucht, mit einem ganzen Koffer voll Geld - ach ja, und zwei bekloppten Ganoven.«


»Mensch, wie lange müssen wir denn noch hier rumhocken? Ich hab schließlich wichtige Dinge zu erledigen. Jetzt haut das alles nich mehr hin, mit meiner Koorda… Kohordita…« Benny vergrub das Gesicht zwischen den Aufschlägen seines Mantels, starrte auf die Docks und die Hafenarbeiter, welche große Holzkisten schleppten um sie auf die Frachtschiffe zu verladen. »…mit meiner Planung«, murmelte er zu Ende.
Eigentlich wollte er ja Bäcker werden. Jeden Tag den Leuten ihr Brot und die Brötchen backen. Das war sein Traum. Bedauerlicherweise hatte er eine ziemlich eklige und sich auf seiner Haut ausschlagende Hefeallergie. Aus der Traum.
»Der verabredete Termin war um sieben Uhr, jetzt haben wir’s Sechsuhrachtundfünfzig. Außerdem, was hast du schon wichtiges zu erledigen?« Richard saugte an seiner Zigarette und blies kleine Rauchkringel in die Luft. Er wollte nie Bäcker werden. Dabei hatte er noch nicht mal eine Hefeallergie. Sein Anliegen war es schon immer, den Menschen bei ihren Problemen zu helfen. Manchmal hatten die Menschen so große Probleme das Schutzgeld zu bezahlen, dass er ihnen oftmals über den Jordan helfen musste.
»Sach ma Süße, alles klar bei dir? Is dir auch nich zu kalt?« Benny stupste Anna gegen die Schulter. Anna war die Enkeltochter des Dons der zweitberüchtigtsten Gangsterfamilien der Stadt und nebenbei ziemlich verzogen, geradezu zickig.
»Mpf!«
»Ich versteh kein Wort. Kannste das wiederholen?«
»MPF!«
»Mensch Benny, lass den Scheiß!« Richard gab ihm einen leichten Klaps gegen den Hinterkopf.
»Na was? Nur weil sie nen Knebel im Mund hat, muss man doch nicht gleich nuscheln, oder wie seh’ ich das?«
Benny zupfte an Annas Jacke herum und zog ihr die Pudelmütze über die Ohren, wobei er penibel darauf achtete, dass die Bommel genau mittig saß und die beiden Kordeln exakt parallel zueinander hingen.
Sie hatten sie vor kurzem, im Auftrag der anderen zweitberüchtigtsten Gangsterfamilie der Stadt, entführt. Nun warteten sie gebannt auf die geplante Lösegeldübergabe, wie der Hengst auf die Stute.
»Schau dir nur diese Hafenarbeiter an«, sinnierte Benny. »Die müssen schwer für ihr Geld schuften. Wir bloß einmal früh aufstehen und ein Mädchen mit Zahnspange, gegen einen Koffer mit Geld eintauschen.«
»Tja«, entgegnete Richard geistreich und blies weiter Kringel in die Gegend.
»Dir würde es genauso gehen, wenn du Bäcker geworden wärst«, meinte Benny.
»Ich? Du wolltest Bäcker werden.«
»Ach echt?«
»Soviel zu deiner Koordination…«
»Aber wenn ich doch die Hefeallergie hab. Ich kann doch gar kein Bä…«
»Ich weiß«, seufzte Richard, »ich weiß…«
Benny widmete sich wieder den Hafenarbeitern und fing an, leise zu Summen. Einen Moment später schien er flüsternd zu rappen oder zu hiphoppen- wahrscheinlich wusste er das selbst nicht so genau. Jedenfalls wurde er immer lauter.
»Ein Mädchen voller Organe, gegen einen Koffer voller Moneten… nee, noch mal.
Ein Mädchen mit Rastas, gegen einen Koffer voll mit Zasters… nee, das reimt sich nich so richtich. Vielleicht so. Ein Mädchen mit tollen Locken, gegen einen Koffer voller Flocken… auch nicht. Ein Mä…«
»Jetzt reicht’s!«

...

Es gibt Tage, an denen sollte man besser gar nicht erst aufstehen. Wenn es allein danach gehen würde, hätten Richard und Benny eine ganze Woche im Bett bleiben müssen.
So aber saßen beide und die Gekidnappte auf der Laderampe eines alten Lagerhauses am Hafen und warteten auf die Vertreter der einen zweitberüchtigtsten Gangsterfamilie, die im frühmorgendlichen Stau standen.

»Eh, wasse isse hier los Carlo? Wieso eh geht dasse hier nichte weiter?« Don Pappas versuchte sich auf der ledernen Rückbank seiner schwarzen Limousine vorzubeugen, gab jedoch beim ersten Versuch auf, da der Bauch einen spitzeren Winkel zwischen Beinen und Oberkörper nicht zuließ. Eine sehr große Serviette – eigentlich ein kleines Tischtuch, naja, wohl eher ein Bettlaken – schützte den gewaltigen Wanst vor der Barbecuesauce, die von den fettigen Rippchen tropfte, welche sich Pappas zu Gemüte führte. Noch mal zur Erinnerung, es war sieben Uhr morgens.
»Ich weiß nicht Boss. Scheint ein äh, Stau zu sein.« Carlo, geistig nicht sonderlich dick angerührt, gab sein intellektuell bestes.
»Ja dasse sehe ich auch, du Idiote. Wire haben nichte mehr viel Zeit eh. Fahr weiter aufe dem Standestreifen.«
»Aber da darf man doch nur… stehen… tun…«
»FAHR oder ich verpass dir Betonschuhe!«
»Sind die nicht unheimlich… schwer?«
»FAHR ENDLICH LOS EH!«
»Is gut Boss.«
Carlo zirkelte den Wagen auf den Standstreifen und fuhr an dem Stau vorbei. Der Grund für die Blechlawine war ein kleinerer Auffahrunfall. Nichts passiert, nur Blechschaden. Hätten die Beteiligten untereinander regeln können. Kein Problem an sich. Aber wenn sich Pedanten mit dem Auto treffen…
Der Polizist jedenfalls, winkte Don Pappas Limousine an die Seite. Schade dass man auf dem Standstreifen wirklich nur stehen darf.

...

»Mpf…«
»Hehe.«
»Mensch, hör auf sie auszulachen Benny.«
»’tschuldigung. Wie spät isn?«
»Kurz nach Sieben.«
»Die kommen nich.«
»Klar kommen die. Die wollen doch das Mädchen wieder haben. Was machst du denn überhaupt solch ein Aufhebens wegen der Pünktlichkeit?«
»Termine.«
»Frisör?«
»Proktologe.«
»Iihh.«
»Wegen der Hämorrhoiden, weißt du…«
»Ich will’s gar nicht wissen.«
»…da hatte ich letztens so ein Jucken und…«
»Bäh!«
»Mpf.«
»Hehe.«
Richard wollte dem Dialog eine feminine Seite beisteuern und bedeutete Anna mit einem scharfem Blick und erhobenem Zeigefinger, dass er ohne zu zögern sein Messer in eine ihrer Nieren rammen würde, wenn sie zu schreien beginnen sollte. Schwer zu glauben, aber Richard hatte diesen Blick beim Schutzgeldeintreiben perfektioniert. Manchmal wendete er diesen Blick am DriveIn-Schalter an, wenn er mal wieder Pleite war oder meinte, die kleine, pickelige, Aushilfsschülerin einschüchtern zu müssen. Er entfernte den Knebel.
»Pfuh! Bäh! Das ist ja widerlich.« Anna nestelte mit der Zunge an ihrem Mund herum und wischte sich mit Hilfe ihrer Schultern den Speichel von den Wangen, der ihr schon die ganze Zeit ein unbehagliches Gefühl bereitete. Unverhofft spucke sie Richard ins Gesicht und echauffierte sich sogleich.
»Du würdest mir also wirklich ein Messer in eine meiner Nieren rammen, wenn ich zu schreien beginnen sollte?« Sie war so fuchsteufelswild, sie hätte mit den Armen herumfuchteln können.
Benny war baff. Richard besudelt.
»Sie hat’s kapiert«, staunte Benny, »Sie hat’s tatsächlich kapiert. Der erste Mensch, der es kapiert hat. Ich glaub’s ja nicht. Sie ist ohne Andeutungen, ohne dass du ihr auch nur im Entferntesten mit dem Splitter eines Zaunpfahles gewunken hättest, ganz alleine darauf…«
»Wir haben’s verstanden Benny.« Das Tempo saugte Annas Speichel von Nase, Auge und Wange.
»Schätzchen…«, meinte Richard in väterlichem Tonfall, während Benny versuchte, Annas Bommelmütze abermals ganz korrekt auf ihrem Haupt auszurichten.
»Nenn mich gefälligst nicht „Schätzchen“!«
»Also gut. Süße…«
»Oh neiheihein, nicht „Süße“!«
»Na dann vielleicht Schnecke, Mausezähnchen, Honigkuchenpferd…«
»Nö.«
»Schlampe?«
»Okay, „Schätzchen“ ist in Ordnung.«
»Wir wollen das hier doch alles in geordneten Bahnen über die Bühne bringen, nicht wahr?«
»Ja. Aber es kann ja wohl nicht angehen, dass…«
»Pscht!«
»Hehe.«
»Jetzt rede ich Schätzchen. Du willst doch wohlbehalten wieder zu deinem Papi zurück…«
»Papi? Er ist gar nicht mein Papi, sondern mein Großvater. Und außerdem sitzen diese Fesseln viel zu streng an meinen Gelenken und zu trinken hab ich auch noch nichts bekommen und überhaupt, diese Pudelmütze ist eine Zumutung. Des Weiteren verlange ich…«
»PSCHT! Noch ein Wort und ich…«
»…mehr Respekt einer Dame gegenüber. Autsch! Jetzt habe ich mir auch noch einen Fingernagel… Mpf…«
Richard hatte den Knebel extra fest angezogen.

...

»Führerschein und Fahrzeugpapiere bitte.«
Carlo reichte dem Gesetzeshüter die geforderten Papiere, nachdem er seine Beretta noch tiefer in den Hosenbund gesteckt hatte. Er lächelte krampfhaft in die verspiegelte Brille des Polizisten.
»Sie wissen, dass man auf dem Standstreifen nicht fahren darf?« Der Ordnungshüter war äußerst gelangweilt. Das schlug sich auch in seiner Stimme nieder. Ein Seufzen jagte das nächste. Im Hintergrund vernahm er die pedantischen Unfallbeteiligten über die Vorgehensweise diskutieren, welche Brennweite benutzt werden müsse um Beweismaterial korrekt abzulichten.
»Ja, Standstreifen sind zum… stehen tun da«, antwortete Carlo. Der Wachmann schob seine Sonnenbrille auf den Kopf und sah in ein breites Grinsen.
»Wen befördern Sie? Haben Sie eventuell im Auftrag ihres Fahrgastes gehandelt?«
Er reichte Carlo die Papiere und holte seine Kladde hervor, schlug einige Blätter um und zückte einen Kugelschreiber. Das hintere Fenster der Limousine surrte herunter und Don Pappas warf allerhand Rippchenreste hinaus um die Aufmerksamkeit des Polizisten zu erregen.
»Nicht wegfahren!« Carlo nickte grinsend. Vorsichtig schritt der Wachmann zum offenen Fenster und lugte hinein. Mächtig angewidert fuhr er zurück und hielt sich die Hand vor Mund und Nase. Don Pappas fing an zu lachen. Im Grunde keuchte oder hustete er. Wenn man es genau nimmt war es eher ein belustigtes Röcheln.
»Wie eh heißen Sie«, schlotzte er hervor.
»Stu. Wachtmeister Stu.«
»Also Wachtemeister Stue. Kenne Sie Fraue Möller?«
»Die Oberstaatsanwältin?«
»Schlaues Kerlchen, genaue die meine iche. Iche habe ziemlich, eh, gute Bessiehungen zu Fraue Möller, wisse Sie? Jeden Donnerstag spiele iche mit ihr Golfe…« Stu brach in Gelächter aus und deutete mit dem Zeigefinger auf Don Pappas.
»Sie spielen Golf? Sind Sie dafür nicht ein wenig zu äh… wie drück ich’s am diplomatischsten aus… fett?«
»Na gute, iche fahre unheimlich gern mite den Golfbuggys okay. Aber dasse wesentliche iste doch, dass iche Frau Möller gut kenne. Klingelt’s da bei Ihnen?«
»Hm, wenn ich’s mir recht überlege… Es könnte durchaus sein, dass ich, wenn ich Sie nicht passieren lasse, zum Streifendienst verdonnert werde. Das wär echt blöd wär das.«
Der Don schüttelte den Kopf ob der Blödheit die er soeben vernommen hatte.
»Stue, Stue, Stue. Sie sinde bereits Streifenpoli… ach wasse soll’s. Carlo, knall ihn ab eh!«
»Okay Boss.«

...

»Ist die Karre bereit?« Richard kramte eine weitere Zigarette aus der Packung und zündete sie mit einem Streichholz an.
»Natürlich. Vollgetankt, Luft geprüft, aufgeräumt und gesaugt - hab das Leder auffrischen lassen -, außen gewachst und poliert.«
»Alles wieder ganz penibel was?«
»Kennst mich doch.«
»Hast du die Musik vorbereitet? Du weißt, ich brauche meine Fluchtmucke.«
»Klar. Das beste von Truck Stop. Horrende Hits für die Straße.«
»Bist du bescheuert? Ich hör doch immer Wagner!«
»Und ich dachte du liebst Truck Stop…«
»Nein, du findest diese Pseudowesternandcountryband toll.«
»Nich dein Ernst… Ich könnte schwören, dass ich Truck Stop hasse…«
»Ich könnte dich windelweich prügeln.«
»’tschuldige. Ich hab zur Sicherheit noch eine Ersatz-CD mit eingepackt…«
»Und was da? Hoffentlich nicht Abba.«
»A… bba…«
»Ist doch echt zum kotzen. Na dann muss es eben Radio sein.«
»Also…«
»Was?«
»…die neue Antenne passte irgendwie nicht so richtig zur Farbe und da hab ich eine andere bestellt, naja und…«
»Und was?«
»…die andere ist zurzeit nicht lieferbar. Aber wenn wir ehrlich sind, können wir ja wohl kaum mit einem Auto durch die Gegend flüchten, bei dem die Antenne nicht zur Wagenfarbe passt. Nicht wahr?«
Richard fuhr sich mit der Hand durch sein Gesicht und massierte seine Augen. Nach zwei Zügen vom Glimmstängel wagte er zu fragen: »Wie wird der Empfang denn sein?«
»Nicht so gut. Schlecht. Viel Rauschen.« Benny überlegte kurz. »Also, eigentlich werden wir gar keinen Empfang haben.«

...

Das Problem bei Lösegeldübergaben ist doch immer, dass jemand unverhofft dazwischenfunkt. Entweder ist es die Bundespolizei, irgendein Geheimdienst, eine verschmähte Liebe oder ein Unbeteiligter ohne Text. Ausnahmen, so sagt man, bestätigen die Regel – warum also an bestehenden Regeln rütteln?
Unser Faktor „unverhofft“ ist ein Killer, der sich natürlich geschickt im Hintergrund hält, und, beauftragt von Richard und Bennys Gangsterfamilie, durch eine Zielvorrichtung eines Scharfschützengewehrs linst.

»Ich werde sie alle töten. ALLE! Außer das Mädchen. Außer das Mädchen. Töten! Alle! Außer das Mädchen. Außer das Mädchen. Wie heißt sie noch mal? Anke? Alle werde ich töten! Außer Anke. Nee, Anna. Außer Anna. Und das Geld nicht vergessen. Geld nicht vergessen.«

Don Pappas hatte natürlich auch ein paar bewaffnete Gestalten am Ort des Geschehens aufstellen lassen. Aber nur ein paar.

...

Die schwarze Limousine bog langsam, ein paar hundert Meter von Richard, Benny und Anna entfernt, um die Ecke eines Lagerhauses.
»Da sind sie«, bemerkte Richard.
»Und wie geht das jetzt ab«, wollte Benny wissen.
»Du wirst unsere Diva auf den unbenutzten Pier führen, dort den Koffer mit der riesigen Menge Geld von einem der Handlanger von Don Pappas entgegennehmen und dann kommst du zurück. Ist doch ganz einfach.«
»Und das passiert alles gleichzeitig?«
»Da stehst du doch drauf, auf Synchronität.«
»Und was ist, wenn was passiert?«
»Was denn, hast du etwa Angst, dass dir ein Scharfschütze das Hirn rauspustet?«
»Ja.«
»Mach dir mal keine Sorgen. Ich weiß was ich tue.«
»Aber ich tu’s doch.«
»Eins zu null für dich.«

 
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Teil 2 - Die Hölle bricht los

Liebes Tagebuch,
Eine ganze Woche haben die mich eingesperrt. In einer rattenverseuchten, kotverschmierten Behausung ließen sie mich dahinvegetieren. Und als ob das noch nicht genug gewesen wäre, haben sie mir diesen Schweinefraß zu essen gegeben. Ravioli, das muss man sich mal vorstellen! Was bin ich froh, dass mein Opa ihnen ihre gerechte Strafe gegeben hat.


"Carlo, nimme due das Geld. Ich warte lieber imme Wagen."
"Klar, Boss. Ich nehm das Geld und du wartest im Wagen." Eine Weile geschah gar nichts.
"Carlo?"
"Ja, Boss?"
"Iche würde mich freuen, wenn due jetzt gehen würdest."
"Ach so. Klar... Jetzt?"
"Jetzt."
"Kann ich die Knarre mitnehmen?"
"Carlo, wasse habe ich dire gesagt über Lösegeldübergaben? Keine Waffen. Das gehörte sich einfach nicht. Wenn die Trottel sehen, dasse due eine Waffe hast, werde sie meine arme Anna umbringen."
"Aber ich fühle mich nackt ohne meine Inga."
"Inga?"
"Die Beretta. Guck doch mal, Boss, wie schön sie funkelt." Carlo nahm die Waffe in die Hand und beobachtete fasziniert die Lichtspiegelungen der einzigen Straßenlaterne der Umgebung auf dem goldenen Lauf. Die Beretta war eine Spezialanfertigung vom alten Beppone. Der alte Beppone war einst der beste Waffenschmied überhaupt gewesen, doch hatte er sich irgendwann entschlossen, keine Mordwerkzeuge mehr herzustellen. Wegen seines Gewissens oder so. Wie Carlo den alten Mann überreden konnte, ihm trotzdem eine Waffe zu bauen, wird vermutlich auf ewig sein Geheimnis bleiben. Überhaupt wusste Don Pappas nicht wirklich viel über die Vergangenheit seines Leibwächters. Es war ihm nie besonders wichtig erschienen.
Selbst der mächtigste Mann macht irgendwann Fehler.
"Lasse sie hier. Bitte, Carlo."
"Na schön." Der grobschlächtige Leibwächter gab der Waffe einen zärtlichen Kuss auf den Lauf, streichelte sanft über den Griff und legte sie schließlich behutsam in das mit Samt ausgelegte Handschuhfach der Limousine. Und während Don Pappas sich einen weiteren Hähnchenflügel gönnte, stieg Carlo aus dem Wagen.
"Carlo?"
"Ja, Boss?"
"Der Koffer. Nimme ihn lieber mit."

...

Richard fühlte sich gelinde gesagt unwohl.
So lange er nun schon mit Benny ein Team bildete, war es seinem Kumpel bisher immer wieder gelungen, jeden noch so guten Plan durch irgendeine Dummheit zu vermasseln. Zum Beispiel, als sie im Auftrag Don Garellos Schutzgeld in dieser Pizzeria erpressen sollten. Klare Aufgabenverteilung: Richard sollte das Reden übernehmen, Benny die Knochenarbeit. Aber anstatt die Einrichtung zu demolieren, bewunderte Benny damals die Stuckarbeiten über der Eingangstür, gratulierte dem Besitzer zu dem stimmigen Ambiente in seinem Laden und richtete die Blumen im Fenster ordentlich nach Westen aus. Die ganze Mühe, die Richard sich mit einem würdevollen Auftritt gemacht hatte, vollkommen im Eimer.
Vielleicht hätte Richard sich für diese Nummer einen anderen Partner suchen sollen, aber jetzt war es zu spät. Er würde Benny einfach vertrauen müssen. Er fummelte nervös mit dem Zigarettenanzünder herum. Es stand eine Menge auf dem Spiel: Würde alles glatt gehen, könnten er und Benny sich mit einem Koffer voller Geld in einem Wagen ohne Radioempfang auf den Weg nach Jamaika machen. Würde es nicht glatt gehen, hätten sie gleich zwei Gangsterfamilien auf dem Hals. Don Pappas, weil sie seine Enkelin entführt haben und Don Garello, weil sie die Enkelin seines größten Feindes entführt haben, ohne ihn zu beteiligen. Auf jeden Fall würden sie schnell abhauen müssen. Und darum hatte Richard sich hinter das Steuer ihres Wagens geklemmt und ließ den Motor laufen.
Er zündete sich eine weitere Kippe an, sog das himmlische Aroma tief in seine Lunge und vergaß für einen Augenblick seine Anspannung. Dann beobachtete er, wie Benny die Frau in Richtung der schwarzen Limousine führte.
Ja, er fühlte sich unwohl. Die Heizung in seinem Wagen war kaputt, die Aussicht auf eine Flucht mit Truckstop behagte ihm gar nicht und zudem hatte er das beunruhigende Gefühl, beobachtet zu werden.

...

"Alle töten! Alle! Durchsieben. Bis auf Anke. Die nicht. Anna meine ich. Ja, Anna. Sonst alle."
Claire hatte noch nie einen Auftrag vermasselt. Ihre Quote lag bei einhundert Prozent und da war sie stolz drauf. Im Moment lag sie auf dem ebenso kalten wie harten Dach einer ausgedienten Fabrikhalle und blickte starr durch den Sucher ihres Scharfschützengewehrs. Ruhig atmen, ganz ruhig atmen. Nicht blinzeln. Nicht denken. Einfach nur dafür sorgen, dass das Ziel immer im Fadenkreuz bleibt. Einfach. Leichter geht es nicht.
"Ich fang mit dem Kerl im Wagen an. Ja, der ist ein gutes Ziel. Alle töten!"

...

"Also Schätzchen, wir gehen jetzt da rüber, ich hol das Geld und du kannst gehen."
"Mpf."
"Was?" Benny zog Anna den Knebel vom Mund.
"Nimm gefälligst deine schmierigen Dreckspfoten von mir!"
"Hey, die habe ich doch vorhin noch gewaschen. Mit Seife. Und Manikürt. Schade, dass du vor mir gehen musst, sonst könnte ichs dir zeigen."
"Lass mich in Ruhe. Und wenn du mich noch einmal an der Stelle anfasst, dann... dann..."
"Dann was?"
"Ach nichts. Siehst du den Kerl da? Das ist Carlo, der Leibwächter meines Opas. Der wird euch gleich gehörig den Hintern versohlen."
"Schätzchen..."
"Und nenn mich nicht Schätzchen!" Einen Moment lang spielte Anna mit dem Gedanken, ihrem Entführer mal so richtig verächtlich ins Gesicht zu spucken. Doch im letzten Moment überlegte sie es sich anders. Nicht etwa, weil sie die Konsequenzen fürchtete, sondern weil sie der Meinung war, so etwas würde sich für eine Dame ihres Standes nicht geziemen.
"Aber du hast doch vorhin noch gesagt..."
"Da wollte ich meine Ruhe haben."
"Aber..."
"Ihr seid mir auf den Nerv gegangen."
"Aber..."
"Und überhaupt eine Frechheit, dass ich eine Woche in dieser rattenverseuchten..."
"Aber..."
"... kotverschmierten..."
"Aber..."
"Behausung dahinvegetieren musste. Und als ob das noch nicht genug..." Benny knebelte seine Geisel erneut.
"Aber..." Einen Moment hielt er inne und genoss die absolute Stille des Nichtunterbrochenwerdens, lediglich gestört durch ein paar verärgerte Mpf-Laute. "Aber du hast doch gesagt, Schätzchen wär in Ordnung."

"Hast du das Geld?", fragte er, als er mit seiner Geisel den Leibwächter erreichte.
"Im Koffer. Hast du die Frau?"
"Oh Mist, die hab ich jetzt im Wagen vergessen."
"Dann hol sie gefälligst!"
"Ironie ist nicht so dein Ding, oder?"
"Hä?"
"Egal. Hier ist die Frau. Leg den Koffer auf den Boden und geh zurück zum Wagen, dann lass ich sie los." Carlo gehorchte. Don Pappas hatte gesagt, er solle den Anweisungen des Entführers folgen, also tat er es. Er legte den Koffer auf den Boden und machte ein paar vorsichtige Schritte rückwärts, wobei er Benny nicht eine Sekunde aus den Augen ließ.

Und dann hallte der erste Schuss über das Gelände.

...

"Ja, genau im Visier. So mag ich das. Da steht die Frau, die nicht. Zuerst den Kerl im Wagen. Dann können die anderen nicht fliehen. Logisch. Nicht die Frau."

...

Richard konnte sich beim besten Willen nicht erklären, was Benny mit dem Mädchen so lange zu quatschen hatte. Nervös rutschte er auf seinem Sitz hin und her, und sog an seiner Kippe. Endlich ging es voran. Der Leibwächter von Don Pappas legte den Koffer auf die Erde. Wunderbar, alles lief genau wie geplant.
Die drei Geräusche waren aufgrund der Geschwindigkeit nicht voneinander zu unterscheiden. Sie verschmolzen zu einem, und brachten die Welt für Richard zum Einsturz. Zunächst war das Geräusch, das die Patrone machte, als sie Claires Waffe verlies. Sekundenbruchteile später durchschlug sie die Heckscheibe des Wagens, welche mit einem hässlichen Klirren in ihre Einzelteile zerlegt wurde. Und einen erneuten Augenblick darauf passierte sie Richards rechte Hand und beendete ihren Flug im Armaturenbrett.

Richard hatte keine Zeit, das Loch in seiner Hand zu betrauern, denn schon im nächsten Moment ließen Don Pappas überall in der Umgebung positionierte Leute die Hölle los.

 
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Teil 3 – Alles läuft schief


»Liebes Tagebuch, es war schlimm. So schlimm, wie singende Wildecker Herzbuben vor einer alpinen Pappmachékulisse und der schunkelnden Caroline Reiber in Lederhosen.
So schlimm, wie auf der Toilette festzustellen, dass das Papier nur einlagig und auch noch alle ist. So schlimm, wie die Waltons auf einem 16:9 Plasmabildschirm, in Dolby Surround und keiner Fernbedienung. Jeden Tag Wagner, Wagner und immer wieder Wagner.«

»Schubert!«
»Ja Chef?«
»Antraben! Zack-Zack!«
»Ich eile, ich eile.«
»Geht das nicht ein bisschen schneller?!«
»Die Krücken, Chef. Die Knochen sind noch nicht richtig zusammenge…«
»Aha. Und bringen Sie mir eine Tasse Kaffee mit, wenn Sie schon an der Maschine vorbeikommen.«
»Wie? Das äh… Ich kann doch nicht… Die Akten schlepp ich auch schon und… Mit Milch und zwei Stück Zucker?«
»Mein Gott sind Sie ein Schleimer.«
»Ja, meine Mutter hat das auch immer gemeint.«
»Übrigens, heute früh ist ein Streifenpolizist, der sich um einen einfachen Auffahrunfall gekümmert hatte, spurlos verschwunden.«
»Sie sagte, dass nie was aus mir werden wird, wenn ich mich dauernd bei den anderen so dermaßen anbiedere.«
»Das Motorrad stand verlassen am Straßenrand.«
»Und dann wurde ich immer auf dem Schulweg verhauen.«
»Die Unfallbeteiligten haben ausgesagt, dass ähm, Stu – so hieß der nebenbei - eine auffällige, schwarze Limousine angehalten hätte, die sich unerlaubter Weise auf dem Standstreifen fortbewegt hatte.«
»Und in der Pause gab’s auch immer Dresche.«
»Und es ist ja wohl klar wie Kloßbrühe, dass man auf dem Standstreifen nur stehen darf.«
»Auf dem Nachhauseweg hat’s auch immer was gesetzt.«
»Hm, die Limousine könnte auf eine der zahlreichen Mafiafamilien hindeuten. Oder auf einen Filmstar. Oder auf einen diskreten Chauffierservice, mit Champagner und diesen praktischen Lederbezügen, wissen Sie?«
»Die Begleitung auf dem Abschlussball war meine Mutter. Ich glaub ich muss gleich heulen.«
»Obwohl, gibt es überhaupt Limousinen mit Veloursbezügen?«
»Ich bin immer noch Jungfrau, Chef.«
»Mensch Schubert, hier ist ja gar kein Zucker drin!«
»Bei dem Kaffee ist das doch total egal, Chef.«
»Kann sein. Wir sollten los. Ich riech da ne große Sache. Könnte gefährlich werden.«
»Ich bin bereit, Chef.«
»Schönschön.«
»Darf ich fahren?«

Als der Wecker klingelte, war es bereits kurz vor sieben Uhr. Das stetige, elektronische Piepen, bohrte sich langsam in sein Bewusstsein und wurde Teil jener aufregenden Träume, in denen barbusige Frauen und knappe Höschen eine immens wichtige Rolle spielen.
»Wa… wa… was? Uh!«
Das unangenehme Gefühl von getrocknetem Speichel an Mund und Wange sowie ein feuchtes Kissen beschleunigten Ringos Wachwerdevorgang.
»So nackt. Sie waren alle so nackt. Hach…«
»Wer war nackt?«
»Huch!«
Als sich Ramona umdrehte, Ringo die Hand auf die Brust legte um diese dann immer weiter nach unten zu manövrieren, wurde es brenzlig. Kein Mann sollte seiner Freundin etwas von solchen Träumen erzählen – nicht einmal auszugsweise - und vor allem nicht nach einer heißen Liebesnacht. Und erst Recht nicht, wenn man selbst nackt neben dieser bezaubernden, umwerfend schönen Freundin liegt, die einem auch noch am Gemächt herumspielt.
»Äh, wir Schatz. Wir beide waren völlig nackt in meinem Traum. Am Strand. Sonnenuntergang. Palmen. Wehendes Haar und so.«
Sie lächelte, öffnete die Augen jedoch nicht und knete Ringo tüchtig im Schritt herum. Angenehme Vibrationen durchzuckten Ringos Unterleib. Das ist der Vorteil, wenn man eine Physiotherapeutin als Flamme hat, dachte er sich.
»Ach du Scheiße!« Ringo erschrak und setzte sich auf.
»Zu fest?«
»Was? Nein, nein. Aber es ist ja bereits sieben. Ich verpass noch alles!«
»Geh heut nicht zur Arbeit«, versuchte sie durch gefühlvolleres Fummeln zu überzeugen.
»UH! Nein, ich bin vertraglich dazu verpfl…«
»Ich schick die Kinder zu meiner Mutter, dann können wir den ganzen Tag im Bett verbringen und rummachen«, stöhnte sie.
»Wir haben keine Kinder«, entgegnete er, »und du bist Vollwaise.«
»Jetzt lass mir doch auch mal meine Träume.« Sie schlug die Augen auf und zog die Hand unter der Bettdecke hervor. Ihr lüsternes Lächeln verwandelte sich in einen zornigen Blick, der soviel sagte wie „Sex kannse ersma vergessen, ne?“.
»Sorry Süße, aber mein Job ist schon immer mein Hobby gewesen«, erklärte Ringo und zog eine MP9 unter seinem Kopfkissen hervor. Ramona setzte sich auf und machte den Fernseher an.
»Und ich muss dauernd das Blut aus den Klamotten waschen. Meistens ist das alles schon eingetrocknet«, grummelte sie.
»Jetzt geht das schon wieder los…«
»Anstatt Du dir mal diese Dragunov besorgst, von der dauernd im Scharfschützen-Journal geschrieben wird. Aus über zweihundert Meter kannst du dann Gott spielen und ich hab weniger zu schrubben.«
»Die kostet fast achttausend Scheine.«
»Du findest wohl immer eine Ausrede«, fauchte sie und zappte durch das morgendliche Programm.
Ringo hatte keine Lust auf diese Diskussion, die ihm jedes Mal vor einem Auftrag blühte. Nachdem er sich etwas Wasser ins Gesicht geschmissen und seine schwarze, praktische Funktionskleidung für den modernen Auftragskiller angezogen hatte, schnappte er sich ein wenig Munition, seinen stets bereiten, ebenfalls schwarzen Rucksack, pellte einen Snickers aus der Verpackung und setzte sich in Bewegung. Kurz vor der Haustür fiel ihm ein, dass sein Wagen aufgrund zahlreicher Einschusslöcher, bei Schorre in der Werkstatt war. Jetzt schlängelte sich das übelste Gefühl, welches ein Mann – ein Killer – nur haben kann durch seine Magengegend. Der Gedanke, sich die Wagenschlüssel seiner Freundin zu leihen war einer der abscheulichsten überhaupt. Als er das Haus verließ, ging er zügig zur nächstgelegenen Haltestelle und wartete, wie alle anderen, auf den Bus der ihn zur „Arbeit“ bringen würde.

»Ach du heilige Scheiße…«
Richard starrte durch das Loch in seiner Hand auf das demolierte Armaturenbrett. Das Radio wurde arg in Mitleidenschaft gezogen und knisterte nun unverständliche Töne von sich. Die Kugel rotierte wahrscheinlich so schnell, dass sie das Blut in Richards Hand sofort gerinnen ließ. Abgesehen von diesem kosmetischen Makel, konnte er den Greifapparat völlig problemlos bewegen und der Schmerz war erträglich.
»Mann, so hat’s bei Darth Vader auch angefangen!«
Die Windschutzscheibe schluckte ein, zwei, drei Kugeln. Der Scharfschütze schien plötzlich ein Maschinengewehr hervorgekramt zu haben. Keine Zeit zum Handbegutachten.
Als waschechter Bond-Fan, zog er eine Walther PPK aus seinem Hosenbund, kontrollierte das Magazin, entsicherte, rutschte den Sitz hinunter und öffnete die Tür. Er rollte sich heraus, über den Boden und unter das Auto. Eine weitere Scheibe des Wagens ging in die Brüche und ergoss tausend Scherben auf den Boden. Richard rollte sich hervor, blieb jedoch in Deckung. Plötzlich näherten sich mehrere Salven ratternd seiner Gegenwart. Aus Kisten, aus Containern, unter wahllos herumliegenden Planen, unter Gullydeckeln, hinter Gabelstaplern und einem Eiscremwagen, sprangen Männer mit Sonnenbrillen, in dezenten, schwarzen Anzügen hervor und ballerten aus diversen halbautomatischen Waffen auf scheinbar alles was sich bewegte.
»Ihr verfluchten Penner! Seht Euch meine Hand an! Könnt Ihr mir vielleicht mal verraten, wie ich damit mein Kleingeld aus der Hosentasche rausbekommen soll? Erdnüsse muss ich jetzt auch immer mit links futtern.«
»Das waren wir nicht!«
»Nee, sind ja immer die anderen dran Schuld…«
Richard hob demonstrativ die linke Hand.
*Spratz*
Eine Salve aus einer Uzi durchsiebte die Hand genau mittig. Blut spritzte.
»Ach Ihr seid doch echt Ärsche!«, erwiderte er und stolperte über die Motorhaube um erneut Deckung zu finden.
Einer der Sonnenbebrillten Gangster rief: »Jetzt ist es aber gleich verteilt. Sieht doch viel besser aus, oder? So synchron.«
»Symmetrisch, du Depp!«

Carlo öffnete den Koffer, drehte ihn und schob ihn leicht nach vorne. Der Koffer war mit einer Million in kleinen Scheinen gefüllt.
»Hier ist das Geld. Jetzt musst du das gleiche äh… tun.«
»Was, die Kleine auf den Boden legen, öffnen umdrehen und zu dir schieben?«
»Ähm…«
»Schon gut, ich merke, du bist nicht grad der Hellste, Bimbo.«
»Carlo!«
»Benny, wie geht’s denn so?«
»Brfstgt…«
»Aha, aber genug gequasselt, die schießen schon alle hier. Gemwa maln bissl Gas, gell?«
Carlos dämlich debiler Gesichtsausdruck rührte nicht von seiner schier unglaublichen Dummheit, sondern von zerstörter Hirnmasse, welche aus seinem rechten Ohr quoll. Der Einschlag ging dem Knall voraus. Benny und Anna zuckten zusammen und sahen, wie der große Bodyguard auf den Koffer zu fallen drohte.
»Der kippt auf die Kohle Mann!«, schrie Benny und sah Anna entgeistert an. »So tu doch was!«
»MPF!«
Kurzerhand nahm er sie bei den gefesselten Händen und schleuderte sie gegen Carlo, der nun genügend Schwung hatte um über das Geländer ins Wasser zu fallen. Benny schloss den Koffer und rannte los. Anna blieb wie angewurzelt stehen. Ihre schielenden Augen verrieten starke Benommenheit.
»Mpf?«.
»Scheiße! Nu beweg dich Mädel oder willste dir ne Kugel einfangen?«
»M… pf.«
Er packte Anna am Arm und zerrte sie aus der Gefahrenzone zum Auto.

Richard sprang Notgedrungen in den Wagen und drehte den Schlüssel, während weitere Kugeln das Blechkleid verzierten.
»Oh Mann! Benny hat grad so schön sauber gemacht und ich blute hier alles voll.«
Der Motor gab ein fulminantes Röcheln von sich, welches in einem aparten Absaufen endete.
»Scheiße!«

Benny wuchtete den Koffer auf den Rücksitz und katapultierte Anna hinterher. Ein Streifschuss riss ihm ein hässliches Loch in den teuren Wintermantel.
»Scheiße!«
Sein Blick schweifte über das Armaturenbrett und durch den restlichen Innenraum.
»Wie sieht’s denn HIER aus?! Mann ey!«
»Guck mal meine Hände.«
»Hehe.«
»Der Wagen hat’s hinter sich. Zu viel Blei.«
»Na super!«
Anna beugte sich vor: »Mpf!«
Richard riss ihr den Knebel herunter.
»Eiswagen!«
»Na klar! Benny, schnapp dir den Koffer, ich werde uns Deckung vor den Kloppies geben.«
Benny zuckte mit den Schultern und pfiff: »Ich weiß zwar nicht, wohin uns das führen soll – aber bitte, wenn du unbedingt ein Eis…«
Richard schubste ihn aus dem Wagen und schnitt Anna die Fesseln durch. Ein weiterer Schuss durchdrang den Wagen und sauste durch ihre Haare.
»Meine Frisur! Scheiße!«

*

Die Killerin legte erneut auf Richard an. Ladehemmung.
»Scheiße!«

*

Don Pappas sah sich das Spektakel über einen Monitor, welcher über eine kleine Außenkamera verbunden war, im Inneren der Limousine an. Fettige Sauce kleckerte über den Bildschirm und löste einen Kurzschluss aus. Zappenduster.
»Eh Scheiße!«

*

Ringo stand noch immer an der Haltestelle. Der Bus hatte Verspätung.
»Scheiße!«

*

Die Gehhilfen behinderten Schubert enorm an der Ausübung der Fahrzeugführung.
»Scheiße!«

 
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Teil 4 – Auf die Plätze, fertig, Flucht.

„Liebes Tagebuch, manchmal passieren Dinge, von denen man bisher glaubte, dass sie einem nie passieren würden. Oder von denen man bisher nur im Fernsehen oder Radio gehört hatte um sie auch gleich wieder zu vergessen. Doch wenn einem diese vergessenen Dinge plötzlich selbst zustossen, lassen sie einem nie mehr los. Sie tauchen immer wieder auf, besonders Nachts, wenn alle anderen Alltäglichkeiten schlafen, kommen sie zurück. Viele vergessengeglaubte Dinge. Dingeling.“

Benny presste mit beiden Händen den Koffer an seinen Körper und rannte los.
Richard schoss abwechslungsweise Richtung Lager, dann in Richtung Don Pappas Limousine. Dabei traf er zufällig eine vorbeifliegende Möwe, die sofort ihren Verletzungen erlag und auf einen Geranientopf auf dem Balkon des Lagerhauses fiel. Dieser kippte um und zusammen stürzten sie direkt auf den Kopf eines sonnenbebrillten Mann im schwarzen Anzug, der so seiner Sinne beraubt in alle Richtungen schoss und dabei die Hälfte der Mannschaft Don Pappas auslöschte.
„Halt, Feuer einstellen.“

Einen Moment lang war es ruhig.
„Ok, Benny, wir sitzen in einem, äh Eiswagen“, schnaufte Richard.
„Genau, Richard“, keuchte Benny.
„Wir haben einen Koffer voller Geld.“
„Jou.“
„Es sind hundertsechzig Meilen bis Chicago.“
„Richard?“
„Die Geisel sind wir los.“
„Jaaa...äh, nein.“
„Ja wie jetzt!“
„Nein, ich bin noch da“, keifte Anna und mit einem Schwall kalter Luft rutschte sie aus dem Kühlfach nach vorne.
„Habe den Lieferanteneingang genommen. Jemand 'n Eis? Und jetzt fahrt los, ihr Hohlköpfe, oder wollt ihr, dass sie meine Frisur gänzlich ruinieren?“
Ein Schiffshorn ertönte aus der Ferne und mit ihm setzte das Sirren und Pfeifen der rumfliegenden Kugeln von Don Pappas Leuten wieder ein.

Benny startete den Motor, legte den Gang ein, und drückte das Gaspedal aufs Bodenblech.
Mit sechzig Sachen schossen sie aus dem Hafen. Fast gleichzeitig hörte man das Klicken von achtzehn leergeschossenen Waffen. Ein betretenes Murmeln lag in der Luft, die letzten Patronenhülsen kullerten geräuschvoll übers Pflaster und man vernahm das leise Surren eines automatischen Scheibenhebers. Im Wagenfenster erschien das feiste Gesicht Don Pappas.
„Carlo? Habte ihr meine kleine Anna? Wo isse meine Püppi?“

„Himmelarschundzwirn. Machschondu...grrrrr...scheiss Knarre“, keifte es von einem entfernten Balkon, gefolgt von metallischem Pochen. Dann flog Clairs Waffe durch die Luft und schlug hart aufs Pflaster auf.
„Was glotzt ihr denn alle so?“, schrie Claire vom Balkon herunter. „Wollt ihr sie etwa entkommen lassen?“

„Carlo!“, schrie Don Pappas. “Wasse tust du in die Wasser? Ins Auto, subito! Los, los, wir müssen verfolge diese Gangster.“
Doch der Leibwächter konnte verständlicherweise dem Wunsch Don Pappas nicht nachkommen, hatte Richard ihm doch das bisschen Hirn aus der Birne gepustet und jetzt schwamm er mit dem Abfall um die Wette.

"Ach, was solls. He, du da mit die schwarze Brille!"
"Meinen Sie mich, Boss?"
"Ja. Wie isse dein Name."
"Giovanni, Boss."
"Gut, gut. Du bist meine neue Chauffeur. Avanti."
Giovanni steckte die Brille in seine Jackentasche und klemmte sich hinters Steuer.
„Welche Richtung, Boss?“
„Siehste du die Eiswagen da vorne, Giovanni?“
„Ja, Boss. Aber wollen sie jetzt wirklich ein Ei...“
„Fahre ihme nach. Bitte.“
„Sie sind der Boss, Boss.“, sagte Giovanni und liess den hundertsiebzig Pferdchen freien Lauf.

Einen Moment war nur aufgeregtes Getrappel und mehrfaches Knallen von Autotüren zu hören. Dann quietschten wieder Reifen und aus allen Ecken kamen sieben schwarze Alfa T-Sparks geschossen, die mit heulenden Motoren der Limousine des Dons hinterherjagten.

***

Der Bus hielt. Zischend öffnete sich die Fahrgasttür und Ringo stieg ein.
„Guten Tag, bitte weisen Sie ihren Fahrschein vor.“
Ein sichtlich gut gelaunter Busfahrer mit Schildmütze grinste Ringo breit ins Gesicht.
„Was? Wie?“
Der Busfahrer schob seine Mütze noch tiefer in die Stirn und schaute nun drohend auf Ringo herab.
Er setzte sich seine Mütze immer extra etwas schief auf und fand, er sähe damit Bogard verdammt ähnlich.
Er liebte Casablanca. Er liebte Ricks Café. Und er liebte seinen Job.
„Fahrschein, aber dalli Kumpel.“
„Oh, ja klar“, sagte Ringo und kramte demonstrativ in den Taschen.
„Ja wo habe ich denn nur den blöden Fahrschein. Wissen sie was? Sie fahren jetzt einfach schon mal Richtung Hafen, ich suche derweil meinen...“
„Nix da, Bursche. Kein Fahrschein, keine Beförderung und jetzt...“
Er blies unsichtbare Rauchkringel Richtung Decke, wo unsichtbare Ventilatoren den nichtvorhandenen Rauch verwirbelten und zeigte mit der imaginären Zigarette herablassend aber bestimmt auf die Tür.
„Raus, oder...“
„Ach, da isser ja!“, rief Ringo und hielt dem völlig verdutzten Busfahrer seinen Fahrschein Marke MP9 unter die Nase.
„Ich glaube, das ist der Beginn einer wunderbaren Freundschaft“.

***

„Ich habe ein ungutes Gefühl, Schubert.“
„Ich auch, Chef. Die verdammten Krücken, äh können sie mir mal den Ganghebel, oh, danke.“
„Niemand verschwindet einfach so nach dem Ausstellen eines simplen Strafzettels. Da stimmt doch was nicht, das spür ich, Schubert.“
„Und jetzt vielleicht hier drüben den Blinker, Chef? Zu gütig, danke.“
„Eine schwarze Limousine auf dem Standstreifen, was sagt mir das bloss.“ Der Polizeiinspektor verfiel in tiefes Grübeln, während Schubert mit der einen Krücke leicht Gas gab und mit der anderen sanft die Kupplung kommen liess.
„Hurra, wir rollen, ist das nicht toll Chef?“
„Wie? Äh, ja, ganz toll Schubert. Wenn sie dann soweit sind, können sie ja versuchen vom Hof zu fahren.“
„Hach, was wäre Mama stolz auf mich. Und erst Papa..“
„Das ist es. Don Pappas. Das war Don Pappas Limousine.“
„Mein Papa hat doch gar keine Limou...“
Schuberts linke Krücke rutschte von der Kupplung und der Wagen machte einen Satz vorwärts direkt in die Mülltonnen. PAFF , PAFF. Die Airbags funktionierten tadellos.
„Mann, Fubert. Fie find auchf fu nifts fu gebfraufen.“
„Tut mif leidf Fhef, abef mit den Kfücken...“
Der Inspektor schälten sich eben aus dem demolierten Streifenwagen, als sein Handy Mission Impossible piepste.
„Ja, was gibt’s?“
Wenn Schubert in dieser Sekunde das Gesicht seines Chefs gesehen hätte, könnte er am Stammtisch gross angeben. Doch leider verwickelte er sich dank seinen Krücken immer mehr mit der leeren Airbaghülle und sah bereits aus, wie eine ägyptische Mumie kurz vor der Einbalsamierung.
Der Inspektor klappte sein Handy zu und ging raschen Schrittes Richtung Fuhrpark.
„Neue Situation, Schubert.“
Der Airbag riss und Schubert plumpste eingerollt auf den Polizeihof.
„Ich muss zum Hafen, gab ‚ne Schiesserei.“
„Warten sie“, rief Schubert und humpelte, die weisse Hülle im Schlepptau dem Inspektor hinter her.
„Sie haben jede Menge Patronenhülsen und Rippchenreste gefunden.“
Der Inspektor schwang sich auf ein Motorrad und stülpte sich den Helm über.
„Ich sagte ja, Don Pappas. Irgendwann kriege ich diesen fetten Knochennager.“
Schubert blinzelte verwirrt und faltete sorgsam die Hülle zusammen.
„Und ich?“
„Sie schreiben den Rapport wegen dem weissen Kaninchen.“
„Welchem weissen Kanin...“
„Denken, Schubert, denken.“ Die weissgrüne BMW heulte auf.
„Wegen was mussten sie noch mal ausweichen?“, rief der Inspektor und brauste auch schon aus der Einfahrt des Polizeipräsidiums.

***

„Das wollte ich schon immer mal machen“.
„Was denn, nen misslungenen Geiselaustausch überleben?“
Richard blickte abwechselnd durch seine linke, dann durch seine rechte Hand, ehe er sie wieder in den Kübel mit Vanilleeis steckte. Benny strahlte über das ganze Gesicht und schaltete die Eiswagenklingel an.
„Nee, Eiswagen fahren.“
Bimmel,bimmel.
„Eiswagen fahren?“
Bimmelingbimmbimm.
„Ja, ich durfte nie mitfahren, wie die anderen Kinder in unserer Strasse.“
Kingelingdinging.
„Nich wahr!“
Dringsinging.
„Doch, jeder durfte eine Runde mit dem Eiswagen mitfahren, nur ich nicht.“
Dingeling.
„Das ist ja so was von fies.“
PlingPling.
„Oh, Mann, könnt ihr eure Kindheitstraumatischen Erinnerungen für später aufheben? Mir wurde eben von meinen lieben Verwandten die Frisur zerschossen, mein linker Absatz fehlt und ein Fingernagel ist eingerissen. Könnt ihr euch vorstellen wie ich mich fühle? Könnt ihr das?“
Bimmeling ding bing.
„UND STELLT DAS VERDAMMTE GEBIMMEL AB.“
Anna vergrub ihr Gesicht in den Händen und begann hemmungslos zu schluchzen.
„Hei, klar, ich mach ja schon aus.“
„Ui, die ist ja völlig fertig.“
„Jou, das macht ihr aber mächtig zu schaffen.“
„Der eigene Opa, musste dir mal vorstellen.“
Ein Quietschen hinter ihnen riss Benny aus seiner Eiswagenidylle. Er lehnte sich nach draussen.
„Sorry Kleiner, keine Zeit für’s Wechselgeld. Hier Dein Eis.“
Benny schnappte sich den Zehner aus der Hand des verblüfften Dreikäsehochs, warf ihm die Eiswaffel zu und gab Gas.

Eben als Oma Hansen auf ihrem Balkon in der Hafenstrasse das letzte Hemd zum Trocknen aufgehängt hatte, geschah etwas so aussergewöhnliches, wie sie es seit der letzten Hausbesetzung gegenüber vor fünf Jahren nicht mehr gesehen hatte.
Mit quietschenden Reifen bog ein Eiswagen in ihre sonst so ruhige Strasse ein, rammte einen Hydranten und brauste auf der falschen Seite Richtung Reiterdenkmal davon. Kaum erholt vom Schreck schoss eine lange schwarze Limousine um die Ecke, riss den Hydranten vollends um und jagte dem Eiswagen hinter her. Durch die riesige Wasserfontäne hindurch tauchten nun nacheinenander sieben weitere schwarze Wagen auf, die ihrerseits geparkte Autos streiften und damit ein fröhliches Konzert von hupenden Alarmanlagen hinterliessen. Zu guter letzt bog auch noch ein Linienbus in die Hafenstrasse ein und räumte schlingernd die letzten Mülltonnen weg.

Oma Hansen schüttelte den Kopf und trug ihren leeren Wäschekorb zurück in die Wohnung. "Verrückte Welt da draussen", sagte sie zu ihrem Wellensittich und schob ihm einen Cracker durch die Gitterstäbe.
Wäre sie nur ein paar Minuten länger geblieben, hätte sie auch noch gesehen, wie ein grünweisses Motorrad mit Blaulicht durch die Kurve rutschte und dem ganzen verrückten Tross hinterherjagte.

 
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Teil 5 - Padapeng

Liebes Tagebuch,
Mir geht es gut. Wirklich. Selten habe ich mich so wunderbar gefühlt. Es ist, als würde ich schweben, durch die Luft schwirren und frohlocken wie Elfen, die um ein kleines Feuer tanzen.
Das ist natürlich alles gelogen.
Es ist schrecklich. Ich möchte heulen. Und vor mir sitzen zwei freundliche dämliche Idioten Und diese Verfolgungsjagd.
Was hatte der Weihnachstmann da bitte zu suchen?


Früher.

»Bona sera, Bona sera, was habe ich dir getan, dass du mich so respektlos behandelst? Du kommst in mein Haus an der Geburtstagsfeier meines Sohnes und bittest mich einen Mord zu begehen?«
»Naja, nicht einen wirklichen Mord, eher eine, na ja, kein Mord, so würde ich das nicht ausdrücken. Das klingt so brutal. So unglaublich schrecklich.«
Der kleine Pappito drückte sich fest an die Wand hinter dem Vorhang im Büro seines Vaters. Und lauschte weiter.
»Du sagst nicht einmal 'Mein Pate' zu mir.«
»Doch, doch, das habe ich doch. Vorhin. Ich nuschle nur ein wenig, momentan. Ich war eben beim Zahnarzt und die Narkose wirkt immer noch ein wenig, meine Zunge fühlt sich an, als möchte sie aus meinem Mund springen.«
»Das soll ich dir glauben, eh?«

Jetzt.

Don Pappa wischte sich eine Träne von der fetten Wange. Zu viele traurige Erinnerungen. In letzter Zeit war es besonders schlimm. Er dachte einen kurzen Moment lang an den großen Brauseskandal vor 30 Jahren und dann klopfte er gegen die Scheibe.
»Carlos?«
»Giovanni, Boss«, verbesserte der Chauffeur. »Carlos Hirn klebt auf der Straße.« Er überlegte kurz. »Naja, zumindest das Zeug, was mal in seinem Kopf war.«
»Wase iste mit Anna. Eh?«
»Wir sind ihr auf den Fersen. Sie flüchten in dem Eiswagen da vor uns.«
»Und wase sind das für Autos hinter uns, eh?«
»Manche davon gehören zu uns, Boss.«
»Und die anderen?«

Dingelingeling.
»Der Eismann ist da!«
»Sehr witzig, Benny.«
»Verzeihung, werter Herr, dass ich meinen Humor noch nicht verloren habe.«
»Was man nicht hat, kann man nicht verlieren.«
»Soll ich dir einen auf die Finger geben?«
Dingelingeling.
»Kann man diese doofe Klingel auch mal ausmachen?« rief Anna.
Richard probierte es. »Aua. Au... au... ahh. Verdammt, tut das weh.« Er schüttelte seine malträtierten Hände und betrachtete sie melancholisch. »Was hab ich nicht alles mit diesen beiden Freunden hier erlebt... mein erster Mord. Das waren noch Zeiten.«
»Hast du überhaupt schon mal jemanden umgebracht?«

(Was Benny nicht weiß, was aber in dem großen Mafia Almanach (von Markus Putzo) zu lesen ist:
Folgende Fragen sollten sie einem angehenden Mafiosi nie stellen:
»Entschuldigung, aber was wollen Sie mit dem ganzen Beton?«
»Ist ihre Mamma genauso dumm wie Sie?«
»Eine Sonnebrille? Am Tag?«
»Haben Sie überhaupt schon mal jemanden umgebracht?«)

Glücklicherweise hatte auch Richard den großen Mafia Almanach nur angelesen und das Buch dann zur Seite gelegt, weil die Schrift so klein gewesen war und nicht auf jeder dritten Seite ein Bild vorkam.

Claire war unglaublich sauer.
»Sei ruhig, Schneckchen, sei ruhig«, murmelte sie immer wieder.
Sie versuchte es mit ein paar Yogaübungen (Einsamer Geier sucht Nest, Brunftiger Bär in Hocke, Schneller Sperber mit gebrochenem Flügel, Trocknender Wasserfloh auf Sand), was sich aber im Auto als etwas schwierig erwies.
Schließlich gab sie es auf.
Der Eiswagen. Ausgerechnet ein Eiswagen.

Zur selben Zeit:
Franz Egon Svenson war sich sicher. Dies war der Tag, dies war die Stunde.
Ade, du schnöde Welt, dachte er bei sich und seufzte.
Ein paar Dinge würden ihm sicher fehlen. Seine Sammlung von Fotos nackter Frauen die Tontöpfe vor ihre Blöße hielten (die es immerhin schon auf stattliche drei Bilder gebracht hatte, wobei auf einem eigentlich keine Frau zu sehen war, sondern nur ein Tontopf, der vor einem Vorhang auf einem Basttischchen stand). Oder seine Telefonbücher aus dem Jahre 1981, von den Städten Washinton DC, El Paz und Brücklingen & Umgebung, in denen er in manch einsamer Stunde gerne geschmökert hatte. Ein paar der Nummern hatte er sogar auswendig gelernt.
Franz Egon seufzte erneut. Mit den weltlichen Dingen hatte er abgeschlossen. Er schlüpfte in seinen Mantel und verließ seine Wohnung.

Richard zog seine Hände aus den beiden Plastikbehältern, die Vanilleeis enthielten, das aber nun vielmehr wie Erdbeereis aussah.
»Die Schmerzen werden langsam unerträglich.«
»Werden wir eigentlich immer noch verfolgt?« fragte Anna.
»Unwahrscheinlich«, sagte Benny. »Ich bin ein Meister des Fluchtfahrens, die Straße ist mein Zuhause, ich lenke jeden Wagen geschickt durch die engsten Gassen, die Nacht ist mein Verbündeter,...«
PENG.
»Was war das?« fragte Anna erschrocken.
»Bestimmt nur ein Wiesel, das ich eben überfahren habe?«
»Ein Wiesel?«
»Ja.«
»Mitten in der Stadt?«
»Warum nicht? Diese Wiesel sind heute überall.«
PENG. PENG. PENG.
»Scheint eine wahre Invasion zu sein«, überlegte Benny.
»Die schießen auf uns!«, brüllte Richard, der einen Blick in den Rückspiegel geworfen hatte.
»Schieß zurück, schieß zurück!«, rief Benny.
»Na wie denn?« fragte Richard und hielt beide Hände hoch, die vollgeschmiert waren mit Vanilleeis (das aussah wie Erdbeereis).
»Dann muss du fahren!«
»Na wie denn?«, fragte Richard und hielt beide Hände hoch.
»Es ist zum verzweifeln.«
PENG. PENG. PENG. PENG.
»Vielleicht hören sie von alleine wieder auf.«
PENG. PENG. PENG.
»Oder die Munition geht ihnen aus.«
PENG. PENG. PENG. PEEEENG.
»Denk, Benny, denk, denk, denk«, murmelte Benny.
»Ja, denk, Benny«, rief Richard.
»Ja, bitte, Benny, denk nach«, ermunterte ihn auch Anna.
»Argh, ich kann nicht denken, wenn ihr alle quatscht«, rief Benny.
PEEEEEEENG. PADAPENG.

Das ist es nun, dachte Franz Egon Svenson.
Nur noch die Mütze.
Er stellte sich mitten auf die Straße und breitete die Arme aus.
Dingelingeling.
»Häh?«

»Der Weihnachtsmann!« schrie Benny und trat auf die Bremse.

»Wat?«, keuchte Giovanni.

»Wie?«, rief Claire.

»Hh?« riefen die namenlosen Männer in den anderen Autos. (Manche sagten auch gar nichts, manche grummelten, manche murmelten »Wie bitte?« oder »Ach nee« oder »Geht das nicht noch ein wenig langsamer?«)

 

Teil 6 - Irgendwie Chaos

Liebes Tagebuch. Ich meine, es ist furchtbar. Einfach furchtbar. Meine Frisur ist im Eimer, die beiden Idioten kriegen absolut nichts auf die Reihe und das mit dem Weihnachtsmann... naja, da will ich lieber nicht mehr dran denken.
Das war ja irgendwie totales Chaos. Oder so.


In jeder größeren Stadt gibt es einen Fluss. Wasser, das die Stadttore auf der einen Seite passiert, sie durchquert, unterwegs mit allerlei Unrat verziert wird, seine Farbe von einem gesunden Transparent hin zu einem neckischen Milchiggrau verändert und die Stadt schließlich auf der anderen Seite wieder verlässt.
Manchmal ist dieser Fluss breit und tief genug, um abgesehen von seinen Eigenschaften als öffentliche Toilette, Müllhalde, Trinkwasserquelle und in manchen Kreisen auch Friedhof auch als Schifffahrtsweg genutzt zu werden. Die Menschen neigen in solchen Fällen dazu, inmitten ihrer schönen Stadt ein Stückchen Wiese abzugrenzen, das Gras zu verbrennen und an der nun kahlen Stelle Lagerhäuser, Kräne und Schotterwege zu errichten, bis auch wirklich nichts mehr an die einstige Schönheit des Flusslaufes erinnert, der zudem durch einige LKW-Ladungen Beton seine ehemalige Schnörkeligkeit eingebüßt und durch eine wunderbar vorhersehbare Geradlinigkeit ersetzt bekommen hat.
Jeder Hafen hat ein Hafenbecken. Jedes Hafenbecken hat ein Gelände ringsherum. Und manchmal kommt es vor, dass längst tot geglaubte Menschen, denen zuvor in den Kopf geschossen wurde, über dieses Geländer in das Becken stürzen.

Und in diesem Moment, rücklings auf dem Wasser treibend und böse aus seiner zuvor erwähnten Kopfwunde blutend, schlug Carlo die Augen auf.

...

Franz Egon Svensson hatte sich lange und ausgiebig auf diesen Moment vorbereitet. Ein Abschiedsbrief lag, sauber gefaltet und ordnungsgemäß unterschrieben, seit ein paar Tagen auf dem Küchentisch. Die Blumen waren gegossen, seine Wüstenspringmaus Billy mit Gurkenscheiben und Trockenfutter für die nächsten Tage versorgt. Franz hatte sich sogar überlegt, wie er sich verhalten wollte, wenn in diesem letzten Moment sein Leben an seinem inneren Auge vorbeiziehen würde. Tagelang hatte er damit verbracht, eine Art Drehbuch für diesen Film zu verfassen, sauber verstaut tief in seinem Unterbewusstsein.

Und so war es nicht weiter verwunderlich, dass er in diesem Moment, in dem er die Augen schloss und sich ganz fest auf sein Ende konzentrierte, zunächst ein Bild seiner Mutter sah. Ja, das war immer ein guter Anfang. Weihnachten 1973. Geschenke. Ein Schaukelpferd, eine Tafel Schokolade, Erdbeereis, ein Satz Malkreide. Zwei Tage später Hausarrest wegen grünem Muster auf der Tapete. Nicht gut. Schneller Sprung an seinen Geburtstag 1974. Vanilleeis. Vier Kerzen auf dem Kuchen. Ostern 1987. Erstes Date mit Ute. Kino. Langnesewerbung. Erster Kuss. Zazikigeschmack.
Ja, ein guter Film. Dramaturgisch sehr ausgefeilt und mit tollen Kameraeinstellungen. Franz beglückwünschte sich insgeheim für seine Weitsicht, diese wichtige Sache bereits im Vorfeld geklärt zu haben. Nur die ständige Eisreklame störte ein wenig.

Dingelingeling.
"Hä?"
Franz schlug die Augen auf und bemerkte gerade noch, wie der Eiswagen einen schnellen Schlenker machte, dabei sämtliche Elchteste dieser Welt mit katzengleicher Agilität verhöhnte und den potentiellen Selbstmörder umkurvte.
"Ach, verdammt..." Doch Franz hatte keine Zeit, dem Wagen sehnsüchtig hinterherzublicken, denn schon wenige Augenblicke später nahte in Gestalt Don Pappas prächtiger Limousine seine zweite Chance.

...

Claire liebte ihren gelben Ford. Sie liebte den schön geräumigen Kofferraum, in dem sich jede Menge Waffen verstauen ließen. Sie liebte die bequemen und - was noch viel wichtiger war - abwaschbaren Sitze. Sie liebte den kleinen Wackelelvis, der auf dem Armaturenbrett witzig umhertanzte. Sie liebte sogar das Handschuhfach, das jeden noch so kleinen Hopser über Gullideckel oder Eichhörnchen mit einem belustigten Quietschen kommentierte.
Was sie an ihrem Wagen nicht liebte, war der Motor. Normalerweise stand sie ihm relativ gleichgültig gegenüber, bewunderte ihn zwar für seine Zuverlässigkeit, betrachtete die Sache aber eher als eine reine Geschäftsbeziehung. Im Moment hasste sie den Motor, weil er sich weigerte, anzuspringen.
Hilflos stocherte sie mit dem Zündschlüssel im Schloss herum, stieß ein paar sehr unschöne Flüche gegen wahllos ausgewählte Automechaniker in ihrem Bekanntenkreis aus und dachte mit Panik an das, was ihr Auftraggeber mit ihr machen würde, müsste sie ihm beichten, dass sie den Auftrag tatsächlich vergeigt hatte. Als dann ein paar Minuten später der Motor mit einem ungemein hinterlistig klingenden Brummen doch seinen Dienst antrat, war es eigentlich schon zu spät. Don Pappas und seine Leute waren längst weg. Und, was noch weitaus schlimmer war, ihre Zielperson war ebenfalls längst weg.

Claire war unglaublich sauer.
"Sei ruhig, Schneckchen, sei ruhig", murmelte sie immer wieder.
Sie versuchte es mit ein paar nicht namentlich bekannten Yogaübungen, was sich aber im Auto als etwas schwierig erwies.
Schließlich gab sie es auf. Der Eiswagen. Ausgerechnet ein Eiswagen.

Mit einem leisen Fluch auf den Lippen beschloss sie, ebenfalls endlich das Hafengelände zu verlassen. Sie würde sich einfach auf die Suche machen müssen.

...

"Geht das nicht noch ein wenig langsamer?"
"Halt die Klappe! Weißt du, was passiert, wenn wir den Don überholen? Weißt du das?"
"Du könntest in den vierten Gang hochschalten?"
"Der Don würde uns gepflegt den Kopf abreißen. Es ist eine Frage der Ehre, dass sein Wagen bei Verfolgungsjagden den Tross anführt. Der Don vorne weg und wir als seine Handlanger hintendran."
"Aber wenn wir doch schneller sind..."
"Das spielt keine Rolle."
"Na schön. Aber kannst du wenigstens die Spur halten? Ich kann gar nicht richtig zielen. Wie soll ich auf diesen verdammten Eiswagen schießen, wenn du ständig... da! Schon wieder! Jetzt hätte ich fast den Rückspiegel von Pappas Limousine getroffen."
"Tut mir Leid, okay? Tut mir Leid. Es ist nur so, dass Garrellos Leute hinter uns sind und auf uns schießen."
"Ach nee, ist mir aufgefallen. Ziemliches Chaos hier, oder? Man weiß gar nicht, wer hier eigentlich zu wem gehört... Der Weihnachtsmann!"
"Wie bitte?"
"Na da!"

Giovanni war zufälligerweise ein ausgesprochen guter Autofahrer, und so kostete es den neuen Chauffeur Don Pappas nur ein spöttisches "Wat?", dem Selbstmörder auf der Straße auszuweichen. Was genau an diesem Ausspruch der spöttische Teil war, wird dabei allerdings sein Geheimnis bleiben.
Dummerweise war der Fahrer der unmittelbar folgenden Limousine ein weitaus schlechterer Fahrer und musste sich zudem noch mit einem nörgelnden Bordschützen auseinandersetzen. Somit gelang es ihm nicht, den Wagen auf der Straße zu halten. Vielmehr krachte er gegen eine Häuserwand und hatte wenig Zeit, diesen Aufprall mit dem üblichen Fluch zu begleiten, da schon wenige Augenblicke später sechs weitere Limousinen, teils befehligt von Don Pappas, teils von Don Garello in den Wagen hineinfuhren, was zu einem äußerst teuren und nervenzerfetzend hässlichen Blechschaden führte. Und hätte es nach dieser Sinfonie des Chaos noch irgendwelche Hoffnungen an der Fahrtüchtigkeit der Limousinen gegeben, so wurde diese spätestens zerstört, als wenige Augenblicke später ein Linienbus mit voller Wucht hinten in das Blechknäuel donnerte.
"Ach, scheiße!" Es gab Tage, an denen hasste Ringo seinen Job. Er warf einen prüfenden Blick auf das blutverschmierte Gesicht des Busfahrers und kletterte dann durch die zersplitterte Windschutzscheibe nach draußen. Noch während er sich ein wenig zitternd auf der Straße umsah, wurde er beinahe von einem gelben Wagen überfahren.

...

Okay. Nachdenken. Cool bleiben und nachdenken. Wenn ich ein Eiswagen wäre... nein, Moment. Das ist albern. Wenn ich ein Entführer wäre. Ja das ist besser. Wenn ich also einen Eiswagen geklaut hätte, wo würde ich jetzt sein? Stadtpark. Ja, natürlich am Stadtpark. Wo sonst. Stadtplan. Handschuhfach. Ah, hier... nächste links. Klar. Dann zweite Straße nach rechts. Okay. An der Ampel links. Weihnachtsmann.
"Wie...?"
Claire schwankte irgendwo zwischen blankem Entsetzen angesichts des sich ihr bietenden Blechschadens, Stolz ob ihres erfolgreichen Gedankenganges und Erleichterung, da sie dem Weihnachtsmann im letzten Moment hatte ausweichen können.
"Machen sie mal die Scheibe runter, Lady." Wie aus dem Nichts stand auf einmal ein Mann neben ihrem Wagen. Claire gehorchte. "Danke. Mein Bus ist stehen geblieben und ich brauch ne Mitfahrgelegenheit."

...

Während sich also das Chaos auf der Straße langsam in ein biblisches Ausmaß verwandelte, der Eiswagen, gefolgt von Don Pappas Limousine und zwei Auftragskillern in einem unerträglich quietschgelben Ford, längst über alle Berge war und der Polizeiinspektor mit seinem Motorrad endlich die Unfallstelle erreichte, registrierte Franz Egon Svensson, dass die Sache irgendwie doch ganz anders verlaufen war, als er es eigentlich geplant hatte.

 
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Teil 7 – Hasta la vista, Baby!

Liebes Tagebuch,
ich habe Mühe, all das in Worte zu fassen, was mir bis heute zugestossen ist, und will gar nicht daran denken, was mir alles noch zustossen
wird. Aber eines weiss ich jetzt genau, Himbeere-Cappucino-Eis schmeckt scheisse.

***

Carlo spürte, das war noch nicht das Ende. Die Wolken zogen am blauen Himmel vorüber wie weisse Schafe über eine endlose Weide. Ein friedlicher Anblick, doch Carlo hatte die Nase voll vom Rückenschwimmen und wusste, es war Zeit, etwas fürs Überleben zu tun. Er zog sich mit der verbliebenen Kraft auf eine Bananenkiste und schaute sich um, was für brauchbare Sachen so um ihn herumtrieben. Das erste was vorbeizog, war eine leere Coladose. Er klaubte sie aus dem Wasser, knickte den Verschluss ab, bog sich daraus eine fast perfekte Nadel, und zusammen mit etwas gebrauchter Zahnseide setzte er unterhalb der Schläfe den ersten Stich.
Leise Musik im Hintergrund - the first cut is the deepest – während Carlo Stich für Stich Richtung Stadtpark trieb.

***

Nachdem die dezimierte Karawane den Weihnachtsmann erfolgreich umkurvt hatte, jagten die zwei verbliebenen Fahrzeuge dem vom gut gelaunten Benny pilotierten Eiswagen auf der Pappelallee in Richtung Stadtpark nach.

„Ach ein Wackelelvis, wie putzig.“ Ringo stupste mit dem Lauf seiner Waffe das schwarz-weisse Plastikfigürchen an.
„Lass das.“
„Klar, fahr einfach schön brav dieser Limousine nach, Lady.“
„Das trifft sich gut, ich mache seit einer Stunde nix anderes, du Revolverheld.“
„Rainer Ingo, Süsse. Für dich Ringo.“
„Wie auch immer, wenn ich dich schon mitnehmen muss, dann halt wenigstens die Klappe. Muss mich konzentrieren. Da vorne fährt mein Auftraggeber und ich hasse es, wenn man mich um meine Provision prellen will.“
Irgendwie hatte Ringo sich das anders vorgestellt. Irgendwie hatte er das Gefühl im falschen Moment, im falschen Film, im falschen Wagen zu sitzen.
Claire gab tüchtig Gas und Ringo hatte Mühe, die Waffe gerade zu halten.
„Holla, sachte, Lady, wir wollen doch beide nicht, dass die hier los geht.“
„Wenn wir wegen dir den Eiswagen nicht vor Don Pappas kriegen, wirst du dir wünschen...“
„Ach, du kennst Don Pappas?“
„Nein, ich kenne nur seinen schmierigen Unterhändler Giovanni. Hat mich runtergehandelt, dieser Halsabschneider. Nur weil er was über die Sache mit den Garrellos wusste.“
Ringo dämmerte es. Er wusste von Ramona, - und die wusste es von Fabrice de Dieux, ihrem Frisör, der es von seiner Schwägerin, eine verstossene Garellos hatte - , dass Don Pappas einen Killer anheuerte, um bei der Geldübergabe dafür zu sorgen, dass am Schluss nur Anna und der Koffer stehen bleiben sollten. Und jetzt sass er mit ihm in dessen Wagen, und Er war auch noch eine Sie. Sein Job wurde zunehmend komplexer. Sie sollte wohl die beiden Burschen abknallen, er sollte Don Pappas beseitigen und die Puppe samt Geld an Garrello abliefern.
„Wasn jetzt los.“
Ringo riss seine Waffe hoch.
„Wie?“
„Na da, Don Pappas Limousine schlingert.“
Claire konnte gerade noch einem über den Asphalt hüpfenden Blechwürfel ausweichen.
Elvis wackelte bedrohlich und Ringo wurde schlecht.

***

„Giovanni, warum wir holen eigentlich nicht ein, diese lahme Gelatiwagen, eh?“
„Weil sie gesagt haben, verfolgen. Deshalb halte ich immer schön Abstand, man weiss ja nie, wenn die plötzlich brems...“
„Giovanni?“
„Ja, Boss.“
„Mit Verfolgen ich meinte Einholen, du Esel.“
„Ach.“
„Und Abstand halten ist finalemente das Letzte, wasse wir brauchen, capito?“
„Si, Boss.“
„Also, drücke auf die Tube, gibe endlich Gas!“
„Claro, Boss“
Die Limousine legte an Fahrt zu, während Don Pappas aus einem kleinen Köfferchen eine hübsche versilberte Faustfeuerwaffe herauszog.
„Wenne willst, dasse was richtig gemacht wird, mache es selbst!“

***

„Richard.“
„Ja, Benny“
Anna sass schweigend da und leckte lustlos an einem Eis. Himbeere – Capuccino. Tränen rannen ihr über die Backen, sie wollte einfach nur noch nach Hause. Sie zog ihr Tagebuch heraus und fing an zu schreiben.
„Ich glaube, sie holen auf.“
Richard schaute in den Seitenspiegel und sah, wie die Limousine immer näher kam.
„Los, schiess ihnen in die Reifen, Richard.“
„Mit was denn Benny, wir haben keine Kugeln mehr.“
Benny dachte kurz nach, und hatte anscheinend eine Erleuchtung. Auf jeden Fall liess er das Steuer fahren und sprang vom Sitz.
„Ich hab’s, fahr du weiter, ich muss mal schnell nach hinten. Los, Kleine, mitkommen.“
Richard rutschte auf den Fahrersitz und drückte sofort wieder aufs Gas. Zwar protestierten seine malträtierten Hände, aber Benny liess ihm ja keine Wahl.
„Argh, spinnst du Benny? Wir wären beinahe gegen den Baum geknallt.“
Benny schnappte Annas Handgelenk und zog sie nach hinten auf die Ladefläche.

„Ok, hier müssen doch irgendwo die Kartons mit ... ah, da sind sie ja. Los, Kleine, aufreissen.“
Er legte sich derweil auf den Rücken, und stemmte mit den Füssen gegen die Klimaanlage im Wagendach. Mit einem metallischen Knirschen flog das Aggregat laut polternd auf die Strasse. Die Limousine machte einen Schlenker und zog knapp daran vorbei. Eine Handbreit weiter links und sie wäre dagegen geknallt.
„Wasse war das, Giovanni?“
„Die haben was aus dem Wagen geworfen.“
„MEINE ANNA?“
„Nein, sah aus wie unsere Minibar.“
„Oh, Dio mio, wenne ich die inne Finger kriege. Betonschuhe, alle Beide.“

„Benny, was hast du vor, ich kann die Karre nicht länger halten.“
„Beiss auf die Zähne, Richard. Wir stellen jetzt um auf Artillerie.“
„Hä?“
„Eisbomben!“
Benny zog die Eiskugel aus der Verpackung, hob sie durch das Loch in der Decke und warf sie mit voller Wucht nach hinten.

„Jetzt schmeissen sie schon wieder etwas, sieht aus wie...“
- Platsch -
Giovanni sah statt den schwarzgrauen Asphalt der Fahrbahn nur noch rot-weissen Eismatsch auf der Frontscheibe.
Sofort geriet der Wagen ins Schlingern.
„Eh, Giovanni, wasse iste dass auf der Scheibe?“
„Erdbeer-Vanille würde ich sagen, Boss.“
Dieses mal hat es Don Pappas kurz die Sprache verschlagen, aber wirklich nur kurz.
„Soll ich anhalten?“
„Aber nein, Giovanni, rate einfach, wohin die Reise gehen soll.“
„Ok, Boss.“
„ANHALTEN, STUPIDO.“
„Giovanni, Boss.“
Die Reifen quietschten und die Limousine kam dank ABS knapp vor einer Pappel zum Stehen.

Anna schaute traurig aus dem Heckfenster des Eiswagens, wie Grossvaters Limousine, und damit auch die Hoffnung auf eine Befreiung, immer kleiner wurden.

„Volltreffer.“ Jubelte Benny und belohnte sich dafür mit der Eiswagenbimmel.
Dingeling.
„Gut gemacht, jetzt schwing deinen Arsch wieder hierher, meine Hände tanzen Samba.“
Plingpling.
Benny kraxelte nach vorne, während Richard seinen Körper wieder auf den Beifahrersitz schob und seine Hände in eine frische Familienpackung Vanilleeis steckte.
„Da vorne ist der Stadtpark, Benny. Pass auf die Kurve auf, dahinter kommt gleich der Teich.“
Hätte Richard gewusst, was sie im Park erwartet, er hätte sich gewünscht, nie geboren worden zu sein.

Carlo wartete auf den richtigen Moment. Die Kopfwunde hatte dank seinen Nähkünsten aufgehört zu bluten und auch sonst hatte er allerlei Nützliches im Wasser gefunden. Zuletzt ein komplettes MG151 mitsamt Munition aus dem zweiten Weltkrieg. Hat wohl mal einem deutschen Jagdflieger gehört. Jetzt gehörte es ihm. Mit seinem improvisierten Kopfverband aus alten Windeln fühlte er sich wie dieser amerikanische Präsident mit dem Hundeblick. Oder war‘s der Schauspieler?
Dingeling.
Keine Zeit für Rätsel, Carlo, sie kommen.
PlingPling.
Mit der Kraft des Entschlossenen stemmte er sich hoch, stellte sich breitbeinig ins knietiefe Wasser und brachte auf Hüfthöhe das MG in Anschlag.
Bimmelbammel.
Die letzte Kurve, sie waren da. Carlo sah, wie der Wagen gefährlich schräg durch die Kurve schleuderte, dann blickte er geradewegs in die weit aufgerissenen Augen von Richard und Benny.
„Hasta la vista, Baby!“, raunte er und drückte ab.

 
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Teil 8 – Streitereien unter Auftragskillern

»Liebes Tagebuch, neulich hat mir eine Freundin erzählt, dass eine Mischung aus Earl Grey, Mayonnaise, geschmolzener, weißer Kuvertüre, die Haare geschmeidig werden lässt und Spliss vermeidet. Das kann gut sein, ich hab’s noch nicht ausprobiert. Aber Eis ist definitiv ganz schlecht.«

Wenn ein Killer seinen Auftrag ausführt, tut er das für gewöhnlich lautlos, präzise und im Alleingang. Es ist keinesfalls ungewöhnlich, wenn zwei Berufsmörder ein und demselben Job nachkommen, jedoch tun sie das im Regelfall unabhängig voneinander.
Claire und Ringo folgten diesen ungeschriebenen Gesetzen seit jeher, auch wenn sie nun gemeinsam in einem knallgelben Ford, wenig lautlos und erst recht nicht präzise durch die Straßen rasten.
»Da, sie sind stehen geblieben«, rief Claire, trat aufs Gaspedal und rauschte an der Limousine vorbei.
»Äh, würdest du vielleicht noch mal zurückfahren, dann könnte ich schnell…«
»Nein«, knurrte Claire, »ich muss den Eiswagen einholen!« Sie warf Ringo einen schneidenden Blick aus den Augenwinkeln zu. Er ließ seine MP9 auf den Schoß sinken und legte einen verwirrten Gesichtsausdruck auf, was ihm hervorragend gelang.
»Aber das wär’ doch dann ein Abwasch und…«
»Neien!«
»Du bräuchtest ja nicht mal anhalten, ich kann auch im Vorbeifahren draufhalten. Das geht ruckizucki. Ganz schnell geht das.«
Er grinste.
»Sag mal, deine Auftraggeber hatten wohl keine andere Wahl gehabt, was?«
Er grinste nicht mehr.
»Entschuldige mal, ich bin mit Abstand der Beste in dieser Branche«, warf Ringo selbstsicher und mit verletztem Stolz ein. »Immerhin hat bisher keiner meiner Aufträge überlebt.«
»Pah! Kannst du mir irgendwelche Referenzen vorweisen?«
»Na ja, das gestaltet sich etwas schwierig… Momentchen mal, was ist mit dir? Kein gut bezahlter Auftragsmörder…«
»Mörderin.«
»… Auftragsmörderin, fährt mit einem quietschgelben Ford durch die Gegend, der den TÜV für eine Legende hält und jedem Lackierer die Tränen in die Augen treiben würde.«
»Hey, nichts gegen mein Auto.«
»Sag mal, hast du dir die Karre mal angeguckt
»Und du fährst Bus.«
»Man kann ja wohl kaum Äpfel mit Birnen vergleichen. Außerdem bin ich schwarz gefahren.«
»Mensch, du hast es faustdick hinter den Ohren, Killer
Der Hohn in Claires Stimme war noch nicht einmal dem Wackelelvis entgangen, der fröhlich aber sichtlich unbeholfen vor der Windschutzscheibe hin und her schlackerte.

Das Wasser, welches Carlo immerhin bis zu den Knien reichte, schimmerte in geschmackvollem Grün, mit einem Stich ins bräunliche. Ein Junge, der in Berlin Mahrzahn aufwächst und von Natur im eigentlichen Sinne kaum eine Vorstellung haben dürfte, hätte die Farbe des Wassers und die darin enthaltenen Exkremente verschiedener Herkunft, als natürlich gegeben empfunden. Vom moddrigen Weg, der sich durch den Stadtpark schlängelte und der von spielenden Kindern, Hunden, Fahrrädern und Picknickdecken malträtierten Wiese, welche sich hervorragend an das Kolorit des Wassers anglich, ganz zu schweigen.
Klick
»Klick
Man kann es Zufall nennen, dass ein zwölf Kilo schweres Maschinengewehr an der Wasseroberfläche treibt, zu allem Überfluss mit Munition bestückt, womöglich noch durchgeladen und entsichert, in die Hände eines debilen Handlanger der Mafia gerät, dem noch vor ein paar Minuten die Hälfte seines Gehirns aus dem rechten Ohr quoll.
Einige Gesetze der Chemie sind jedoch unumstößlich und somit ist es kaum verwunderlich, dass dieses schmucke, mit allen Wassern gewaschene MG, dem Rost eine Chance auf Entfaltung gewährt hatte.
»Peng wäre besser.«
Klick Klick Klick Klick Pft
Von unendlicher Resignation durchflutet, ließ Carlo die Waffe ins Wasser gleiten, welche sofort und ohne Umschweife, blubbernd unterging.
Sein Windelturban verrutschte ein wenig.
Ein Eiswagen raste bimmelnd und scheinbar außer Kontrolle auf ihn zu.

»… und plötzlich, wie aus dem Nichts, hoppelte ein weißes Kaninchen vor die Mülltonnen und sah uns mit furchterregend braunen Äuglein an?«
»Ich ess’ nie wieder Kaninchenbraten.«
»Ich stemmte meine rechte Gehhilfe so stark wie möglich auf die Bremse, musste jedoch im selben Augenblick feststellen, dass ich das Gaspedal traf. Nachdem der Inspektor und ich uns aus den Airbags geschält hatten, begutachtete ich den Schaden am Einsatzfahrzeug, die zerbeulten Mülltonnen und das rote Kaninchen... Rot?«
»Falscher Hase kommt mir auch nicht mehr auf den Tisch.«
»Leider konnte ich nur noch Plüschis Tod feststellen. Oh, na klar.«
Der Polizeipräsident legte Schuberts Bericht beiseite und lehnte sich in seinen Sessel zurück. Als er Luft holte, um zum Reden anzusetzen, polterte die Gewissheit in sein Bewusstsein und ihm wurde klar, dass er vollkommen sprachlos war.
»Uff.«
»Ich würde jetzt gerne gehen und mir den Rest des Tages frei nehmen. Die Bestattung Plüschis muss geregelt werden, Kränze, Leichenschmaus, Kondolenzbuch, Beileidskarten. Sie verstehen das doch sicher.«
Der Präsident blickte auf sein Gegenüber und ehrliches, tiefempfundenes Mitleid stocherte sich durch seine Magengrube. Er war selbst von sich überrascht, denn Schuberts Bericht war eine Beleidigung für jede schlecht formulierte Ausrede und stotternd vorgetragene Lüge.
»Sicher, gehen Sie und nehmen Sie sich frei«, sagte er, erhob sich vom Sessel und begleitete Schubert zur Bürotür. Bevor dieser das Zimmer verließ, klopfte der Präsident seufzend auf dessen Schultern. »Es tut mir… Mein herzliches Beileid.« Er konnte es kaum fassen, aber er meinte es wirklich ernst.
Jetzt brauche ich nur noch eine Fahrgelegenheit, dachte sich Schubert und humpelte davon. Wären seine Hände nicht damit beschäftigt, die Krücken zu halten, hätte er sich ins Fäustchen gelacht.
Der Polizeipräsident wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel und wunderte sich, warum Schubert den Kopf in den Nacken warf und dabei dreckig lachte.

Die BMW zündete fehl und ließ einen Knall an den Hausfassaden widerhallen, der akustisch zwischen Chinaböller und zerplatzender Caprisonnetüte anzusiedeln war. Allerdings muss man sich das kaskadierende Ergebnis des Echos in einer streichholzschachtelgroßen Räumlichkeit vorstellen, wobei man ein auf volle Lautstärke geregeltes Hörgerät trägt.
Franz Egon Svennson kippte, mit geplatztem Trommelfell und Herzstillstand, um.
Der Inspektor nahm den Helm ab und starrte verblüfft auf das Knäuel aus Blech, das durch eine Reihe unglücklicher Umstände zustande gekommen war. Ihm fielen auf Anhieb fünfundzwanzig Ordnungswidrigkeiten, acht minderschwere bis schwere Straftaten und ohne weiteres, drei Missachtungen der Straßenverkehrsordnung ein, die diesem Unfall vorausgegangen sein mussten. Er kramte sein Handy aus der Jacke und wählte die Notrufzentrale.
Ein investigativer Blick, der über den ramponierten Bus, die schrottreifen, schwarzen Limousinen, einen toten Weihnachtsmann und mehrere Reifenspuren schweifte, bestätigte des Inspektors Vermutung – es sind noch ein paar Gesetzesbrecher auf der Flucht. Als er das Handy in der Jacke verstauen wollte, fiel ihm ein kleiner gelber Fleck auf, der abseits auf dem Asphalt klebte. Er ging in die Hocke und nahm eine Pinzette, die er stets und ständig bei sich trug - entweder um irgendwelche verdächtig wirkenden Dinge dem Tatort zu entnehmen oder ab und an seine Nasenhaare zu stutzen – und hob ein Stück rostiges Blech auf. Eine Seite war von einem überaus grellen und in seiner Hässlichkeit kaum zu übertreffendem gelben Lack bedeckt, welcher nur auf ein Auto und eine ganz bestimmte Person schließen ließ: »Claire!«
Nach der Scheidung ist sie durchgedreht, ihr Leben war die reinste Midlifecrisis. Glücklicherweise stellte sie keine finaziellen Forderungen. Bei seinem Gehalt war ohnehin nichts zu holen. Sie sah immer noch verdammt gut aus und machte keinen Hehl daraus, ständig wechselnde Partner zu haben. Er schlich sich immer noch in Single-Bars herum und musste feststellen, dass eine Polizeimarke, ein Revolver und Haare auf der Brust nicht alles sind.
Der Inspektor setzte den Helm auf, startete die BMW und folgte den Reifenspuren.

Nicht weit von diesem Schauplatz grotesker Tragik entfernt, wischte Giovanni die Windschutzscheibe der Limousine sauber. Don Pappas wärmte sich in der Zwischenzeit eine Lasagne auf. Als er die Digitalanzeige der Mikrowelle betrachtete, entschied er sich, die zur Zubereitung notwendigen fünfzehn Minuten für ein kleines Nickerchen zu nutzen.
Den letzten Klecks Eis wischte Giovanni mit dem Finger weg, betrachtete ihn, erlag der Versuchung und steckte ihn in den Mund.
»Mhm, das ist nicht Erdbeer-Vanille. Das schmeckt wie Himbeere-Cappuccino. Ah, köstlich.«

»Wär’ ich doch nie geboren worden«, murmelte Richard und wünschte sich, dass seine Hände statt in Vanilleeis, in einer Fürst Pückler-Mischung stecken würden.
Ein Geräusch, wie es nur entstehen kann, wenn sich Reifen von der Felge lösen, erfüllte die unmittelbare Umgebung des schlingernden Eiswagens. Mitunter kann solch ein Vorfall glimpflich ausgehen, jedoch kaum, wenn diese Reifen die einzigen sind, die noch Kontakt mit dem Boden haben.
Der Eiswagen kippte zur Seite und Benny versuchte krampfhaft, das Lenkrad zu überzeugen, den Wagen um die Kurve zu lenken. Richard umklammerte in letzter, verzweifelter Hoffnung den Angstgriff. Anna purzelte durch den Wagen und mehrere Eisbehälter ergossen ihren klebrigsüßen, angeschmolzenen Inhalt über ihr Gesicht.
Bennys Lenkversuche schlugen genauso fehl, wie die Kontrolle über seine Blase und so schlitterte der Eiswagen auf den Teich zu, in dem Carlo sein letztes Gebet gen Himmel stieß.

Die Enten, die so wagemutig waren und in diesem verseuchten Tümpel herumschwammen, konnten gerade noch ihre Flügel in Bewegung setzen und der drohenden Katastrophe davonschnattern. Die Physik sagt uns, dass eine Kraft, die einer anderen entgegenwirkt… Carlo flog quer über den Teich, auf der Stirn den Abdruck des Kühlergrills und landete im Wipfel einer Trauerweide.
Einige Menschen, die es als angenehm empfanden, durch diesen Park zu schlendern, vernahmen ein ersaufendes Bimmeln.

 
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Teil 9 - Rosenbeet und Himbeersorbet, ein Intermezzo.

Liebes Tagebuch, ach ich will gar nicht mehr daran denken, nur so viel, ich hasse Autos ohne elektrische Fensterheber, dadurch ging meine Frisur vollends flöten und mein Leben fast dazu!

Immer wenn man das Gefühl hatte, jemand sässe mit einem Presslufthammer im Kopf und mache Überstunden, konnte das mehrere Gründe haben. Entweder war man einen Tag älter als der letzte runde Geburtstag und das einzige, woran man sich noch erinnern konnte, war die sich ändernde Farbe einer Bluse – Uschi ? -, die angesengt über dem Lampenschirm hing, nachdem man sich über dem leeren Sektkübel die letzten Getränke noch mal durch den Kopf gehen liess.

Oder man war soeben vom Kühlergrill eines bimmelnden, mit Mischeis geladenen, von zwei Kotzbroken und einer zerzausten Tussi gelenkten Eiswagen empfindlich an der Stirn getroffen und durch den halben Stadtpark geschleudert worden.
Carlo lag in einem Rosenbeet, schaute gen Himmel und sah wie die Wolken kreisförmig um ein imaginäres Zentrum rasten. Er roch den süsslichen Duft irgendseiner Teehybriden, gemischt mit dem aufdringlichen Gestank der Auscheidung eines Terrierrüden. Carlo drehte sich um, würgte und fügte den diametral zueinander harmonisierenden Duftstoffen einen weiteren hinzu.

"Geht es ihnen nicht gut?"
Ein älterer Herr mit Hut und Dackel an einer viel zu langen Leine lehnte sich, ernsthaft besorgt, zu ihm hinunter. Der Dackel schnupperte derweil wild mit dem Schwanz wedelnd an Carlos Erbrochenem herum.
Als sich Carlos in tausend Puzzleteile zerlegtes Weltbild wieder zusammenfügte und das Bild des Stadtparks mit seinem Teich und einer blubbernden Wasseroberfläche erschien, setzte er sich auf und rülpste dem netten Herrn ins Gesicht. Entrüstet drehte dieser ab und zog an seinem Dackel, der sich gerade genüsslich über Carlos ausgespuckte Pizza Quattro Stagioni hergemacht hatte.
"Frechheit, so was, komm Alex, lass dem Penner sein Essen!"
"He, was geben Sie dem sonst noch alles zu Fressen, mein Gott?", rief Carlos hinterher und konnte gerade noch einem erneuten Würgereiz seine wiedererlangte Selbstbeherrschung demonstrieren.
Er stand auf, rückte seinen Verband zurecht und tastete nach dem neuen Muster auf seiner Stirn.
Der Schmerz flammte auf und liess ihn zusammenzucken.
"Jetzt bin ich aber wirklich sauer!"

Carlos zog aus seiner Hosentasche seine letzte ultimative Waffe hervor, setze sich auf eine leere Parkbank und wartete auf das Auftauchen der feigen Entführer.
Rot wie ein Blatt einer Rose leuchtete das Schweizer Taschenmesser in seiner rechten Hand.
Er nannte es liebevoll Victor, denn es war eine Sonderanfertigung und die Künstler von Victorinox hatten ganze Arbeit geleistet. Nebst der Standardausrüstung, wie drei verschiedene Klingen, Dosenöffner und Korkenzieher, Säge und Schere, Zahnstocher und Pinzette, hatten sie noch einen Peilsender, ein GPS, einen Höhenmesser, und was das wichtigste war, ein Fach mit Nadel und Faden, eingebaut.

***

Während der Inspektor auf der BMW in Richtung Stadtpark raste, bekam er zunehmend feuchte Augen.
Ob es nun an der geballten Wut lag, die er auf die Besitzerin des zum auf der Strasse gefundenen gelben Puzzleteil passenden Wagens hatte oder einfach nur an den zahlreichen Insekten, die der Fahrtwind durch das offene Visier, weil dessen Schliessmechanismus wieder einmal klemmte, auf die Augäpfel prasseln liess, ist eigentlich unerheblich.
Wahrscheinlich machte die Wut das Rennen.
Dass Claire damals mangels einer Euro Briefmarke aus seiner Briefmarkensammlung den "Schwarzen Einser" auf den Brief einer Freundin geklebt hatte, konnte er ihr ja noch verschmerzen. Aber dass sie aus Tom und Jerry, seinen geliebten Scalaren, Suschi zubereitet hatte, war dann doch des Guten zuviel. Er wollte es ihr mit gleicher Münze heimzahlen und liess ihren geliebten Ford einfach umspritzen.

Ha, wie hatte er triumphiert, als er sie mit dem frisch lackierten Wagen vor der Haustüre abholte.
Und Claire?
Sie ging auf ihn los, umarmte und küsste ihn, denn ihr gefiel dieses scheussliche Quietsch-Enten-Gelb.
Er reichte noch am selben Tag die Scheidung ein. Nach drei Wochen waren die Besitztümer geregelt. Sie wollte nur den Wagen, ihm blieben die Schulden auf die Hütte, eine wertlos gewordene Briefmarkensammlung und die Wut auf sein verpatztes Leben mit einer durchgeknallten Frau, die schlussendlich ins Lager des Feindes gewechselt hatte.
Die Tachonadel bewegte sich stetig gegen 180 Kmh, er war stinkesauer ...

***

"Sag mal, wie tief ist eigentlich so ein Teich?"
"Warum?"
"Weil wir immer noch Sinken!"
Richard schaute staunend aus dem Seitenfenster, an dem gerade ein Delphin gelangweilt und mit genervtem Gesichtsausdruck vorbei zog.
"Kneiff mich mal - AUA."
"Du hast doch gesagt ..."
"Das habe ich doch nicht wörtlich gemeint."
"Warum hast du dann zu mir ..."
"RUHE!" Anna sah irgendwie süss aus, wenn sie sauer war, doch das war vor allem dem Eis auf ihrem Kopf zuzuschreiben. Ihr Gesichtsausdruck widerspiegelte da mehr so ein Matjes Fischbrötchen mit sauren Gurken.
"Ich habe die Schnauze gestrichen voll. Ich mag nicht mehr, ich habe keine Lust mehr und ich kriege hier drinnen keine Luft. Ich will jetzt endlich raus und nach Hause. Ich will eine heisse Dusche und dann gehe ich mit der Karte von Paps Shoppen."
Richard und Benny starrten wie Ernie und Bert auf Speed, sprachlos und mit riesigen Augen, Anna ins Wimperntusche verschmierte Gesicht.
"Oh, soll ich mal das Fenster öffnen?"
"Nein Benny, nicht..." Bennys Hand war schneller. Ein kalter Wasserstrahl ergoss sich ins Innere des Eiswagens und spülte die drei nach hinten.
"Mach zu, mach zu", rief Richard.
"Ich krieg‘s nicht mehr hoch, die Kurbel klemmt", sagte Benny.
"WIR STERBEN", kreischte Anna.
Das Wasser stieg und bald mussten sie ihre Köpfe gewaltig gegen die Eiswagendecke strecken, um die verbleibende Luftblase zu erreichen.
Der Delphin schüttelte den Kopf und glitt missmutig weiter. Menschen waren so was von dumm.

***

'Wo bleiben die nur?', dachte Carlos. 'Die müssten doch mal Frischluft schnappen kommen.'
Er strich verträumt über seinen mit Hilfe der Schweizer Qualitätsnadel und dem dazu passenden Armeezwirn gehäkelten Topflappen.

Derweil raste etwas weiter Nördlich ein grünweisses Motorrad mit völlig überhöhter Geschwindigkeit auf die Stelle zu, wo Don Pappas Limousine stand und Giovanni eben damit fertig wurde, die Scheiben von den letzten Resten der Eisbombe zu befreien.
Wahrscheinlich hätte der Kommissar in seiner Wut weder die schwarze Limousine, noch den darauf herum turnenden Chauffeur, oder das völlig von Softeis verkleckerte Nummernschild wargenommen, wenn nicht genau in dem Moment, als das Motorrad auf gleicher Höhe mit der offenen Scheibe des Fonds Don Pappas Limousine, ein lautes "PING" der Mikrowelle den genussbereiten Zustand der Lasagne verkündete.

"PING?", dachte der Kommissar und die BMW geriet kurz ins Schlingern.
"Don Pappas!", schoss es dem Kommissar durch den Kopf und eine Entscheidung drängte sich mit geballter Kraft zwischen seine beiden Hirnhälften auf.
'So, Rainer', meldete sich eine dunkle und sinnliche Herzblattstimme in seinem Kopf.
'Möchtest du lieber mit der heiss vibrierenden BMW dem fliehenden Junggesellentrio in den Sonnenuntergang nachjagen, oder dann doch lieber dem eisbekleckerten älteren Don eins auf seinen fetten Wanst hauen? Entscheide dich jetzt und sag uns...'
"Schnauze!", vertrieb der Kommissar die unpassenden Gedanken und stieg in die Eisen. Das Motorrad gehorchte prompt, nur der Hinterreifen protestierte laut kreischend und hinterliess eine schwarze Spur des aktiven Widerstandes gegen die Adhäsion des Asphalts. Quer zur Fahrbahn kam er zum Stehen, der Motor brummelte freudig im Leerlauf, während der Kommissar abwechselnd in Richtung Limousine und dann in Richtung Stadtpark blickte.
"Denk nach, Rainer, denk nach!" Wie lange hatte er schon auf den Moment gewartet, da er den Don Dingfest machen konnte, und jetzt stand sein Wagen im Halteverbot und der Don sass im Innern und frass sich halb tot und er konnte ihn auf frischer Tat ...
Andererseits war da die einmalige Gelegenheit, Claire einzuholen und ihr die ganzen unterdrückten Vorwürfe an den Kopf schmeissen zu können, sei's auch nur das wertlose Briefmarkenalbum, damit sie mal so richtig fühlte, wie beschissen es ihm nach der Trennung gegangen war, als er den Inhalt der Minibar im Best Western an einem einzigen Abend entsorgt hatte und am anderen Tag mit tanzenden Derwischen im Kopf aufgewacht war.
Während Rainer noch überlegte, welche Richtung er einschlagen sollte, fuhren an anderer Stelle eine Frau falsch ab und ein Mann aus der Haut.

***

"Sach mal, wo sind wir überhaupt?"
Claire schaute konzentriert nach vorne und Ringo öffnete das Handschuhfach.
"He, nichts anfassen."
Ringo kramte einen Stadtplan hervor.
"Na, wer sagt’s denn. Also, du hättest bei der letzten Ampel..."
"Ich weiss, wo wir sind und dass der Eiswagen hier lang fuhr."
"Woher willst du das wissen?"
"Die Sicherheitslinie leuchtet in zartem Himbeersorbet!"
"Oh! Aber das ist eine Ringstrasse um den Park und wenn du vorhin bei der letzten Ampel ..."
"Hör mal, Killer, ich fuhr diese Strecke schon, da hast du noch in die Windeln gepupst!"
"Ha, ich brauchte nie Windeln, ich kam trocken auf die Welt."
"Mist, jetzt habe ich durch dein dämliches Gelaber die Spur verloren."
"Vom Eiswagen? Der ist sicher direkt in den Park gerast."
"Wann?"
"Ich sagte ja, vorhin, bei der letzten Ampel ..."
Claire bremste scharf und Ringo knallte mit dem Schienbein ans geöffnete Handschuhfach.
"Warte ich frag mal." Claire lehnte sich aus dem Fenster, während Ringo laut Fluchend sein Bein rieb.
"Entschuldigen Sie, haben Sie hier zufällig einen Eiswagen vorbeifahren sehen?"
Eine in Lumpen gewickelte Gestalt die mühsam einen Einkaufswagen voller Habseligkeiten vor sich herschob, schaute verblüfft herüber.
"Das ist mal wieder Frauenlogik, wissen sie nicht weiter, fragen sie einfach den nächstbesten Penner."
Ringo tippte sich an die Stirn und redete mit dem Wackelelvis.
"Überlegen und Nachkucken? Nee, lieber fragen sie irgendwelche Leute nach dem Weg ..."
Elvis nickte verständnisvoll mit der Tolle.
"...die sich dann sowieso nur als französische Touristen entpuppen ..."

"Ja, gute Frau", rief die Lumpengestalt in gepflegtem Hochdeutsch herüber.
"Schlingerte vor fünf Minuten mit etwa hundert Kilometern pro Stunde an meinem Standort vorbei, wechselte nach fünfzehn Metern auf den mittleren Fahrstreifen, bog dann ohne zu Blinken in die Schwanenallee ein, vorbei am Kaiser Wilhelm Standbild, dass vom renommierten Bildhauer Albert Danker 1923 ..."
"Danke, den Rest holen wir uns dann aus dem Internet."
Claire gab Gas, kurvte um den alten Wilhelm und jagte die Schwanenallee in Richtung Park hinunter.
Ringo klappte seinen Mund zu und verstaute kleinlaut den Stadtplan.
'Ein Königreich für einen Bus', dachte er und schmollte vor sich hin, die Pistole wieder im Anschlag. Schliesslich hatte er hier die Fäden, äh die Wumme in der Hand, pah!

 

Kapitel 10 - Ein Doppelzimmer für drei

"Liebes Tagebuch, ich habe die Hölle gesehen. Sie hat nichts mit Schwefel zu tun, auch Feuer gibt’s dort wenig. Sie erinnert entfernt an ein Badezimmr, aber nur wenn man sich alles wegdenkt, was man normalerweise mit einem Badezimmr verbindet."


Physik ist eine ganz simple Sache.
Im Prinzip geht es nur darum, sich ein paar Dinge anzusehen und dann zu erklären, wie sie funktionieren und sich gute Ausreden einfallen zu lassen, wenn sich später herausstellt, dass die Funktionsweise doch deutlich von der Erklärung abweicht. Es geht um das Finden von Gesetzen, das Erstellen von Regeln.
Die meisten dieser Regeln haben ein paar Dinge gemeinsam: Sie sind meistens furchtbar kompliziert, von Laien nicht zu verstehen und allesamt vollkommen falsch. Das Universum hat es nicht nötig, sich an von Menschen aufgestellte Gesetze zu halten. Manchmal spielt es zum Spaß mit - zum Beispiel wenn es darum geht, einen Apfel mit einer Beschleunigung von Neunkommaachteins auf den Boden fallen zu lassen - aber meistens tut das Universum genau das, wozu es Lust hat.
Und wenn es das Universum will, dann ist ein verbeulter und überfluteter Eiswagen durchaus fähig, auf dem Grund eines Teichs zu fahren.

Mit dem Mute der Verzweiflung und angehaltenem Atem trat Benny auf das Gaspedal.

...

"So, und was jetzt?"
"Kaiser Wilhelm hat der Kerl gesagt."
"Ja, das steht hier auf dem Sockel. Oh, das ist interessant... wusstest du, dass er damals das Schlangestehen in Deutschland eingeführt hat?"
"Ach."
"Ja, interessant, oder? Und hier... da steht auch, er hat sieben Mal geheiratet und vier Töchter gezeugt. Und einmal, da hat er mit bloßen Händen einem Alligator ins Maul gegriffen und ihn von Innen nach Außen gekehrt. Außerdem hat er die doppelläufige Hatschina erfunden... seltsam, ich dachte immer, das wäre ein Anderer gewesen."
"Das steht alles auf dem Sockel?"
"Ja. Ist ziemlich klein geschrieben."
"Siehst du den Eiswagen?"
"Nein, keine Spur. Aber vielleicht könnte ich... Moment, das müsste gehen..." Ringo steckte seine Pistole in seinen Gürtel und machte sich daran, dem steinernen Kaiser auf den Kopf zu steigen, wobei er peinlichst darauf achtete, an bestimmten intimen Stellen nicht Halt zu suchen. Von dort oben hatte er einen besseren Ausblick über den Park. "Ich sehe Reifenspuren, die auf den Teich zuführen. Ist scheinbar ein Wagen ins Wasser gefallen. Oh, und da sitzt ein Kerl, der mit einem Taschenmesser am Häkeln ist."
"Häkeln?"
"Sieht aus wie ein Topflappen."

...

Blubb

Benny sah, dass Richard den Mund geöffnet hatte und offensichtlich versuchte, etwas zu sagen. Er sah die kleinen Luftbläschen, die sich zwischen den Lippen seines Beifahrers bildeten und nun langsam an das Dach des Eiswagens schwebte. Als er den Kopf nach hinten drehte, sah Benny ihre Geisel, die versuchte, ihre Nase über der Wasseroberfläche in die immer kleiner werdende Luftblase zu halten, die sich beim Eintauchen im Fond des Wagens gebildet hatte. Es sah aus, wie ein Wels, der die Scheibe eines Aquariums sauberlutscht.
Richard hatte in der Schule einmal einen Tauchwettbewerb gewonnen. Zwei Minuten am Stück hatte er damals die Luft anhalten und unter Wasser bleiben können. Aber das war lange her und inzwischen hatten das Alter und die endlosen Zigarettenexzesse sicher ziemlich an seinem Lungenvolumen herumexperimentiert. Er hatte keine Ahnung, wie lange sie schon unter Wasser waren, er wusste nicht, wie lange er es noch aushalten könnte - er wusste nur, dass Benny endlich in den zweiten Gang hochschalten sollte.

"Hach, Kurt, das mit dem Picknick am See war so eine schöne Idee."
"Nicht annähernd so schön, wie der See, wenn sich dein Antlitz in seinem Wasser spiegelt, mein Engel."
"Du bist ja so was von romantisch."
"Noch etwas Wein, geliebte Hildegard?"
"Willst du mich etwa betrunken machen, du Schlimmer?" Das schulmädchenhafte Kichern Hildegards war für Kurt Zeichen genug, dass das gar nicht mehr nötig sein würde um ans Ziel zu kommen. Nicht etwa, weil sie sich auch nüchtern seinem geballten Charme ergeben würde - der nebenbei bemerkt dem eines Lungenödems in wenig nachstand - sondern vielmehr, weil sich ihr Alkoholpegel längst in nie geahnte Höhen geschraubt hatte.
"Aber natürlich", antwortete er siegessicher, sich der Tatsache bewusst, dass sie seine Ehrlichkeit als schelmischen Scherz interpretieren würde.
"Ich will es sehen", sagte Hildegard unvermittelt, nachdem sie den Inhalt ihres Glases hinuntergestürzt hatte, als würde sie den umgehenden Weltuntergang befürchten.
"Was möchtest du sehen, mein Honigblättchen?"
"Den See, wenn sich mein Gesicht im Wasser spiegelt." Unzweifelhaft sprach mittlerweile der Alkohol aus ihrem Mund. Kurt fühlte voller Vorfreude nach den Kondomen in seiner Jackentasche.
Als sich eine Geliebte dann wenig später über den Rand des Wassers beugte und beinahe von einem mit Algen überhäuften Eiswagen überfahren wurde, wurde Kurt klar, dass er das mit den Kondomen wohl verschieben musste.

Benny lenkte den Wagen unbeholfen über die Wiese, während Anna und Richard aus vollen Zügen die herrliche Stadtluft inhalierten.
"Wisst ihr", sagte Anna, während sie sich einen Guppy aus den Haaren zog, "ich brauche jetzt dringend eine Dusche."

...

Der Portier erweckte von weitem nicht den Eindruck, gewillt zu sein, seinen drei klatschnassen Gästen Aufmerksamkeit zu schenken und bestätigte diesen auch aus der Nähe. Er machte keinerlei Anstalten, auch nur eine Sekunde von seinem Pornoheft aufzusehen, was sich erst dann änderte, als Anna an den Tresen trat und die kleine goldene Klingel betätigte.
"Was gibt’s?", grummelte er, während er weiterhin die Kurven einer Brünetten betrachtete.
"Ein Zimmer. Hoffe ich zumindest." Die Mine des Portiers erhellte sich umgehend, als er die unzweifelhaft weibliche Stimme seines Gegenübers vernahm und kurz den Blick hob, um zu prüfen, ob es sich lohnte, den Anblick der printmedialen Weiblichkeit gegen den der fleischlichen zu tauschen. Scheinbar kam er zu dem Schluss, dass es sich lohnte, denn er schenkte Anna ein schmieriges Lächeln.
"Ein Zimmer? Ihr seid zu dritt... oh, ich verstehe, der Wagen war euch wohl zu eng, was?"
"Hey, was meint er damit?", flüsterte Benny, der mit Richard ein paar Schritte zurückgeblieben war.
"Erklär ich dir später", flüsterte sein Kumpel zurück.
"Will der etwa andeuten, dass wir drei im Wagen... also, ich meine... wir haben doch gar nicht..."
"Ja, im Wagen schläft es sich schlecht", sagte Anne zum Portier. "Er ist feucht."
"Feucht... na so was..."
"Warum grinst der Kerl so dreckig, Richard?"
"Nicht jetzt!"
"Zimmer 13. Doppelzimmer mit Bad. Zum Frischmachen hinterher."
"Hat es eine Couch?"
"Einen Sessel. Quietscht ein wenig, aber wenn man ein Kissen drauflegt, spürt man die Federn kaum."
"Wir nehmen es."
"Wunderbar. Dann also Zimmer 13 für die junge Dame... und ihre beiden Begleiter." Der Portier schlug das Gästebuch auf - das Lesezeichen bildete eine ziemlich detailgetreue Abbildung einer weiblichen... einer Frau - und Anna trug ihren Namen ein. Der Portier sah ihnen eine Weile nach, als sie die Treppe hinaufgestiegen waren. "Verschissene Sextouristen."

...

Ein paar Minuten zuvor war Gringo gerade vom Kaiserdenkmal gestiegen, als auf der gegenüberliegenden Seite des Sees ein Eiswagen mit viel Trara aus dem Wasser gefahren kam. Er wollte sich gerade mit pantherhafter Agilität auf den Beifahrersitz setzen, als Carlo ihm von hinten ziemlich brutal in den Nacken schlug und sich an ihm vorbei in den gelben Wagen drückte.
"Folge dem Eiswagen!", brüllte er und fuchtelte mit seinem Messer vor Claire herum. Sie gab Gas und dem zurückgebliebenen und sich am Boden krümmenden Gringo wurde mal wieder klar, was für ein beschissener Tag das doch war.

...

"War das wirklich eine gute Idee? Ich meine, der Portier war ziemlich... komisch."
"Klappe zu, Benny. Das hier war das nächste Hotel zum Park und weiter hätte der Eiswagen es sicher nicht gemacht. Es war ein beschissener Tag, ich brauch eine Dusche und Schlaf."
"Schon gut, Richard. Aber hier gibt’s bestimmt Kakerlaken."
"Die sind sicher wegen Überbevölkerung ausgestorben."
"Wir sind da. Zimmer 13." Anna steckte den Schlüssel ins Schloss und öffnete die Tür. Wenig später schloss sie die Tür. "Nein, da geh ich nicht rein!"
"Es hat ein Bett, also ist es gut", antwortete Richard, als er sich an seine Pflicht erinnerte. "Außerdem sind wir hier die Entführer und du hast verdammt noch mal zu tun, was wir dir sagen!"

Würde man das Innere des Zimmers mit Worten wie ekelerregend, dreckig oder abstoßend bezeichnen, könnte man auch einen zähnefletschenden Pitbull verspielt nennen. Es stank nicht nur nach Urin, schlechten Angewohnheiten und Essensresten, das ganze Zimmer war eine schlechte Angewohnheit.
Während Richard sich traute, einen Blick ins Badezimmer zu werfen, inspizierte Benny den Kleiderschrank. Im mittleren Fach lagen ein Stück Käserinde, ein Wurstzipfel, eine tote Ratte, Stacheldraht, zwei dreckige Tennissocken und ein Luftballon - alles war mit Joghurt beschmiert.
"Geht lieber nichts ins Badezimmer", sagte Richard.
"Was ist denn da?"
"Hast du schon mal in einen Abfalleimer voller alter Heringe gekotzt?"
"Einmal. Aber das weißt du doch, das war damals, als wir beide..."
"Geht lieber nicht ins Badezimmer."
"Ich brauche aber eine Dusche." Noch bevor die beiden Entführer reagieren konnten, hatte Anna sich an ihnen vorbei ins Bad gedrückt. Kurze Zeit später hörten sie einen spitzen Schrei.
"Ich hab doch gesagt, ihr sollt da lieber nicht reingehen."

 
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Kapitel 11 - Das Ende, oder doch nicht?

Liebes Tagebuch, ich bin mir sicher, heute nähern wir uns dem Ende der Reise. Ich spüre es. Allerdings weiss ich nicht, warum wir deswegen alle sterben müssen ...

"... nein, das gibt es nicht, ich bekomme die Krise ..."
Die letzten Worte gingen in ein schrilles, Tinitus förderndes Kreischen über und Richard knirschte mit den Zähnen.
"Jetzt haben wir ein Problem."
Bestärkt durch sein Wissen über diese Kammer des Schreckens, ging er mit betont lässigem Schritt auf die Badezimmertür zu. Ben, der blass wie ein Mehlsack war, folgte ihm wie ein Dackel, so als hätte er Angst, alleine zurückgelassen zu werden. Richard stiess mit dem Fuss gegen die Tür, dabei brach ein Scharnier und sie fiel polternd gegen die Seitenwand.

Der Anblick, der sich den beiden Gaunern nun bot, war für Richard zwar nichts Neues, aber für Ben doch die Gewissheit, dass er bei späteren Nacherzählungen in seiner Stammkneipe nicht wie üblich zu übertreiben brauchte. Allerdings würde Ben seine Kneipe sowieso nie mehr aufsuchen.

Anna stand in Mitten einer rotbraunen Lache, konnte sich um Rostwasser handeln, war aber eher gestocktes Blut. In der Badewanne lag ein Mann mit dunklem Anzug, sein Gesicht war blass und zwischen den aufgerissenen Augen klaffte ein rotbraun gerändertes Loch. Den Arsch halb in der Schüssel versenkt, sass ein zweiter Schlipsträger auf der Toilette. Mit dem Loch zwischen den Augen, sah er aus wie der eineiige Zwilling des Toten in der Badewanne.
Die Wände waren rot gesprenkelt, der Duschvorhang war rot verschmiert und halb herunter gerissen.

Anna hielt einen grossen Föhn hoch, in der anderen Hand hielt sie ein ausgefranstes Kabel und fuchtelte damit vor Richard herum, als wollte sie ihm den restlichen Strom ins Gesicht schleudern.
"Durchgeschnitten, sie haben das Kabel durchgeschnitten, wie soll ich denn da nach dem Duschen meine Haare föhnen? Das ist das Ende!"
Angeregt durch die eklige Szenerie, brachen bei Bens Innereien derweil alle Dämme. Ein Schwall halb verdautes Mischeis, das er sich während der vergangenen Fluchtfahrt einverleibt hatte, spritze über die Fliesen und hinterliess einen interessanten Moiré-Effekt an der Wand.

Es roch bestialisch nach Tod und Verwesung, Ben würgte erneut, Anna fuchtelte unter lautem Fluchen noch immer mit dem Föhn herum und in Richards Schädel tanzten kleine Zwerge mit Holzschuhen eine tschechische Polka. Warum musste alles so kompliziert sein, eigentlich wollten sie doch nur die Tussi abliefern, sich das Geld unter den Nagel reissen und mit einem Last-Minute-Ticket auf die Bahamas oder sonst wohin fliegen.
Aber nein, nachdem bereits einiges schief gelaufen war, landeten sie mit ihrer unfreiwilligen Fracht und einem Koffer voller Geld direkt im Hinrichtungszimmer der lokalen Mafia. Plötzlich blitzte, wie Pizzabodenalufolie in der Mikrowelle, die Erkenntnis in Richards Verstand auf und alles fügte sich zu einem einzigen klaren Bild.

"Ben, ich hab's! Wir brauchen die doppelläufige Hatschina. Jetzt!"
"Örbs", machte Ben und unterdrückte einen neuen Ausstoss von Eisbrei.
"Du hast sie doch noch?"
"Örbs", machte Ben.
"Los, gib sie mir, höchste Zeit dass wir von hier ..."

Weiter kam Richard nicht, mit lautem Krachen flog die Eingangstür aus den Angeln und quer durchs Zimmer. Dann stolperte ein ziemlich ramponierter Mann mit einem riesigen Topflappen auf der Stirn und mit einem Messer wild fuchtelnd ins Zimmer. Gleichzeitig hechtete eine ganz in schwarzen Lack gezwängte Amazone mit Lara-Croft-Zopf durchs Zimmer und brachte eine dieser handlichen Mehrzweckfeuerwaffen in Anschlag.
Richards Kennerblick erfassten sofort den Aufsatz mit der automatischen Zielverfolgung, die Nebenschienen der Nachtlichtverstärkung und, oberhalb des Kolbens aus Teakholz, die Fugen für Nadelfeile und Lippenstift. Am auffälligsten aber war die Farbe. Die ganze Waffe war in einem leuchtenden Kanariengelb gehalten. Für Richard gab es nur eine Frau die so eine tolle Waffe mit einer solch grässlichen Farbe verhunzen konnte.

"Clair? Clair Sinclair?", stöhnte Richard.
"Richard? Richard Richardson?", blaffte Clair zurück.
"Ach, ihr kennt euch?" Carlo streckte sein gezücktes Messer nun abwechselnd gegen Clair und Richard und wieder zurück.
"Du bist der Entführer?"
"Und du bist die Killerin?"
"Na ja, man muss ja von was leben."
"Stimmt, also eigentlich bin ich ja nur ..."

"Wird das hier jetzt ein Kaffeekränzchen, oder was?", fuhr Carlo dazwischen.
"Her mit der Kohle, aber zack, zack." Er warf einen seiner grössten Topflappen vor Bens Füsse.
"Einpacken!"
"Örbs", antwortete Ben. Anscheinend war durch die ganze Aufregung sein eh schon kleiner Wortschatz auf dieses eine guturale Wort geschrumpft.

"He, Moment mal", rief Clair. "Du wills doch nicht deinen eigenen Paten beklauen!"
"Wieso, er liess mich ja auch einfach ins Wasser fallen."
Wie aufs Stichwort kam draussen auf der Strasse eine schwere Limousine mit quietschenden Reifen zum Stehen.
"DON PAPPAS", riefen Clair und Carlo gleichzeitig.
"Jetzt wird's Zeit. Ben, gib mir sofort die Hatschina!"
"Örbs", machte Ben und zog ein silbrig glänzendes Doppelrohr aus der Hose.
"Und jetzt noch die Anleitung, schnell."
Ben hob die Augsbrauen und zuckte mit den Schultern.
"Du willst sagen, du hast sie verloren?"
Ben schüttelte den Kopf und machte ein paar Handbewegungen.
"Hund? Katze? Maus? Äh - Eiswagen, drittes Kühlfach links?"
Ben nickte wild.
"Scheisse."
"Örbs".
Niedergeschlagen betrachtete Richard die wunderbare Waffe in seinen Händen, gefertigt aus dreizehnfach gefaltetem Stahl, in einer mit Silberfischplättchen besetzten Hülle aus Titan, aber ohne Anleitung war das ganze leider nur Edelschrott.

"He, Waffe weg." Unbemerkt von den Protagonisten im Zimmer hatte sich Ringo die Hauswand hochgearbeitet und stand nun auf dem Ziersims der Aussenfassade, die Pistole einmal auf Carlo, dann wieder auf Clair gerichtet.
"Jetzt ist Zahltag, her mit dem ..."
Mit einem hässlichen 'Tock' traf ein vom Eingang her geworfener, lustlos abgenagter Schweinerippchenknochen die Stirn von Ringo und liess dessen erschlaffenden Körper nach hinten wegkippen. Die Schwerkraft tat wie ihr geheissen und zog Ringo mit 9,81 Metern pro Sekunde wieder zur Erde zurück.

"Ah, meine Püppi, komme in meine Arme." Don Pappas stand breitbeinig in der eingetretenen Tür und strahlte ins Zimmer, in der Hand ein halbes Rippchen.

Wärend Clair und Carlo fast gleichzeitig zum Fenster gerannt waren, um zu sehen, wo Ringos Abflug geendet hatte, Anna mit dem Föhn in der Hand und wehendem Kabel in die Arme ihres Onkels stürmte, führte Richard unbemerkt die doppelläufige Hatschina zum Mund und bliess vorsichtig in das rechte Rohr. Ein leiser Ton erklang wie aus weiter Ferne, wehte durchs Zimmer wie Mohnblumensamen im Wind, und einen Moment lang hatte Richard das Gefühl, er könne die Situation für sich und Ben ganz ohne Anleitung retten. Doch dann hatte unten auf der Strasse die BMW des Kommisars eine Fehlzündung und Clairs Finger zog den Abzug einen Millimeter zu weit nach hinten.

Das Projektil prallte von der Regenrinne zurück und traf Ben mitten zwischen die Augen.
"Örbs", machte er ein letztes Mal, dann drehte sich das Universum um drei Lichtsekunden zurück. Was Richard nicht wusste, sich später aber für alle Beteiligten als glückliche Fügung des Schicksals herausstellen sollte, war der Umstand, dass die Hatschina auf keinen Fall mit dem Mund gespielt werden durfte ...

 

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