„Womöglich gar nicht!“, sagte Nicki traurig und lugte vorsichtig aus ihrem Versteck, um die Lage zu peilen. „Wo ist denn Eddies Zimmer?“
„Im ersten Stock“, antwortete Rudi lässig. Nicki starrte die steile Treppe an, die nach oben führte.
„Da kommen wir NIEMALS hinauf!“, entfuhr es ihr. Etwas leiser fügte sie hinzu: „Nicht einmal Wilbur könnte das schaffen.“
„Braucht er auch nicht, weil es einen anderen Weg gibt.“ Rudis Worte ließen sie aufhorchen. „Und wie sieht der aus?“, fragte sie.
„Hauptsächlich dunkel und gruselig.“ Rudi wackelte mit seinen Fühlern. „Nein, Spaß“, fuhr er fort, „in allen Wänden gibt es jede Menge Schlupflöcher, die miteinander verbunden sind. So ähnlich wie ein Labyrinth in einem großen Schweizer Käse.“
„Und du kennst dich in dem Käse hier aus? Ähm, in dem Haus, meine ich.“ Nicki wurde noch röter als sie eh schon war.
„Wenn sich jemand in Häusern auskennt, dann doch wohl wir – die Könige des Schummers!“ Fröhlich knuffte er Wilbur in die Seite. „Auf geht´s, Großer! Lass` uns die Nacht zum Tag machen und losmarschieren!“ Er zwinkerte den beiden Ameisen aufmunternd zu. „Keine Bange, Mädels! Wir gehen durch Geheimgänge, die kaum einer kennt. Haltet euch an den Händen und bleibt zwischen mir und Wilbur, dann kann nix passieren.“
„Willst du etwa den Mäuseweg nehmen?“ So ganz wohl schien es Wilbur nicht zumute zu sein.
„Na klar! Wie willste denn sonst ...? Mit dem Bauch direkt auf dem Boden entlangschrabben, weil es für dich zu niedrig ist? Glaub mir, so kommste nicht weit.“ Er grinste. „Außerdem hören wir, wenn die rumtrippelt. Dann fauchste oder wir nehmen einen Nebenausgang. Kein Problem!“
Rudi ging zielstrebig auf eine Tapete zu und hob den eingerissenen unteren Rand an. Er duckte sich, dann verschwand er dahinter, als würde er verschluckt. Nicki folgte ihm, zog Amira mit sich und auch Wilbur fand, wegen seiner Größe nicht ganz so einfach, nach ihnen den Weg ins Innere der Wand. Während sich die Schaben in der Dunkelheit gut zurechtfanden, wurde es den Ameisen doch ziemlich mulmig. Wie gerne hätte Amira jetzt die Laterne des Glühwürmchens bei sich gehabt! Klar! Rudi und Wilbur waren es gewohnt, in lichtlosen Gebäuden hin- und herzulaufen, aber für Nicki und sie selbst war das eine sehr schwierige Übung, die ihren ganzen Mut erforderte. Zumal es in den tunnelähnlichen Gängen stockfinster war und muffig roch.
Plötzlich blieb Rudi stehen und deutete auf den Weg vor sich. „Psst! Da vorne bewegt sich was.“
Die Vier rückten so nah zusammen, dass sich beinahe ein paar Beine ineinander verhakten. Tatsächlich! Dem Lärm nach zu urteilen, der durch die verzweigten Gänge zu der Gruppe herüberhallte, kreuzte anscheinend demnächst ein gigantisches Trampeltier ihren Weg.
„Nur die Ruhe, Leute! Kein Grund zur Sorge!“ Rudis Stimme zitterte ein wenig, sodass er sich nicht wirklich cool anhörte. Darüber hinaus konnte sich Amira daran erinnern, auf der hinter ihnen liegenden Strecke keine Möglichkeit zum Verstecken ertastet zu haben. Nur glattes, festes Mauerwerk. Ihr wurde wieder übel.
„Ist das eine Maus?“, japste Nicki, die sich ganz dicht an Wilbur schmiegte. Der richtete seine Fühler aus, nickte und antwortete: „Riecht zumindest wie ein Nagetier. Könnte auch eine Ratte sein.“ Er rutschte näher an Rudi heran und flüsterte ihm ins Ohr, um die Ameisen nicht unnötig zu beunruhigen. „Zurück können wir nicht schnell genug. Vorwärts macht auch keinen Sinn. Das Biest kommt gleich um die Ecke.“ Rudi nickte nur und legte den Kopf schief. „Ja, ich weiß! Dumm gelaufen.!“ Das Geräusch kam rasch näher. „Wir müssen uns irgendwie wehren“, presste er noch heraus, dann war das Monstrum da.
Die Maus stand vor ihnen und füllte locker die halbe Höhe des Ganges aus. Wie auf ein geheimes Kommando hin, wurde die Dunkelheit schwächer. Wahrscheinlich hatte Eddies Mutter im Haus Licht angemacht, um nach Schmutz zu suchen, dachte Amira. Was für ein glücklicher Zufall! Sie konnte endlich wieder etwas erkennen! Das erste, was sie sah, waren schwarze Mäuseäuglein, die gespenstisch schimmerten, gleich danach eine graue Schnauze, aus der zwei lange Zähne ragten. Wilbur stellte sich schützend vor die Kleineren und richtete seinen Oberkörper auf. Er holte gaaanz tief Luft und fauchte, so laut, wie er noch nie in seinem Leben gefaucht hatte. Das hörte sich toll an, bewirkte jedoch nur, dass die Maus kehrt machte, ein paar Schritte zurückging und dann wieder nach vorne. „Warte mal, Freundchen“, schnaubte sie ihn an. „Du musst die größenwahnsinnige Kakerlake sein, von der ich schon gehört habe.“ Kichernd fuhr sie fort: „Machst Riesengedöns, bist aber total harmlos.“ Sie guckte über ihn hinweg, als wäre er gar nicht vorhanden. Ihr Zeigefinger, oder was auch immer das war, deutete auf Rudi. „Und der Stinker hinter dir kann mir auch nicht wirklich imponieren. Ihr Angeber!“ Nun lachte sie, dass die Wände wackelten. Schritt um Schritt trippelte sie vorwärts und hatte Wilbur beinahe erreicht.
„Wir müssen den Beiden helfen!“, raunte Nicki der kleineren Ameise zu.
„Aber wie denn nur?“ Amira fühlte sich noch winziger als sonst. Ihr Herz klopfte bis zum Hals und ihre Knie zitterten vor Aufregung. Nicki dachte angestrengt nach. Dann flüsterte sie Amira, die vor Schreck wie gelähmt war, etwas ins Ohr. Amira nickte. Sie schnaufte ein paar Mal tief durch, nahm allen Mut zusammen und streifte ihren Rucksack ab. Wie auf Kommando kletterten die beiden Ameisenmädchen links und rechts die Wände hoch, bis sie knapp unter der Decke hingen. Die Maus hatte ihnen verwundert dabei zugesehen und schnupperte interessiert in ihre Richtung. „Eins, zwei, drei! Feuer frei!“, rief Nicki. Aus ihrem und Amiras Hinterleib spritzten plötzlich feine Tröpfchen auf die empfindliche Mäusenase. „Hatschi!“ Niesend versuchte die Maus die Ameisensäure abzuwischen, was gar nicht so einfach war, weil sie sich das Zeugs dabei nur noch tiefer in die Nase und in die tränenden Augen rieb. „Hatschi! Hatschti! Haaatschi!“ Sie schniefte und tappte blind umher.
„Von wegen Angeber!“, schimpfte Wilbur los.
„Genau!“, pflichtete ihm Rudi bei. Er zeigte auf das knubbelige Fellbündel vor ihnen. „Weißt du, was mir grad einfällt?“ Wilbur nickte. „Los! Popozwicken ist angesagt!“ Sie stürmten vorwärts, bissen und kniffen die Maus immer wieder in ihren Hintern, bis sie davonrannte.
„Aua! Aua!“, hörte man sie noch eine ganze Weile in weiter Entfernung quietschen.
„Das ist nochmal gut gegangen“, sagte Wilbur erleichtert. „Ganz schön clever!“ Er klopfte den beiden Ameisen, die zurück auf den Boden gekrabbelt waren, anerkennend auf die Schultern.
„Tja, gemeinsam sind auch kleine Tiere stark!“, ergänzte ein glücklicher Rudi. „Ich bin stolz auf euch, Mädels!“ Amira nahm errötend ihren Rucksack und drückte wortlos Nickis Hand. Lautes Grummeln ertönte aus Wilburs Magen und hallte von den Wänden wider. „Ja, Wilbur, ich weiß. Du brauchst nach der Anstrengung vorhin was zu essen.“ Die Vier setzten vergnügt ihren Weg fort, wobei sie sich, um die Zeit zu verkürzen, Witze erzählten.
„So, wir sind da.“ Rudi hätte vor lauter Geplapper beinahe die richtige Stelle verpasst und war unvermittelt stehen geblieben. Er werkelte sekundenlang an einem Stück Holz herum, bis es endlich nachgab. Galant hielt er die so entstandene Tür auf und machte er eine einladende Handbewegung. „Bitte sehr, meine verehrten Herrschaften. Treten Sie ein in Eddies Reich.“