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Schlaflos im Vorort

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13.02.2007
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Schlaflos im Vorort

Einzelne Sterne blinzelten durchs Dachfenster. Ich zählte sie. Es wurden immer mehr. Ich entdeckte winzige flackernde Pünktchen, die zwischen den anderen, helleren kaum auszumachen waren. Schließlich wurde es mir über.
Ich konnte nicht einschlafen. Früher war ich oft schlaflos gewesen. Dann hatte ich mir irgendwas knappes angezogen und war in die Stadt gefahren, hatte mich in irgendeinem Schuppen müde getanzt. Seit fünf Jahren war ich ruhiger, hatte einen festen Job angenommen, hatte eine feste Beziehung. Vor einer Woche hatten wir beschlossen zu heiraten. Genauer gesagt: unsere Lebenspartnerschaft eintragen zu lassen. Seitdem hatte ich keine Nacht mehr ruhig geschlafen.

Lia lag mit dem Rücken zu mir, eingemummelt in die Daunendecke. Sie musste wärmebedürftiger sein als ich, denn mir war so heiß, dass ich es unter der Decke kaum aushielt. Ihre Haare standen lustig vom Kopf ab, wie Federn. In ihrem Nacken wirbelten sie im Kreis. Dieser Wirbel rührte mich fast zu Tränen, ich starrte ihn stundenlang an. Lia ahnte nichts von meiner Schlaflosigkeit. Jede Nacht rang ich mit mir. Ich brauchte nur aufzustehen, in die Stadt zu fahren, etwas zu trinken und zu tanzen, dann würde es mir besser gehen. Dann würde ich schlafen können. Morgen war auch Feiertag. Aber ich zwang mich, liegen zu bleiben. Irgendwann würde es schon klappen, ich würde einfach einschlafen.
Draußen fuhr der erste Bus vorbei.

"Was ist los mit dir, hast du schlecht geträumt?" fragte Lia, als ich ihr gegenüber am Frühstückstisch saß und die Augen kaum aufbekam.
"Nein," sagte ich und nahm einen großen Schluck bitteren Kaffee.
"Du wirst doch nicht etwa krank?" Sie wuschelte mir durch die Haare. Meine Kopfhaut fühlte sich an wie elektrisiert.
"Ach Quatsch, ich schlaf' nur nicht so gut gerade."
"Warum denn?"
"Keine Ahnung. Vielleicht zu wenig Bewegung. Lass uns heute mal spazieren gehen."

In der nächsten Nacht lag ich wieder wach. Der Tag war wunderschön gewesen. Wir waren im Herbstlaub herumgetollt wie zwei Kinder und hatten dann in einem spießigen Landgasthof zu Abend gegessen. Jetzt wurde mir bewusst, dass ich sie vermisst hatte. Ich hatte Lia vermisst, obwohl wir zusammen wohnten, ein Bett teilten, jeden Morgen vor der Arbeit unseren Kaffee gemeinsam herunterstürzten und uns liebevoll um die Tageszeitung stritten. Abends hatten wir uns immer gegenseitig von unserem Tag erzählt, uns gegenseitig in den kleinen alltäglichen Konflikten bestärkt, die so an den Nerven zerren können. Eine Musterbeziehung. Aber wir waren in den vergangenen Monaten nie zusammen ausgelassen gewesen, außer Atem gekommen wie heute.
Wir werden alt, dachte ich bitter. Früher waren wir jung und verliebt. Jetzt sind wir ein Paar und werden zusammen alt. Wir werden heiraten. Dann habe ich eine Schwiegermutter, die ich nicht leiden kann und die ihr doch wichtig ist. Eine, die homophop ist, die darauf besteht, dass wir in getrennten Zimmern schlafen, wenn wir zu Besuch kommen. Die eine Warze auf der Nase hat und Grünkohl mit Kartoffelpüree und Bratwurst kocht. Wir werden sie immer zu Weihnachten und zu Ostern besuchen und nachts verstohlen ins Zimmer der anderen schleichen, und diese Rituale werden unser Leben ausmachen. Irgendwann wird sogar Sex einen festen Wochentag bekommen. Ich fand den Gedanken unerträglich. So erstickend, dass ich aufstand und ins Wohnzimmer eilte. Mit hinter dem Kopf verschränkten Armen stand ich vor dem Fenster und starrte bitter auf die spärlich beleuchtete Straße, auf der kein Mensch unterwegs war. Mir wurde kalt. Mechanisch ging ich zurück ins Schlafzimmer. Doch statt mich wieder hinzulegen, glitt ich lautlos in meine Klamotten. Ich überlegte kurz, einen Zettel zu schreiben. Aber dann fiel mir ein, dass ich sowieso wieder da wäre, wenn Lia aufwachte. Würde sie sauer sein oder belustigt? Oder würde sie sich betrogen fühlen, weil ich mich ohne sie amüsieren ging? Ich fischte den Autoschlüssel aus ihrer Manteltasche und zögerte noch einen kurzen Moment, bevor ich die Wohnungstür hinter mir zufallen ließ. Ein Grinsen stahl sich über mein Gesicht. Ich fühlte mich fast so wie mit siebzehn, als ich aus dem Zimmerfenster kletterte, um in die Dorfdisko zu gehen. Damals war ich aber um vieles ahnungsloser und unglücklicher, dachte ich, als ich das Auto anließ. Ich hatte keine Ahnung davon, dass es auch Tanzschuppen mit besserer Musik als Roxette, Blümchen und DJ Bobo gab. Ich hatte noch keine Ahnung davon, dass es woanders so etwas wie eine Lesbenszene gab. In dem Kaff, aus dem ich kam, war dafür kein Platz. Dafür gingen Sonntags alle in die Kirche, und am Kiosk gab es den "Landser".
Der Vergleich war einfach ungerecht.Trotzdem genoß ich den kindischen Rausch. Ich schob eine Punkkassette in den Kassettenrekorder und ließ die E-Gitarrenakkorde aus den Boxen dröhnen. Schon hatte ich die Vorstadt hinter mir gelassen. Schnell glitt der Grüngürtel der Stadt an mir vorbei. Gleich würden die Leuchtreklamen anfangen zu glitzern. Frohlockend drehte ich die Musik noch lauter. Scheinwerfer blitzten im Rückspiegel auf. Ein schwarzes Auto überholte mich von hinten. Ganz schön knapp, in der langen Kurve, dachte ich noch. Dann krachte es vor mir ohrenbetäubend. Ich stieg auf die Bremse, schlingernd und quietschend kam das Auto zum stillstand. Gerade noch geistesgegenwärtig genug, schaltete ich die Warnblinkanlage an, bevor ich ausstieg.
Ich rannte um die Kurve. Zwei Autos standen ineinander verkeilt auf der Fahrbahn, das eine hing halb über der Böschung. Nichts regte sich, kein Geräusch, keine Tür ging auf. Hektisch tastete ich nach meinem Handy. Ich fand es nicht. Es lag zuhause auf der Küchenanrichte, wo es sich über Nacht auflud. Deplatziert schrammelte die Punkmusik weiter. Meine Nackenhaare stellten sich auf.
Ich muss in den Autos gucken, dachte ich, aber etwas in mir weigerte sich. Ich war wie gelähmt. Warum kommt denn niemand, dachte ich hilflos. Hier muss doch irgend ein anderes Auto unterwegs sein! Aber niemand kam.
Sei cool, befahl ich mir. Geh hin und sieh nach. Wenn da noch jemand lebt, brauchen sie schnell Hilfe. Vielleicht haben sie Handys. Bestimmt sogar. Los, mach schon.
Zögernd setzte ich mich in Bewegung. Die Autos sahen ganz schön übel aus, schlimmer als ich erwartet hatte. Mit wurde fast schlecht beim bloßen Gedanken dran, wie es drinnen aussah, aber ich zwang mich, durch beide Windschutzscheiben zu sehen und zu klopfen und zu rufen. Dann ging alles wie von selbst. Ich hörte in dem schwarzen Golf, der mich überholt hatte, ein Handy klingeln. Die Beifahrertür sah noch ganz okay aus, also riß ich sie auf. Auf dem Sitz lag eine Handtasche. Alles stank nach Blut. Ich zwang mich, nicht nachzudenken, zog die Tasche heraus, fand das Handy, drückte den Anruf weg und rief 112 an.

Ich wartete, bis die Blaulichter kamen. Ich fasste nichts an. Es bestand keine Brandgefahr, zumindest roch es nicht nach Benzin, also ließ ich die Körper, wo sie waren, um die zerbrochenen Knochen nicht auseinander zu reißen. Fast teilnahmslos registrierte ich, wie mir Tränen über das Gesicht liefen. Ich saß in meinem Auto herum und hörte Musik. Ich stellte mir vor, Lia hätte in dem einen Auto gesessen. Der Blutgestank schien in meiner Nase festzukleben. Stundenlang saß ich da, wie mir schien. Dann erzählte ich der Polizei, was ich beobachtet hatte. Ich hatte den grausamen Drang, hinzusehen, als die Krankenwagenbesatzung die beiden Körper aus den Autos zogen, aber ich widerstand ihm. Ich fühlte mich wertlos, weil ich nicht half.
Langsam, sehr langsam und mit zitternden Gliedern fuhr ich nach Hause. Die Wohnungstür fiel viel zu laut ins Schloß. Ich ließ mich auf die Wohnzimmercouch fallen und begann zu heulen.
Lia stand plötzlich in der Tür. Dann kniete sie schon neben mir. Sie fragte schlaftrunken, was los sei. Ich stotterte herum, unfähig, die Ereignisse in die richtige Reihenfolge zu bringen. Sie zog mich hoch, zog mich ins Schlafzimmer, zog mich aus. In ihren Armen lag ich noch eine Weile wach, sog ihren wunderbaren Geruch ein. Meine Tränen versiegten, ich war plötzlich unglaublich müde. "Ich liebe dich," murmelte ich. "Ich liebe dich auch," flüsterte sie und hielt mich fester. Draußen vor dem Fenster sang ein Rotkehlchen, und der erste Bus fuhr in die Stadt.

Die Wörter waren: Warze * Grünkohl * Schwiegermutter * Rotkehlchen * Unfallauto

 

Hallo Situation,

herzlich Willkommen hier auf kg.de :).

Mir gefällt dein Einstiegswerk ausgesprochen gut. Sprachlich sehr angenehm zu lesen und auch inhaltlich hast du ein Thema aufgegriffen, das mich zum Nachdenken gebracht hat. Das ist schon ganz schön viel Positives.

Müsste man doch denken, dass die Prota als Lesbe mehr als glücklich sein kann, ihre Beziehung mit Lia gesellschaftlich zu manifestieren. Aber nein, sie hat auf einmal Bedenken, Ängste, so wie manch Hetero, der kurz vor dem "Ja" am liebsten auf dem Absatz umdrehen will. Ein Grund dafür ist auch das alte Thema "Eltern" und die Abhängigkeit der Kinder, für den dazugehörigen Lebenspartner oft ein heißes Eisen.

Umso mehr fällt in dieser Geschichte diese Situation auf: Einerseits haben die beiden Frauen die Courage, vor aller Welt zu ihrer Liebe zu stehen und sie auch gegenseitig verpflichtend zu deklarieren - aber andererseits bekommen sie es nicht auf die Reihe, der alten Dame klipp und klar aufzuzeigen, dass sie das Kasperletheater mit den verschiedenen Schlafzimmern nicht mitmachen wollen. Sehr schön dargestellt :).

Einige Dinge sind mir aufgefallen:


Schließlich wurde es mir über.
Das ist mir zu umgangssprachlich. Erst dachte ich auch noch, du wolltest übel schreiben und hast dich vertippt ;).

Dann hatte ich mir irgendwas knappes angezogen und war in die Stadt gefahren, hatte mich in irgendeinem Schuppen müde getanzt.
Knappes

Ihre Haare standen lustig vom Kopf ab, wie Federn. In ihrem Nacken wirbelten sie im Kreis.
Wie hell ist es in dem Zimmer, so dass die Prot das sehen kann?

Eine, die homophop ist, die darauf besteht, dass wir in getrennten Zimmern schlafen, wenn wir zu Besuch kommen.
Der Satz ist etwas verquert mit den Kommata und der Verkürzung ohne das wiederholende eine. In dem Fall würde ich doch ein und dazwischen bevorzugen, also: Eine, die homophob ist und die darauf besteht, dass ...
Ich stieg auf die Bremse, schlingernd und quietschend kam das Auto zum stillstand.
Stillstand
Gerade noch geistesgegenwärtig genug, schaltete ich die Warnblinkanlage an, bevor ich ausstieg.
Das Komma nach genug kommt weg
Alles stank nach Blut.
Frisches Blut stinkt nicht, erst, wenn es länger an der Luft war und der biochemische Zersetzungsprozess angefangen hat.

Ich wartete, bis die Blaulichter kamen. Ich fasste nichts an.
Zweimal ich hintereinander. Dem kannst du galant aus dem Weg gehen, wenn du einen Satz draus machst.

Es bestand keine Brandgefahr, zumindest roch es nicht nach Benzin, also ließ ich die Körper, wo sie waren, um die zerbrochenen Knochen nicht auseinander zu reißen.
Na, die Prota ja hat alles vergessen, was sie ihn ihrem Erste-Hilfe-Kurs gelernt hat ;)

Der Blutgestank schien in meiner Nase festzukleben.
siehe oben
Sie zog mich hoch, zog mich ins Schlafzimmer, zog mich aus.
Die Wortwiederholung finde ich nicht so gelungen, wenn auch wahrscheinlich Absicht. Aber das ist Geschmackssache.


Lieber Gruß
bernadette

 

Hallo Bernadette,

so viel Lob gleich zum Einstieg, da werd' ich ja ganz verlegen! Das geht runter wie Öl. Vielen Dank, freut mich sehr, find' auch total toll, dass die Geschichte verständlich ist. Oder besser gesagt: dass du drüber nachgedacht hast, dass was 'rüberkommt, dass du sie gerne gelesen hast.

Was mich allerdings auch verlegen macht sind die ganzen Fehler. Oooops. Tja da merkt man dann doch, dass das Ganze etwas heruntergeschrieben ist. Ich werde sie sobald ich Zeit habe rausbasteln. Danke für die ganze Mühe, die du dir gemacht hast!

Liebe Grüsse,
Situation

 

Hallo Situation!

Eine, die homophop ist,
homophob

Klasse Geschichte!
Sehr anschaulich schilderst du die Ängste vor einer Beziehung, die zu Alltag wird.
Dass es dabei nicht oder nur am Rande darum geht, dass die Beiden lesbisch sind, find ich auch sehr gut. Schliesslich haben Homosexuelle die gleichen Probleme wie Heteros, Zoff mit der Schwiegermutter gibt es ja oft.

Liebe Grüsse merettschen

 

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