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Nie vergessen
Ich erinnere mich noch gut an jene stürmische Winternacht, die mein Leben veränderte.
Ich tanzte mit ihr, glaubte, wir wären endlich wieder glücklich miteinander, wir würden nicht mehr bei jedem halbwegs fröhlichen Lachen ein schlechtes Gewissen kriegen.
„Wie schön, dich mal wieder lachen zu hören“, sagte ich dann auch zu ihr. Lena wendete sich ab, als hätte ich sie bei einer schlimmen Tat ertappt.
„Was ist“, fragte ich und massierte sanft ihre Schultern. „Hm?“
Keine Antwort.
„Was ist?“, sagte sie schliesslich. „Wieso fragst du das?“ Sie ging in die Küche, wahrscheinlich, damit ich ihre Tränen nicht sehen konnte.
Obwohl ich wusste, dass sie allein sein wollte, ging ich ihr nach. „Musst du denn schon wieder damit anfangen?“, fragte ich hilflos.
„Womit? Du hast doch angefangen!“, antwortete sie.
Ich öffnete das Fenster und schaute den Schneeflocken zu, die lautlos zu Boden gleiteten und schliesslich zerschmolzen. Sie waren schön, doch sie konnten die Welt nicht ändern. Genauso wenig wie ich.
Die Tür knallte. Lynn war nach Hause gekommen. Sie hatte den Nachmittag wie immer bei ihrer Freundin verbracht. Ich ging ihr entgegen. „Hallo Schatz! Na, wie gehts? Wie wars in der Schule?“ Meine Fragen kamen mir auf einmal so steif und einstudiert vor. Früher hatte ich zwei Kinder zu begrüssen. Während Lena von Lynn bestürmt worden war, hatte ich Annie immer geholfen, die Schuhe auszuziehen.
„Gut“, sagte Lynn. „Wo ist Mam?“
Das Abendessen verlief still. Ich stellte Lynn ein paar Fragen und sie erzählte von einem Hexentrank, den sie und ihre Freundin gebraut hatten. "Wie schön",sagte ich, war aber nicht recht bei der Sache. Lena war schweigsam wie immer. Sie hatte ein Fertiggericht gekocht. Früher hatte es das nie gegeben, da Annie sich stets geweigert hatte, so was zu essen. Lynn war da weniger kompliziert.
Zwei Stunden später las ich Lynn eine Gutenachtgeschichte vor, gab ihr einen Kuss auf die Stirn und löschte das Licht in ihrem Zimmer. Dann ging ich runter zu Lena. Sie sass auf dem Sofa und schaute mich erwartend an.
„Tut mir leid wegen vorhin“, sagte sie.
„Schon gut“.
„Es ist nur, warum bist du immer so verständnisvoll? Du bist traurig, aber du zeigst es nicht. Ich habe manchmal das Gefühl, nicht mehr weiterleben zu können.“
„Was redest du da?“
„Ich meine, du schreist nicht, du weinst nicht, du stehst zur selben Zeit auf wie früher, du machst alles genau gleich.“
„Irgendetwas muss doch gleich bleiben.“
„Nichts ist so wie früher.“
Sie umarmte mich. „Annie hat dich geliebt. Ich war oft so unfair zu ihr, sie war ein kompliziertes Kind, nicht wie Lynn. Ich habe sie nie genügend akzeptiert.“
„Sie war ein besonderes Kind und sie wusste, dass du sie liebtest.“
Ich hatte Tränen im Gesicht, sie wischte sie weg. Sie streichelte meinen Hals, meinen Rücken, mein Gesicht.
„Schlaf mit mir“, flüsterte sie.
„Was? Aber, du wolltest nicht mehr, seit ...“
„Schht.“
Sie fiel über mich her, als hätte sie keine Sekunde länger auf diesen Augenblick warten können. Meine Zunge erwiderte ihre fordernden Bewegungen. Wir liebten uns wie in einem Schwertkampf. Da war keine Zärtlichkeit mehr zwischen uns, denn Zärtlichkeiten hatten wir in den letzten Monaten genug ausgetauscht. Es war reine Lust.
Auf einmal hörte ich Schritte und zog sofort meine Hose hoch. Ziemlich benommen tat sie dasselbe.
„Ich kann nicht schlafen“, klang es von der Wohnzimmertür her.
„Wollen wie ne Schokolade mit Sahne trinken?“, fragte ich.
„Jetzt? Aber ihr bringt mich doch sonst immer gleich zurück ins Bett“, sagte Lynn verwirrt.
Lena lachte. „Heute nicht“, sagte sie. „Lasst uns Schokolade trinken."
„Eigentlich hätte ich dich gerne noch zu Ende vernascht“, flüsterte sie mir in der Küche zu. „Später“, flüsterte ich zurück.
„Aber wir müssen doch morgen früh raus.“
Ich lachte und sie auch.
Dann kam Lynn und wir hoben sie hoch und sie bedeckte uns mit Küssen.
„Ich hab dich lieb, Schatz“, sagte Lena. „Das darfst du nie vergessen.“
Dann tranken wir Schokolade, bis Lynn mit einem Lächeln im Gesicht einschlief.
War es so wie früher? Nein. Lena hatte recht, wenn Dinge im Leben sich ändern, muss man selber auch ein paar Dinge verändern, sonst geht man kaputt.
Am nächsten Tag ging ich in den Wald und schrie nach Annie, und schrie, dass wir sie nie vergessen werden.
Die Wörter waren: Sahne, Winternacht, Tanzen, Schwertkampf, sanft