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Plötzlich

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21.12.2007
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Plötzlich

Spanien interessiert Soroush nicht. Hätte er die Wahl, würde er sich anders orientieren - Großbritannien vielleicht, Skandinavien, Baltische Küste. Und wenn schon Süden, dann richtig: Persischer Golf, er hat schließlich genug Verwandte da, die sich über seinen Besuch freuen würden. Aber sein Vater liebt Spanien. Ganz plötzlich. Genau, wie er auf einmal diese Frau liebt, für die er seine Familie verlassen hat.

Jetzt haben sie ihm diese Reise zum bestandenen Abitur geschenkt. Er muss sich ein Zimmer mit dem dreizehnjährigen Sohn seiner Stiefmutter teilen, dafür hat er den Flug, zwei Wochen wohnen und essen frei. Aber eigentlich ist er nicht deswegen mitgekommen. Eigentlich ist er seines Vaters wegen hier.

Ihm wird jedoch schnell klar, dass sich das, was er sich vom Urlaub erhofft hat, nicht erfüllen wird. Der Vater ist keine Minute, keine Sekunde ohne seine neue Frau. Sie entscheidet für ihn, sie spricht für ihn. Er scharwenzelt verzückt um sie herum und trägt einen stoisch-beglückten Gesichtsausdruck zur Schau, völlig weggetreten. Soroush begreift, dass es kein Gespräch, keine Stunde der Zweisamkeit geben wird, weil er, der Sohn, nur vernachlässigbare Randerscheinung ist.

Drei Tage haben sie jetzt schon am Strand verbracht, eine Änderung ist nicht geplant. Die Vierziggradmarke ist schon an den Vormittagen überschritten. Soroush macht das nichts aus. Ihn stört nur alles andere. Zum Beispiel dieses Huldigen der Reglosigkeit: Sein Vater und seine Frau liegen von morgens bis abends in der Sonne und bewegen sich nur, um der Strahlung hin und wieder andere Teile ihrer ledrigen Magerkeit darzubieten. Manchmal cremen sie sich gegenseitig ein, trinken Wasser und essen Tomaten. Die sind, wie die neue Frau sagt, unvergleichlich gut hier.

Soroush helfen Tomaten nicht über den Tag, er hat pausenlos Hunger. Außerdem geht ihm das Geturtel und Gegurre neben ihm auf die Nerven. Die meiste Zeit verbringt er deshalb im Wasser und schnorchelt. Sven, der Sohn der Stiefmutter, verbrennt derweil in der Sonne. Sein strohblondes Haar ist fast weiß, und seine Haut hat die Farbe gekochten Hummers. Er will sich nicht abkühlen, weil er auf den scharfkantigen, von Seeigeln bevölkerten Felsen ausgerutscht ist, die ins Wasser führen. Jetzt hat er Angst, sich noch einmal zu verletzen.

Soroush taucht für ihn nach Schätzen auf dem flachen Boden der Bucht. Er holt eine noch funktionierende Swatch-Uhr hoch, ein Halmabrett aus Plastik, eine Sonnenbrille und einen Stoffbeutel von Marcs & Spencer. Sven sitzt geduldig im Sand, ein zweigdünnes, zusammengefaltetes Häuflein Knochen, und freut sich über jeden neuen Fund.

Am vierten Tag kotzt Sven das Hotelzimmer voll. Seine Mutter ist aufgebracht, als hätte der Junge sich absichtlich einen Sonnenstich zugezogen, um ihr den Urlaub zu verderben. Auf ihrem ausgedörrten Dekolleté und dem vorstehenden Brustbein leuchten rote Zornesflecken. Soroush findet die ganze Situation verstörend. Hastig ergreift er die Gelegenheit: "Ich bleib hier, geht ihr ruhig zum Strand."

Es macht ihm nichts aus, das Erbrochene aufzuwischen, es besteht sowieso nur aus Wasser und Tomaten. Sven schämt sich, er weint. Elend, wie ihm ist, mit seinem zu weiten Halifax-T-Shirt und den weißen Wimpern im verquollenen, roten Gesicht sieht er aus wie ein Achtjähriger. Soroush kauft ihm Aspirin und Saft und legt ihm einen nassen Waschlappen auf die Stirn. "Ruh dich aus, Kollege. Morgen geht's dir wieder besser." Das dankbare, erschöpfte Lächeln des Jungen tut ihm weh.

Er setzt sich auf den Balkon und dreht eine Zigarette. Der Ausblick geht auf ein tristes Stück Hof. Müllsäcke, alte Badkeramik, verkümmerte Palmen, ein verrostetes Ensemble aus schmiedeeisernen Stühlen um einen schiefen Tisch. Gesprungene Fliesen auf dem Boden, dazwischen ausgetrocknete, müde Grashalme, Zigarettenstummel und Unkraut. Soroush muss an seine Mutter denken, seine rundliche, samthäutige Mutter, die in den letzten Monaten viel zuviel geweint hat. "Alles ist kaputt. Er hat uns eine Schutthalde hinterlassen. Eine Schutthalde!"

Er sollte bei ihr sein. Jetzt, wo all die Kilometer und Tage zwischen ihm und ihr liegen, vermisst er sie plötzlich schmerzhaft. Dabei weiß er genau, dass er ihre Bitterkeit nur schlecht verkraften kann, wenn er bei ihr ist. Soroush sehnt sich nach ihrem alten Lachen, dem tiefen, herzlichen Lachen und dem fröhlichen Tatendrang, mit dem sie ihn und den Vater auf Trab hielt. Früher, als sie noch eine Familie waren.

Soroush hört den kleinen Jungen im Zimmer nebenan seufzen. Seine Mutter wäre bei ihm geblieben, wenn er krank geworden wäre. Sie hätte ihm Tee mit Eiswürfeln gebracht und ein großes Stück Halva zurechtgemacht, mit extra viel Mandeln. Sie hätte regelmäßig nach ihm gesehen, das Kissen aufgeschüttelt und ihre kühle Hand auf seine Stirn gelegt.

Er weiß nicht, warum er plötzlich weinen muss.


(verwendete Wörter: Grashalme / Halma / Schutthalde / Halva / Halifax)

 

Hallo RichardB,

nach der Lektüre habe ich diese gelungene Geschichte in die Rubrik Jugend verschoben. Nicht nur, weil dein Erzähler noch jugendlich ist, sondern auch, weil ich das Sujet dem angemessen finde. Dein Prot muss sich zu den üblichen Veränderungen, die das Abitur mit sich bringt den Veränderungen in der Familie stellen. Die Stimmung ist geschwängert von der empfundenen Machtlosigkeit, dem Widerwillen davor, wie Papa die neue Liebe auslebt, während die Mutter allein zu Haus leidet. Und dein Prot übernimmt, wenn auch zunächst etwas widerwilig, dann aber aus Trotz und trotzdem gern Verantwortung für den Dreizehnjährigen Leidensgenossen, Sohn der neuen Frau.
Aus der vielleicht nicht ganz leichten Wörtervorgabe hast du eine stimmungsvolle und stimmige Geschichte geschrieben, ohne gleich die naheliegendsten Verwendungen für die Wörter zu nutzen (so viele Orte kommen in deiner Geschichte vor, Halifax aber nur als T-Shirt), (du beschreibst eine Schutthalde, der Begriff wird aber für das Zuhause des Jungen angewandt). Beim gebackenen Halva musste ich erst nachschauen, denn das kannte ich bisher nicht. Meistens werden die Zutaten in der Pfanne geröstet, verrührt bis sie eine klebrige Masse ergeben und dann erkalten lassen. Aber es gibt tatsächlich auch Rezepte, nach denen Halva gebacken wird.
Hat mir gut gefallen.

Lieben Gruß
sim

verschoben aus der Wörterbörse, bitte zurück am 31. Januar.

 

Vielen Dank Euch beiden fürs Lesen und Kommentieren!

@Basti: "...weil ich einige der Situationen in abgewandelter Form selbst kenne..." Dann sind wir ja schon zwei, wenn das bei mir auch schon 20 Jahre zurückliegt. Dein Lob (als solches fasse ich deinen Kommentar auf) ist übrigens auch hilfreich, danke dafür!

@sim, meinen hochgeschätzten Ideenlieferanten: Es waren tolle Wörter, danke sehr dafür! Das persische Halva, das ich kenne, wird auch nicht gebacken, wohl aber das griechische. Ich habe das auch extra nachgesehen, weil ich nicht wollte, dass sich "Tee gebracht und Halva gemacht" so blöd reimt. Ich dachte, das merkt schon keiner ;) Ich habe mich aber jetzt doch wieder für das richtige Halva entschieden. Meine Korrektur und dein Kommentar haben sich wohl überkreuzt. Dir auch herzlichen Dank für das Feedback und das Verschieben.

Viele Grüße

Richard

 

Hallo Richard!

Deine Geschichte gefällt mir wirklich gut. Diese Melancholie und Traurigkeit bringst du sehr gut rüber, auch die Charaktere sind dir gelungen. Bisschen unklar fand ich nur das Alter Svens.

sieht er aus wie ein Achtjähriger.
Du hast den echt klasse beschrieben, ich fand es bloß irritierend, dass man sein richtiges Alter nicht erfahren hat. Man weiß nur, dass er älter als acht sein muss. ;)
Sven sitzt geduldig im Sand, ein zweigdünnes, zusammengefaltetes Häuflein Knochen, und freut sich über jeden neuen Fund.
Mein Lieblingssatz. :p

Das Verhältnis zwischen wörtlicher Rede und auktorialer Erzählweise fand ich diesesmal okay, hätte aber nach meinem Geschmack noch ein bisschen mehr geredet werden können. ;)

Mehr kann ich gar nicht sagen, außer weiter so.

Liebe Grüße,
apfelstrudel

 

Hallo, Apfelstrudel,

das Alter Svens wird im zweiten Absatz erwähnt - er ist 13. Ich freue mich, dass dir die Geschichte besser gefallen hat und übe weiter. Danke fürs Lesen und Kommentieren!

Viele Grüße

Richard

 

Ich nochmal. Ja das hab ich wohl überlesen. :shy: Aber gut für dich, dann entfällt mein einziger Kritikpunkt. :D

strudel

 

Hallo RichardB,

die Geschichte hatte ich mal "irgendwann zwischendurch" gelesen, ohne jede Möglichkeit, sie gleich zu kommentieren - und dann leider aus den Augen verloren.

Jetzt aber!

Mir gefällt deine Geschichte ausgesprochen gut. In einem unaufgeregten und angenehmen Stil lässt du Vieles auch zwischen den Zeilen geschehen. Ein nachdenklicher Text, der in seiner Kürze viel Kraft erzeugt und mit starken Bildern arbeitet. Allles sitzt und passt.

Ein gute Geschichte. Ich werde noch Fan der Wörterbörse.

Grüße von Rick

 

Hallo Rick,

vielen Dank fürs Wiederkommen, Lesen und Loben! Das geht ja runter wie Öl ;)

Viele Grüße

Richard

 

Hallo Richard

Ja, auch diese Geschichte von dir gefällt mir. Mit dem Stil bist du dir ganz sicher und es ist wirklich sehr flüssig geschrieben, bin kein einziges Mal ins Stocken gekommen. Das Thema finde ich nicht wirklich alltäglich wie ein Vorredner es geschrieben hatte, und es ist alles andere als ein normaler Familienurlaub.
Die Familie ist nun wirklich eine Schutthalde, und der Urlaub, der eigentlich ein Geschenk an den Jungen war, wird zu einer schmerzhaften Erinnerung, er resigniert und gibt den Kampf um seinen Vater auf, so habe ich es gelesen. Für den Vater und seiner neuen Frau ist der Urlaub wie Flitterwochen, sie lassen sich nicht stören und die Frau ist sogar darüber verärgert, dass es ihrem Sohn nicht gut geht. Die beiden haben nur noch Augen füreinander und vernachlässigen ihre Umgebung und scheren sich nicht um die Gefühle ihrer "Lieben". Das hast du wirklich schön und stimmig dargestellt. Ich habe mit Soroush gelitten.

Cu JoBlack

P.S.: Über den Titel könnte man sich streiten. ;)

 

Hallo JoBlack, danke fürs Lesen und Kommentieren! Mit der Überschrift hast du sicher Recht. Ich konnte mich unter zwei, drei Möglichkeiten nicht entscheiden und habe schließlich die kürzeste gewählt. Für dein Lob auch herzlichen Dank!

Viele Grüße

Richard

 

Hallo Richard,
kann mich den anderen nur anschliessen, sauber geschriebende Geschichte, über ein Thema, das bewegt. Ich habe mit Sourosh mitgefühlt, aber auch mit Swen, dessen Mutter sich so lieblos verhält.
Ich finde es immer wieder interessant, was für Gedankengänge die vorgegebenen Wörter bei den Schreibern verursachen.

LG
Blanca :)

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Richard,

da muss ich doch noch mal etwas kramen :). Die Wörter sind sehr stimmig eingesetzt, die Geschichte in sich sehr rund erzählt. Du hast eine Gabe dafür, Stimmungen zu transportieren und dich auf die jeweilige Situation der Protagonisten sehr gut einzustellen. Soroush muss sich ja wirklich ausgenutzt vorkommen. Da bekommt er pro forma die Reise geschenkt und dabei interessiert sich keiner für ihn.

Aber:

Ich frage mich nur, wieso er nicht aus diesem Trott ausbricht und die Zeit besser ausnutzt - immerhin ist er Abiturient!

Dafür erscheint er mir etwas zu lethargisch und angepaßt. Genauso verstehe ich nicht, wieso er den ganzen Tag Hunger hat. Da muss er eben etwas gegen dass Magenknurren unternehmen und sich etwas besorgen. Von daher finde ich, würde er besser in ein Alter von 8-10 passen. Meine Jungs würden sich das auf jeden Fall nicht mehr so gefallen lassen, und die sind 12 und 14.

Was mir noch so auffiel:


Der Vater ist keine Minute, keine Sekunde ohne seine neue Frau. Sie entscheidet für ihn, sie spricht für ihn. Der Vater scharwenzelt verzückt um sie herum und trägt einen stoisch-beglückten Gesichtsausdruck zur Schau.
Wortwiederholung

Soroush begreift, dass es kein Gespräch, keine Stunde der Zweisamkeit geben wird, weil er, der Sohn, nur vernachlässigbare Randerscheinung ist.
nur eine vernachlässigbare
Die vierzig Grad Marke ist schon an den Vormittagen überschritten.
Vierziggradmarke


Elend, wie er ist, mit seinem zu weiten Halifax-T-Shirt und den weißen Wimpern im verquollenen, roten Gesicht sieht er aus wie ein Achtjähriger.
Elend, wie ihm ist ?

Ach ja, der Titel ist ja gar nichts ;)


Liebe Grüße
bernadette

 

Hallo, Bernadette,

vielen Dank für die lobenden Worte (auch wenn ich sie erst spät entdeckt habe!), es freut mich, dass dir die Geschichte gefallen hat! Der Titel ist tatsächlich kein Potzblitz, aber ich fand ihn wenigstens passend.

Warum Soroush nicht auf die Glocke haut, kann ich dir nicht genau beantworten. Ich glaube, er steht, was die Trennung der Eltern angeht, noch unter Schock. Außerdem hat er Angst, unangenehm aufzufallen - möglich, dass der Vater ihn dann ganz fallen lässt. Ich hatte beim Schreiben außerdem eine Badebucht vor Augen, die nur per Boot erreichbar ist. Soroush konnte deshalb nicht mal eben eine Fressbude aufsuchen. Hätte ich vielleicht aber auch erwähnen sollen :)

Deine Korrekturen habe ich eingearbeitet, danke dafür!

Viele Grüße

Richard

 

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