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Plötzlich
Spanien interessiert Soroush nicht. Hätte er die Wahl, würde er sich anders orientieren - Großbritannien vielleicht, Skandinavien, Baltische Küste. Und wenn schon Süden, dann richtig: Persischer Golf, er hat schließlich genug Verwandte da, die sich über seinen Besuch freuen würden. Aber sein Vater liebt Spanien. Ganz plötzlich. Genau, wie er auf einmal diese Frau liebt, für die er seine Familie verlassen hat.
Jetzt haben sie ihm diese Reise zum bestandenen Abitur geschenkt. Er muss sich ein Zimmer mit dem dreizehnjährigen Sohn seiner Stiefmutter teilen, dafür hat er den Flug, zwei Wochen wohnen und essen frei. Aber eigentlich ist er nicht deswegen mitgekommen. Eigentlich ist er seines Vaters wegen hier.
Ihm wird jedoch schnell klar, dass sich das, was er sich vom Urlaub erhofft hat, nicht erfüllen wird. Der Vater ist keine Minute, keine Sekunde ohne seine neue Frau. Sie entscheidet für ihn, sie spricht für ihn. Er scharwenzelt verzückt um sie herum und trägt einen stoisch-beglückten Gesichtsausdruck zur Schau, völlig weggetreten. Soroush begreift, dass es kein Gespräch, keine Stunde der Zweisamkeit geben wird, weil er, der Sohn, nur vernachlässigbare Randerscheinung ist.
Drei Tage haben sie jetzt schon am Strand verbracht, eine Änderung ist nicht geplant. Die Vierziggradmarke ist schon an den Vormittagen überschritten. Soroush macht das nichts aus. Ihn stört nur alles andere. Zum Beispiel dieses Huldigen der Reglosigkeit: Sein Vater und seine Frau liegen von morgens bis abends in der Sonne und bewegen sich nur, um der Strahlung hin und wieder andere Teile ihrer ledrigen Magerkeit darzubieten. Manchmal cremen sie sich gegenseitig ein, trinken Wasser und essen Tomaten. Die sind, wie die neue Frau sagt, unvergleichlich gut hier.
Soroush helfen Tomaten nicht über den Tag, er hat pausenlos Hunger. Außerdem geht ihm das Geturtel und Gegurre neben ihm auf die Nerven. Die meiste Zeit verbringt er deshalb im Wasser und schnorchelt. Sven, der Sohn der Stiefmutter, verbrennt derweil in der Sonne. Sein strohblondes Haar ist fast weiß, und seine Haut hat die Farbe gekochten Hummers. Er will sich nicht abkühlen, weil er auf den scharfkantigen, von Seeigeln bevölkerten Felsen ausgerutscht ist, die ins Wasser führen. Jetzt hat er Angst, sich noch einmal zu verletzen.
Soroush taucht für ihn nach Schätzen auf dem flachen Boden der Bucht. Er holt eine noch funktionierende Swatch-Uhr hoch, ein Halmabrett aus Plastik, eine Sonnenbrille und einen Stoffbeutel von Marcs & Spencer. Sven sitzt geduldig im Sand, ein zweigdünnes, zusammengefaltetes Häuflein Knochen, und freut sich über jeden neuen Fund.
Am vierten Tag kotzt Sven das Hotelzimmer voll. Seine Mutter ist aufgebracht, als hätte der Junge sich absichtlich einen Sonnenstich zugezogen, um ihr den Urlaub zu verderben. Auf ihrem ausgedörrten Dekolleté und dem vorstehenden Brustbein leuchten rote Zornesflecken. Soroush findet die ganze Situation verstörend. Hastig ergreift er die Gelegenheit: "Ich bleib hier, geht ihr ruhig zum Strand."
Es macht ihm nichts aus, das Erbrochene aufzuwischen, es besteht sowieso nur aus Wasser und Tomaten. Sven schämt sich, er weint. Elend, wie ihm ist, mit seinem zu weiten Halifax-T-Shirt und den weißen Wimpern im verquollenen, roten Gesicht sieht er aus wie ein Achtjähriger. Soroush kauft ihm Aspirin und Saft und legt ihm einen nassen Waschlappen auf die Stirn. "Ruh dich aus, Kollege. Morgen geht's dir wieder besser." Das dankbare, erschöpfte Lächeln des Jungen tut ihm weh.
Er setzt sich auf den Balkon und dreht eine Zigarette. Der Ausblick geht auf ein tristes Stück Hof. Müllsäcke, alte Badkeramik, verkümmerte Palmen, ein verrostetes Ensemble aus schmiedeeisernen Stühlen um einen schiefen Tisch. Gesprungene Fliesen auf dem Boden, dazwischen ausgetrocknete, müde Grashalme, Zigarettenstummel und Unkraut. Soroush muss an seine Mutter denken, seine rundliche, samthäutige Mutter, die in den letzten Monaten viel zuviel geweint hat. "Alles ist kaputt. Er hat uns eine Schutthalde hinterlassen. Eine Schutthalde!"
Er sollte bei ihr sein. Jetzt, wo all die Kilometer und Tage zwischen ihm und ihr liegen, vermisst er sie plötzlich schmerzhaft. Dabei weiß er genau, dass er ihre Bitterkeit nur schlecht verkraften kann, wenn er bei ihr ist. Soroush sehnt sich nach ihrem alten Lachen, dem tiefen, herzlichen Lachen und dem fröhlichen Tatendrang, mit dem sie ihn und den Vater auf Trab hielt. Früher, als sie noch eine Familie waren.
Soroush hört den kleinen Jungen im Zimmer nebenan seufzen. Seine Mutter wäre bei ihm geblieben, wenn er krank geworden wäre. Sie hätte ihm Tee mit Eiswürfeln gebracht und ein großes Stück Halva zurechtgemacht, mit extra viel Mandeln. Sie hätte regelmäßig nach ihm gesehen, das Kissen aufgeschüttelt und ihre kühle Hand auf seine Stirn gelegt.
Er weiß nicht, warum er plötzlich weinen muss.
(verwendete Wörter: Grashalme / Halma / Schutthalde / Halva / Halifax)