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Feuersturm

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17.11.2001
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Feuersturm

FEUERSTURM

„Da! Wieder eine, siehst du?“ Andreij zeigte nach oben zum klaren Nachthimmel.
Roman verzog das Gesicht und kramte aus seiner Jacke ein Päckchen Zigaretten hervor. „Hast du mitgezählt?“ fragte er gelangweilt.
„Das müßte die fünfzehnte gewesen. So die siebzigste insgesamt, Wahnsinn!“
„Hm.“ Er ballte die Hand ein paar mal zur Faust. Es war aber auch verflucht kalt. Endlich hatte es Roman geschafft, eine Zigarette aus der Schachtel zu holen. „Willst du auch eine?“
Andreij schüttelte den Kopf. „Nein.“ sagte er und starrte fasziniert nach oben. „Wahnsinn. Das ist doch Wahnsinn.“
„Hm, wenn du meinst.“ antwortete Roman. Streichhölzer. Wo sind nur die verdammten Streichhölzer? Zufrieden lächelte er, als sie gefunden hatte. „Sind doch nur Sternschnuppen, Andreij. Wie in den letzten Tagen auch.“ Er zündete sich die Zigarette an und nahm einen tiefen Zug. Dann lehnte er sich an das Geländer des Wachturms. Hier oben hatte man einen guten Ausblick auf das Lager. Er sah rüber zu den Baracken. Scheiße, dachte er. Da werden wohl bis morgen früh einige erfroren sein.
„Roman?“
Er drehte sich zu Andreij um. „Ja?“
Andreij sah immer noch nach oben, sagte aber nichts.
„Andreij?“ Er schlug leicht gegen Andreij´s Arm. „Was ist denn?“
„Weißt du, ich habe mir gerade gedacht... wegen meiner Versetzung nach Kirow... ich....“ Er lächelte. „Meinst du, sie kommt durch?“
Roman lachte laut und sagte: „Herjeh, Junge. Das wievielte Gesuch war das jetzt von dir im letzten halben Jahr? Das sechste, richtig?“
„Ja.“ sagte Andrej leise.
„Weißt du, so ist das eben. Drei Jahre hier, und anschließend in irgendeiner kleinen Stadt zwischen Wolga und Ob eine Stelle als Hauptkommissar.“ Roman zog noch einmal an seiner Zigarette, warf sie auf den Boden und trat mit seinem Stiefel einmal kräftig drauf. „Das ist das Gute, wenn man als junger Kerl wie du als erstes hier anfängst. Und was sind schon drei Jahre, hm?“
„Ja, kann sein.“ sagte Andreij. Er sah wieder nach oben. „Jetzt könntest du mir doch eine Zigarette geben.“
Roman nickte und gab ihm die Packung. „Paß auf, daß sie dir nicht runterfällt. Ich habe keine Lust, dafür extra nach unten zu laufen.“
„Ja, schon gut!“ brummte Andreij. Vorsichtig zog er eine Zigarette aus der Packung. Dann gab er Roman die Schachtel zurück. Der grinste ihn an und verstaute die Packung in seiner Jacke. „Hast du auch Feuer?“ fragte Andreij.
„Du hast nie was dabei, oder?“ sagte Roman kopfschüttelnd und gab Andreij die Streichhölzer. „Weißt du, Andreij. Heute nacht werden es einige nicht schaffen.“
„Du meinst die Gefangenen?“
„Ja.“ sagte Roman. „Genau die.“
„Da kann man nichts machen. Und außerdem... Was stört es dich?“ fragte Andreij und zündete sich seine Zigarette an. Er gab Roman die Streichhölzer zurück. „Sind doch nur... Abfall. Verbrecher.“
„Bezeichnest du Kritik an der Regierung als Verbrechen, Andreij?“ frage Roman und sah seinen jungen Freund an. „Hm?“
Oh Gott, nicht schon wieder so eine Diskussion, dachte Andreij. Er holte tief Luft und sagte: „Sie haben Breschnew beleidigt.“
Roman winkte ab. „Ja, das haben einige. Und dafür sind einige in Lagern wie diesem gelandet.“
„Roman, was soll das! Jede Nacht fängst du wieder damit an. So als ob du...“ Andreij hielt inne und blickte zum Wald rüber.
„Andreij?“
„Ich... ich dachte, da wäre etwas. Für einen Augenblick dachte ich...“ Er warf die Zigarette weg.
Roman sah zum Wald. Etwa einhundert Meter trennten das Lager vom Waldrand. Die Fläche dazwischen war eingeebnet worden. Das Licht der großen Scheinwerfer erhellte alles. In diesem Bereich war praktisch ständig Tag.
„Was war denn jetzt, Andreij?“
„Ich weiß nicht. Ich hab es eher aus den Augenwinkeln... es war, als ob eine Gestalt kurz aus dem Wald kam. und... und gleich wieder verschwand. Ich weiß nicht.“
Nach einer Weile sagte Roman: „Nein, ich kann nichts sehen.“
„Es ist ja auch gleich wieder verschwunden, verstehst du?“ Andreij wurde wütend. „Das ist dieses ganze Geschwätz über Politik. Wir sind hier, um Wache zu halten, nicht um über Breschnew zu reden.“
„He, nicht ich bin es, der die ganze Zeit Sternschnuppen zählt.“ Er war verärgert. Diese jungen Leute, dachte er. Alle so... auf Linie getrimmt. Verdammt.
Und dann hörten sie Schreie aus einer der Baracken.

„Was ist denn jetzt los?“, fragte Andreij.
Roman hatte den Scheinwerfer schon in die Mitte des Lagers geschwenkt, und es waren einige Wachen zu sehen, die zum Eingang von Barracke J liefen.
„Sollen wir auch runter gehen und nachsehen?“
„Mensch du Idiot!“, fuhr ihn Roman an. „Wir müssen auf unserem Posten bleiben!“
Roman wusste, dass Andreij als relativer Neuling scharf darauf war einmal dass, was von der Lageradministration gemeinhin als unregelmäßiges Verhalten der Häftlinge bezeichnet wird, hautnah miterleben zu dürfen. Seine Neugier war sicherlich noch dadurch verstärkt worden, dass er vor einer Woche eben ein solches unregelmäßiges Verhalten verpasst hatte, als er gerade keinen Dienst hatte. Einer der Häftlinge hatte sich irgendwie Zugang zur Leichenhalle verpasst, und dort in einem rasenden Wutanfall mehrere Tote aufgerissen und Teile ihrer Organe verzehrt. Er wurde sofort von den Wachen erschossen. Das seltsame an der ganzen Sache war, dass der Häftling nackt gewesen war. Wie üblich, wurde die Leiche von Wärtern der Sicherheitsklasse 3, die unter direktem Befehl des Lagerarztes Dr. Vladimir Varkhov stehen, und für das Lagerkrankenhaus zuständig sind, beseitigt.
Roman war zwar nur ein Wärter der Sicherheitsklasse 1, aber er wusste, dass sich hinter diesem Krankenhaus noch etwas anderes verbergen musste. Die Krankenhäuser in den anderen Lagern, die er gesehen hatte waren alle nichts als eine weitere Barracke, mit ein oder zwei Ärzten - mehr ein Quarantäneraum um die kranken von den gesunden Häftlingen fern zu halten. In diesem Lager war es aber eine gesondert abgezäunte Anlage mit vier größeren, fensterlosen Betonbungalows.
Alles, was mit dem Krankenhaustrakt zu tun hatte wurde strengsten geheimgehalten. Ungefähr einmal im Monat bekam das Krankenhaus eine riesige Kontainerlieferung. Wachen der Sicherheitsklasse 3 wohnten gesondert im Trakt, und sollten eigentlich nicht mit anderen Wachen kommunizieren, außerdem wusste niemand wie viele Leute dort wirklich angestellt waren, denn sie schienen auch irgendwo anders zu essen. Einzig die Leichenhalle befand sich außerhalb des Traktes, und wurde von Wärtern der Sicherheitsklasse 2 bewacht, von denen Roman und Andreij auch von dem Vorfall gehört hatten. Roman war sich sicher, dass das Krankenhaus den anderen erfahrenen Wärtern auch suspekt vorkommen musste, doch es wurde so gut wie nie darüber gesprochen, vermutlich weil viele der Wachen eine fast unerklärliche Angst vor dem mysteriösen Dr. Varkhov hatten.

Roman und Andreij beobachteten weiterhin das Geschehen vor Barracke J, doch es lies sich nicht viel erkennen, da der Eingang der Barracke teilweise vom Gebäude davor verdeckt wurde. Es schien so, als wären einige Wachen in die Barracke gegangen, während andere als Verstärkung vor dem Eingang warteten. Eine Weile lang geschah überhaupt nichts.
Plötzlich hörten sie Schüsse aus der Barracke, und das zerschmettern einer Scheibe. Einige der Wächter, die draußen gewartet hatten, liefen in die Barracke, aber kamen kurz darauf wieder hinausgeeilt, und verteilten sich zwischen den anderen Gebäuden.
„Scheint wohl als ob einer aus dem Fenster ausgebrochen ist“, sagte Andreij.
„Ja, scheint wohl so“, sagte Roman, der den Scheinwerfer hin und her schwenkte, um den Boden abzusuchen, doch niemanden fand.
„Da!“, schrie Andreij plötzlich, den Scheinwerfer zurück an eine Stelle ziehend.
Im grellen Licht lief ein nackter, blutverschmierter Mann direkt auf ihren Wachturm zu.
Roman riß sein Gewehr, das bis eben noch an die hölzernen Brüstung gelehnt war, an die Schulter. Andrejj starrte ihn erschrocken an.
"Roman, Du kannst doch nicht..."
"Halt's Maul - meinst Du, ich will ihn erschießen?"
Andrejj schwieg. Dreimal feuerte Roman sein Gewehr ab, vor den Füßen des nackten Mannes stob der Schnee auf.
Für einen Moment stand die Zeit still. Andrejj sah, wie der Mann abrupt stehen blieb. Er hörte das wütende Gebell der Hunde, die irgendwer losgelassen hatte. Er roch den scharfen Pulverdampf, der neben ihm in der Luft lag. Und zusammenhangslos schoss ihm, wie das Nachleuchten eines Blitzes, der Anblick der seltsamen Gestalt am Waldesrand in den Kopf.
Dann geschah alles ganz schnell. Um die Ecke der Barracke kamen die Hunde, eine heulende Meute. In wenigen Sekunden verringerten sie die Distanz zu dem Mann, der immer noch blutend im Schnee stand und zu ihnen hoch zu starren schien.
Dann kamen die Männer von Sicherheitsklasse 3 um die Ecke. Ihre langen Mäntel wehten im Nachtwind und die Schatten waren verzerrte Gestalten, die sich anmutig über die Verwehungen des schneebedeckten Bodens wanden.
Andrejj sah wieder zu dem Mann. Dieser schien nicht zu bemerken, daß sich hinter ihm der rasende Tod, Schnee aufwirbelnd und unaufhaltsam, näherte.
Er ist nur ein Verbrecher, dachte Andrejj, er hat es verdient. Trotzdem öffnete sich sein Mund, um eine Warnung auszustossen, aber es war zu spät. Der Erste der Hunde sprang aus vollem Lauf mit weit aufgerissenem Maul ab, flog einen kurzen Moment durch die Luft, ein geflügelter, schäumender Dämon, warf den Mann um und schlug die Zähne in sein Fleisch.
Als die anderen Hunde ihr Opfer erreicht hatten, wandte Andrejj den Kopf ab. Obwohl er darauf gewartet hatte, das unregelmäßige Verhalten eines Häftlings zu ahnden, spürte er jetzt Mitleid. Langsam drehte er den Scheinwerfer wieder zum Waldesrand. Dann sah er Roman an. Dieser sah immer noch unten in den Hof, aber etwas weiter zu den Barracken hinüber. Sein Gesicht war leichenblass.
Andrejj folgte seinem Blick und sah die Männer von Sicherheitsklasse 3, die stumm in einer Runde standen und verfolgten, wie die Meute den Mann auseinanderriß. Dann entdeckte er, was Roman gesehen hatte: im Halbschatten des Vordaches von Barrake J stand Varkhov zusammen mit einem anderen Mann. Während der Doktor redete, zeigte er mehrmals mit dem Finger zu ihnen auf den Wachturm hinauf.
Auch in Andrejjs Magen machte sich ein ungutes Gefühl breit.

Starr blickten die toten Augen in die Ewigkeit – und durch Andreij hindurch.
„Darf ich Ihnen Wodka anbieten, Genosse?“
Er wandte den Blick von dem seltsamen Wesen ab und fühlte sich plötzlich von Varkhov ertappt.
„Vielen Dank, aber in zwei Stunden beginnt meine Schicht“.
Der Doktor lächelte ihn an und schenkte sich selber einen halben Becher ein, ohne den Blick von Andreij zu nehmen, der sich unbehaglich fühlte.
Nach seiner letzten Schicht hatte man ihm mitgeteilt, dass der Doktor ihn am nächsten Tag um 13 Uhr zu sehen wünsche. In dieser Nacht hatte der junge Russe nur wenige Stunden Schlaf gefunden.
„Haben Sie so etwas schon einmal gesehen?“
Andreij verstand augenblicklich, wovon sein Gegenüber sprach.
„Nein“, brachte er mit brüchiger Stimme heraus von dem Wunsche beseelt, Varkhovs Labor möglichst rasch verlassen zu können.
„Es handelt sich um einen menschlichen Fötus“, erklärte der Doktor, setzte den Becher an die Lippen und leerte ihn in einem Zug.
„Für mich sieht das eher wie ein...Monstrum aus.“, sagte Andreij und schalt sich im nächsten Moment einen Dummkopf, eine solche törichte Bemerkung gemacht zu haben.
„Es handelt sich um eine Missbildung, wie sie zuweilen vorkommt“, fuhr der Doktor fort. „Der Kopf ist viel zu groß, seine Extremitäten sind nur schwach entwickelt und seine Haut ist wie dünnes, brüchiges Leder über das Gerippe gespannt. Seine liderlosen, schwarzen Knopfaugen scheinen einen selbst nach seinem Tode noch zu durchblicken, nicht wahr? Ein Monstrum.“.
Er setzte den Becher behutsam auf dem Holztisch ab.
„Und doch, es handelt sich um ein menschliches Wesen, dessen Mutter eine hübsche, gesunde 18jährige Kolchose-Arbeiterin war und sein Vater- Wie ich hörte wollen Sie nach Kirow versetzt werden?“
Andreij war vom Themenwechsel überrascht, versuchte aber, sich nichts anmerken zu lassen.
„Ja, denn ich wohne dort. Mit meiner Frau und meinem Kind.“
Mit dem letzten Satz versuchte er Sympathie zu erwecken. Er war ein Familienvater, ein guter, patriotischer Russe, es wäre nicht fair, wenn ihm etwas „zustoßen“ würde, ihm, dessen Großvater dereinst gegen das zaristische System angekämpft hatte, dessen Vater und Schwester dem Stahlgewitter selbsternannter deutscher Herrenmenschen zum Opfer gefallen waren! Varkhov nickte und faltete seine Hände wie zum Gebet.
„Genosse, lieben Sie ihr Land? Lieben Sie es so sehr, dass Sie ihm bedenkenlos alles opfern würden, um den Sieg gegen die kapitalistischen Ausbeuter zu ermöglichen? Lieben Sie?“
Andreij fühlte, wie Verzweiflung ihn mit klammen Fingern packte – man würde ihn „verschwinden“ lassen, dessen war er sich nun gewiss. Was konnte man auf eine solche Frage vernünftigerweise antworten?
Mit dem Mute der Verzweiflung bejahte er die Frage. Unerträgliche Sekunden lang schwieg Vakhov, ehe er endlich sagte: „Ich stelle Ihnen noch eine letzte Frage, welche keine Bedeutung für Sie haben wird. Sie werden Sie in dem Moment, in welchem sie den Raum verlassen, aus Ihrem Gedächtnis löschen, für immer, und mit niemandem jemals darüber reden. Haben Sie das verstanden?“
Der junge Wachposten musste nicht erst lange nachdenken.
„Jawohl!“
„Gut“, flüsterte Varkhov und beugte sich mit dem Oberkörper über den Tisch. „Erschien Ihnen irgend etwas an dem Gefangenen, der gestern zu Tode kam, ungewöhnlich?“
Hoffnung erblühte in Andreij: Vielleicht machte er sich einfach zu viele Sorgen? Er war ein guter Russe, und gute Russen, das hatte Breschnew mehr als einmal erklärt, waren die Säulen des Proletariats.
„Nein. Er – ich weiß nicht, ob man das als ungewöhnlich bezeichnen könnte, er schien seinem Tod gleichgültig zu begegnen, denn er wehrte sich gegen die Hunde nicht, fiel einfach um, als ihn der erste angesprungen hatte und –„
Andreij musste schlucken. In der Nacht war kein frischer Schnee gefallen. Vom Wachturm aus würde er heute jenes Blut sehen, das gestern gnädigerweise die Nacht verhüllt hatte. Wenigstens hatten sie seine Leiche weggeschleppt.
„Da war noch etwas, er gab keinen Laut von sich, soweit ich das beurteilen konnte. Man sollte annehmen, dass er schreien oder um Hilfe rufen würde. Aber ... vielleicht war er stumm?“
Oder man hatte ihm die Stimmbänder durchtrennt, schoss ihm ein entsetzlicher Gedanke durch den Kopf.
„Vielen Dank, Genosse! Ich werde dafür sorgen, dass ihre Kooperation lobend im Bericht des Lagerkommandanten erwähnt wird!“
Behende erhob sich Varkhov und gab Andreij dergestalt zu verstehen, dass die Unterredung beendet war. Seine Knie fühlten sich weich an, als er das Zimmer verließ. Der Doktor wandte sich dem Glas mit dem in Formaldehyd konservierten Fötus zu. Seine Fingerkuppen glitten zärtlich das Glas entlang.
„Wir haben Hitlers Armeen vernichtet und schon bald wird ein unsichtbarer Feuersturm über die westlichen Imperialisten hinwegfegen.“, flüsterte er, während eine Träne über seine rechte Wange floss „Wir werden siegen, mein Sohn.“

Auf dem Weg zurück zur Kaserne überkamen Andreij nochmal die Worte Vakhov's. Irgendetwas stimmte da nicht, was wollte er mit dem deformierten Fötus sagen, hat das vielleicht etwas mit dem Entflohenen zu tun? Er versuchte seine törchten Gedanken zu vergessen und schaute gen Himmel und seine Gedanken waren wieder bei seiner Familie. Plötzlich überkam ihn ein Gefühl von Angst, denn es schien etwas in der Luft zu sein. So einen eigenartigen Geruch hatte er noch nie zuvor vernommen. Es schien vom Krankenhaustrakt zu kommen und er war offensichtlich nicht der einzige dem das auffiel, denn Andreij sah Roman auf sich zu laufen, dessen Gesicht kreidebleich war.

Bevor Andreij etwas sagen konnte, zerrte ihn Roman hinter eine der Barracken.
„Du sagst jetzt nichts, Andreij! Einfach nur zuhören. Nur zuhören! Verstanden?“
Er nickte.
Roman sah sich noch einmal um. „Ich muß sichergehen, daß keiner uns...“ Er sah seinen jungen Freund ernst an. Schließlich sagte er leise: „Du hast heute nacht etwas von einer Gestalt gesagt... am Waldrand. Du hast gesagt, du hättest da draußen irgendetwas gesehen. Hast du doch gesagt?“
„Ja... ja, ich habe da etwas gesehen.“ sagte Andreij verunsichert. Roman hatte schreckliche Angst. Was geht hier vor? „Roman? Was... was ist das für ein Gestank?“
Mit zitternden Händen holte Roman seine Zigaretten aus der Jacke hervor. „Das ist alles... du wirst es nicht... selbst... selbst ich kann es ja kaum glauben.“ Er schaffte es nicht, eine Zigarette aus der Packung zu nehmen. Er zitterte so stark, daß die Schachtel zu Boden fiel.
„Roman?“ fragte Andreij und hob die Packung auf. Er zündete sich eine Zigarette an, nahm einen tiefen Zug und gab sie dann Roman.
„Danke.“ sagte Roman und zog gierig an der Zigarette. „Als du bei Varkhov warst... da habe ich es gesehen. Eine Gestalt, direkt am Waldrand. Nicht deutlich, es war so, als ob sie nur zum Teil da war, so als ob sie... eins wäre mit dem Wald. Das war so...“ Er lächelte. „Aber ich habe es gesehen, oben vom Wachturm aus. Und weiß du, was das Verrückteste überhaupt ist? Diese Gestalt, sie schien... mir zuzuwinken. Sie winkte mir zu, verstehst du?“ Er packte Andreij an der Schulter.
Dieser wußte nicht, was er sagen sollte. „Ich...“ Was sollte er dazu sagen? „Roman, das klingt wirklich verrückt... Ich meine, heute nacht, das war... Hast du das irgendjemanden schon erzählt?“ fragte er.
„Nein, was glaubst du denn?“ Roman schüttelte den Kopf. „Und der Gestank, Andreij! Die verbrennen da irgendetwas.“ Roman nickte mit seinem Kopf Richtung Krankenhaustrakt. „Und dieses Etwas verursacht diesen beißenden Gestank.“ Sein Zittern war nun nicht mehr so stark. Er warf die Zigarette achtlos weg.
„Die verbrennen da etwas?“
„Ja. Das tun sie.“ Roman nahm die wärmende Pelzmütze ab und fuhr mit seiner Hand über den kahlrasierten Schädel. „Irgendetwas passiert hier, Andreij. Dieser Vorfall mit dem nackten Mann heute nacht... die Gestalt... der Gestank. Das macht mir Angst.“ Er setzte sich die Mütze wieder auf. „Was meinst du?“
Andreij kam nicht dazu, Romans Frage zu beantworten. Lautes Sirenengeheul erklang.
„Scheiße!“ fluchte Roman.
„Ja.“ Auch Andreij hatte Angst. Das ist alles so... Er mußte an das tote Wesen denken, welches er bei Varkhov gesehen hatte. An diesen Vorfall mit den dem nackten, blutverschmierten Mann. An diese Gestalt am Waldrand. Und jetzt das.
Die Sirenen hatten es angekündigt. Höchste Sicherheitsstufe.
„Ich habe sogar sehr große Angst, Roman.“

"Wir müssen wieder zurück, Andreij, sonst fallen wir zusehr auf." Roman konnte es seinem Freund ansehen, daß er die nervliche Anspannung nicht mehr lange aushalten würde. "He", klopfte er ihm auf die Schulter, um ihn und sich selber zu beruhigen, "das schaffen wir schon."
Andreij brachte nur ein gequältes Lächeln hervor."Ja."
Als sie sich hinter der Gefangenenbarracke hervorstahlen sahen sie die Wachmannschaften, wie sie die Lagerstraße herunter rannten.
"Was steht ihr hier herum?" Einer der Männer hatte sie entdeckt und war stehen geblieben. "Heimlich Rauchpause machen, was? Setzt euch in Bewegung, einige vom Pöbel scheinen wieder durchzudrehen."
Den beiden blieb nichts anderes übrig als sich den anderen Wachmännern anzuschließen. Die Sirenen gellten immer lauter, je mehr sie sich der Lagermitte annäherten. Dann erstarben sie und machten Schreien und dem Getrampel der Stiefel im Schnee Platz.
Es hat einen Aufstand während der Essensausgabe gegeben. Einer der Wachen brüllte etwas, sie sollen aufgeben, es sei zwecklos. Umgeworfene Tische zeugten von einem Kampf. Warmes Essen verteilte sich im tödlichen, kalten Matsch.
"Was ist hier passiert?" fragte Roman einen seiner anwesenden Kollegen.
Der Platz war umstellt. Gewehre richteten sich auf Männer in zerlumpten Kleidern, die bäuchlings und mit hinter dem Kopf verschränkten Armen vor ihnen im Dreck lagen.
"Halt dein Maul! Willst du sterben? Sollen wir dich erschiessen?"
Einer der Gefangenen widersetzte sich seinen Unterdrückern. Er weigerte sich sich hinzulegen und sich zu ergeben. Ein Wachmann stand nur wenige Schritte vor ihm und schrie ihn an, den Gewehrlauf direkt in sein Gesicht haltend.
"Nein! Ich weiß, was ihr alle mit uns macht. Mit uns allen! Ihr wollt, daß wir alle verrecken!"
"Leg dich hin. Man, ich warne dich!"
"Besser so sterben bevor ihr mich holt. So, wie ihr die anderen geholt habt. Ich kenne die Wahrheit. Wie alle kennen die Wahrheit!" Er kam langsam auf ihn zu.
"Bleib stehen! Keinen Schritt, sonst mache ich von der Waffe gebrauch!" Er setzte einen Fuß vor den anderen.
"Nicht!"
Ein Schuß löste sich.

Als Querschläger jagte die Kugel durch den Raum, traf aber niemanden. Stille.
Die Gefangenen auf dem Boden wagten nicht die Köpfe zu heben, warteten wahrscheinlich auf den dumpfen Aufprall eines Körpers. Situationen wie diese endeten selten anders. Aber diesmal war es nicht so.
"Der Mann soll sich ruhig aussprechen." Varkhov senkte den in die Luft erhobenen Arm und reichte die Pistole dem Soldaten, der ihm am nächsten stand. Der Mann, der mit seiner Waffe den Gefangenen bedroht hatte, trat einen Schritt zurück und richtete seinen Lauf auf den Boden.
Andrejj spürte, wie sich seine Nackenhärchen aufrichteten, als der Doktor an ihm vorbei auf den Aufrührer zuging und ihn wie zufällig am Arm streifte. Das helle, kalte Licht im Eßsaal spiegelte sich auf dem blanken Schädel Varkhovs. Seine Schritte hallten von den Barrackenwänden wieder. Keiner sagte ein Wort oder bewegte sich, alles ging von diesem Mann aus - und er wußte es. Mit dem Gefangenen konnte er im Moment alles tun. "Es scheint, als hätten wir zu reden, guter Mann." Der Sarkasmus in seiner Stimme schneidete die Luft zwischen den beiden. "Ich möchte Sie bitten, mit mir zu kommen - wären Sie so freundlich?"
Er nahm den Arm des Mannes und führte ihn zum Ausgang. Der Gefangene ging mit, als hätte ihn das Schicksal, das er sich vor seinem geistigen Auge ausmalte, ohnmächtig und stumm werden lassen. Oder, fuhr es Andrejj durch den Kopf, es ist diese Aura. Diese Aura, die auch mich hilflos gemacht hat. In der Nähe dieses Mannes sind Gedanken zäh wie Sirup. Als Varkhov an ihm vorbei ging, streifte Andrejj ein kurzer, aber eisiger Blick. Mit dem Mund hingegen lächelte der Doktor ihn an.
"Aufstehen! Gefangenenbaracke Eins in Zweierreihen abtreten! Das Essen für heute ist gelaufen!"
Sobald Varkhov den Raum verlassen hatte, kam wieder Bewegung in die Menschen. Die Soldaten trieben die Gefangenen mit ihren Gewehren zusammen und der erste Trupp setzte sich in Bewegung. Andrejj und Roman verliessen das Gebäude und gingen, ohne ein Wort zu verlieren, gemeinsam in Romans Unterkunft. Sie unterhielten sich noch bis spät in die Nacht.
"Es geht nicht auf. Ich sehe da einfach keinen Sinn!" Roman zog an seiner Zigarette und inhalierte tief. Es war wieder Nacht, beide standen sie wieder auf ihrem Wachturm und Romans Worte hatten eine zweistündige Stille unterbrochen.
"Seit vorletzter Nacht bin ich kein Stück weiter gekommen. Wir haben da Varkhov. Komischer Mensch. Macht Sachen, da unten im Krankentrakt, die verdammt nicht normal sind. Und Gefangene verschwinden, es wird was verbrannt. Und dann dieser Durchgeknallte, der von den Hunden zerfleischt worden ist...das alles läuft bei Varkhov zusammen, soviel ist wohl klar."
Andrejj schwieg. Er hatte Roman nicht von dem Ding in dem Glas erzählt. Er wollte es gerne loswerden, denn in den letzten zwei Nächten seit dem Vorfall im Eßsaal hatte er von dem Ding geträumt. Aber die Art und Weise, wie der Doktor mit ihm geredet hatte (...aus Ihrem Gedächtnis löschen, für immer, und mit niemandem jemals darüber reden), wie intensiv die Eindrücke gewesen waren, das ließ ihn schweigen. Außerdem verstand er dieses Monstrum selbst nicht, jedenfalls nicht genau. Wozu dann Roman davon erzählen?
"Und dann", fuhr Roman fort, "die Gestalt im Wald. Du hast sie gesehen, ich habe sie gesehen. Das ist Fakt."
„Ach, Roman...“ fing Andrejj an. Diese - nun ja, Erscheinung machte alles noch konfuser und Andrejj wollte sie gerne erst einmal aus seinem Gedächtnis streichen.
Roman ließ sich nicht beirren. "Ich glaube,", sagte er, "dass wir sie wiedersehen werden und ich habe vorgesorgt. Sieh." Roman griff in eine Ecke und zog ein Seil hervor Es war aus rauhen Fasern geknüpft und, so schätzte Andrejj, gute zwanzig Meter lang.
Der junge Russe sah Roman entgeistert an.
"Wenn da wieder was auftaucht," erklärte Roman, "dann werde ich dem auf den Grund gehen. Die Gestalt hat mir zugewunken. Sie kennt uns...oder will irgendwas! Und ich glaube, das Ganze hängt irgendwie zusammen."
"Roman, sie werden Dich sehen, Du kannst nicht einfach so an der Mauer hinab! Die..."
"Die anderen Wachen werden nicht hierher leuchten. Meinst Du, die lassen ihre Seiten unbewacht? Wenn ich unten bin, schwenkst Du den Scheinwerfer einfach so, daß ich vernünftige Deckung habe und außerdem bin ich nur kurz weg."
Andrejj schnappte ärgerlich nach Luft und sah zum Hof hinab. Nach dem Gespräch mit Varkhov wollte er nicht mehr auffallen, um seine Versetzung nicht zu gefährden. Wenn der Doktor ihn wirklich lobend erwähnen sollte, könnte sein Gesuch durchaus Aussicht auf Erfolg haben. Er sah wieder zu Roman. Dieser starrte zum Wald hinüber. Andrej überlegte, seufzte und stellte sich hinter den Scheinwerfer. Er wollte auch keinen Streit mit Roman. Dieser schien ihm der Einzige zu sein, mit dem er reden konnte.
Die Nacht lag dunkel über dem russischen Lager und dem Wald, der es von allen Seiten umschloß.
Einige Kilometer von dem Gebäudekomplex entfernt bewegte sich etwas in der Dunkelheit.

Es herrschte Totenstille im Wald, eine Stille, die unnatürlich war und unheimlich. Eine Stille, die nur dann und wann unterbrochen wurde von dem Knacken eines Astes, der unter der Last des Schnees nachgab und die weiße Masse einfach abwarf. War das glitzernde Pulver lautlos herabgefallen und hatte besagter Ast sich wieder beruhigt, erstarb jede Bewegung und es herrschte wieder geisterhafte, abwartende Ruhe.
Doch plötzlich begannen die Bäume zu zittern. Ein leises Vibrieren durchlief die Stämme und übertrug sich von dort auf die Äste und zog weiter in die kleinsten Zweige. Schnee fiel von den Bäumen. Im gesamten Wald schüttelten die Bäume ihr Schneekleid ab. Es ging ein Ächzen und Stöhnen um, die kristallklare Luft war erfüllt vom Knarren des Holzes, der herabfallende Schnee bildete einen undurchdringlichen, weißen Vorhang.
Die Erde bebte. Zunächst sanft, dann immer stärker. Zu den Geräuschen des Waldes mischte sich Dröhnen und gewaltiges Knirschen.
Dann herrschte das absolute Chaos. Die Bäume zuckten wie wild und wanden sich wie in Fieberkrämpfen. Sie schlugen die Äste umher und schüttelten ihre Kronen, als gelte es, einen neuen, wilden, drogengeschwängerten Tanz zu erfinden. Alles war in Bewegung, es gab kein einziges Teil, das sich in Ruhe befand.
Mit einem Schlag war alles vorbei, ohne Übergang kehrte wieder Stille ein und der imaginäre Betrachter musste sich fragen, ob nicht alles ein Traum gewesen war.
Doch die Bäume standen nackt da, dunkel, drohend und bar des Schnees, den sie sich abgeschüttelt hatten.

Andrej schlief in dieser Nacht äußerst unruhig. Er träumte von Varkhov und dessen Kreatur. Die beiden schwebten vor seinen Augen in einer innigen Umarmung dahin. Sie drehten sich träge um ihre Achse, so dass Andrej die Möglichkeit hatte, sie genau zu betrachten. Die Umarmung der beiden hatte etwas Verbotenes, Perverses an sich. Nicht nur das Wesen an sich, auch seine Pose schien abnormal. Und als es Andrej mit seinen lidlosen, starren Augen anschaute, vermochte er nicht seinen Blick abzuwenden. Als der Doktor seinen Kopf zu ihm drehte und ihm zuzwinkerte, da erwachte Andrej schweißgebadet.
Gott, was für ein Traum! Andrejj starrte in die Dunkelheit, die ihn umgab. Was war nur los? Konnte er nicht von diesem Ding lassen, Varkhov vergessen und zur Abwechslung mal nur an sich denken? Die Versetzung stand noch immer aus, seine Familie hatte er zu lange nicht mehr gesehen und die vielen Fragen, die ihn beschäftigten, brachten nicht mehr als Alpträume wie diesen. Andrejj warf die dünne Decke zurück und stand auf.
Die Kälte des Bodens spürte er kaum noch - die im Vergleich zu den Gefangenen nicht viel besseren Bedingungen, unter denen die Soldaten hier lebten, hatten ihn und seine Kameraden hart gemacht.
Er fand sich in der Dunkelheit ohne Probleme zurecht und legte den Weg zur Tür leise zurück.
Auf dem Flur brannten die Notleuchten. Andrejj wandte sich nach links, Richtung Waschraum. Auf halbem Wege stockte er. Irgendetwas stimmte nicht mit den Geräuschen der Nacht. Es war - nun, es war zu laut. Es wehte doch kein Wind.
Die Barracke lag an der westlichen Mauer und er kannte das klagende Lied der Stämme und Äste, wenn sie, von Windböen gebeutelt, ächzten.. So wie sie es heute taten. Aber - da war kein Wind.
Andrejj verharrte, lauschte eine Weile der Natur und war sich schließlich sicher, das er Recht hatte. Er machte kehrt und zog sich an.
Schnee war frisch gefallen, leicht bedeckte er die Überbleibsel des Tages. Aber es gab keine Verwehungen.
Andrejj trat aus der Tür. Der Wald war viel lauter, als er zuerst gedacht hatte.
Warum bemerkt es keiner?, fragte er sich, und warf einen Blick zu den anderen Barrackeneingängen. Niemand war zu sehen.
Andrejj ging, sich unbewusst immer im Schatten der Gebäude bewegend, zum östlichen Wachturm hinüber. Die Wachen mussten etwas bemerkt haben, auch wenn es anscheinend keiner als sehr wichtig erachtete. Roman undAlexander hatten heute Dienst. Sie würden nichts gegen einen Besuch haben.
Leise erklomm Andrejj die Leiter, nannte aber seinen Namen, bevor er sich durch die Luke schlängelte; er wollte
nicht mit einem Gefangenen verwechselt werden.
"Komm rauf." Roman winkte ihn nach oben.
"Roman..." begann Andrejj, doch sein Freund beachtete ihn nicht weiter. er sah stumm zum Wald hinüber. Der Mond schien hell und so brauchte Andrejj nicht den Scheinwerfer, um zu sehen, was dort geschah.
Der Wald war eine tanzende Masse; er war ein verschlungendes Relief, ein surealistisches Etwas, ein bebender, sich windender Organismus, so schien es. Schnee wirbelte auf, tauchte den Waldesrand in einen weißen Nebel und Schatten rasten über die wogenden Gipfel, beinahe gleichauf mit den Wolken, die sie warfen. Unwillkürlich streckte Andrejj seine Hand in Romans Richtung. Dieser ergriff sie und so standen sie beide da, ohnmächtig, ein Wort zu sagen, das diesen Augenblick in irgendeiner Weise beschreiben konnte.
Irgendwann löste Roman seine Hand und Andrejj, dadurch aus seiner Starre gerissen, bemerkte, wie die Hände seines Freundes mit dem Seil zu spielen begannen, das er seit einigen Nächten hier versteckt hatte.
"Roman, hälst du es für eine gute Idee, jetzt da hinunter zu gehen?"
"Ja, ich denke, das ist die beste Idee, die ich seit langer Zeit hatte. Mann, wenn ich es jetzt nicht tue, dann wahrscheinlich nie."
"Aber woher willst du wissen, daß es mit dieser Gestalt zu tun hat, die..."
"Andrejj,", unterbrach ihn Roman, " wer, denkst du, hat sonst etwas damit zu tun? Stalin? Lenin?"
"Haha." sagte Andrejj automatisch, ohne irgendetwas witzig zu finden.
"Wo ist Alexander überhaupt?"
"Den hat Elena abgeholt, bevor das Ganze losging. Ich glaube nicht, daß er viel davon mitbekommen hat. Ich gehe jetzt." Entschlossen befestigte Roman das Seil, warf ein Ende über das hölzerne Geländer, stieg selber darüber hinweg und ließ sich langsam an der glatten Wand herab.
Andrejj fluchte. Aber ohne zu zögern ergriff er das Seil, um seinen Freund zu sichern. Als Roman unten angelangt war, atmete Andrejj auf. Wieder blickte er zum Waldesrand hinüber.
Und in dem Moment stoppte der ganze Irrsinn. Der Wald stand still und nur noch vereinzelt setzte sich der Schnee, der eine Sekunde zuvor von den peitschenden Ästen noch aufgewirbelt worden war.

Varkov hatte diese Nacht überhaupt nicht geschlafen. Auch die gestrige Nacht und die Nacht davor war er seinem Bett ferngeblieben.
Er hatte sich in sein Labor zurückgezogen, wo er zusammen mit seinem Sohn der kommenden Dinge harrte.
Oft war ihm dieser junge Soldat durch den Kopf gegangen. Er fragte sich, was ihn dazu veranlasst hatte, diesem Mann seinen Sohn ... vorzustellen. Eine tiefe Unsicherheit erfüllte Varkhov, wenn er ihn traf. Die ihm angeborene Selbstsicherheit wurde in diesen Momenten auf eine harte Probe gstellt, die Varkhov bis jetzt immer bestanden hatte. Damals, als ein Häftling vor dem Turm den Hunden zum Opfer fiel, oder während des Geschehens im Eßsaal. Bei diesem Gedanken streifte Varkhovs Blick den Häftling, den er mit sich genommen hatte. Ab und zu zuckte dessen Fleisch, Stimmbänder versuchten, dort Töne zu formen, wo keine Zunge und keine Lippen mehr waren. Aus den Kanülen strömte der stetige Chemikalienfluss in diesen Körper, doch der erhoffte Erfolg trat nicht ein - schon wieder nicht. Der stets wache, wissende Blick des Mannes traf für einen Augenblick Varkhov, doch dieser wandte sich uninteressiert ab. Auch dieser Versuch schien vergebens zu sein.
Dem Imperialismus war nicht leicht beizukommen, das lehrte die Geschichte. Der Kapitalismus, die Glorifizierung all dessen, was Varkhov zu hassen glaubte, trat unaufhaltsam, Schritt für Schritt, in den Vordergrund der Welt. Der Feuersturm, von dem der Russe träumte, die gewaltige Woge, die dem Ganzen ein Ende setzen sollte, er fing die Funken nicht auf, die Varkhov warf. All die Versuche, all sein Glaube, sein Wille setzten ihn nicht in Gang.
Der Doktor nahm den gläsernen Sarg seines Kindes in die Hand und betrachtete ihn. "Wir werden...", sagte er, "...es wird gelingen, mein Kind, es wird geschehen, sei die sicher."
Emotionslos starrten die verkümmerten Augen an ihm vorbei, durch ihn hindurch. Das schmerzte.
"Auch sie wird es nicht schaffen, sie wird uns nicht aufhalten. Mag sie noch so viel vor diesen Toren wandern, es kümmert uns nicht, nicht wahr?" Leise wimmerte er, presste seine heiße Stirn gegen das kalte Glas, in dem sein gestorbener Sohn, das erste Opfer des ersehnten Feuersturms, erhalten worden war.
Draussen, im kalten Schnee, im wandernden Mondlicht, im wieder still gewordenen Wald sammelte die Mutter Kräfte für den Kampf. Es gab dort drei Menschen, um die es ihr ging, und zwei davon lebten...noch.

Auch wenn er seit jeher stolz gewesen war auf seine Sehkraft, konnte Andreij in diesem Moment so gut wie gar nichts erkennen. Die Augen tränten ihm und er musste zwinkern um überhaupt etwas wahrnehmen zu können. Zum x-ten Male ging er mit dem Scheinwerfer den Wald ab und folgte ihm mit dem Blick.
Als Roman geduckt losgelaufen war, hatte er ihm Deckung gegeben, indem er ganz bewusst in eine andere Richtung leuchtete. Und in diesem Moment erst kam ihm der Gedanke, dass man am nächsten Morgen, sollte es nicht schneien, unweigerlich Romans Spuren entdecken würde. Jetzt, zu diesem Zeitpunkt, war das ihr geringstes Problem. Sie würden sich später darum kümmern. Er zog wenigstens das Seil hinauf, damit es sie nicht verriete. Sekunden später war Roman im Wald verschwunden. Wie ein Fuchs in seinem Bau, dachte Andreij. Oder wie ein Kaninchen im Maul der Schlange.
Andreij machte sich auf eine längere Wartezeit gefasst. Wenn nicht einer zumindest auf dem Wachturm hätte zurückbleiben müssen, so wäre er seinem Kumpel Roman ganz sicher gefolgt. Zu sehr zog ihn das Geheimnis, das dort draußen harrte, in seinen Bann – die geheimnisvolle Gestalt, die seltsamen Geräusche und nicht zuletzt der tanzende Wald, der ein faszinierendes Schauspiel geboten hatte.
Als er vor noch nicht einmal drei Monaten hierher versetzt worden war, da hatte er verzweifelt nach einem Fixpunkt gesucht, nach jemandem, der ihm Halt bot, nach etwas Bekanntem, Vertrautem. Doch in diesem Lager war man auf sich bedacht, ein jeder ging seiner Tätigkeit nach und versuchte, niemand anderem in die Quere zu gelangen, keine Gemeinsamkeiten – jeder stirbt für sich allein.
Vier Tage war Andreij durch die Wirklichkeit getastet und hatte gewartet, dass der Tagesablauf Alltag würde. Briefe an seine Familie, seine Frau und seinen Sohn, waren das einzige, das ihn aufrecht hielt. Briefe, die er nie abschicken durfte, die er aber trotzdem aufbewahrte, in der Hoffnung, dass der Tag bald kommen möge, an dem er ihr die Schreiben persönlich überreichen konnte.
Dann hatte er Roman kennen gelernt, und Andreij hatte begriffen, dass in diesem Lager nicht nur Menschenverachtung und Egoismus herrschten. Roman war gutmütig und träge. Seine ganze Autorität, die er zweifellos unter den Wachleuten genoss, zog er aus seiner unerschütterlichen Ruhe. Der Kreml konnte neben ihm explodieren, Roman würde stehen bleiben und fragen, wie er helfen konnte.
Er war groß – nicht größer als Andreij, aber der war eher lang. Die massige Gestalt wurde gekrönt durch ein hochrotes Gesicht, mit einer noch röteren Nase, falls eine Steigerung überhaupt möglich war. Andreij hatte den Verdacht, dass gerade an Romans Gesichtsfarbe der eine oder andere Wodka nicht unschuldig war. Doch das war ihm gleich, er hatte einen Freund gefunden und es gab nicht viele Zeiten in Andreijs Leben, in denen er einen Kameraden so nötig gehabt hatte. Sie waren sich beide begegnet und waren sich auf Anhieb sympathisch, obwohl sie es sich nie sagten.
Andreij musste eingenickt sein. Mit rasendem Herzen kam er wieder zu sich und bemerkte, dass er den Strahler glattweg in die Luft hielt, gegen den Himmel. Das durfte nicht sein, das würde auffallen.
Also stand er ächzend auf und wollte den Scheinwerfer wenden, als er Roman gerade zwei Meter neben sich stehen sah. Entsetzt prallte er zurück und schnappte nach Luft.
„Roman!“ jappste er. „Wie bist du allein hierauf gekommen?“
Roman stand unbeweglich und starrte ohne mit den Augenlidern zu zucken auf einen Punkt am schwarzen Nachthimmel. Einzig der weiße, dampfende Atem zeugte davon, dass Roman ein lebendes Wesen war.
„Roman“, wiederholte Andreij. „Was ist los?“
Allein konnte er unmöglich hier auf den Wachturm gestiegen sein, das Seil lag noch immer zusammengerollt auf dem Boden des Turmes. Wie zum Teufel war es ihm gelungen, ohne den geringsten Laut zu verursachen, hierauf zu kommen? Und was war dort drüben geschehen?
Andreij leuchtete mit dem Strahler hinüber. Doch was er am Waldrand sah, versetzte ihm nicht solch einen Schrecken, wie das Bild, das sich ihm bot, als er auf die unberührte Fläche zwischen Lager und Wald leuchtete. Sie war im wahrsten Sinne des Wortes unberührt. Keine Spuren waren zu sehen, die doch ohne Zweifel hätten vorhanden sein müssen. Doch der Schnee lag ohne einen Makel vor ihm.
Er wandte sich wieder zu seinem Freund. Doch der rührte sich immer noch nicht und Andreij bekam es mit der Angst. Er zerrte und schüttelte an seinem Gefährten, doch dieser blieb unbeeindruckt. Er stand nur da und starrte geradeaus. Und dann, als Andreij schon fast jede Hoffnung aufgegeben hatte, bewegte sich Roman und ein Zittern durchlief ihn. Dann sagte er einen Satz.
„Bring mich zu Doktor Varkhov!“ Seine Stimme klang abwesend und blechern.
„Gott sei Dank, Roman. Du bist bei Bewusstsein. Wie geht es dir, was ist geschehen?!“
Doch Roman antwortete nicht. Er stand weiterhin nur da und stierte in die Dunkelheit.
„Was ist, wie kann ich dir helfen?“ Andreij packte wieder die Furcht.
Da drehte Roman sich zu ihm, beugte sich herab und packte ihn mit festem, schmerzhaftem Griff am Kragen.
Mit teilnahmsloser Stimme sagte er: „Wenn du mich nicht sofort zu Varkhov bringst, werde ich dich töten. Ich habe eine Botschaft für ihn.“

Die Atmosphäre war muffig, fand Andreij, muffig und alt. Als hätte man in einer unbesehenen Ecke einen Laib Brot vergessen, der allmählich verschimmelte und die gesamte Luft verpestete. Er konnte kaum atmen.
Die Einrichtung – kahl, Einheitsschränke, abgenützte Sitzmöbel, ein zerkratzter Tisch. In einem Winkel ein Waschbecken von schmutziggrauer Farbe, darüber ein Spiegel, der fast blind war und daneben wiederum ein kleines Medizinschränkchen. Alles in allem ein trostloser Eindruck, den das Vorzimmer von Varkhovs Labor vermittelte.
Panik hatte von Andreij Besitz ergriffen, als er Roman mit solch ausdrucksloser Stimme diesen Satz hatte sagen hören: „Ich werde dich töten, wenn du mich nicht zu Varkhov bringst!“ Auch nicht in der allerersten Sekunde hatte er an einen Scherz seines Freundes geglaubt, es war blutiger Ernst und der Griff Romans überaus schmerzhaft.
Es hatte eine geraume Zeit gedauert, bis Andreij Ersatz gefunden hatte. Sie konnten den Wachturm nicht einfach so verlassen, großer Gott, das wäre ihr Tod, zumindest Arrest wäre ihnen sicher. Doch der Nachdruck, mit dem Roman seine Forderungen wiederholte, hatte Andreij handeln lassen.
„Aber du weißt doch, wo sein Labor ist“, hatte er gesagt. „Wenn du so scharf darauf bist, mitten in der Nacht den Doktor zu stören, dann geh doch allein hin!“
„Du wirst mich begleiten.“ Wieder diese teilnahmslose Stimme, die nicht zu Roman zu gehören schien.
Andreij fröstelte, nicht nur der Temperaturen wegen. „Also gut, warte hier, bis ich Boris geholt habe!“
Boris sollte sie beide gemeinsam mit Igor ablösen. Sollte er ruhig zwei Stunden eher beginnen mit seiner Wache.
Es hatte der ganzen Überredungskunst Andreijs bedurft, den verschlafenen Sekretär Varkhovs dazu zu bewegen, seinen Chef zu wecken und ihm von der Bitte Romans in Kenntnis zu setzen, doch schließlich gelang es ihm. Und nun standen sie hier und warteten.
Roman stand bewegungslos neben der Tür. Er schaute geradeaus und keinerlei Regung ging von ihm aus.
Andreij dagegen strich ruhelos durchs Zimmer. Zweifel kamen ihm, ob er das richtige getan hatte. Varkhov würde ungehalten sein, vielleicht würde er seine baldige Versetzung nach Kirow verhindern. Aber andererseits hatte der Doktor ihm neulich nach dem Vorfall bei der Essenausgabe zugeraunt: „Gibt es etwas Neues? Teilen Sie es mir mit!“

„In diesem Lager wird meine gesamte Energie verlangt!“ Varkhov stürmte in das Zimmer, übelst gelaunt und äußerst nachlässig gekleidet. „Das bedeutet, dass ich den Schlaf benötige, um meine Kräfte zu regenerieren. Haben Sie das verstanden, Soldat?“ Er sah Andreij in die Augen und der war unfähig, sich zu bewegen. „Was gibt es, Soldat?“ Seine Stimme war leiser, aber keineswegs freundlicher geworden.
Andreij war nicht in der Lage, etwas zu sagen, er konnte nicht einmal stammeln, zu sehr nahm ihm die Erscheinung Varkhovs die Luft. Hilflos blickte er auf Roman, der hinter dem Mediziner stand. Der verstand und wirbelte herum.
Nur eine Sekunde, und die Atmosphäre im Raum war aufgelockert und ungezwungen.
„Mein lieber, lieber Freund. Wen bringen Sie mir denn da?“ Varkhov ging langsam auf Roman zu. „Ich mag es ja kaum glauben. So früh, viel früher als ich erwartet hätte.“
Es kam Leben in Roman, seine Augenlider zuckten, die Mundwinkelverschoben sich. Dann sagte er mit derselben Stimme wie vorhin: „Ich habe eine Botschaft für Sie, Doktor Varkhov. Es ist sehr wichtig!“
„Aber natürlich, mein Lieber.“ So herzlich hatte Andreij den Arzt noch nie erlebt. „Natürlich! Doch kommen Sie erst einmal mit in mein Labor, meine Freunde!“
Er schob beide durch die Türe, die er vor ihnen aufschloss und öffnete. Er folgte ihnen, schloss die Tür wieder und drehte den Schlüssel herum.
Er schaltete das Licht ein und summend und flackernd gingen die Neonleuchten an. Sofort strahlte der hohe, langgezogene Raum eine eiskalte, sterile Stimmung aus. Die Helligkeit blendete Andreij im ersten Moment, er kniff die Augen zusammen.
Er hatte dem Labor schon einen kurzen, eindrucksvollen Besuch abgestattet gehabt. Doch zu dieser Zeit war sein Blick auf das Experimentierfeld durch einen schweren, samtenen Vorhang, der eine kleine Schreib- und Arbeitsecke von den restlichen Räumlichkeiten trennte, verwehrt. Varkhov war seinerzeit durch den Vorhang getreten und hatte von der anderen Seite den Behälter mit jenem schaurigen Wesen geholt, das Andreij bis in die Träume gefolgt war. Jetzt hatte er freie Sicht auf das gesamte Laboratorium – der Vorhang war offen und Varkhov präsentierte sein Reich.
Die Wände waren bedeckt mit riesigen Regalen, die teilweise gefüllt waren mit Büchern, von denen Andreij überzeugt war, dass es sie auf dem sozialistischen Sowjetmarkt nicht zu kaufen gab. Einige sahen sehr alt aus und waren teilweise vollkommen zergriffen.
Zwei weitere Regale waren gefüllt mit gläsernen Behältnissen, in denen bizarre, kleine Wesen in Alkohol aufbewahrt wurden. Es waren Wesen, denen Andreij in seinen Albträumen begegnet war und die ihn hier in der Realität Schauer über den Rücken jagten. Kleine mausartige Tiere mit zwei Köpfen, die sich gegenseitig zuzulächeln schienen, waren noch die normalsten unter dieser Menagerie der Abnormitäten.
Da waren Füchse mit Spinnenbeinen, sechs an der Zahl oder mehr, ein kleines Reh - vielleicht war es ein Kitz - mit einer Art Beutel auf dem Rücken, einer enorm vergrößerten Hautfalte, ein Frosch war da, dessen Vorderbeine verteufelt aussahen wie winzige Menschenhände, die eines Babys beispielsweise.
Doch das Erschreckendste, das alle diese Kreaturen auszeichnete, die sie alle einte und das Andreij, als es ihm bewusst wurde, den Atem nahm, war die Tatsache, dass alle Wesen menschliche Züge in ihren Gesichtern aufwiesen, sie erinnerten ihn an Personen. Der Frosch sah aus wie ein alter Mann im Gesicht, der Fuchs war ein Jüngling, das Reh eine Frau, die ihm schön erschien.
Varkhov hatte das Entsetzen bemerkt, mit dem Andreij vor den Exponaten stand.
„Das sind nicht ausschließlich Ergebnisse meiner Experimente“, sagte er mit schnarrender Stimme. „Andere, größere Forscher waren beteiligt. Was uns einte, war das Ziel.“ Worin dieses Ziel bestand, sagte er nicht.
Andreij stammelte: „Wer... wie kann man so etwas erschaffen?“
Varkhov trat an seine Seite. Er legte eine Hand auf seine Schulter und sagte mit sanfter Stimme: „Es sind Soldaten. Soldaten wie auch du einer bist, Genosse... und ich.“
„Soldaten?“ Andreij war fassungslos. Gleichzeitig aber war er fasziniert. Fasziniert von den Wesen, die da vor ihm standen und ein Dasein in der Dunkelheit fristeten. Und fasziniert von Varkhov, von dessen Enthusiasmus für diese Dinge, von der Aura des Verbotenen, die ihn umgab, von dessen versteckter Eleganz.
„Was ist das für eine Tür?“ Andreij deutete auf eine kleine schwarze stählerne Tür in einer entfernten Ecke, kaum zu erkennen, versteckt neben dem riesigen Regal.
Sofort änderte sich Varkhovs Tonfall: „Das ist ein Durchgang, den niemand außer mir durchschreiten darf!“ – Er schaute Andreij durchdringend an – „Unter keinen Umständen!“
In der Mitte des Raumes stand ein riesiger alter Experimentiertisch, wuchtig und beherrschend.
Daneben stand ein Gerät, das Andreijs Aufmerksamkeit auf ebensolche Weise fesselte wie Die Kreaturen in den Regalen. Es war ein Stuhl, ein Sessel, der eher an einen Thron erinnerte, mit breiten Armlehnen und einer Rückenlehne, die weit über den Kopf hinausging. Was das Bild vom Thron störte, waren die Reifen, die an den Armstützen und der Rückenlehne angebracht waren und offensichtlich zum Fesseln der Personen dienten und eine Art Haube in Höhe des Kopfes, aus deren Innenseite kleine Nadel ragten, die verbunden waren mit Drähten, die wiederum zu einem kleinen Kästchen führten, der auf dem Tisch stand.
Auf Andreijs fragenden Blick meinte der Doktor nur: „Was meinen Sie, Genosse, was Angst, pure Angst, abgrundtiefe Furcht für eine wunderbare und kraftvolle Energiequelle ist.“ Und nach einer kurzen Pause: „Wenden wir uns aber nun Ihrem Freund hier zu!“

Varkhov sah zu Roman, welcher steif vor ihnen stand. Die Augen waren weit aufgerissen und sein Kopf zitterte leicht. Der Doktor lächelte. „Nun... Haben deine Wanderungen also aufgehört?“ Er hielt kurz inne.
Andreij ging einige Schritte zurück, bis er die Wand erreicht hatte. Was geschieht hier, dachte er.
„Bedauerlich nur, daß ich nicht mehr Zeit hatte.“ sagte Varkhov.
Roman öffnete den Mund. Aber es war nicht er, der sprach. Es waren gedehnte und tiefklingende Worte: „Zeit... hattest... du... nie... Dein... Feuersturm... wird... niemals... geschehen... Bald... wird... es... vorbei... sein... Deine... Zeit... ist... abgelaufen... Vater...“ Roman schloß die Augen und sackte zusammen. Blut lief ihm aus den Nasenlöchern, sein Körper wurde von Krämpfen geschüttelt.
Andreij sah zu Varkhov, der einfach nur da stand, nichts tat. „Doktor!“ Doch Varkhov rührte sich nicht vom Fleck. „Varkhov!“ schrie Andreij und lief zu seinem Freund. Er fiel auf die Knie und versuchte Roman festzuhalten. „Roman! Roman!“ Endlich hatte er es geschafft, Roman an sich zu drücken und zu umarmen. „Ruhig... beruhige dich!“ Er sah zu Varkhov. „Helfen Sie mir!“
Varkhov zuckte zusammen. Für einen Moment war er... Er sah zu den beiden Soldaten, die auf dem Boden saßen. „Was...“
„Helfen Sie mir.“ sagte Andreij. „Roman... er hat Krämpfe und blutet.“
Schnell ging Varkhov zu einem der Regale und nahm eine Spritze.
„Was ist das?“ fragte Andreij besorgt.
„Halten Sie ihn weiter fest!“ befahl Varkhov und packte Romans linken Arm. Er streifte ihm den Ärmel hoch. „Halten Sie ihn nur weiter gut fest!“ Er setzte die Nadel an.
„Was geben Sie ihm da?“
„Es wird ihm helfen.“ sagte Varkhov knapp angebunden. „Lassen Sie ihn los!“ Er stand auf und zog Andreij einige Schritte weg.
Romans Körper schien sich noch ein letztes Mal aufzubäumen.
„Roman!“ schrie Andreij.
Varkhov hielt ihn zurück. „Nein!“
„Ich...“ Andreij versuchte sich von Varkhov loszureißen, aber es gelang ihm nicht. Ohne etwas tun zu können, mußte er mit ansehen, was mit Roman geschah. Und für einen Augenblick glaubte er, daß ihn Roman direkt ansah. „Roman... ich...“ flüsterte er mit tränenerstickter Stimme.
Und dann war es vorbei. Roman lag bewegungslos auf dem kalten Fußboden in Varkhovs Labor.
„Ist er...“ fragte Andreji ohne Varkhov anzusehen.
Der Doktor ließ ihn los. „Ich habe ihm geholfen.“
„Hm.“ Andreij schüttelte den Kopf. „Sie haben ihn umgebracht.“ Er sah zu Roman. Tief im Inneren wußte er, daß er mehr als einen Freund verloren hatte. „Was geschieht hier, Varkhov? Was ist da draußen im Wald? Warum hat Roman Sie als Vater bezeichnet. Was für ein Feursturm? Was geschieht hier?“ Er sah zu Varkhov. „Was?“ Er weinte noch immer.
„Also gut.“ Varkhov senkte den Kopf und sagte leise: „Sie wollen Antworten auf Ihre Fragen?“ Er holte ein Schlüsselbund aus seiner Tasche hervor. „Antworten sollen Sie bekommen!“ Er ging zu der kleinen stählernen schwarzen Tür. Als er den Schlüssel gefunden hatte, schloss er auf. „Kommen Sie!“ sagte er zu Andreij. „Ich werde versuchen, Ihnen alles zu erklären.“

Unzählige Sternschnuppen rasten über das Firmament. Im Wald war es still, wie immer, wenn es begann hell zu werden. Es hatte Kraft gekostet, diesen Menschen als Werkzeug zu benutzen. Mutter war erschöpft. Und enttäuscht. Hatte sie sich tatsächlich geirrt? Mit einem leichten Stöhnen sah sie nach oben zu den Sternen, die langsam verblassten. Und sie sah die Sternschnuppen. Unwillkürlich lächelte sie. Mutter setzte sich auf den nassen und kalten Erdboden. Die ganze Zeit war sie, waren sie davon ausgegangen...
„Mutter!“
Sie berührte leicht den Schnee. „Ich... bin... hier...“
„Mutter!“
„Ja... Wald...“ raunte sie und zeichnete unbeholfen mit ihren Fingern etwas in den Schnee. Die Bäume begannen zu zittern. Ein leises Vibrieren durchlief die Stämme und übertrug sich von dort auf die Äste und zog weiter in die kleinsten Zweige.
„Mutter!“
Sie sah wieder nach oben. Schnee fiel von den Bäumen. „Ich... höre... dich... Wald... Sprich... zu... mir...“ Im gesamten Wald wurde die kristallklare Luft vom Knarren des Holzes erfüllt. „Sprich... Wald... sprich... zu... mir...“ Alles begann sich um sie herum zu bewegen. „Ich... kann... dich... hören...“ sagte Mutter. Der Wald sprach zu ihr. Feiner Schnee fiel auf sie herab. Er war angenehm warm und gab ihr ein Gefühl der Geborgenheit. „Wald... ich...“
„Mutter! Ungeschehen mußt du erreichen. Nicht sein kann, wie es ist. Hüte dich. Nur noch einer. Einer nur. Mutter! Mutter!“
Sie wurde auf den Boden gedrückt. „Ich... irrte...“ Der herabfallende Schnee wurde kälter.
„Mutter! Hüte dich. Wachsam du mußt sein. Vorsicht vor dem einen. Vorsicht vor Vater. Nur noch einer.“
„Vater... Er... wußte... von... meinen... Wanderungen... an... die... Grenzen... von...dir...“ Mutter umgab totales Chaos. Ein einziges sich bewegendes Etwas. „Wald...“
„Gesehen sie dich haben. Mutter! Bei Suche nach Vater und Kind! Vater hast du gefunden. Und auch Kind.“
„Kind...“ flüsterte Mutter. „Kind... ist... bei... Vater...“
„Ja. Nur noch einer. Kind hat sein Leben ausgehaucht. Nur noch einer. Alles wird ungeschehen.“
Mutter spürte den immer kälter werdenden Schnee. „Der... andere... Was...“ Der Wald begann zu schreien. „Wald... ich...“
„Antworten er bekommt von Vater. Antworten über Kind und Mutter und Vater und Feuersturm.“
„Feuersturm... wird... es... nicht... geben...“ brüllte Mutter und stand auf. Sie mußte sich an einem der Bäume abstützen. „Es... darf... keinen... Feuersturm... geben...“ flüsterte sie.
„Ungeschehen mußt du erreichen. Mutter! Ungeschehen!“
„Wie...“
„Der andere. Ihn mußt du gewinnen. Nur so kann verhindert werden, was nicht sein kann, wie es ist. Mutter!“
Plötzlich wurde es still. Mutter stand mit ausgebreiteten Armen im Wald. „Nicht... sein... kann... wie... es... ist...“ hauchte sie. Das routierende Etwas um sie herum löste sich in Luft auf. Sie sah nach oben. Die Sterne waren verschwunden. Der Wald hatte aufgehört, zu ihr zu sprechen. Stille umgab sie. Behutsam legte Mutter eine Hand auf die dunkle Rinde des Baumes, der sie gestützt hatte. „Wald...“ flüsterte sie. „Wald... ich... werde... es... versuchen...“ Nur noch einer, dachte Mutter. Nur noch Vater. Der Wald und sie selbst hatten sich geirrt. Es gab keinen dritten. Von Anfang an ging es nur um Kind, Vater und Mutter selbst. Und Vater wollte den Feuersturm, den es nicht geben durfte. „Nicht... sein... kann... wie... es... ist...“ Sie dachte an Kind. Sie dachte zurück an die Zeit, als sie zusammen waren. Mutter fühlte den Haß in sich. „Ich... muß... es... versuchen...“ Sie hatte Vater gedroht. Doch nun mußte sie den anderen auf ihre Seite ziehen.
Die Bäume standen nackt da, dunkel, drohend und bar des Schnees, den sie sich abgeschüttelt hatten, als der Wald erneut mit Mutter gesprochen hatte.

Die Tür, die Tür, diese kleine schwarze, stählerne, geheimnisvolle Tür! Varkhov stand davor und suchte den passenden Schlüssel an seinem Bund. Dieser Durchgang war der Schlüssel zu allem, das ahnte Andreij mehr instinktiv, als dass er es wusste. Er würde eine Grenze überschreiten, wenn er sich bückte und durch diese Passage ging (seltsamerweise war die Tür gerade mal brusthoch, also eher für Kinder gemacht, denn für erwachsene Männer). Es war gewiss, dass mit dem Schritt über diese Schwelle dort sich alles ändern würde, nicht nur in seinem eigenen Leben. Und Varkhov öffnete das Schloss zu dem Raum, der gleichzeitig Verheißung war und Schicksal.
-Warum tut er das, fragte Andreij sich angestrengt. Er weiht mich in alle seine Geheimnisse ein, weil er mein Freund werden will? Nein, Varkhov verbindet mit allem, was er tut, ein Nutzen, der für ihn herauskommen muss. Er macht nichts umsonst oder aus Freundlichkeit zu einem anderen Menschen. Warum also tut er das jetzt?
Das Schloss schien zu klemmen. Varkhov rüttelte daran und stöhnte. „Verdammt!“
Ein Stöhnen von hinten, aus der anderen Ecke, in der die Leiche Romans lag. Als Echo quasi, wenn auch viel anhaltender und eindringlicher als von Varkhov.
Der Doktor seinerseits, wie auch Andreij hielten in ihrem Tun inne, beziehungsweise ihrem Denken und wandten synchron ganz langsam um zu Roman.
Von dem sie beide sicher gewesen waren, dass er tot war und keines Lebenszeichens mehr fähig. Er war qualvoll gestorben, unter Krämpfen, sich windend vor Schmerzen. Varkhov hatte ihm die Todesspritze gegeben.
Und jetzt hob er den Kopf, stützte sich mit den Unterarmen ab und erhob sich langsam und unter Anstrengungen, ein Glied nach dem anderen. Der Oberkörper, die Beine angewinkelt und so Halt gefunden. Dann setzte er sich auf und blickte sich tatsächlich allen Naturgesetzen zum Trotz um mit seinen glasigen Augen.
Andreij und der Doktor waren starr und nicht fähig, sich zu bewegen vor Spannung und Faszination Roman gegenüber. Oder dem Ding, das aus ihm geworden war, seine Bewegungen waren mechanisch und abgehackt, wie die einer aufziehbaren Puppe. Er hatte sich jetzt aufgerichtet und kniete vor ihnen. Für einige Augenblicke herrschte Totenstille im Labor. Alle drei schauten sie sich an und lauerten darauf, was der andere tun würde.
Dann plötzlich, ohne Warnung, übergab Roman sich unter Würgen in einem großen Schwall auf den Fußboden. Eine große Lache grüner Suppe breitete sich vor ihm aus, doch es war noch nicht vorbei.
Roman hatte sich vornüber gebeugt und stützte sich mit den Händen ab. Seinen ganzen Körper durchliefen ekstatische Zuckungen, begleitet von unmenschlichem Stöhnen. Er würgte, das konnte man hören, und versuchte unter Aufbringung all seiner Kräfte etwas auszuspeien. Er wand sich und krampfartig, in Schüben verstärkt, würgte er und presste und dann bekam er es heraus aus seinem Schlund, das Ding, das in ihm war. Andreij war entsetzt.
Aus Romans Mund wand sich eine... Schlange? Ein fetter Wurm? Ein oberarmdicker Egel? Andreij vermochte es nicht zu sagen. Auf jeden Fall war dieses Ding schwarz und glänzend und es wand sich, wie es aus Romans Mund heraushing, als mühte es sich ebenso, aus Roman herauszukommen, wie dieser sich abplagte, das Tier loszuwerden. Es wurde länger und länger, und Romans Kiefer brachen mit einem widerlichen Knacken. Blut strömte an den Seiten aus seinem Rachen. Und dann klatschte der Wurm zu Boden und Roman brach lautlos zusammen.
Der Wurm war etwa einen halben Meter lang und hatte die Stärke eines kräftigen Astes. Augen oder Fühler waren nicht zu erkennen, zumal das Tier nicht verharrte. Mit der Flinkheit eines Wiesels hatte er sich davon gewunden und war durch die nur angelehnte Tür zum Vorzimmer geglitten. Schon war nichts mehr von ihm zu sehen. Sein früherer Wirt – Roman – lag ausgestreckt am Boden und eine immer größer werdende Blutlache hatte sich um seinen Kopf gebildet.
Plötzlich sprang Varkhov zur Tür. „Wir müssen ihn fangen“, schrie er. „Er bedeutet sonst Tod und Vernichtung für das ganze Lager.“
Damit hastete er durch die Tür, diesem seltsamen Tier hinterher.

„Was...?“ schrie Andreij. Er sah zu Roman, der tot auf dem Boden lag. Er sah den weit aufgerissenen Mund. Was zur Hölle geht hier vor? Als er gerade Varkhov hinterher rennen wollte, fiel sein Blick kurz auf die kleine schwarze Tür. Der Schlüssel steckte immer noch. Andreij stieg vorsichtig über Romans Leichnam. Dann verschloß er die Tür des Raumes. Er drehte sich um und sah gebannt auf diese kleine schwarze Tür. „Dahinter liegen alle Antworten, Roman.“ sagte er und lächelte. Wenn nicht jetzt, wann dann? Langsam ging er auf die schwarze Tür zu. Er drehte den Schlüssel um und mit einem leisen Quitschen öffnete sich die Tür. Ein tiefes Summen war zu hören und rötliches Licht drang aus dem Spalt heraus. „Die Antworten auf die Fragen.“ flüsterte Andreij. Er holte noch einmal tief Luft und betrat dann den anderen Raum.

Im Lager war es ruhig. Varkhov schüttelte die Taschenlampe. „Mist.“ fluchte er leise. Nur mit Mühe konnte er die Spuren erkennen, die der Wurm im Schnee hinterlassen hatte. An mehrern Blocks der Gefangenen war Varkhov vorbeigekommen. „Verdammt, wo...“ Er hörte ein Geräusch und blieb stehen. „Andreij?“ fragte er leise. Wo steckte der Kerl nur? In seiner Angst und Aufregung hatte Varkhov nicht mitbekommen, daß der junge Soldat ihn nicht begleitet hatte. Dabei war von ungeheuerer Wichtigkeit, diesen Wurm zu finden... und zu töten. Endlich hatte er die Spur wieder entdeckt. Sie führte direkt zum... „Oh Gott!“ Hastig rannte Varkhov zum Tor. Dann entdeckte er das Loch, wo der Wurm durchgedrungen und aus dem Lager verschwunden war. Direkt in Richtung des Waldes. Varkhov sah zu den Wachen, die auf den Türmen ihren Dienst verrichteten. Anscheinend haben sie nichts gesehen, dachte er.
Eine Stimme hinter ihm sagte: „Keine Bewegung! Hände hinter den Kopf und langsam umdrehen.“
Langsam drehte sich Varkhov um.
Der Wachsoldat erkannte, wen er vor sich hatte. „Oh... Doktor Var... Varkhov?“ Er sicherte das Gewehr und schulterte es wieder. „Verzeihen Sie, aber...“
„Schon gut.“ Varkhov winkte ab und deutete auf das Loch im Tor. „Offenbar ist einer der Hunde aus dem Lager verschwunden.“
Der Soldat sah zu dem Loch und schüttelte den Kopf. „Ein Hund?“
„Ja.“ Varkhov nickte. „Was sonst?“ Er sah rüber zu dem Wald. „Dichten Sie es wieder ab. Und lassen die kontrollierenden Wachen innerhalb des Lagers verdoppeln.“
„Ja, Doktor!“ sagte der Soldat und salutierte. Dann rannte er schnell davon, um Varkhovs Befehle auszuführen.
Varkhov schaltete die Taschenlampe aus und lehnte sich an das Tor. Wieder sah er zu dem Wald. Er schluckte. Er mußte an Mutter denken. Und an den Wurm. Ob er bereits bei ihr war? „Mutter... wirst du jetzt...“ Er holte das Schlüsselbund hervor und ließ es durch die Finger kreisen. „Moment...“ Ein Schlüssel fehlte. Es war... „Oh Gott, nein!“ Der Schlüssel für die kleine schwarze Tür fehlte!

Mutter stand im Wald.
Und liebte die Bäume.
Mit anmutigen Bewegungen umfassten unzählige Äste ihren Körper; Holz, glatt und sanft wie Seide liebkoste ihre Haut; Tannenzweige streichelten ihre entblösten Brüste, strichen um die erhobenen Brustwarzen, ließen zitternd von ihnen ab, um sich, am Hals hinauf, ihrem Gesicht zu nähern.
Arme und Beine waren von feingliedrigen, verästelten Wurzeln umschlungen. Nur an wenigen Stellen leuchtete die weiße Haut auf. Der ganze Teppich war in ständiger Bewegung und Mutter gab leise, beinahe schnurrende Geräusche eines vollkommenen Wohlgefühls von sich. Sie spürte das Leben des Waldes in sich; spirituell floss es durch all ihre Sinne, gab ihr einen Weitblick, ließ sie entspannen und stärkte sie - Gefühle, die in dieser Heftigkeit nur in dem einzigartigen Wesen der Natur, in der Jahrtausende alten Bewaldung der sibirischen Landschaft geboren werden konnten.
Gleichwohl spürte sie den allgegenwärtigen Gespielen auch physisch in sich; die weichsten, feinsten und zärtlichsten Teile des Waldes waren tief in sie eingedrungen, umschlossen ihr Inneres und gaben ihr ein zutiefst menschliches Gefühl.
Sie gurrte leise, strich über die schlanken Äste, die fest ihre Schenkel umgriffen und genoß es.
Das Gefühl war nicht neu. Sie hatte es schon mit anderen Menschen erlebt, mit mehreren. Der Vater in dem Lager aus totem Holz und Stein war der letzte gewesen.
Unwillkürlich schossen ihr die Erinnerungen in den Kopf und beinahe im gleichen Moment zog der Wald sich körperlich und geistig aus ihr zurück.
Sie kämpfte, schluchzte, doch diese Gedanken hatte sie nicht im Griff. Der Wald um sie herum verharrte. Sie sank auf die Knie, Bilder schossen durch ihren Kopf. Bilder von ihrem Sohn, seinem Vater, Häusern, Menschen, vage Gestalten, keine Namen und selten Gesichter.
Der Vater hatte ein Gesicht. Es war immer dasselbe, das sie sah. Irres, glänzendes Licht in seinen Augen, verkrampfte Muskeln entstellten sein Gesicht. Sein Sohn - IHR Sohn - in seiner Hand, eine kleine, verkümmerte Gestalt. Sie sah das Gerät in seiner Hand, sah die Essenz, die er suchte, von dem Körper wegfließen. Er hatte es nicht verstanden, nicht gesehen, aber sie hatte es gespürt. Er hatte in seinem Wahn nur zerstört, und als er nicht zu finden glaubte, was er wollte, da hatte er sich ihr zugewandt und sie zu dem gemacht, was sie nun war. Eine eigene Form von Leben, geboren aus Schmerz und Leid, geflohen in die rauhe Natur, um dort ihren Frieden zu finden.
Doch sie war gefunden worden. Energie hatte sie gefunden, reine Energie aus der Natur, die einen Weg gesucht hatte, um der Gefahr zu begegnen, die in dem kranken Gehirn von Vater entstanden war.
Mutter stand wieder auf, sie reckte die Hände zum Himmel empor und rief die Energie zusammen. Mutter war bereit für den Kampf.
Über den schneebedeckten Boden des Waldes kam ein schwarzer Schatten auf sie zugekrochen. Der Wurm schlängelte sich an ihrem Bein empor, glitt zwischen den Brüsten hinauf zum Kopf und verschwand in ihrem weit geöffneten Mund. Materie verband sich mit ihrem Ursprung und Mutter konnte nur hoffen, daß sie damit ihr Ziel erreicht hatte, und die unbekannte Figur, die diese Schlacht, ohne sich dessen bewusst zu sein, mitkämpfte und entscheiden konnte, daß dieser fremde Mann Zeit haben würde, das zu finden und zu verstehen, was Vater in seinem Unwissen in seiner Festung verwahrte.
Die Essenz des Feuersturms.

Der Frost klirrte.
Bis auf einige vereinzelte Schneeflocken war die Luft klar und rein. Unter seinen Stiefeln knirschte der kristallne Schnee. Seit Andreij denken konnte, hatte er den russischen Winter geliebt. Er war hart, unbarmherzig und gnadenlos, doch er war eben auch geradlinig, irgendwie schnörkellos und man wusste, woran man war. Es war bitterkalt und es war sicher, wenn man sich nicht in acht nahm, war man des Todes. Aber wenn man ihn zu nehmen wusste, den russischen Winter, dann war er schon in Ordnung.
Andreij lief wankend durch das Lager. An den Baracken vorbei, in denen die Mannschaften untergebracht waren, die schmale Gasse zum Küchengebäude entlang, auf den drei Meter hohen Zaun und die dahinterliegende Finsternis zu. Kurz bevor er gegen den Draht knallte machte er kehrt und lief in demselben Tempo mit derselben Zielstrebigkeit den Weg, den er gekommen war zurück
Tränen rannen ihm über das Gesicht.
Seine Augen blickten blind nach vorn, seine Miene zeigte Fassungslosigkeit, Hoffnungslosigkeit.
Die Tür, die verdammte stählerne Tür, dieser Zugang zu geheimem Wissen. Alle Antworten dahinter verborgen, alle Antworten!
Er wollte sie öffnen, die Tür. Er wollte nur einen Blick dahinter werfen, in den Raum, der das Wissen verhieß, Antworten auf all seine Fragen.
Sie zog ihn magisch an, schien ihm zu winken: Komm, wirf einen Blick herein und du hast die Macht, du wirst sie alle beherrschen, auch Varkhov.
Und er war näher gegangen, immer näher und er hatte die Geheimnisse spüren können, die dahinter schlummerten. Er hatte die Hand ausgestreckt in fieberhafter Erwartung.
Und plötzlich hatte er all die Stimmen gehört, die Stimmen der Gepeinigten, der Gequälten und Getöteten. Frauen und Kinder stöhnten unter der Qual der Experimente, die Varkhov anstellte mit ihnen. Männer brüllten vor Schmerzen und niemand konnte sie hören, nur er, Andreij.
Sie riefen seinen Namen und flehten ihn an, ihrer Pein ein Ende zu bereiten, alles, nur nicht mehr diese Schmerzen! Sie jammerten, sie bettelten um Gnade, all die unschuldigen Opfer auf dem Weg zum
- Feuersturm
Abrupt blieb Andreij stehen. Was hatte das zu bedeuten? Der Feuersturm, der Kampf gegen die Imperialisten?
Er wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und sah die Gestalt, die auf der anderen Seite des Zaunes vom Wald her auf das Lager zukam. Eine wunderschöne weiße leuchtende Frau schwebte über den gefrorenen Schnee auf ihn zu und rief - Andreij, Andreij! Die Zeit ist gekommen, die Zeit ist reif. Sei mir die Hilfe, bringe mir Rettung!

„Rettung?“ sagte er. „Es gibt keine Rettung mehr.“ Schritt für Schritt bewegte er sich auf den Zaun zu. „Hörst du?“ flüsterte er der Frau entgegen. Als sie nur noch der Zaun trennte, senkte Andreij den Kopf. „Dafür ist es zu spät.“
Die Frau streckte ihre Hand durch das Gitter und berührte ihn sanft am Kopf. „Begleite... mich... und... du... wirst... glauben...“
Ihr Aussehen störte Andreij nicht. Es gab nichts mehr, was ihn noch hätte verunsichern können. Nicht, nachdem er gesehen und gespürt hatte, was im Krankentrakt geschehen war. Was Varkhov getan hatte. „Du glaubst wirklich daran, oder?“
„Nicht... sein... kann... wie... es... ist...“ Mutter schloß die Augen. „Du... mußt... mir... helfen...“
Andreij schüttelte den Kopf. „Ich weiß nicht, was du meinst?“ Unauffällig sah er zu den Wachtürmen. Keiner schien sie zu bemerken. Aber...
Mutter ließ Andreij los und ging einen Schritt nach hinten. „Du... hast... gesehen... was... passieren... wird... bereits... geschehen... ist...“
„Ja.“ sagte Andreij. „Egal was passiert ist...“ Er schluckt und sah diese Frau an. Und plötzlich hatte er das Gefühl, sie zu kennen. „Ich kenne dich.“ sagte er leise. Wieder liefen ihm Tränen über sein Gesicht. „Zumindest... ich glaube es.... und... Ungeschehen willst du alles machen!“
Mutter lachte. „Begleite... mich... Andreij...“
„Ja.“ Es wunderte ihn nicht, daß er plötzlich auf der anderen Seite des Zaunes stand.
„Gut...“ Mutter nickte und ergriff seine Hand.
Er war wie betäubt. Willig ließ er sich von ihr Richtung Wald ziehen. So konnte Andreij auch nicht Varkhof hören, der wutenbrannt am Zaun rüttelte.

„Andreij!“ schrie Varkhov. „Mutter!“ Verdammt, dachte er. „Wachen!“ Er rannte zu einem der Türme. Dabei sah er wieder zu den beiden Gestalten, sich immer mehr vom Lager entfernten. Bald haben sie den Wald erreicht, dachte er. „He!“ Er stieg einen der Wachtürme hoch. Als er die Plattform erklommen hatte, sah Varkhov, wie die zwei Soldaten gebannt zum Wald sahen. „He!“ schrie er und packte einen der Männer am Arm. „Habt ihr mich nicht...“ Er verstummte. Die beiden Männer standen einfach nur da, taten nichts. Als ob sie schlafen würden, dachte er. Großer Gott! Er sah, wie Mutter und Andreij den Wald betraten. „Nein.“ flüsterte Varkhov. Dann hatte der Wald sie verschluckt. „Nein...!“ keuchte er. „Das kann nicht sein.“ Er sah rüber zum Krankentrakt. Dort, wo sich sein Labor befand. Es geschah nichts. Minuten vergingen. Varkhov kniff die Augen zusammen. Ob es sein könnte, daß... Weitere Minuten vergingen. Er lächelte und holte tief Luft. Sie hat sich geirrt! Sie hat sich den Falschen ausgesucht! Triumphierend drehte er sich zum Wald um. „Hast du gehört, Mutter! Du hast dir den Falschen ausgesucht!“ Er sah nach oben. Sternenschnuppen rasten über das Firmament. „Ja!“ brüllte er. Und im selben Augenblick explodierte der Krankentrakt.

Kaum hatten Mutter und Andreij den Wald betreten, verwandelte sich um sie herum alles in lautes und dröhnendes Etwas.
„Was geschieht hier!“ schrie er durch den Lärm zu Mutter.
„Gleich... sind... wir... da...“ Dabei sah sie ihn lächelnd an. „Ungeschehen... wir... es... machen...“ Sie umarmte ihn. „Nur... das... zählt... Sag... jetzt... nichts... mehr...“
Kaum hatte Mutter die Worte gesprochen, wurde es wieder ruhig. Das merkwürdige Eigenleben des Waldes hatte aufgehört.
„Was passiert jetzt?“ fragte Andreij. Er hatte das Gefühl, die Antwort bereits zu kennen. Sanft drehte Mutter ihn um. Und da sah er ihn. Den Wurm. Den Wurm, welchen Roman ausgespien hatte.
„Geh... zu... ihm...“ befahl Mutter.
Andreij nickte und ging zu dem Wurm, der fast reglos auf dem dunklen Waldboden lag. Als er ihn erreicht hatte, kniete Andreij sich hin und sah fragend zu Mutter. Sie nickte. Er lächelte. „Ja.“ sagte er leise und berührte vorsichtig den Wurm. Als er die kalte und feuchte Haut des Wurmes spürte, glaubte er, einen lauten Knall zu hören, als ob irgendwo...
„Bald...“ sagte Mutter.
„Bald?“ fragte Andreij. Er hob den Wurm auf und ging zu Mutter. „Bald wird es ungeschehen sein?“ Zärtlich streichelte er den Wurm. Er nickte. „Ja. Bald.“ Die schrecklichen Bilder, die er in dem Raum hinter der kleinen schwarzen Tür gespürt hatte, sie waren weg. Er hatte sie vergessen. Nur noch eines zählte für ihn. „Mutter?“ Mutter war verschwunden. „Mutter!“ Der Wurm in seinen Händen begann sich zu winden. Doch Andreij ließ ihn nicht los. „Mutter!“ rief er in den Wald. Sie ist... Er drückte den Wurm enger an sich. Wo ist Mutter? Was hat sie vor? Und plötzlich begann der Wald mit Andreij zu reden. Ihm etwas über einen Feuersturm zu erzählen. Die ganze Zeit lang ließ Andreij den Wurm nicht los.

Als er Stunden später erwachte, lag der Wurm neben ihm. Andreij, wußte, daß er tot war. „Es... es tut mir leid.“ flüsterte er und berührte das Geschöpf. „So unendlich...“ Stöhnend stand er auf. „Argh...“ Es fiel ihm schwer, aufrecht zu stehen. Es bereitete ihm Schmerzen. Keuchend fiel Andreij auf die Knie und kippte zur Seite. Er bekam kaum noch Luft. „Mu... M... Mutt... wo... b... bis...t... du?“ Die Schmerzen waren unerträglich. Feuersturm, dachte er trotz der Qualen. Feuersturm... Feuersturm... Andreij fühlte seine Beine nicht mehr. Feuersturm... Feuersturm... Feuersturm... Mutter... „Ungeschehen.“ stammelte er. „Ungeschehen.“ Er zitterte. „Wald... rede mit... mir...“ Der Wald blieb stumm. Andreij sah mühsam zu dem toten Wurm. „Feuersturm...“ flüsterte er. „Es wird ihn nicht geben...“ Dafür hatten sie gesorgt. „Nur... einen... letzten... Sturm... Wo... ist... Mutter...“ Bei Vater? Andreij wurde bewußtlos. Nach und nach wurde er von dem herabfallenden Schnee bedeckt.

„Doktor Varkhov?“ rief eine entfernte Stimme. „Doktor!“ Die Stimme wurde lauter und deutlicher.
Varkhov stöhnte. „Was ist passiert?“ Sein Kopf schmerzte. „Was zum Teufel...“
„Es gab eine Explosion!“ sagte der Soldat und half Varkhov aufzustehen. „Der ganze Krankentrakt! Sehen Sie nur.“
Varkhov sah ungläubig auf die teilweise noch brennenden Überreste. „Oh mein Gott...“ flüsterte er. Er mußte sich an dem Soldaten festhalten. „Hat man...“
„Alles in Ordnung mit Ihnen, Doktor Varkhov?“
„Ob alles...“ Varkhov lachte. „Ob alles in Ordnung ist fragen Sie?“ Ihm fiel ein, daß er auf dem Wachturm gewesen war. Wie hatte er den Aufprall unbeschadet überstanden? „Gibt es Verletzte? Tote?“
„Ja.“ Der Soldat nickte. „Der Schornstein des Krematoriums ist auf eine der Gefangenenbaracken gestürzt. Wir haben... zwei Gefangene lebend bergen können.“
„Und sonst?“
„Mal abgesehen davon, daß es eine gewaltige Explosion gab... daß der Krankentrakt weg ist... ich denke, wir haben die Lage soweit in Griff.“
„Gar nichts haben wir!“ fluchte Varkhov und ließ den verdutzen jungen Soldaten stehen.

Verdammter Mist, dachte Varkhov. Nichts war mehr übriggeblieben. All seine Unterlagen. All seine Forschungen und Ergebnisse. Alles... zerstört. Und sein totes Kind, welches er... Irgendwo unter diesem Schutthaufen... Er war den Tränen nahe. Lustlos stocherte er in dem Geröll herum. „Alles weg. Alles, woran du geglaubt hast.“ Er sah zu den vielen Soldaten, die versuchten, wieder Ordnung im Lager zu schaffen. Nein, dachte er und lächelte. Mutter hatte Recht gehabt. Es würde keinen Feuersturm geben. Zumindest nicht so schnell. Sie hatte dafür gesorgt. Sie und... „Andreij!“ sagte er verbittert. Aber sie hatte bisher nur erreicht, daß seine Ziele sich in Rauch und Flammen aufgelöst hatten. Jetzt gab es nur noch eine Sache.

Er sah zum Wald. „Bist du schon da, Mutter?“ Er verschränkte die Arme vor der Brust. Hinter sich hörte er ein Geräusch. Es war keiner der Soldaten oder Gefangenen. „Bringen wir es hinter uns.“ sagte er leise und drehte sich zu Mutter um. Als sich ihre Blicke trafen, fielen sämtliche Menschen und Tiere im Lager in eine Trance. Keiner war fähig, sich zu bewegen.
„Nur... wir... beide... Vater...“ raunte Mutter.
Er sah die bewegungslosen Menschen und nickte. „Ja.“ Traurig sah er sie an. „Ich habe nichts Falsches getan. Ich habe getan, woran ich geglaubt habe.“
„Du... hast... Kind... getötet... Du... wolltest... den... Feuersturm...“
„Ich habe versucht, unser Kind zu retten! Ich habe versucht, auch dich zu retten.“
„Leid... hast ... du... mir... und... Kind... angetan...“
Varkhov schüttelte den Kopf. „Nein! Du hast es nur nicht verstanden! Da draußen...“ Er deutete zum Wald. „Da ist dir das Leid zugestoßen. Das dich zu dem gemacht hat, was du heute bist.“
„Ich... bin... Mutter...“
„Du warst es einmal, Valeria. Du... warst es einmal vor langer Zeit. Jetzt bist du nur noch ein... Monster.“
„Aber... das... bist... du... doch... auch...“ Mutter sah ihn mit wütenden Augen an.
„Nicht so ein Monster wie dieser verfluchte Wald!“ schrie Varkhov sie an. „Nicht so eines.“ Er holte tief Luft. „Du hast nie verstanden, um was es mir bei meiner Arbeit ging. Du hast nie verstanden, was der Feuersturm in Wahrheit bedeutete, zu was er imstande gewesen wäre. Du hast dich... Du hast dich von diesem Wald beherrschen lassen. Und nun stehst du vor mir. Und klagst mich an! Ausgerechnet mich!“
Mutter lachte laut auf. „Vater... zwecklos...“ Sie packte ihn mit beiden Armen an den Schultern.
„Nur... ungeschehen kannst du es nicht mehr machen.“ sagte er leise. „Das konntet ihr nie!“
„Ja...“ Sie nickte. „Noch... ein... Irrtum... Doch... nun...Bringen... wir... es... hinter... uns... Vater...“ Mutter drückte Varkhov fest an sich und schloß die Augen.

Einige Augenblicke fielen die Menschen und Tiere im Lager aus ihrer Starre. Nur um Sekunden später in einem gigantischen Feuerball zu verglühen. Mutter hatte Rache genommen. Und nicht nur an Varkhov...

Es war kalt. Sehr kalt. Kirshinski hauchte in seine Hände und rieb sie gegeneinander. „Und?“ rief er Gorkim zu. Der winkte ab. „Nichts gefunden?“
„Nein, nichts.“ Gorkim zuckte mit den Schultern. „Hier ist absolut... nichts.“
„Das kann doch nicht wahr sein. Ein ganzes Lager löst sich einfach so in Luft auf?“
„Boris, du siehst es doch selbst!“
„Ja, schon gut.“ fluchte Boris. „So ein verdammter Mist!“ Er, Gorkim und ein dutzend Leute vom KGB standen hilflos auf einer planen, von feiner Asche überzogener Ebene. Dort, wo sich einst Lager XXVB befand. „Nur Asche.“ flüsterte er.
„Ja.“ Gorkim pflichtete ihm bei. „Was sollen wir denen sagen?“
„Oh... Mist. Ich weiß es nicht.“ Boris spuckte aus. „Ich weiß nicht, was wir denen sagen sollen. Was mit dem Lager passiert ist. Was mit den ganzen Gefangenen geschehen ist. Und mit Varkhov! Ich weiß es nicht, Juri. Ich weiß es nicht.“
„Verfluchte Scheiße!“ Gorkim sah zu dem Wald. „Und wenn es Überlebende gibt? Dort im Wald vielleicht?“
„Hm.“ Kirshinski verzog das Gesicht. „Selbst wenn. Bei den Temperaturen... niemals.“
„Der Kreml macht sich Sorgen wegen... du weißt schon.“ Juri holte ein Päckchen Zigaretten hervor.
„Pah... Du meinst diesen Feuersturm?“
„Ja.“ sagte Juri und zündete sich eine Zigarette an. „Feuersturm. Du sagst es.“
„Es gibt viele Lager wie dieses, Juri. Viele fähige Wissenschaftler... so wie Varkhov. Und viele Gefangenen. Etwas merkwürdiges ist hier geschehen. Stundenlang sind wir über den Wald geflogen... Nichts. Keine Anzeichen für irgendwelche Explosionen oder... da ist nichts. Gar nichts. Nur die Tatsache, daß von heute auf morgen einfach so ein ganzes Lager verschwunden ist.“
Gorkim zog an der Zigarette. „Willst du das so in deinen Bericht schreiben? Lager verschwunden. Ursache unbekannt?“ Er lächelte.
„Natürlich nicht!“ sagte Boris verärgert.
„Ja, dachte ich mir schon.“ sagte Juri gequält. „Ich hätte auch nicht besondere Lust, mein restliches Leben irgendwo in irgendeinem Gulag zu verbringen.“
Boris lächelte. „Wer hat das schon? Irgendeine plausible Erklärung wird mir schon einfallen.“
„Ja, natürlich.“ Juri warf die Zigarette weg und sah zum Wald. Er wußte nicht so recht, aber er hatte das Gefühl, daß die Ursache dort versteckt lag. „Ja, irgendwas wird uns schon einfallen.“ Er sah zu den Hubschraubern. „Na los, Boris. Gehen wir.“

Im Wald war es still. Unheimlich still. Andreij´s Körper lag unter einer dicken Schneedecke begraben. Der Wald ließ ihm am Leben. Der Wald kümmerte sich um den Menschen, der kurz vor seiner Verwandlung stand. Doch noch würde es dauern...

Schlaf! Schlaf ist gut! Vorbereiten ich dich werde... auf das Neue... Ungeschehen konnten wir nicht erreichen... aber neues Unheil wir verhindern können... Schlaf... Schlaf... Kind...

ENDE

copyright 2001

baddax, Benjamin P., Hanniball, I3en, Poncher, Rainer, Udo "Ganta" Weiler

- - - - -

Diskussion während der Entstehung (Anm. Mod: Link aktualisiert)

[Beitrag editiert von: Stoned Temple Pilots am 19.11.2001 um 20:11]

 

Super! Sie ist drin! :D
So, gleich mal ausgedruckt für nen einsamen kalten Abend... ;)

Nochmal ein Kompliment an die Autoren für den Einfallsreichtum und das Engagement! :thumbsup:


Grüsse,
:bounce:

 

So! Bin ich mal der Arsch und kick die Story in die "aktuellen Beiträge"!

Unter den Autoren darf diskutiert werden, Leute!

Man möge mir meine Untat verzeihen... :)

 

Wäre doch schade, wenn so eine Geschichte irgendwo vergammeln würde, oder?

Was soll man zu so einer Geschichte noch sagen?
Mhhmmm....
Naja. Also ein paar Rechtschreibfehler unterbrechen manchmal den Lesefluss, aber das fällt bei so einer Story nicht so ins Gewicht, obwohl man doch das Wort doppelt liest, um sicher zu sein, dass es auch so da steht.
Ich kann mich erinnern, ziemlich oft den Namen "Andreij" so gelesen zu haben, aber auch so "Andrejj" und so "Andrej".

Aber insgesamt super Geschichte!
:thumbsup:

 

Hi Stoned Temple Pilots!
So, jetzt habe ich die Geschichte endlich mal gelesen - übrigens die erste Story, die ich mir ausgedruckt habe. :D

Ich bin wirklich begeistert. Ich hätte nicht gedacht, dass so viele Autoren mit ihren unterschiedlichen Vorlieben, verschiedenen Erzählstilen, usw. eine dermaßen atmosphärisch dichte und runde Geschichte zusammen schreiben können.

Jeder von Euch hat seine Phantasie und persönlichen Stärken miteingebracht und ist trotzdem auf die vorangegangenen Beiträge sinnvoll eingegangen und hat mit vielen Möglichkeiten für den nächsten Schreiber seinen Part abgeschlossen. So liest sich das Ganze wirklich flüssig und nicht angehackt, wie ich es ein wenig befürchtet habe. Nur an ganz wenigen Stellen ist mal ein kurzer Hänger drin, fällt aber nicht weiter auf.
Würde mich tierisch interessieren, wer was beigetragen hat. Und was Ihr heute anders schreiben würdet.

Allerdings hättet Ihr Euch vorher wirklich einigen sollen, wie Ihr "Andreij" schreiben wollt, so viele Variationen in einer Story?
Und wer kam auf die Idee mit dem Wurm? Den fand ich nämlich blöd.. :p
Übrigens wäre es wohl sinnvoll gewesen, wenn einer von Euch nochmal komplett Korrektur gelesen hätte, kann aber verstehen, dass sich das niemand bei der Länge antun wollte.

Besonders gut gefallen hat mir die Szene, wenn der Wald das erste Mal richtig beschrieben wird und sich seinem Tanz hingibt. Sehr gelungene Bilder (trotz der ständigen Wiederholung des Wortes "Schnee").

Also Jungs, was soll ich noch sagen? Die Geschichte wurde ja schon empfohlen..
Ahja Ponch.. wenn Mirko wieder da ist.. ;)

Ugh

 

Hab die Story auch schon vor langer Zeit gelesen.
Top! Erinnert mich aber irgendwie an Wolfgang Hohlbein. Könnt ihr als Lob auffassen.
Wirklich erstaunlich, dass mehrere Leute so ein einheitliches Werk zu Stande bringen können.

 

An "Die Rückkehr der Zauberer" oder so ähnlich, ne? Hatte ich auch im Hinterkopf.

Ugh

 

Ich gebe es zu, der mit dem Wurm war ich, doch bevor ich die Idee, die ich hatte, zu Ende ausbreiten konnte, kam mir irgendjemand zuvor und hat die Geschichte in eine andere Richtung gerückt. Was hat dir denn nicht gefallen an dem Wurm, war er dir zu fett, zu eklig? :cool:

Ich kann für mich sagen, dass diese Sache, die sich meines Wissens über mehrere Wochen hinzo, mir riesigen Spass gemacht hat, und dass ich soetwas jederzeit wieder mitmachen würde.

Ich denke, es ist auch eine recht gute Übung für angehende Autoren. :)

Grüße!

 

Hi Hannibal!
Was mich am Wurm gestört hat? Naja, erstmal sah ich gar keinen Sinn in ihm und dann dieses plötzliche Schoßhündchen-Image - wobei das dann irgendwie wieder cool war, wenn man sich das mal bildlich vorstellt.
Was hattest Du denn ursprünglich mit dem Kerl vor?

Und den Spaß, den Ihr beim Schreiben hattet, das merkt man der Geschichte an. :)

Ugh

 

Hoi! Ja, eine absolut geile Story - Und es hat wirklich tierisch Spaß gemacht! :)

@Hanniball: Ich glaube, der Übeltäter war ich, der deine Wurm-Idee anderweitig verwendet hat... :cool:

@Habib: Mist, ich hätte den ursprünglichen Thread mal nicht löschen, sondern ins Archiv stellen sollen, was? ;)

Also, soweit ich das noch in Erinnerung habe:

Absatz 01: Poncher
Absatz 02: I3en
Absatz 03: Baddax oder I3en
Absatz 04: Rainer
Absatz 05: Baddax (?)
Absatz 06: Poncher
Absatz 07: Benjamin P.
Absatz 08: Udo Weiler (?)
Absatz 09: Hanniball
Absatz 10: Hanniball (?)
Absatz 11: Baddax oder Hanniball oder Benjamin P. (?)
Absatz 12: Udo Weiler (?)
Absatz 13: Hanniball
Absatz 14: Hanniball (?)
Absatz 15: Poncher
Absatz 16: Poncher
Absatz 17: Hanniball
Absatz 18: Poncher
Absatz 19: Poncher
Absatz 20: Hanniball oder Baddax (???)
Absatz 21: Hanniball
Absatz 22: Poncher
Absatz 23: Poncher
Absatz 24: Poncher
Absatz 25: Poncher
Absatz 26: Poncher
Absatz 27: Poncher
Absatz 28: Poncher
Absatz 29: Poncher
Absatz 30: Poncher
Absatz 31: Poncher
Absatz 32: Poncher

Bestimmt habe ich mich einige Male geirrt, Sorry! :shy:

Was Rechtschreibung betrifft. Pah, sowas haben wir gar nicht nötig! :p

Ne, schon klar, hätte mal einer vorher durchlesen müssen. Ich? Wieso immer ich? :heul:

Gruß,

Poncher

Bis zum nächsten Mal! :D

 

Hi, Bibliothekar!
Das darf doch nicht wahr sein, dass sich jemand dafür interessiert, was ich ursprünglich vorhatte, ich bin gerührt! :rolleyes:

An und für sich sollte der Wurm so etwas sein wie der Kämpfer hinter den Fronten. Andrejj(oder so) sein Kumpel hatte ihn eingeschleppt und nun sollte er so richtig aufräumen unter den Kumpels :messer: Ich konnte mir gut vorstellen, dass es Stoff für viele feine Szenen gegeben Hätte, doch da kam dann jemand und hat mir meinen schönen Wurm weggenommen! :heul:
(Genauso haben sie es übrigens mit meiner kleinen, stählernen Tür auch gemacht, diese Halunken ;) )

Du siehst, ich hänge immer noch an dieser Geschichte, und vielleicht werde ich sie auch noch einmal vollständig lesen.

Was übrigens meintest du mit Schoßhündchen-Image?

 

Hey Ponch!
Wow, Danke!

Huhu Hannibal!
Naja, vielleicht ganz gut, dass die Idee zweckentfremdet wurde.. :rolleyes: :p
Schoßhündchenimage:

Er hob den Wurm auf und ging zu Mutter. „Bald wird es ungeschehen sein?“ Zärtlich streichelte er den Wurm.
usw.

Ugh

 

Ich wußte es, :heul: ich habe es genau gewußt! Sie freuen sich noch immer! :susp:
@Poncher:
Natürlich kein Blut und Gemetzel, die kleine, stählerne Tür steht ja gerade für den Horror im Kopf. :sconf:

 

Wow, die Geschichte lebt wieder.
Wenn Mirko wieder da ist, kommen solche Sachen evtl. im Projekt-Bereich zu neuem Leben. Wäre wirklich wünschenswert.

Soweit ich es noch weiß, sind Absatz 3, 8, 10 und 20 von mir. Hoffe, ich kann mich noch korrekt erinnern...

Grüße, baddax

 

Unglaublich! Da vergisst jemand, was er selbst geschrieben hat! Könnte mir nicht passieren. Im Zweifelsfall erkannt man meine Stellen am überlegenen Stil ;) :D .

 

Unglaublich! Da vergisst jemand, was er selbst geschrieben hat!
Könnte das mit dem kollektiven Namen der Autoren zu tun haben: Stoned Temple Pilots? :dope:

 

Es war halt eine schwere Zeit damals und Entscheidungen mußten blitzschnell getroffen werden! :cool:

 

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