Was ist neu

Begegnung mit Professor Mandelbaum

Seniors
Beitritt
31.08.2008
Beiträge
596
Zuletzt bearbeitet:

Begegnung mit Professor Mandelbaum

Alles, was in diesem Kosmos vor sich geht, ist illusorisch.
Swami Sivananda Sarasvati, Rishikesh, zit. nach Mircea Eliade, Nächte in Serampore, Bukarest 1940

„Aber liebe Frau, wie kann das sein, ich habe doch gestern noch die Buchung bestätigen lassen, und heute haben Sie mich nicht in Ihrem Computer – bitte, sehen Sie nochmal nach…“, Mandelbaum schüttelte den Kopf, aber blieb freundlich. Die blonde Frau am Abfertigungsschalter der United Airlines lächelte ihn an und suchte weiter.
„Ich finde Sie hier nicht, aber ich kann Sie neu buchen. Sie fliegen doch auf Kundenkarte?“
„Ja, Frau…“
„Das haben wir gleich. Es sind noch einige wenige Plätze frei. Möchten Sie einen Fensterplatz?“
„Ja, bitte … auf der linken Seite, wenn Sie es einrichten können … ich sehe gern die Morgensonne über den Wolken, vielleicht haben wir klaren Himmel und sehen am Horizont New York City, das genieße ich immer besonders…“
Mandelbaum stützte sich mit seinen Ellenbogen auf den Schalter. Peter Morgan stand hinter ihm und hatte aufmerksam zugehört. Er mochte den älteren, schrulligen Professor und verstand jetzt auch, warum sein abgetragenes Jackett Ärmelschoner aus Wildleder hatte.
„Die Acht-Uhr-Flüge sind meist sehr voll, aber wenn Sie noch mitkommen, ist ja alles gut ausgegangen“, versuchte er den Herrn zu trösten.
„Ja, danke für die Anteilnahme, ich fliege hier oft … heute ist irgendwie der Wurm drin, das wußte ich schon, als ich hergeflogen bin, diese langweilige Konferenz – wäre ich doch bloß zu Hause geblieben…“
„So ähnlich ist es mir auch ergangen“, pflichtete Morgan bei.
„So, hier hätten wir Ihre Papiere; ich danke Ihnen für die Geduld, das ist selten heutzutage“, die Frau sah ihn mit ihren dunkelbraunen Augen sehr direkt an, so daß Mandelbaum sich seltsam berührt fühlte.
„Schon in Ordnung, Sie können ja nichts dafür, und wir haben ja Zeit … viel Zeit, wissen Sie, dafür bin ich Spezialist.“
„Einchecken um acht Uhr an Gate 11“, sagte sie noch, aber Mandelbaum hatte sich schon abgewandt.
Nun war Morgan an der Reihe. „Für mich wurde die gestrige Abendmaschine gebucht. Ich möchte umbuchen, auf die Maschine acht Uhr fünfzehn.“
Leer war es an diesem Morgen in der Abfertigungshalle. Während die Frau seine Daten auf dem Bildschirm suchte, sah er sich um. Ein merkwürdiger Tag. Hätte er doch gestern noch zurückfliegen sollen? Dann hätte er die schöne Nacht mit Sarah nicht erlebt. Sarah, die Kollegin, die er nur sehr selten treffen konnte, seit er nach L.A. versetzt worden war. Einige junge Araber fielen ihm auf, sie feixten vor den Überwachungskameras, hatten sich für einige Minuten in der Schlange angestellt, es sich dann wohl anders überlegt. Nun bummelten sie an den Boutiquen entlang, die gerade öffneten.

„Letzter Aufruf: Prof. Mandelbaum bitte an Gate 11. Prof. Mandelbaum bitte an Gate 11“, dröhnte es aus den Lautsprechern. Morgan sah sich um. Wo mochte der liebenswerte Herr nur geblieben sein? Etwas zerstreut hatte er ja gewirkt. Dann sah er ihn. Mandelbaum kam, mit seiner schwarzen Tasche umgehängt, von der Art, wie man sie auf wissenschaftlichen Konferenzen immer als Beigabe zu den Unterlagen bekommt, groß genug für Papiere, Prospekte, einen Satz Unterwäsche und ein zweites Oberhemd. Mehr benötigte er nicht auf seinen Reisen, doch nun hatte er sich noch Zeitungen, gleich mehrere, unter den Arm geklemmt und einen Styroporbecher mit Kaffee in der Hand. Er blies die Luft durch den Schnurrbart, der so lang über die Lippen wucherte, daß man ihm sein langes Junggesellenleben sofort ansah. Als er Morgan erblickte, hellte sich sein Gesicht auf: „Habe noch den Kaffee getrunken bei der Lektüre, bin nicht durch die Zeitungen durchgekommen, es geht immer so schnell, oder ich werde langsamer – das liegt wohl an der Relativität, meiner ganz eigenen…“
„Das kenne ich, doch wirkt es bei mir anders herum: an Tagen wie heute stehe ich unter Strom, die Sekunden kriechen nur so dahin … gestatten Sie: Morgan, Peter Morgan, aus L.A.“
„Sehr angenehm, Samuel Mandelbaum, ebenfalls aus L.A., von der Universität Los Angeles“, sagte er und lächelte spöttisch, als der das Wort „Universität“ aussprach, „sehr angenehm.“
„Darf ich fragen, welche Fachrichtung?“, fragte Morgan.
„Ja, dürfen Sie, aber es wird Sie nicht interessieren, fürchte ich: Physik, Quantenmechanik.“
„Das klingt wirklich sehr theoretisch, fast nicht von dieser Welt. Ich bin von Merryll Lynch, Ökonom. Damit können die meisten Menschen etwas anfangen.“
„Ja, weil das Geld ihnen so nah ist. Worüber ich forsche, ist ihnen aber noch näher, so nah, daß sie es gar nicht wahrnehmen können.“
Langsam kam Bewegung in die kleine Gruppe, in kleinen Schritten folgten sie und hielten die Tickets für die Stewardessen bereit.
„Ist Ihnen schon aufgefallen, daß wir heute von Gate 11 fliegen? Ich meine, sonst fliegen wir immer von Gate 10. Ich fliege hier oft.“ Mandelbaum sah Morgan aus den Augenwinkeln an.
„Ja, und sehen Sie, am Gate 10 steht auch eine Maschine, aber dort rührt sich nichts. Es kann nicht jeder Tag so sein wie immer.“
„Ja, aber es ist doch merkwürdig – die Maschine dort drüben ist vom selben Typ, die selbe Bemalung“,
„Und dieselbe Nummer“, ergänzte Morgan.
Mandelbaum fuhr erschreckt herum, sah durch die Fenster der Gangway angestrengt zu der anderen Maschine hinüber. „Ja, wirklich, Sie sind sehr aufmerksam. So etwas darf es doch gar nicht geben. Aber was hat das zu bedeuten?“
Morgan und Mandelbaum bestiegen die Maschine, „Guten Morgen!“, grüßten die beiden Stewardessen an der Tür, Morgan nahm sich eine New York Times und ein Wall Street Journal vom Stapel und folgte Mandelbaum. Der hatte sich mit Blick auf sein Ticket an den gebuchten Fensterplatz gesetzt. Morgan wunderte sich, daß die Maschine nur zu einem Drittel besetzt war, als er neben Mandelbaum Platz nahm. „Ist es Ihnen recht, wenn ich mich zu Ihnen setze? Die Maschine ist ja fast leer, wir können uns setzen, wie wir wollen. Mit Ihnen verspricht der Flug sehr unterhaltsam zu werden.“
„So, meinen Sie? Ich danke für das Kompliment, danke vielmals. Hoffentlich wird es nicht zu unterhaltsam, für uns beide. Ich liebe keine Überraschungen mehr, wissen Sie, das Alter…die Forschung ist überraschend genug, mein Leben habe ich gern schlicht, geplant, soweit das überhaupt möglich ist. Das routinemäßige Alltagsleben ist meine kleine Illusion: ich glaube an meine Planungen, an meine Entscheidungen, an meine pünktlich eintreffenden Pensionszahlungen – obwohl ich doch weiß, daß das alles Unsinn ist. Die Welt, die ich mit meiner Forschung beschreibe, ist gänzlich anders, wissen Sie…“
„So? Davon müssen Sie mir erzählen. Meine Welt verläuft nicht geplant, niemals. Planung ist eine Illusion, jedenfalls für jemanden wie mich. Für andere mag es anders sein. Der Kursrutsch an der Börse könnte geplant sein, aber nicht von Leuten wie mir. Seit Wochen rutschen die Aktien, zuerst ist die High-Tech-Blase geplatzt, okay, das war überfällig. Ich habe meine Kunden vor den Folgen bewahrt, wir sind rechtzeitig ausgestiegen. Aber jetzt? Die Blue Chips rutschen in den Keller, obwohl die Daten gut sind … dazu diese Schwere in der Luft, diese bleierne Schwere, als würde etwas Schlimmes bevorstehen … spüren Sie es auch?“
„Nein, ich spüre es nicht. Ich interessiere mich ja auch nicht für die Börse“, entgegnete Mandelbaum süffisant. „Aber haben Sie bemerkt, was dort drüben passiert? Die Maschine, diese identische Maschine, in die niemand eingestiegen ist, von Gate 10, die steht jetzt dort.“ Er wies mit dem Finger aus dem Fenster und Morgan beugte sich vor, um besser zu sehen. Inzwischen war ihre Maschine auf der Startposition, und drüben, auf der zweiten von den beiden Startbahnen, die es auf Bostons Logan Airport gab, stand die gleiche Maschine, eine Boeing 767 der United Airlines, ebenfalls auf der Startposition.
Morgan stutzte, setzte aber seinen Gedanken fort: „Diese Schwere, alle sagen, daß etwas großes geschehen werde, etwas wirklich großes, an der Börse, aber vielleicht nicht nur dort. Vor einer Woche begannen die geheimnisvollen Spekulationen, irgendjemand kaufte Put Options, damit spekuliert man auf fallende Kurse, wissen Sie, Put Options von Goldmann Sachs, okay, warum sollten die nicht fallen? Die Kollegen werden sich verspekuliert haben, dachte ich, dann Morgan Stanley, okay, dann die Fluggesellschaften, American Airlines, United Airlines, wir sitzen gerade in einer Maschine von United Airlines, und dort drüben startet gleich mit uns eine unbesetzte United Airlines Boeing, dann der große Schreck: vor drei Tagen setzten irgendwelche geheimnisvollen Insider Put Options gegen Merryll Lynch, meine Company, wissen Sie, da weiß ich was los ist: wir sind gesund, warum sollten unsere Aktien fallen? Warum nur?“

Die Triebwerke heulten auf, und die schwere Boeing setzte sich in Bewegung. Morgan lehnte sich zurück und schloß die Augen. Die Boeing gewann Fahrt, der Schub steigerte sich noch und drückte die Passagiere in die Sitze. Dann hob sich die Spitze und das laute Rollen der Räder auf der Startbahn erstarb, die Boeing flog. Morgan dachte an seine Frau. An die kommenden Tage, die viel Ungewisses bringen würden. An Sarah, deren Geruch er noch in der Nase spürte, obwohl er sich jedesmal sehr gründlich duschte, wenn er fremdgegangen war… Morgan nahm sein Handy heraus und schaltete es an. Besser, seine Frau könne ihn erreichen.
„Wenn es Ihren Aktien so ergeht wie der Boeing dort drüben…“, hob Mandelbaum schmunzelnd an. Morgan blinzelte, dann sah er wieder aus dem Fenster. Keine Boeing. Er beugte sich vor. Dort unten flog die andere Boeing. Sie war schnell, hielt mit ihrer mit, aber sie stieg nicht, sondern raste im Tiefflug über die Landschaft.
„Wissen Sie, ich bin ein russischer Emigrant, ein Jude, der in dem Land der Freiheit seinen Unterschlupf gefunden hat. Ich genieße dieses Land, seinen unmäßigen Luxus, seine Freizügigkeit, seine Intellektualität, die zwar nicht wirklich Teil der amerikanischen Kultur ist, aber trotzdem blüht … auch Einstein ist hier untergeschlüpft, als er in Not geriet … es ist eigentlich wie überall, nur daß die Gegensätze noch extremer sind, ein Land, in dem ein Schurke wie Bush sich an die Regierung tricksen kann, und ein Genie wie Feynman Professor wird und den Nobelpreis bekommt. Ein sehr kontrastreiches Land.“
„Ja, sehr kontrastreich. Als ich mich entschieden habe, daß Geld mein Beruf wird, habe ich mir nicht vorstellen können, wie dieser Bereich boomen wird. Wissen Sie, daß weltweit drei Viertel der Geldflüsse nicht mit Handel oder wirtschaftlicher Produktivität zu tun haben, sondern nur mit Spekulationen? Wenn alle Menschen gleich viel umsetzten, was sie natürlich nicht tun, zum Glück nicht, dann hieße das: einer arbeitet, und drei zocken im Internet, kaufen und verkaufen Wertpapiere. Globalisierung bedeutet Vernetzung, alles hängt zusammen. Wenn Greenspan hüstelt, verhungern eine Million Kinder, Nero war ein unschuldiges Kind verglichen mit Greenspan. Das neue Rom macht die Welt zum Mittelmeer: aber was passiert, wenn alle Kolonien ausgebeutet sind? Das ist unsere Weltwirtschaft. Wir stoßen an die endgültigen Grenzen vor, das Ende dieser Expansion ist in Sichtweite. Haben Sie darüber einmal nachgedacht?“
„Nein, ich denke lieber über ernsthafte Themen nach … den Aufbau der Welt, nicht der Ökonomie, wenngleich … es scheinen sich Parallelen aufzutun. Der illusorische Charakter, wissen Sie…“, Mandelbaum schneuzte sich, „der illusorische Charakter muß sich ja in allen Phänomenen der Welt spiegeln, denn er ist ja die Grundlage. Ich habe mit Wheeler gearbeitet…“
„John Wheeler, dem Physiker?“,
„Ja, natürlich, ich sagte Ihnen doch, ich beschäftige mich mit Quantenmechanik … wir haben uns auch mit den philosophischen Konsequenzen beschäftigt, mit der Frage, ob wir freie Entscheidungen treffen können, oder ob alles vorher bestimmt ist…“
„Und? Zu welchem Ergebnis sind Sie gelangt?“
„Natürlich, daß wir freie Entscheidungen treffen. Wo kämen wir sonst hin? Was würde aus unseren wissenschaftlichen Verdiensten?“ Diese Selbstironie freute Morgan; es war ein schöner Kontrast zur Borniertheit seiner Kollegen.
„Und die Bestimmtheit? Wie sehen Sie die?“
„Natürlich ist alles vorherbestimmt.“
„Aber die Welt ist doch stochastisch, chaotisch sogar … woraus leiten Sie die Vorherbestimmtheit ab?“
„Natürlich ist die Welt chaotisch, das haben wir ja heute Morgen erlebt … nein, das spielt keine Rolle. Die Vorherbestimmtheit leitet sich nicht aus dem Determinismus der Prozesse ab, sie folgt aus der Struktur der Zeit.“
„Der Zeit?“
„Ja, der Zeit. Wenn die Zeit, wie wir sie erleben, eine Illusion ist, wenn sie in der Realität eine Koordinate ist, auf der Sie in jeder Richtung reisen können, unter Einbeziehung von alternativen Entwicklungen ein vieldimensionaler Raum, dann ist die gesamte Wirklichkeit auf dieser Koordinate abgebildet, und es steht alles in dieser Raumzeit geschrieben. Was der Sprecher nicht weiß, die Sprache weiß es: anstelle von „it is destiny“ sagt man auch „it is written“. Als hätte die englische Sprache das Wissen der modernen Physik.“
„Lohnt sich so ein Leben? Ich meine: wie fühlen Sie sich, wenn Sie nur den Straßenbahnschienen folgen?“
„Ich muß ihnen ja nicht folgen. Es gibt ja Entscheidungen.“
„Und was bewirken die?“
„Jede Entscheidung spaltet die Welt. Die eine Entscheidung geht den einen Weg, den anderen verfolgt die Alternative – in einer anderen Welt, für immer getrennt. Wenn Sie eine falsche Entscheidung treffen, oder eine, die Sie dafür halten, treffen Sie immer auch die richtige. Nur, daß der Morgan, der die vermeintlich richtige getroffen hat, in einer anderen Welt weiterlebt.“
„Ich muß oft Entscheidungen treffen, wissen Sie, in meinem Beruf … da gäbe es aber viele Peter Morgans.“
„Ja, fast unendlich viele. Das zumindest folgern einige Kollegen von mir, ich selbst auch, aus der Theorie von Hugh Everett, publiziert 1957. Everett benötigte nur 13 Seiten, um den Ph.D. zu erlangen, 13 Seiten…“
„auf denen er dargelegt hat, daß es unendlich viele Welten gibt.“
„Nein, das hat er nicht, aber es folgt aus seiner Theorie. Ihm selbst war diese Konsequenz nicht wichtig. Haben Sie „Run, Lola, run!“ gesehen? Ein phantastischer Film! Ein Drogendealer verliert seinen Stoff und muß das Geld dafür beschaffen, sonst wird er umgebracht. Seine Freundin hilft ihm – sie hat drei Versuche, einmal ist am Ende sie tot, einmal ihr Freund, beim dritten Mal gibt es ein Happy End. Die Abläufe der drei Varianten unterscheiden sich anfangs nur minimal, was wir den Schmetterlingseffekt nennen. In der Folge entscheiden diese minimalen Abweichungen über Leben und Tod. Ein Film, wie er auf unseren quantentheoretischen Kolloquien ersonnen worden sein könnte. Meine Studenten und ich treffen sich manchmal, im Anschluß an die Arbeit, am Kaminfeuer, und lassen der Phantasie freien Lauf. Da kommen auch solche verrückten Dinge heraus.“ Mandelbaum strahlte.
„Ja, ich habe den Film gesehen. Die Hauptrolle spielt Franka Potente – welch ein Name! Sie haben recht, eine beeindruckende Story. Überhaupt ist es selten, daß wir einmal einen deutschen Film in die Kinos bekommen. Machen die mehr von der Qualität?“
„Es ist wohl eher so wie bei uns…“
„Ich habe Everett einmal kennengelernt, es ist lange her. Er war gerade als strategischer Planer in das Pentagon gewechselt und hielt einen Vortrag über das Wesen von Strategien und Entscheidungen, und ich als junger Ökonom habe mir das angetan.“
„Haben Sie etwas gelernt?“
„Nicht wirklich, sonst säße ich jetzt nicht hier… gestern war ich in New York im World Trade Center, in unserem Stammsitz, für heute war eine Konferenz angesetzt, die ohne Begründung abgeblasen wurde. Ich wollte mich dann mit Freunden von Morgan Stanley und Goldmann Sachs treffen, die sind zwar Konkurrenz, aber man sieht sich und tauscht Gedanken aus, wir sitzen ja alle in einem Boot, gerade in solchen Zeiten, die hatten für heute alle Termine storniert, die Chefs haben Betriebsausflüge angekündigt; wer nicht mitfahren wollte, bekam Hausverbot. Mein Chef hat darauf geachtet, daß auch die Sekretärinnen sich den Tag freinahmen. Einige haben dann Urlaub genommen, und ich bin weiter nach Boston, habe die Zeit für Unterredungen dort genutzt, und am Abend habe ich mich mit einer Kollegin von früher getroffen.“
„Die Sie immer noch lieben. Ich sehe es Ihnen an.“
„Ja, es war schön, aber nicht richtig. Ich hätte nach Haus fliegen sollen, gleich gestern Abend.“
„Tja, Herr Kollege, ich bin über diese Art von Verwirrung hinausgewachsen, irgendwann ist man dafür zu alt. Aber eine Entscheidung von fragwürdiger Qualität habe ich auch zu vertreten. Man hatte mich gebeten, auf der Konferenz in Boston eine Session zu leiten. Warum habe ich zugesagt? Aus Eitelkeit? Aus Langeweile? Ich wußte eigentlich, daß die Konferenz sich nicht lohnen wird. Kein Einstein, kein Feynman. Traurig, wie wenig die Physik heute leistet. Hätte ich auf mich gehört, säße ich jetzt zu Hause auf der Terrasse und würde geruhsam in der Sonne frühstücken.“
„Sehen Sie, bitte sehen Sie!“, Morgan wies auf das Fenster. Eine andere Maschine, vom Typ auch eine große Boeing, flog in unheimlicher Nähe neben ihnen her. Sie trug ein Emblem der American Airlines. „Was soll das nur werden? Haben Sie so etwas schon erlebt?“
Mandelbaum sah hinaus. „Die können ja präzise fliegen, sehen Sie nur. Der Abstand beträgt ja kaum 200 Meter. Aber was hat das zu bedeuten?“
„Ein denkwürdiger Tag. Ich weiß es nicht.“

Plötzlich drehte die Maschine ab und verschwand aus dem Blickfeld. Morgan und Mandelbaum hatten sich gerade beruhigt, da ging ihr Flugzeug in Sinkflug über, so schnell, daß sie sich für einen Augenblick schwerelos fühlten. Die Nase der Maschine wies steil nach unten. Die anderen Passagiere schrien auf. Sogar die Stewardessen blickten entsetzt. Mandelbaum sah aus dem Fenster. Ohne etwas zu sagen, wies er mit dem Zeigefinger hinaus. Dort war die Boeing, die parallel mit ihrer am Logan Airport in Boston gestartet war, und stieg steil nach oben. Der Schriftzug „United Airlines“ prangte am Rumpf, dann flog sie vor die Sonne, so daß man nur noch den dunklen Umriß erkennen konnte, und verschwand aus dem Blickfeld. Der Boden kam schnell näher und die Maschine der beiden ging mit unverminderter Geschwindigkeit in den Tiefflug über, wodurch die Passagiere in ihre Sitze gepreßt wurden; darauf flog sie in eine scharfe Rechtskurve und setzte den Flug in nordwestlicher Richtung fort.
Morgan sprach jetzt nur noch halblaut zu Mandelbaum: „Jetzt fliegen wir unter allen Radarüberwachungen unterdurch, so wie bisher die andere Boeing. Ich habe gestern in Boston auch mit meinem Schwager gesprochen; er ist bei der US Airforce. Er hat mir etwas verraten, was ich unter keinen Umständen erzählen darf. Ich sage es Ihnen jetzt trotzdem. Für heute, den 11. September, hat die US Airforce eine Übung angesetzt. Alle Militärmaschinen sind in der Luft. Man übt für ein Terrorszenario: vier Flugzeuge werden von Islamisten entführt und zwei davon in das World Trade Center gelenkt. Die zwei weiteren Maschinen werden in andere Ziele geführt. Ein verrücktes Szenario, mein Schwager konnte keinen Sinn darin entdecken. Laien am Steuerknüppel könnten solche Ziele nicht treffen, sagte er, und Piloten würden die Befehle nicht ausführen. Es kann also nur ein politisch gemeintes Experiment sein. Was sie wohl ebenfalls üben, ist die externe Steuerung: alle Boeings haben, so sagt er, die Option der Fernsteuerung: sie können von einer Militärmaschine über einen Geheimcode übernommen, auch für neue Ziele programmiert werden, damit sie im Falle einer Entführung sicher landen. Alles geschieht dann vollautomatisch; der Pilot der Verkehrsmaschine oder ein Entführer an seiner Stelle haben dann keine Kontrolle mehr.“
„Sie sagen mir also, wenn ich zusammenfassen darf, daß wir jetzt Teil einer militärischen Übung geworden sind.“ Mandelbaum blieb unerschütterlich.
„So scheint es. Es gibt nur eine Unstimmigkeit, etwas, was nicht zu dem Charakter der Übung paßt.“
„Und das wäre?“
„Die Put Options, die Spekulation auf die fallenden Kurse, die wir seit einigen Tagen beobachten, betreffen neben den beiden Airlines nur Firmen, deren Stammsitz im World Trade Center liegt.“
„Und die heute Betriebsausflüge machen.“
Morgan nickte. „Bei uns, bei Meryll Lynch, kenne ich die Verhältnisse genauer: unser Boss hat sich vorgestern spontan für den Betriebsausflug entschieden, verbindlich für alle Mitarbeiter. Wenige Minuten vorher hatte er eine Unterredung mit einem Bekannten beendet, der ihn monatlich aufsucht, zum allgemeinen Gedankenaustausch und für strategische Analysen.“
„Der hat ihm wohl dazu geraten. Vielleicht hat er auch von der Übung gehört, und etwas in den falschen Hals bekommen?“
„Das glaube ich kaum.“ Morgan zögerte. „Der Mann ist vom Mossad.“
Das Flugzeug flog jetzt in ungefähr einhundert Meter Höhe über eine Waldlandschaft, mit unverminderter Geschwindigkeit, die Baumwipfel rasten unter der Maschine hinweg, viel schneller als bei einem Landeanflug. Die Passagiere verharrten wie gebannt; lange Zeit sprach niemand.
„Wir fliegen nach Nordwesten“, sagte dann einer von ihnen, „nach Nordwesten. Gleich sind wir in Kanada.“ Der Mann blickte hilfesuchend zu Morgan und Mandelbaum herüber. „Entschuldigen Sie, LeBlanc, Professor LeBlanc, New Hampshire. Ich bin Geograph, verstehen Sie, mich kann man nicht täuschen, nicht in solchen Dingen. Sehen Sie nach rechts, dort kommt bald die Hudson Bay. Vor uns liegt nur noch Wald. Was wollen die dort? Warum fliegen wir diesen Kurs?“
„Wir werden es bald erfahren“, meinte Morgan.
Rechts im Fenster war ein Jäger zu erkennen. Er kam schnell näher. Zwei Piloten saßen darin, der eine lenkte, der andere sah konzentriert auf seine Instrumente, gelegentlich auch zur Boeing herüber. Morgan beschlich ein unheimliches Gefühl: dieser Mann führte ihr Flugzeug, nicht ihr Pilot vorne im Cockpit. Der Copilot im Jagdflugzeug hantierte wieder an seinen Geräten und die Boeing wurde abrupt langsamer. Sie fuhr die Landeklappen aus und sackte ein Stück ab. Nun flog sie so langsam wie bei einem Landeanflug. Die Baumwipfel kamen näher, dann setzte die Maschine auf. Die Triebwerke heulten, als die Schubumkehr einsetzte und das Flugzeug ungewohnt stark abbremste. Die Passagiere sahen sich verdutzt um; man sah nicht viel von der Piste unter der Maschine; überall waren Bäume, als wären sie mitten im Wald gelandet.

Der Pilot kam mit hochrotem Kopf aus dem Cockpit und sprach laut zu den Passagieren: „Verehrte Fluggäste, wir haben eine außerplanmäßige Landung vorgenommen. Ich habe von der Airforce eine Anweisung erhalten: Wir sollen zu einer Sicherheitsüberprüfung aus der Maschine aussteigen. Sie können ihr Gepäck an Bord lassen, es wird nicht lange dauern.“ Von außen wurde eine Treppe an die Maschine herangerollt und der vordere Ausstieg geöffnet. Soldaten betraten die Maschine und forderten alle zum Verlassen auf. Unschlüssig erhoben sich die Fluggäste und verließen über die Treppe das Flugzeug. Draußen standen viele schwer bewaffnete Soldaten und bildeten eine schmale Gasse, in der die Passagiere zu einer grauen Halle geführt wurden. Auf dem kleinen Rollfeld stand eine zweite große Boeing, ebenfalls eine 767, aber von der American Airlines. War es die Maschine, der sie unterwegs begegnet sind?
„Jetzt möchte man sich wegbeamen, nicht wahr, Herr Professor?“, meinte Morgan aufmunternd.
„Ja, durch ein Wurmloch, wie mein Kollege aus Cambridge es vorschlägt, den mit dem Rollstuhl meine ich.“
„Ja, vielleicht.“
„Ein Wurmloch führt sie aber weit weg, sehr, sehr weit. Obwohl … wenn ich so leben müßte wie der verehrte Kollege, würde ich mir vielleicht auch Wurmlöcher ausdenken.“
Sie gingen in die große kahle Halle. Einige versuchten, mit ihren Handys zu telefonieren, hatten aber keinen Empfang. „Hier ist weit und breit nichts“, sagte LeBlanc, „hier ist der Hund begraben.“ Unschlüssig standen sie in der Halle und warteten. Auch die Piloten und die Stewardessen waren dabei, genauso wenig informiert, genauso ratlos wie sie alle.
„Wie geht es jetzt wohl weiter?“, fragte Morgan, mehr zu sich selbst.
„Alle Optionen“, sagte Mandelbaum, „wir alle sind Schrödingers Katzen. Immer.“
„Dann wollen wir mal hoffen, daß keiner nachschaut, wie es uns geht“, antwortete Morgan bitter. Sein Handy klingelte. Mandelbaum sah ihn an. Morgan erwiderte den Blick, aber er nahm das Handy heraus. „Es ist ein Satellitenhandy“, erklärte er, „das empfängt auch am Nordpol.“ Er drückte die Taste.
„Hi Pete“, tönte eine Frauenstimme, so laut, daß es Mandelbaum auch hören konnte. „Wie geht es Dir? Wo bist Du? Ich habe mir solche Sorgen gemacht! Ich habe dich nicht erreichen können, verstehe überhaupt nicht, warum nicht!“
„Hi Silvia. Es ist alles gut. Wir sind außerplanmäßig gelandet, für einen Security-Check. Bald fliegen wir weiter.“
„Oh Pete!“, rief Silvia, „du weißt also gar nicht, was alles passiert ist. Es sind zwei Flugzeuge in das World Trade Center gerast, ich hatte solche Angst um dich, denn du wolltest doch da in einer Besprechung sein, dann habe ich überall herumtelefoniert und erfahren, daß du in Boston bist, dann hat mir die Sekretärin in Boston gesagt, daß du schon im Flugzeug bist, United Airlines 175, hat sie gesagt, ich war sehr erleichtert, bis in den Nachrichten gesagt wurde, daß genau die Maschine als zweite in das World Trade Center geflogen ist. Und jetzt bist du doch da. Ich verstehe das alles nicht.“
„Es ist alles nur eine Übung, beruhige Dich … offensichtlich auch eine Zivilschutzübung, die Nachrichten stimmen nicht, es wird alles bald geklärt…“
„Nein, es ist wahr, ich habe es im Fernsehen gesehen, wie die Maschinen da hineinfliegen, die Türme sind danach eingestürzt“,
„Das ist gar nicht möglich. Das muß ein Trickfilm sein“,
„Aber ich habe mit Paul telefoniert, deinem Kollegen, er hat vom Empire State Building aus alles mit angesehen. Pete, es ist alles wahr. Was machen wir nun? Wie kommst du nach Hause?“
„Beruhige dich. Alles wird sich aufklären. Ich bin in Sicherheit. Bis bald, Silvia. Ich liebe dich.“
Morgan steckte das Handy weg.
„Nun, Mr. Morgan? Immer noch alles unter Kontrolle?“
„Nein, gar nichts ist unter Kontrolle. Die Übung ist Wirklichkeit geworden: das World Trade Center existiert nicht mehr.“
„Und nach den offiziellen Meldungen saßen wir in der Maschine, die anstelle der unbesetzten Boeing dort hineingeflogen ist?“
„Ja.“
„Dann wird man uns jetzt, um es vorsichtig auszudrücken, nicht mehr benötigen.“
Morgan nickte. Das Hallentor wurde geöffnet. Bewaffnete Soldaten kamen herein. „Guten Tag. Sie werden jetzt einem Security-Check unterzogen. Bitte alle mit dem Anfangsbuchstaben A bis D vortreten!“
Die Passagiere sahen sich ratlos um, die betreffenden gingen zögernd nach vorn und wurden aus der Halle geführt. Es hallte lange nach, als das schwere Tor ins Schloß geworfen wurde. Die verbliebenen Menschen schwiegen betreten. Morgan lehnte unmerklich seinen Kopf an eine Stahltür und lauschte. Dann ging er zu Mandelbaum.
„Nun, was haben Sie interessantes gehört, Mr. Morgan?“, versuchte Mandelbaum die Fassung zu bewahren.
„Maschinengewehrfeuer, Herr Professor“, antwortete Morgan leise.
Wieder wurde das Tor aufgerissen. „Jetzt alle mit den Anfangsbuchstaben E bis M, vortreten und mitkommen!“ Nun war der Ton scharf.
„Denken Sie an den Pete Morgan, der gestern Abend nach Hause geflogen ist, verehrter Kollege, und ich denke an den Professor Samuel Mandelbaum, der sich die langweilige Konferenz in Boston geschenkt hat. Und wir beide treffen uns gleich in L.A. unten am Hafen im Eiscafé. Bitte lachen Sie nicht, auch das ist Wirklichkeit. Alles ist Wirklichkeit, was möglich ist. Bis bald, Peter Morgan!“

 

Hallo,

Nein, ich denke lieber über ernsthafte Themen nach
Das ist toll, wirklich ein spannender Dialog.

Der Text ist gelungen, ich hab ihn konzentriert gelesen und sehr interessiert. Es ist natürlich eine fast schon dronenhafte Gelassenheit in dieser Geschichte, als hätte man den Passagieren irgendwas in die Atemversorgung gemischt. Von Panik ist da keine Spur zu erkennen; die Leute benehmen sich für mich auch eher wie in einem fin de siecle-Text, der 100 Jahre zuvor verfasst sein könnte. Also die menschliche Komponente geht dem Text schon deutlich ab. Das Verschwörungsszenario … ja. Es wird in viele Richtungen angedeutet, in dem speziellen Fall des 11. Septembers interessiert mich das nicht genug, um da wirklich mitreden zu können.
Warum man Morgan aber unbehelligt telefonieren lässt, ist mir nicht ganz klar.

Die Figuren machen schon wirklich den Eindruck von Dronen, also dass man sie da einfach irgendwo hinsperren kann, dass auch Soldaten einfach so eine Anweisung ausführen … mäh, also das schränkt die Geschichte in dieser gespenstischen Wirkung keinesfalls ein, aber lässt den Text doch eher wie ein theoretisches Konstrukt als wie eine echte Geschichte wirken. Es wird dadurch ein Entfremdungseffekt erzielt, der es dem Leser erlaubt, sich auf die Gedanken der zwei Figuren einzulassen, raubt dem Text aber viel von einer möglichen emotionalen Wirkung, was ich gar nicht schlecht finde, denn wenn es bei dem Thema eins genug gibt, sind das Emotionen.

Zwei Stellen fand ich besonders gelungen, einmal das, was ich zitiert habe, was stellvertrend für einen wirklich interessanten, wenn auch manchmal etwas blutarmen und gestellten Dialog stehen kann. Und zum anderen, ganz vom Beginn, die Araber die Grafanen vor der Sicherheitskamera machen. Die Lola-rennt-Grundthematik der Geschichte mit Schröders Katze, dem Butterfly-Effekt und dem ganzen Kram, das ist glaube ich die wissenschaftliche Theorie die dem einfachen Menschen nun so oft aufs Butterbrot geschmiert wurde, dass er es wirklich begriffen hat. :) Also ich kann mich an Superheldencomics lange vor Lola rennt erinnern, wo es das schon gab und wo ich das wahnsinnig spannend und toll gefunden hab. Dann taucht das in Star Trek TNG immer wieder auf – und ist da für die besten Folgen zuständig – und eben in einigen Blockbustern auch noch, also ich les es zwar immer wieder gern, die Theorie mit dem Jeder Münzwurf erschafft eine neue Welt, aber … jo, das kannte ich halt jetzt schon und es hätte mich alleine nicht ausreichend beschäftigt.

Ich versuch mal meinen allgemeinen Eindruck in einer Metapher wiederzugeben: Es ist eine sehr gelungene Geschichte für Verstand und Ohren, Herz und Augen bleiben allerdings etwas auf der Strecke hier. Aber abschließend: Es ist eine gelungene Geschichte, sie ist etwas anderes, sie hat etwas Besonderes; und damit hat sie auf dieser Seite hier Seltenheitswert und ich hab sie gern gelesen.

Gruß
Quinn

 

Hallo Quinn,
danke sehr für den Kommentar. Die Emotionalität bleibt völlig im Hintergrund, schleicht nur unterschwellig ein bißchen hervor...so jedenfalls war es meine Absicht. Ich stand vor dem Problem, daß ein Thema der Geschichte: wenn es wahr ist, daß unbemannte Maschinen in das WTC geflogen sind, was geschah dann mit den Passagieren?- so viel Horror in sich trägt, daß es nur durch eine Umkehrung ins emotionslose darstellbar ist. Als gesteigerter Horror, der aus allen Details Entsetzen kreiert, käme sie banal wie ein Hollywoodfilm daher, fast verniedlichend. Deshalb lasse ich am Anfang die eigentliche Handlung im Hintergrund und stelle eine banale lustige nach vorn.

Die vielfach bemühten quantenmechanischen Deutungen, die ja wissenschaftlich barer Unsinn sind, dienen mir nur als Kontrapunkt: beide Handlungen, die Konversation über Physik und Börsengeschehen wie auch die Hintergrundhandlung mit dem Tausch der Flugzeuge im Radarbild, haben etwas mit Illusion zu tun. Deshalb auch der Prolog über Illusionen, nochmal von einer anderen Seite.

Es ist recht kopfig, schon klar. Dieses Grauen in den Vordergrund zu stellen sehe ich mich nicht imstande.

Gruß Set

 

Hallo Set,

da ist Dir eine gute Variation überm "Pool" gelungen. Handelt jener von Wiedergän gern, so schafft der Text hier eine Variante zu den Verschwörungstheorien zu 9/11 und versucht, die amerikanische Elite als das zu zeigen, wie sie eigentlich durch den damaligen US-Präsidenten benannt werden müsste: bushrangers. Ich kann Quinn überwiegend zustimmen. Dennoch irritiert mich ein wenig, dass die Soldaten MGs tragen sollen. Waren es nicht eher MPs, wenn das nicht auch im Prinzip leichte Maschinengewehre sind.

Gruß

Friedel

 

Wie an anderer Stelle richtig festgestellt wurde, bin ich "nachtragend". Hier ein ausführlicherer Nachtrag zu gestern - denn die Kleinkrämerseele hat dann doch noch minimalste Befriedigung gefunden,

lieber Set,

das aber zum Schluss.

Zwo Passagen haben - neben allen eher hypothetischen, gleichwohl gelungenen Schilderungen -mE enormen zeitgeschichtlichen Charakter: da ist das Schicksal Mandelbaums: >„Wissen Sie, ich bin ein russischer Emigrant, ein Jude, der in dem Land der Freiheit seinen Unterschlupf gefunden hat. Ich genieße dieses Land, seinen unmäßigen Luxus, seine Freizügigkeit, seine Intellektualität, die zwar nicht wirklich Teil der amerikanischen Kultur ist, aber trotzdem blüht … auch Einstein ist hier untergeschlüpft, als er in Not geriet … es ist eigentlich wie überall, nur daß die Gegensätze noch extremer sind, ein Land, in dem ein Schurke wie Bush sich an die Regierung tricksen kann, ...< und das sich wie eine Herde Schafe seine Freiheitsrechte einschränken lässt, was einem Juden nach den Erfahrungen in totalitären Gesellschaften sehr unangenehm aufstoßen muss und am Ende der Geschichte seine Bestätigung findet. Das erinnert mich stark an Adornos u. a. Studien zum autoritären Charakter, in dem selbst für die USA autoritäre/faschistische Tendenzen nachgewiesen wurden, die wahrscheinlich grundsätzlich mit der Industrialisierung kamen mit der Einrichtung der grundsätzlichen Wehrpflicht und der damit verbundenen Disziplinierung und Anpassung an das Fabriksystem.

Und Morgans berufliche Einlassungen direkt darauf >„ ... Als ich mich entschieden habe, daß Geld mein Beruf wird, habe ich mir nicht vorstellen können, wie dieser Bereich boomen wird. Wissen Sie, daß weltweit drei Viertel der Geldflüsse nicht mit Handel oder wirtschaftlicher Produktivität zu tun haben, sondern nur mit Spekulationen? Wenn alle Menschen gleich viel umsetzten, was sie natürlich nicht tun, zum Glück nicht, dann hieße das: einer arbeitet, und drei zocken im Internet, kaufen und verkaufen Wertpapiere. Globalisierung bedeutet Vernetzung, alles hängt zusammen. Wenn Greenspan hüstelt, verhungern eine Million Kinder, Nero war ein unschuldiges Kind verglichen mit Greenspan. Das neue Rom macht die Welt zum Mittelmeer: aber was passiert, wenn alle Kolonien ausgebeutet sind? Das ist unsere Weltwirtschaft. Wir stoßen an die endgültigen Grenzen vor, das Ende dieser Expansion ist in Sichtweite. Haben Sie darüber einmal nachgedacht?“<, eine Frage, die natürlich an uns alle gerichtet ist und uns eigentlich ängstigen müsste, steht doch nach den Erfahrungen der gegenwärtigen Krise (Höhepunkt, Ironie der Geschichte, "9/15" des vergangenen Jahres, Dowdy lässt grüßen) nach dem Verhalten der Finanzbranche eine Wiederholung an - dann allerdings als Treppenwitz.

Mir sind drei Schnitzer - bei sieben Manuskriptseiten eigentlich gar nix - aufgefallen:

Nachdem Wheelers Name gefallen ist
>"ja, natürlich, ..."<
"Ja"

Nach der Anekdote über Hawkins >„Wie geht es jetzt wohl weiter?“KOMMA fragte Morgan, mehr zu sich selbst.<

Im Gespräch der Morgans
>„ ..., die Türme sind danach eingestürzt“,
„Das ist gar nicht möglich. Das muß ein Trickfilm sein“,
„aber ich habe mit Paul telefoniert, deinem Kollegen, er hat vom Empire State Building aus alles mit angesehen. ...“
"Aber"

Gruß

Friedel

 

Hallo Frieel,

freut, mich daß Dir die Aus- oder Einlassungen gefallen. Ich sage ja nicht, daß hier die Ansichten des Autors wiedergegeben werden, aber ein bißchen schimmern sie schon durch. Eigentlich soll das alles ja nur ein bunter illusionärer Vorhang sein, hinter dem eine weitere Illusion abläuft und der zum Schluß eine Handbreit geöffnet wird. Da wird dann etwas sichtbar, eine von einem Dutzend kolportierter Varianten, wie es gewesen sein könnte, die alle unwahrscheinlich klingen und von denen die meisten glaubwürdiger sind als das, was die Nachrichten erzählt haben.

Bei dem Maschinengewehr sieht man, wer gedient hat und wer nicht, auch nach 35 Jahren noch. Ich werde mich weiterbilden und nachbessern, auch das andere. Vielen Dank für die Arbeit!

Gruß Set

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Set,

Quinn hat es dronenhaft genannt und das finde ich ein gutes Wort für den Umgang deiner Protagonnisten. Deine Begründung, weswegen du die Emotionalität außen vorgelassen hast, finde ich auch gut, allerdings fehlt sie mir dennoch im Text. All die interessanten Gedanken und die Spannung, die sich allmählich hochkitzelt, ja, das gefiel,gefiel vor allem, weil ich lange Zeit keinen Schimmer hatte, worauf die Geschichte hinaus laufen will.
Allerdings bin ich auch nie so richtig eingetaucht, weil dieses dronenhafte mich eben auch wie ein Drone hat mitfliegen lassen, aber eben nicht mitfühlen lassen.
Das Ende hat trotzdem Wucht, hat mich echt einen langen Moment beschäftigt, aber da wäre in meinen Augen dennoch mehr drin gewesen.
So sind mir die Dialoge etwas zu statisch und insgesamt zu ausschweifig. Interessant, aber ein Hauch zu lang- bzw fehlt da irgendein Gegengewicht.
Am Ende finde ich es recht plump gelöst, dass dein Prot telefonieren darf und er das Salvenfeuer durchs Tor hört. Spätestens hier wäre die Panik vorprogrammiert. Klar, ist ein Trick des Autors, wüsste auch nicht, wie du dem Leser das Szenario anders unterjubeln könntest, aber das hinkt trotzdem etwas.

Aber - das soll nicht nur in einem Nebensatz erwähnt sein - ich habe die Geschichte gerne gelesen. Sie hat auf recht hohem Niveau unterhalten und glatt ein bisschen schockiert.

grüßlichst
weltenläufer

 

>Bei dem Maschinengewehr sieht man, wer gedient hat und wer nicht, auch nach 35 Jahren noch.<

Wie, Du hast gedient,

Set,

ich nicht (seh's auch nicht als Benachteiligung an). Aber wg. des Details da solltestu doch nachschau'n.

Gruß

Friedel

 

Hallo Weltenläufer,

Am Ende finde ich es recht plump gelöst, dass dein Prot telefonieren darf und er das Salvenfeuer durchs Tor hört. Spätestens hier wäre die Panik vorprogrammiert. Klar, ist ein Trick des Autors, wüsste auch nicht, wie du dem Leser das Szenario anders unterjubeln könntest, aber das hinkt trotzdem etwas.

Irgendwann muß er ja telefonieren; ich habe es hierhin gelegt. Ich gehe einfach davon aus, dass nur sehr wenige Menschen Satellitenhandys besitzen und man damit nicht rechnet. Für Panik sehe ich gerade in dieser Szene keinen Platz, eher vorher im Flugzeug: die vielen Passagiere registrieren ja nicht, was vorgeht, und für die Prot. gilt, was auch in vielen Überlieferungen aus Konzentrationslagern beschrieben wird: wenn das Entsetzen groß genug ist, wird der Mensch wieder sehr gefaßt.

Über die Statik denke ich noch nach.


hallo Friedel,

natürlich habe ich nicht gedient, jedenfalls nicht mit Maschinen- oder Sturmgewehr; mir geht es hier nur um die mangelnde Genauigkeit der Kenntnisse in Waffenkunde, die mir früher schon angekreidet wurde. Jetzt habe ich nachgelesen und bleibe bei Maschinengewehren: der Unterschied zur Maschinenpistole liegt nicht darin, daß letztere tragbar und ohne Stativ einsetzbar ist, sondern in der leichten Pistolenmuniton der Maschinenpistole. Sie ist demnach mehr für Polizisten und Bankräuber geeignet als für Soldaten.
Eine Alternative wäre noch der Begriff "Schnellfeuergewehre". Der Begriff kommt mir vor wie der "Eilzug": wer läuft heute noch mit einer Waffe herum, die langsam feuert?


Grüße an beide,

Set

 

Sag nicht: „Ich habe die Wahrheit gefunden“,
sondern lieber: „Ich habe eine Wahrheit gefunden“.
(Khalil Gibran)

Hallo Setmenides,
deine Geschichte, gut gebaut und gut erzählt, wirft den Leser hinaus ins Nirgendwo, wo er herumstrudelt, dass ihm Sinne und Sinn vergehen. Nimmt man den Möglichkeitssinn als Tatsächlichkeit, wird alles möglich, sogar das Leben.
Donald Rumsfeld stellte schon fest. „Reports that say that something hasn't happened are always interesting to me, because as we know, there are known knowns; there are things we know we know. We also know there are known unknowns; that is to say we know there are some things we do not know. But there are also unknown unknowns -- the ones we don't know we don't know. And if one looks throughout the history of our country and other free countries, it is the latter category that tend to be the difficult ones.“
Und Musil schreibt im Mann ohne Eigenschaften dazu:
Wenn es aber Wirklichkeitssinn gibt, und niemand wird bezweifeln, daß er seine Daseinsberechtigung hat, dann muß es auch etwas geben, das man Möglichkeitssinn nennen kann. Wer ihn besitzt, sagt beispielsweise nicht: Hier ist dies oder das geschehen, wird geschehen, muß geschehen; sondern er erfindet: Hier könnte, sollte oder müßte geschehn; und wenn man ihm von irgend etwas erklärt, daß es so sei, wie es sei, dann denkt er: Nun, es könnte wahrscheinlich auch anders sein. So ließe sich der Möglichkeitssinn geradezu als die Fähigkeit definieren, alles, was ebensogut sein könnte, zu denken und das, was ist, nicht wichtiger zu nehmen als das, was nicht ist.
Warum werden die Menschen in deinem Text am Schluss erschossen? Findet hier der Möglichkeitssinn nicht mehr ein und aus und wird zum Wirklichkeitsinn?
Wie müsste es sonst aussehen, dieses Ende? So ist es eindeutig. Das kann nicht sein. Und wenn es eindeutig wird, wird es zu einer Glaubenssache. Der GLaube erleichtert unser Leben, weil wir uns um das Seeleheil nicht mehr kümmern müssen.
Das Thema ist noch nicht zu Ende, Setmenides.
Eine schöne und spannende Geschichte, fürwahr.
Fröhliche Grüße
Wilhelm

 

Danke, Wilhelm, für diesen Rekurs auf meine alte Geschichte. Dein Kommentar trifft, was ich meine, es geht um die vielen möglichen Wirklichkeiten, von denen die offiziell verkündete nur die Eigenschaft hat, aufgrund logischer Brüche weniger wahrscheinlich zu sein als andere. Warum werden sie erschossen? Literarisch wäre es vielleicht stärker, das Ende offen zu lassen. Politisch muss hier eine Antwort her, denn wo bleiben all die Passagiere, die man nie wieder sieht, von Maschinen, die angeblich irgendwo zerschellt sind? Denke nur an den Verbleib der Passagiere der Maschine, die in Smolensk abgestürzt ist, ohne Gepäck, ohne Bestuhlung, ohne Leichen. Hier musste für mich eine Antwort her, aber, wie gesagt, ein offenes Ende wäre spannender.

Danke und Gruß

Set

 

Letzte Empfehlungen

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom