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Nix da!

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12.04.2007
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Nix da!

"Children, don't do what I have done
I couldn't walk and I tried to run"​

„Nix da!“, sagte der in der Mitte zum Mann zur Linken, schüttelte den Kopf so wenig er konnte und war schon wieder in den halb schlafenden, teils wachen, kurz: den dösenden Zustand zurückgefallen.

Heut noch stehn in dem Garten auf der steil sich hebenden, gleichwohl niedrigen Kuppe westlich der Mauern der allzu irdischen Stadt alte Ölbäume, von denen drei bereits vor Zeiten geblüht haben müssen, da an ihnen je zwo uralte Querhölzer am Stamm angebracht sind – einer nur ein wenig überm Boden als „Ständer“ und weniger als ein Meter darüber der „Sitz“. Frage sich kein bequemer Sesselfurzer, was es an einem Baum zu stehen oder zu sitzen gebe!

Nun, das weitausladende Geäst dieser drei Bäume hatte dazu eingeladen, den blühenden Garten auch anderweitig als nur landwirtschaftlich zu nutzen und zur Hinrichtungsstätte des nahen Ortes umzuwidmen - was eine doppelte Rationalisierung bedeutete. Zum einen sparte man von nun an mit jeder Hinrichtung das Marterholz ein, andererseits erließ man Geistlichen die Peinlichkeit, an Übeltätern Hand anlegen zu müssen zur Letzten Ölung, fand die doch nunmehr auf quasi natürliche Weise am und durch den Baum statt, nachdem er einmal geweiht und gesegnet war – denn auch das übelste Pack gab sich durchaus rechtgläubig und hatte somit bei seinem letzten Gang ein Anrecht auf geistlichen Beistand, Trost und Vollzug des Ritus.

Bliebe noch mitzuteilen, dass dieser Ort den Namen „Schädelhöhe“ erhielt, nicht wegen der neuerworbenen Funktion, da wäre er „Galgenberg“ genannt worden, sondern – eine Ironie der Naturgeschichte - wegen der Form der Kuppe, die noch heute von Weitem betrachtet an einen menschlichen Schädel erinnert.

Wer die Geschichte kennt, wird darum schwerlich diese Stätte des Grauens mit dem Ölberg verwechseln, der mit einer Höhe von gut achthundert Metern eine ansehnliche Erhebung östlich der Stadt abgibt. Blühten auf der Westseite des Berges die Namen spendenden Bäume,
so liegt der Wüste zugewandt ein Friedhof, die am meisten gepflegte Parkanlage von Steingarten weit und breit, denn das Andenken der Verstorbenen wurde höher gehalten und gehandelt als das so mancher lebendigen, aber armen, da verlornen Seele. Zudem hatte die Nekropole mit seinen stummen und friedlichen Bewohnern die Funktion, der sich ausbreitenden Wüste einen Riegel vorzuschieben. Elite und Schriftgelehrte sahen im Ölberg ein Modell der Gesellschaft, wie sie sein sollte.

Diesen Berg hatte sich ein Konzern von Weltgeltung ausgesucht, um dort eine Raffinerie zu errichten, wodurch der Berg zwar seinen Namen beibehielte, wenn auch der Name seine Bedeutung durch das ungenießbare, dort zu reinigende Öl änderte. – War das Vorhaben in der politischen Gemeinde zunächst umstritten, setzte sich nach und nach die wirtschaftliche Vernunft durch - versprach die Industrieanlage doch Beschäftigung und Wohlstand –

womit der Leidensweg Js begann, als es hieß, unterm Asphalt der Fabrik breite die Wüste sich aus. Dem galt, sich zu widersetzen! Dieser J entstammte einer alteingesessenen Familie von Handwerkern, deren ehemals florierende Schreinerei und Holzhandlung durch die große Industrie bedrängt wurde und zu einem Einmannbetrieb verkam, der gerade mal das tägliche Brot der Familie durch kleinere Aufträge abwarf, an denen die Industrie kein Interesse fand.

Obwohl aus der Plebs und prekärer Lage, hatte J sich ein reichhaltiges Wissen erworben über Gott, Welt und allem, was darinnen sei, und gewisse rhetorische Fähigkeiten angeeignet. Das Naturtalent stieg binnen kurzer Zeit zum Führer einer charismatischen Bewegung auf, die gegen die Kommerzialisierung der Gesellschaft wetterte. Eine eher symbolische Aktion sollte am ersten Frühlingsvollmond des Jahres mit der Besetzung des Ölberges stattfinden.

Doch wer ließe sich gern das Geschäft verderben? Um die Bewegung ein für allemal zu vernichten, genügte nach herrschender Meinung, den Kopf der Bewegung auszuschalten. Also nahm man Kontakt auf, versucht’ es zunächst im Guten und bot J eine sichere Führungsposition in der künftigen Raffinerie an mit der Aussicht, im Konzern bei Bewährung aufzusteigen. Worauf der Umworbne gar nicht einging, betrat er doch gerade den Tempel, in dem die Gemeinde der Gläubigen ums Goldne Kalb tanzte, dass es J schüttelte. Dennoch fand er die Kraft, den Muttertieren mitsamt der geleasten Zeugung, dem Handel mit Embryonen wie der Versteigerung von Organen und – zumeist kindlichen - Körpern Einhalt zu gebieten. Als er aber den Betrieb der Genbanken bekrittelte, das Entziffern und Vermarkten des Gencodes über Bibliotheken beklagte wider Leerverkauf von Seelen an der Börse wetterte, sah man die Ordnungsmäßigkeit aller Buchmacherei gefährdet. Da brauchte es nicht mehr der erwarteten Ablehnung des großzügigen Angebotes des Energieriesen, dem eh klar war, dass J nach anderm der Sinn denn nach Macht und Reichtum stünde.

Gegen diese verbohrte Haltung wetterten Kirchengründer und Säulenheilige, nach deren Wort dem Kaiser zu geben wäre, was des Kaisers sei. Selbst Bruder Martin, Papst zu Wittenberg, dozierte, dass „jedermann […] der Gewalt und menschlichen Ordnung untertan [sei], dass er nicht erschlagen werd als irgendein Lump.“ Doch wurde dabei seine Denkschrift „Wider die räuberischen und mörderischen Rotten der Bauern“ nur soweit zitiert, als es den Eliten nützlich erschien: „Solch wunderlich’ Zeiten sind itzt, dass ein Fürst den Himmel mit Blutvergießen verdienen kann bass denn andere durchs Beten“, da selbst des Kohlhaasens Anfrage keine Fürsprache im Doktor erfuhr.

Was soll hier Weiter’s erzählt werden, ohne dass wir uns aufs Niveau des Pöbels herabließen, welcher ein kindlich’, nein, ein kindisches Vergnügen find’t am Elend des andern, was im Schauer und Horror als literarischer Verlängerung öffentlicher - weil angeblich abschreckender - Hinrichtung eine Fortsetzung findet, so lange man selbst nicht betroffen wär?

Als ein kleiner Trupp Fremdlegionäre anrückte, die Besetzung des Ölberges aufzulösen, rang J mit sich selbst: Flucht oder konsequent Bleiben und Konfrontation mit der Staatsmacht. Obwohl nur sechs Leute kamen, die Demonstration aufzulösen - vier Legionäre, ein bewährtes staatliches Mittel von alters her, Fremde einzusetzen, könnten sich doch Rechtsbrecher und Ordnungshüter kennen und verbrüdern -, ein Offizier und der Verräter, der bis gerade noch als der beste Freund Js gegolten hatte und sich nun als V-Mann offenbarte.

Während J blieb, flohen die elf, die mit ihm waren, denn bis auf den Verräter kamen dort ausgebildete und ausgewiesene Handwerker des Todes, die weder fragen, noch fackeln, ob ihr Tun gerechtfertigt wär, die auch nicht – vor wem auch immer - zu Ölberggötzen erstarrten, wie es uns eine spätere Presse glauben machen will.

Also nennen wir nur, dass nach der Festnahme gegen Mittag das Urteil gesprochen und sofort vollzogen wurde mit der Entkleidung und Geiß’lung Js bis auf die Knochen, dass ihm das Gedärm durchgehen musste. Das Volk aber, das ihm zuvor zugejubelt hatte, mutierte zum Mob, jubilierte und applaudierte nun dem Mordsgesind’.

Den Querbalken sollt’ er tragen und war doch zu schwach für einen solchen letzten Gang von nicht mal einer halben Meile. Ahasver weigerte sich, denn niemand könne sein Kreuz per se aussuchen - womit er nicht unrecht hat, was selbst den Legionären einleuchtete: denn den meisten kommt das Kreuz von selbst, um den Leib und den aufrechten Gang niederzudrücken. Dem Simon aber wurd ungefragt des Fremden Querbalken aufgetragen und der trugs Kreuz an dessen statt zur Schädelhöhe.

Hier wurden die Arme Js an den Balken gebunden. Die sonst übliche Nagelung hätte beim Zustand des Mannes ein vorschnelles und somit unerwünschtes Ende des Schauspiels in drei Akten aus Geißeln zum ersten, wahlweise zum zweiten, wie’s die Sachzwänge zu einem ergreifenden und ansehnlichen Schauspiel halt erforderten, Nageln oder Binden und letzlich dem Verreckenlassen zum Unterhalt und zur Belehrung des Publikums erfordert.

"Father, you left me but I never left you
I needed you but you didn't need me"​

Querholz und J wurden am mittleren Ölbaum hochgestemmt. Zwischen den Ästen kam der Balken zu liegen. Söldner rückten J zurecht, dass die Füße auf den Ständer kamen, das geschändete Hinterteil aber zugleich vom Sitz gestützt wurde. Gleiches geschah rechts und links von J, der noch den vom Centurio gebotenen Trunk ablehnte, um dann in den dösenden Zustand zu verfallen, in den hinein der zur Linken fragte, ob ein Gott sei.

J antwortete, dass keiner sei. „Suchte den Vater, ging durch die Welt, stieg zu den Sonnen und flog über Milchstraßen durch den Himmel, aber der ist wüst und leer, bisschen Staub wird aufgewirbelt, sonst ist da nix. Ich rief nach dem Vater und es antwortet’ Stille. Allein die Ewigkeit wie der Augenblick nagen an sich, fressen sich auf. –
Alle sind wir verwaist und allein im starren, stummen Raum, nichts denn schier unendliche Leichengruft“, und schließt nach dieser letzten Rede mit dem „nix da!“, schüttelte den Kopf so wenig er konnte und starrte mit weit aufgerissnem Auge auf einen Futtertrog zu Füßen des Galgens. Am Trog aber stünd’ der Sohn des großen Herodes und hielte mit der einen Hand einen kleinen Balg am dürft’gen Schopf und in der andern ein römisches Kurzschwert. Der spräche dem Kinde: „Wenn Abrams Herz im Leibe weint’ und keinen Trost wollt’ finden, rief’ ich ihm zu, ich wär’ ein Freund, zu tilgen seine Sünden! –
Was jammert dich, klein’s Brüderlein? Du solltest guter Dinge sein – ich treibe deine Schulden ein!“ Der aber am Galgen verreckte mit dem Schrei „Papa, Papa! Warum hastu uns verlassen?“

Johann Paul, der mit Js Mutter an der Stätte stand, notierte als letzte Worte: „Maria hilf!“
Da es weder einen Dienstplan noch eine vorgeschriebene Form der Exekution gab und Johann Paul halbtaub war, könnte es auch „Mama, hilf!“ geheißen haben und überhaupt alles ganz anders gewesen sein. Auf jeden Fall schließt Götz – Schüler des Johann Paul – seinen Abend auf Golgatha mit den Versen

„Nicht ganz blieb verlassen ihr Schöpfer: den Pfeiler des Kreuzes
Hielt umfangen das Weib, das J zur Mutter sich schuf“,

derweil züngelte es aus allen Himmeln und die Schleusen öffneten sich. Mit Pauken und Trompeten verfinsterte sich der Tag und die Erde bebte, dass der Tempel zerbrach, als eine weiße Taube herabstieg und eine Botschaft absetzte.

"Mother, you had me but I never had you
I wanted you but you didn't want me
So I got to tell you
Goodbye goodbye"​

 
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Lieber Friedel,

eine alte Geschichte, die flammbert112 da wieder ins Licht rückt - passend zur Jahreszeit. Sie hat schon so viele Kommentare abbekommen ... ich hänge meinen dennoch dran.

Ja, Jesus kommt blass rüber in deinem Text, genauso, wie es nach den 2000 Jahren Übermalungen, Missbräuchen, Verdrehungen ... auch realistisch ist. Kaum mehr zu erkennen.
Da bleibt vermutlich nicht viel vom Orginal, und das Wenige wird noch weginterpretiert, wenn's nicht in das herrschende Machtgefüge der Monarchen, Kirchenführer oder Wirtschaftsunternehmen passt.

Seine Blässe und die durch deinen Sprachstil hervorgerufene Distanz finde ich passend und richtig. Vorneweg: Ich hab's gern gelesen!

Allerdings verlangst du deinen Lesern echt viel ab, vielleicht ein wenig zu viel? Mein Hirn bekam schon einen herben Muskelkater. Was da an Quer- und Seitendenken, historischem und bibelkundlichem Wissen, an Ideen und Ideengeschichte drinsteckt, das ist heftig. Und würde auch für drei bis vier Geschichten reichen. Allerdings weiß ich praktisch gesehen auch nicht, wie man das leichter verdaulich gestalten könnte (außer in überschaubereren Portionen), na ja.
Wo der Mann am Kreuz mir übrigens doch noch sehr nah kam in deiner Erzählung, das war hier:

Ich rief nach dem Vater und es antwortet’ Stille.
"Eli, Eli, lama asabtani?" Dass er sich gottverlassen fühlte, klingt noch über die ganze Zeit hinweg bis zu uns - aber auch das wird dermaßen oft weginterpretiert, weil's ins Pauluskonzept nicht recht passen mag.
Mit Niederlagen und Verzweiflung ist das so eine Sache, man schaut den Siegreichen und Selbstgewissen (oder die man dafür halten möchte) oft lieber zu, um sich seine Scheibe abzuschneiden. Vielleicht sogar in Abendmahls- oder Eucharestiefeiern.
Im Übrigen, Mithras bzw. sol invictus sei Dank, finde ich die Weihnachtserfindung immer noch toll! Lichter, Kerzen, Zusammenkommen, sich Freude schenken, egal was da wie wann umgemodelt wurde - gibt doch immer noch schöne Gefühle und Hoffnung auf eine Zeit, in der die Sonne wieder Oberhand bekommt.

Liebe Grüße,

Eva

 

Hallo Eva,

grüß Dich flammbert,

schön, von Euch so kurz vor Advent zu lesen! Und in der Tat setzt sich bei mir der Muttertext (es muss da nicht nur der hier sein) in den Kommentaren fort. Denn es ist vollkommen uninteressant, welche Intention ich zu Anfang verfolg. Die Geschichte hier wurde durch das hier oft beschriebene Renaissance-Gemälde ausgelöst.

Deine Art, Geschichten so zu schreiben, dass man sie auf vielfältigste Weise auffassen kann, ist bewundernswert.
was ich - selbstverständlich - gern lese.
Man kann nach dem Lesen nicht sagen (oder ich kann es jedenfalls nicht) : Okay, Friedel steht soundso zu dem Thema, soundso denkt er darüber.
Doch, ich denk schon, dass jeder, wenn er's schon nicht weiß, so doch ahnt, wo ich stehe, aber ich binde es niemand auf die Nase (wie wär's denn, den Ostermarsch mit Flüchtlingen in die Weihnachtszeit vorzuverlegen? Wären endlich mal wieder ein paar Leute mehr unterwegs ...)

Die erste Version von „Nix da!“ hat mir am besten gefallen
Auch das ist ein besonderes Problem. Oft werden Texte eher verschlimmbessert als besser durch Korrekturen. Aber hier kommen mir -wie etwa bei dem Lennon-Konzert - noch andere Ideen. So hab ich sogar vor, das Abendmahl mit reinzunehmen, aber auf jüdische Weise in Erinnerung an den Auszug, Vertreibung und Verfolgung. Aber das braucht noch ...

Das mit der Stillen Post ist eine ureigene Einlassung GDs, womit sie indirekt auch in den Autorenkreis mit aufgenommen ist ... Denn es trifft's ja.

Ich habe deinen Text/deine Texte sehr gerne gelesen, Friedel, ich muss sagen, dass sie für eine Weihnachtsgeschichte äußerst viel Tiefgang haben (wobei ich dazu sagen muss, dass Weihnachtsgeschichten meistens ganz anders definiert werden), da steckt mehr dahinter, als man auf den ersten und zweiten Blick sieht.
Dafür dank ich Dir -

und auch Dir,

liebe Eva

Ich hab's gern gelesen!
immerhin war's mit Akrobatik verbunden
Mein Hirn bekam schon einen herben Muskelkater

Dank Euch beiden für Eure Gedanken!

Bis bald

Friedel

 

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