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Das Rübezahlfüllhorn
„Eine Gemüsekiste würde unser Leben perfekt machen“, sagt mein Mitbewohner Jan, „Stell Dir mal vor: Wir müssten kein Gemüse mehr schleppen und wir würden mehr Gemüse essen, Biogemüse, und wir wären viel gesünder, gerade im Winter.“
"Wieso unser Leben?", frage ich.
"Die kleinste Kiste ist für zwei."
Auf dem Werbeflugblatt ist ein quadratischer Gnom mit roten Haaren zu sehen. Er steht auf einem Berg von glänzendem Gemüse, lacht und reibt sich den Bauch, aber für mich sieht es aus, als stünde er auf einem Leichenfeld, schreiend, weil ihm gerade ein Schrappnell in die Gedärme gefahren ist.
„Ich esse eigentlich kein Gemüse“, sage ich.
Jan studiert das Sortiment der Genossenschaft „Rübezahl“ im Internet und bestellt schließlich die Saisonkiste „Füllhorn“.
„Das ist wie eine Überraschungstüte, dann lernen wir auch mal andere Gemüse kennen, mit den Rezepten dazu. Man isst notgedrungen viel kreativer. Hier, wir können auch Extras dazubestellen, Markknochen und so.“
Ich sage: „okay“, weil er anfängt, mir Rezepte für Schwarzwurzel, Melde und Topinambur vorzulesen, die er als "vergessene" Gemüse bezeichnet. Mir klingt das alles eher unheimlich, schon weil ich mir denke, diese Gewächse werden wohl aus gutem Grund vergessen worden sein. Meine Mutter musste als Kind Schwarzwurzeln essen und die sagt immer: „Wenn Krieg ein Gemüse wäre...“
„Ich hoffe, man kann das jederzeit abbestellen“, sage ich noch.
„Klar“, sagt Jan.
Als es am nächsten Morgen klingelt, liege ich noch im Bett. Ich warte darauf, dass Jan aufsteht und seine blöde Kiste entgegennimmt, aber Jan steht nicht auf und der Kistenmensch klingelt weiter wie ein Specht. Ich springe aus dem Bett, Shorts und T-Shirt, und drücke den elektrischen Öffner, gehe zur Wohnungstür und lehne sie an. Dann trete ich gegen Jans Tür.
„Der Rübezahl ist da! Nimm mal bitte dein Scheiß Gemüse entgegen!“
„Ja, ich bin da“, spricht es hinter mir und ich fahre erschrocken herum. Im Flur steht ein kurzer Mann mit roten Haaren und einem großen Sack über der Schulter. Er trägt ein mintgrünes Polo-Hemd auf dem „Rübezahl“ steht. Als er sich bückt, um den Sack zu öffnen, sehe ich einen dunklen Schweißstriemen auf der Rückseite des Hemdes. Er beginnt zwischen den Schulterblättern, verbreitert sich nach unten und verschwindet zuletzt mit Hemd unter dem Gürtel, „gesund und lecker“ steht darüber.
„Wo ist denn die Kiste?“, frage ich.
„Ich bin gekommen, um das Füllhorn einzubauen“, antwortet er und rupft weiter mit dicken Fingern an dem eng geknoteten Bastseil herum. „Wo ist die Küche?“
Ich deute wortlos auf die Tür am Ende des Flures und Rübezahl schleift seinen Sack an mir vorbei, verliert im Rückwärtsschlurfen fast seine Sandalen.
Ich renne in Jans Zimmer. „Jetzt komm mal raus hier, ein bisschen zügig! Der baut da irgendwas in die Küche ein. Das ist doch Mist. Sag das ab!“
Als ich Jan endlich in den Flur schiebe, steht Rübezahl schon wieder da, den schlaffen Sack über der Schulter. „Jetzt brauch ich nur noch eine Unterschrift.“
Ich gucke an ihm vorbei in die Küche und sehe dort das Füllhorn neben dem Kühlschrank aus der Wand ragen. Ein großer Metalltrichter, etwa einen Meter über dem Boden.
„Das ist doch echt unnötig“, sage ich, aber in dem Moment drückt Rübezahl mir schon den Stift in die Hand.
„Aua, Scheiße!“, fluche ich und lasse den Stift fallen. Er landet mit einem dumpfen Ton auf dem Boden und hinterlässt eine Macke im Parkett. Es muss ein elektrischer Schlag gewesen sein, denke ich. Ein blöder, handgeschmiedeter Kugelschreiber von manufactum, bei dem man die Tinte selbst nachfüllen kann, der Umwelt zuliebe und überhaupt. Nur dass er sich auflädt wie ein Weidezaun, wenn man mit solchen dummen Plastiklatschen rumschlurft.
„Sind Sie nicht Herr Schneider?“, fragt Rübezahl mit gerunzelter Stirn.
„Nein, Jan ist Herr Schneider“, sage ich und schüttele mein Handgelenk.
„Ja, das bin ich“, sagt Jan „wo soll ich unterschreiben?“
Der Zwerg hält ihm ein mintgrünes Klippboard mit grauem Umweltpapier hin. „Hier, hier und hier. Drei Mal, bitte.“ Er grinst mit kurzen breiten Zähnen und langem Zahnfleisch.
Ich schüttele den Kopf und mache Schicksalsergebenheitsgesten mit den Händen, während Jan mit roter Tinte unterschreibt.
„Ah, und hier kommt das Gemüse dann raus“, sagt Jan und steckt seinen Kopf in das Füllhorn. Ich schnippe gegen das Blech, damit ihm drinnen die Ohren dröhnen, aber auch, damit er den Kopf wieder raus nimmt. Es ist mir unwohl, wenn er so mit dem Kopf im Metalltrichter steckt und blechern spricht.
„Vor allem zieht es jetzt wie Sau“, sage ich und fuchtele mit der Hand unter der Trichteröffnung umher, aus der wirklich kalte Luft weht. Ich kann es an meinen flatternden Shorts sehen.
„Wir können ja was davor machen. Was meinst du, wann kommt die erste Lieferung?“
„Weiß nicht“, sage ich und dann horchen wir beide eine Weile konzentriert am Trichter. Nichts ist zu hören. Erst als Jan „hallo!“ hineinruft, kommt ein „hallo!“ zurück, aber es klingt seltsam, nicht nach normalem Echo, sondern höher und mehrstimmig, irgendwie gehässig.
„Du blutest“, sage ich, denn Jan trägt einen roten Striemen auf der Wange. Er untersucht sich. „Oh, wo? Ah, ich muss mich an diesem Stift gepiekt haben. Ich hab das gefühlt.“
Er steckt den Daumen in den Mund.
Mir wird langsam kalt, mit bloßen Füßen und nur in Unterwäsche. „Jedenfalls werde ich jetzt nicht den ganzen Tag davor hocken und warten“, sage ich, doch ein Blick in Jans glänzende Augen macht mir klar, dass es genau das ist, was er den Rest des Tages tun wird.
Er zieht sich einen Stuhl heran und ich koche Kaffee, mit dem ich mich schließlich in mein Zimmer zurückziehe. Dort sitze ich dann im Bett und lese Parzival, bis Jan anfängt zu kreischen.
Als ich in die Küche komme, tanzt er vor dem Füllhorn wie vor einem goldenen Kalb. „Es kommt, es kommt! Hör doch!“
Und tatsächlich rumpelt es tief unten im Trichter, ein leises Grollen nur, das jedoch stetig lauter wird, bis das Horn anfängt zu rattern. Es schüttelt und faucht. Wir treten ein paar Schritte zurück. Tiefe Risse wachsen durch den Wandputz um den Trichter und ich blicke Jan vorwurfsvoll an. Doch Jan ist nicht empfänglich für meine stummen Vorwürfe, denn jetzt scheppert etwas laut gegen die Metallwand des Füllhorns, scheppert und springt die tieferliegende Röhre hinauf, bis es schließlich unzeremoniell aus dem Trichter fällt und unter den Tisch rollt. Ich stupse die schmutzige Kugel mit der Fußspitze an und fahre erschrocken zusammen, als ein Placken Erde abspringt.
„Was in Gottes Namen ist das?“, flüstere ich und halte mich an Jans Ärmel fest.
„Das ist rote Beete“, sagt er und lächelt.
Zum Mittagessen kocht Jan die rote Beete. Ich habe noch nie rote Beete angefasst, aber Jan hat eine e-mail von der Rübezahl Genossenschaft erhalten, mit Rezeptvorschlag. Also backt er die einzelne rote Beete erst 90 Minuten im Ofen, lässt sie eine halbe Stunde abkühlen und versuppt sie dann zu pinkem Schaum, der um fünf Uhr fertig ist. Eine halbe Schüssel für jeden von uns. Ich habe die Wurzel unter Jans Anleitung lange geschrubbt, aber die Suppe schmeckt trotzdem erdig. Insgesamt kommt mir das Ganze unpraktisch vor.
„Sehr viel Gemüse ist es ja nicht gerade“, bemerke ich.
„Sie haben geschrieben, dass sie erst die Leitungen testen wollten. Wir kriegen bald mehr.“
Und in diesem Moment fühlen wir auch schon den Boden erzittern. Diesmal hört es sich an, als käme eine ganze Gnuherde das Metallrohr heraufgalloppiert. Und dann fängt das Füllhorn an, Erde zu spucken, immer mehr, bis ihm der Haufen fast zur Unterlippe reicht, und dann schüttelt es ganz fürchterlich und hustet ein paar Brocken in diesen Erdhaufen hinein, dass der Dreck nur so stiebt. Jan zählt laut gegen den Lärm, „sechs, sieben, acht, neun!“, dann hört das Schütteln auf. Nur noch ein leises Fiepen ist aus dem Trichter zu vernehmen. Als der Staub sich legt, treten wir vorsichtig an den Haufen heran. Ich sehe an Jans Gesicht, dass mein Gesicht schmutzig sein muss. Das Gemüse kann ich kaum erkennen, es ist zu sehr mit Erde verkrustet. Aber die daumendicken Goldstücke, die im Dreck liegen, glänzen blank wie in Dagobert Ducks Geldspeicher.
„Echtes Gold“, hauche ich, aber Jan schüttelt den Kopf. Er hat einen Taler aufgelesen und ihm die Goldhaut abgezogen. Jetzt steckt er sich den braunen Kern in den Mund. „Kaubonbon“, sagt er und renkt sich fast den Kiefer aus.
Doch da ist noch was in der Erde. Klein, pink und wimmelig.
„Äch, Würmer“, sagt Jan und wir starren.
„Nein, das sind Putten“, rufe ich, als die kleinen Wesen sich die Erde aus den goldenen Locken schütteln und von den rosigen Hintern klopfen. Hinten haben sie Arschritzen aber von vorne sieht es aus, als ob sie winzige Hautunterhosen tragen. Eine nach der anderen fächert ihre schwarzblau schillernden Flügel auf und schwirrt hinauf zur Küchenlampe. Dort tanzen sie schließlich alle durcheinander, mindestens zwanzig Stück, und beginnen mit Glockenstimmen zu summen und zu singen.
„Was singen die da?“, fragt Jan, „ist das Griechisch, so kyrie eleyson?“
Doch ich weiß es auch nicht, bin mir nicht mal sicher, ob es überhaupt Worte oder nur Töne sind.
„Es klingt auf jeden Fall schön“, sage ich.
Jan beginnt nun, das Gemüse und die Goldtaler aus der Erde zu sammeln. „Drei Kartoffeln, drei Möhren und zwei Sellerieknollen“, verkündet er. „Das könnte Eintopf sein.“
Die Markknochen stecken in einem durchsichtigen Plastikbeutel.
Ich putze das Gemüse, Jan kocht Eintopf daraus und die Engel singen dazu im Chor. Sie singen noch um die Lampe herum als wir essen und manchmal lassen sie winzige Tropfen auf den Fußboden fallen, grün wie Vogelschiss. Als ich die Lampe probeweise ausschalte, murren sie und ziehen sich in die dunklen Spalten über den Küchenschränken zurück.
Am nächsten Tag schippen wir den Erdhaufen weg, damit das Füllhorn nicht verstopft, wenn es die nächste Lieferung spuckt. Ich finde zwei weitere Goldstücke und denke, vielleicht sollte ich die Erde aufheben, die ist bestimmt ganz gut für die Kräuter. Mittlerweile bin ich sehr hungrig, den letzten Eintopfrest habe wir mittags in der Uni gegessen. Jan erlaubt mir trotzdem nicht, einkaufen zu gehen, schon gar nicht Gemüse. „Ich kaufe nie Gemüse“, sage ich, bleibe aber daheim. Wir essen Brot mit Leberwurst.
Mitten in der Nacht werde ich von Gerappel geweckt und denke „aha!“. Ich drehe mich um und will weiterschlafen, doch dann höre ich ein schrilles Greinen, ein Greinen, das so jammervoll und schmerzerfüllt klingt, dass ich sofort auf den Beinen bin. Im Flur treffe ich Jan, der blass und nackt ist. Zusammen stürzen wir in die Küche. Dort liegt ein neuer Erdhaufen und ich rutsche fast auf einer Lauchstange aus. Um die Lampe herum summt es, ein ganzer Schwarm Putten, und aus dem Haufen greint es, dass es mir das Herz zusammenschnürt. Noch halb in der Erde steckt eine Putte, deren linker Flügel in einem fürchterlichen Winkel absteht. Glitzerndes Blut sickert auf das schwarze Gefieder. Silberne Knöchelchen, dünn wie Gräten, stehen mit scharfen Bruchkanten heraus. Das Gesicht ist ein winziger Krümel konzentrierter Schmerz. Ich kann weder Nase noch Auge erkennen, nur das greinende Maul mit den spitzen Zähnchen.
„Mein Gott, tu doch was, Jan!“, schreie ich und will ihn am Kragen packen, doch er ist nackt, deshalb packe ich ihn an den Schultern.
„Halts Maul! Was soll ich denn tun?“, schreit er zurück.
„Mach, dass es aufhört! Du musst es töten! Es leidet!“ Ich schüttele ihn und er schubst mich von sich.
„Ich kann das nicht anfassen. Du musst das machen!“, heult er, aber mir ist auch ganz schwindelig.
Dann erst erinnere mich der fröhlich um die Lampe schwirrenden Gefährten. Doch die schwirren nicht mehr fröhlich. Das fällt mir erst jetzt auf, da ich den schlimmen Anblick verspätet vor ihnen zu verbergen suche. Sie kreisen jetzt dicht über uns, das helle vielstimmige Zwitschern ist zum Brummen geworden, wie aus einer Kehle. Ich frage mich, was der Resonanzraum für dieses Brummen sein mag, bis ich merke, das mein ganzer Körper vibriert. Ich stopfe die zappelnde Putte hektisch in den Erdsack, der noch immer in der Küche steht, und spüre wie etwas Eiskaltes herausquillt. Trotzdem verliere ich die Fassung erst, als eine der übrigen Putten gegen mein Ohr summt und sich in meinen Haaren verfängt. Ich raufe sie hysterisch heraus und schleudere sie zu Boden. Sie beginnt sofort zu greinen. Dieses doppelte Greinen ist unterträglich. Ich krieche auf allen Vieren in die Ecke neben den Mülleimer und halte mir die Ohren zu. Ich sehe, wie sich mehrere Putten auf die Putte stürzen, die ich mir vom Ohr gerupft habe. Sie reißen ihr das Goldhaar büschelweise aus, beißen Fetzen aus dem prallen Hinterteil und ich höre silberne Knochen splittern, obwohl ich meine Finger tief in die Ohren gebohrt habe. Das Greinen wird schriller und verstummt dann abrupt. Die Putte im Erdsack ist schon lange still. Der Schwarm steigt auf und ein paar Federn trudeln herab. Jan sitzt auf dem Boden, zitternd, voll Rotz und Tränen.
Wir kriechen aus der Küche, schlagen die Tür hinter uns zu und lagern eine Weile auf dem guten alten Flickenteppich im Flur, bis wir wieder atmen können.
„Scheiß Gemüsebox!“, sage ich schließlich, nehme meine Jacke vom Haken und renne mit dem Müllsack, den ich noch immer schwitzig umkrallt halte, in den Hof hinunter. Während ich die Sackzipfel dort zu einem sehr haltbaren Knoten vertäue, überlege ich welche Tonne. Sondermüll, oder noch besser eine Säuretonne, denke ich. Aber wir haben natürlich nur Haus, Papier und Bio. Ich schlage den Biodeckel zweimal zu.
Jetzt spüre ich auch wieder die Kälte auf meiner Hand brennen. Im weißen Hoflicht glitzert es vielfarbig. Es ist ganz eindeutig dieser Glanzstaub, den man im Baumarkt kriegt, mit dem wir als Kinder Weihnachtsbilder gemalt haben. Mit Uhu vorgemalt und dann draufstäuben und so lange nicht niesen, bis die Mutter den Überschussglitzer in die Gläschen zurückgeschüttet hat. Dieser Staub hier ist auch nass von klebriger Trägerflüssigkeit. Ich wische die Hand an meiner Hose ab und denke „Mist“, als ich das alte Handtuch über meinem Fahrrad hängen sehe.
Als ich wieder hochkomme, hat Jan eine Hose an und zwei Gläser Korn bereitgestellt, weil Korn ordentlich fürchterlich ist, ein gutes, erwartbares Grauen. Er fragt: „Junge, hast du dich mit deinem Kanarienvogel gestritten?“, und zupft mir eine winzige schillernde Feder vom Kopf.
„Wir sollten aber trotzdem das Licht in der Küche ausschalten, sonst kommen die nie wieder runter“, sagt er noch und bleibt dann auf dem Flickenteppich stehen, während ich vorsichtig die Küchentür öffne.
„Ich weiß gar nicht, was du hast, jetzt sind sie ganz ruhig“, sage ich grinsend und stoße die Tür weit auf. Da fliegen sie wieder um die Lampe, nicht lebhaft durcheinander, sondern in einem perfekten Zirkel, die Hände vor der Brust gefaltet. Mit lieblichen Stimmen singen sie die Tonleiter hinauf und hinunter.
„Sie haben gesagt, wir sollen die Putten einfach rausscheuchen. Das hätten wir von Anfang an machen sollen, es sind nur Parasiten. Wenn es kälter wird, sollte sich das Problem von selbst erledigen.“
Als Jan mir dies nach Rücksprache mit der Rübezahl Genossenschaft verkündet, bin ich nur zu bereit, die Kannibalenbrut eigenhändig rauszuschmeißen. Ich knipse das Licht an und fange sie in Jans Kopfkissenbezug, schüttele sie ungeachtet allen Greinens und Knochensplitterns aus dem Fenster. Dort tanzen sie noch eine Weile, summen lächelnd wieder und wieder gegen die geschlossene Scheibe, bis sie erschöpft herabtrudeln und von ihren Artgenossen zerfetzt werden. Einige wenige geben schließlich auf und fliegen jubilierend davon.
Man kann die Putten leicht einsammeln, wenn sie noch in der Erde stecken, aber für das Füllhorn kann ich mich nicht mehr begeistern. Wir latschen den Dreck aus der Küche in alle Teppiche der Wohnung, sogar in den guten alten Flickenteppich, und die Nachbarin beschwert sich, dass wir die Biotonne mit Erde befüllen. Ich habe keine Lust mehr, das Gemüse zu putzen, bis meine Hände rot sind. Die Möhren sind menschenförmig und lassen sich mit all ihren Auswüchsen sehr schlecht schälen. Die Kartoffeln haben zentimeterlange Keime. Ich will überhaupt kein Wurzelgemüse mehr und gehe dem Füllhorn fremd. Obwohl ich mich noch nie sonderlich für Gemüse interessiert habe, fühle ich mich nun unwiderstehlich von den prallen Kurven glänzender südafrikanischer Paprika und dem süßen Duft grasgrüner mexikanischer Zuckerschoten angezogen, die ich roh und ungewaschen auf dem Weg vom Supermarkt nach Hause verschlinge. Jan putzt und kocht tapfer weiter, Eintopf, Suppe und Auflauf, aber er sieht nicht glücklich aus, nicht mal besonders gesund. Er geht nicht mehr zum Sport oder zum Duschen und kommt trotzdem nicht hinterher mit dem Essen. Mehr und mehr Möhren, die zu dreckig für den Kühlschrank sind, verschrumpeln neben dem Füllhorn zu alten Männern.
Als ich ihn eines Abends dabei ertappe, dass er wie hypnotisiert auf meine Tiefkühlpizza starrt, sage ich: „Jan, du bist zum Sklaven des Füllhorns geworden. Jetzt kündige doch endlich diesen vermaledeiten Vertrag!“
Er bricht in Tränen aus, schiebt den Teller grauer Suppe von sich und verbirgt das Gesicht in seinen rohen Händen. Tiefe Schluchzer erschüttern seinen ausgemergelten Körper, dann ist er eine Weile ganz still. Ich will schon nach seinem Puls tasten, doch da hebt er den Kopf und spricht ruhig: „Du hast Recht. Es muss aufhören. Morgen rufe ich an.“
Am Tag darauf komme ich nach Hause und der Trichter ist weg. Stattdessen klafft ein riesiges schwarzes Loch in der Küchenwand. Ich wundere mich, wie es da so weit und so schwarz klaffen kann, wo doch das Nachbarhaus von außen ganz eng neben unserem steht, und ärgere mich, weil es jetzt noch mehr zieht. Jan ist nicht zu Hause. Wahrscheinlich ist er zu seinen Eltern gefahren, um sich mit Schweinebraten aufpäppeln zu lassen. Hat mich einfach mit dem Loch allein gelassen.
Als es ein paar Tage später beginnt, aus dem Loch zu stinken wie hungriger Atem, habe ich noch immer nichts von ihm gehört. Ich fluche ihm auf die Mailbox und fahre zum Baumarkt, um eine Rigipsplatte zu kaufen. Mit langen Spaxschrauben befestige ich sie über dem Loch. Dann stelle ich das Regal davor und gehe mir Currywurstpommes holen.