Verkaufe: Babyschuhe, ungetragen
Ich habe auch viel über Hemingways Kürzestgeschichte, die ich gestern kennengelernt habe, nachgedacht. Wegen ihrer Kürze ist sie unvollständig, fragmentarisch, und gerade deshalb regt sie den Leser an. Er fragt sich zu Recht: Warum werden die Babyschuhe verkauft? Und warum wurden sie nicht getragen?
Es könnte so gewesen sein:
In der Weltwirtschaftskrise, der Great Depression, ist ein Säugling gestorben, weil die verarmten Eltern sich keinen Arzt für ihn leisten konnen. Um sich (und vielleicht Kinder) durchzubringen, um etwas zu essen zu kaufen, können sie die Babyschuhe nicht als Andenken behalten, sondern müssen sie verkaufen.
Oder so:
In romantischer Hoffnung auf ein Enkelkind hat ein Vater seiner frisch verheirateten Tochter, die schwanger ist, ein Paar kostbare Babyschuhe geschenkt. Die aber treibt ab und verkauft die Schuhe, um die geplante Kreuzfahrt zu finanzieren.
Was ich damit sagen will: Gerade der fragmentarische, unvollständige Charakter lässt Fragen offen und regt die Fantasie des Lesers an, der dadurch selbst schöpferisch wird, der sich die Geschichte zu Ende ausmalt, sie interpretiert wie ein Schauspieler eine Rolle oder ein Pianist eine Sonate, ihr das Leben einhaucht, ohne das sie noch nicht von den Toten erweckt ist wie Noten auf einem Papier oder Buchstaben, die bestimmen, was Hamlet auf der Bühne sagt.
PS
Freilich gab es auch eine Ästhetik, die solch einen unvollständigen, fragmentarischen Charakter ablehnt und Eindeutigkeit fordert, vom Schriftsteller verlangt, dass er dem Leser alles klar beantwortet, ihm sozusagen vorgekaute Kost vorsetzt. Das forderte der Sozialistische Realismus, die Kunstdoktrin in der Sowjetunion und der DDR. Da ist der Kommunist immer der Gute und der Bourgeois immer der Böse. Die Partei hat immer Recht und schuld an allem ist der Klassenfeind. Der Leser soll sich keine eigenen Gedanken machen, denn alles wird ihm vom allwissenden Erzähler im Sinne der Dokrin beantwortet.