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Kassandra überm Death Valley

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12.04.2007
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Kassandra überm Death Valley

Kassandra überm Death Valley -

für Markus, der mich bei der Stange gehalten hat

„Die wirkliche Konsistenz von gelebtem Leben
kann kein Schriftsteller wiedergeben.“
Edgar Lawrence Doctorow

„Totes Tal. Tal der Toten. Dort lagen sie alle, meine Toten, und quälten sich aus ihren Gräbern, während ich über sie hinflog“, sinniert die Icherzählerin und fragt sich während der Rückkehr von Las Vegas nach L. A., ob die Toten ihr „etwas sagen wollten.“ Der Schwarze Engel aber, der die Protagonistin auf dem Rückflug begleitet, scheint die Gedanken zu kennen und widerspricht: „Das sei ein Aberglaube der Lebenden, dass die Toten eine Botschaft für sie hätten. Zu ihren Lebzeiten waren sie nicht klüger, als die Lebenden es heute sind.
Im Tod lernt man nichts.“
Neben dem unvergleichlichen Gefühl des Fluges lauert Endzeitstimmung in der alternden Icherzählerin. „Ich wusste, dass es ein Abschied war. Eine Arbeit ist getan, Angelina, aber warum bleibt das Gefühl der Vollendung aus? Ein Wort trieb mir zu. Das ich seit Wochen unbewusst gesucht hatte: Vorläufig. Eine vorläufige Arbeit ist zu einem vorläufigen Schluss gekommen.
Angelina lachte: Aber ist es so nicht immer?“
Als sie in den Smog über L. A. fliegen, überkommt die Protagonistin der Katzenjammer, obwohl spätestens jetzt dem letzten klar sein muss, dass die Icherzählerin identisch ist mit der Autorin des Romans: „Das kleine Land, aus dem ich kam, war es zu unbedeutend, um Anteilnahme zu verdienen? Stand über ihm von Anfang an nicht das Menetekel des Untergangs: Ins Nichts mit ihm? Wäre es möglich, dass ich um einen banalen Irrtum so sollte gelitten haben?“ Aber der Schwarze Engel, nun ganz Amerikaner und von der Kulturindustrie wie Hollywood und den Massenmedien auf die rechte Bahn geführt, erklärt „kategorisch, das spiele keine Rolle. Gemessen würden nur Gefühle, keine Tatsachen.“ Doch wer zum Teufel misst da was mit welchem Maßstab? „Die Erde ist in Gefahr, Angelina, und unsereins macht sich Sorgen, dass er an seiner Seele Schaden nimmt.“ Vor ihnen liegt die Santa Monica Bay. „Müsste ich jetzt nicht eine große Schleife fliegen? Sagte ich. Zurück auf Anfang?
Mach doch, sagte sie ungerührt.
Und Jahre Arbeit? Einfach wegwerfen?
Warum nicht?
Das Alter, Angelina, das Alter verbietet es.“ Der Schwarze Engel glaubt, alle Zeit der Welt zu haben und will, dass beide die Metropolitan Area von der hellen Küste bis zum dunklen Gebirge im Fluge genießen.
Angelina schweigt zufrieden.
„Wohin sind wir unterwegs?
Das weiß ich nicht“, schließt Christa Wolf (1929 – 2011) ihr autobiografisches Alterswerk

Stadt der Engel
oder
The Overcoat of Dr. Freud,

in dem die große Schriftstellerin ihre Zeit in Los Angeles während der Jahre 1992 und ’93 als Stipendiatin der Getty Stiftung verarbeitet. Und schon vor und erst recht mit der Veröffentlichung geschieht Merk- und Denkwürdiges: Die ersten Kritiken im Juni 2010 – offensichtlich noch vor Ablauf der Sperrfrist veröffentlicht und breitgetreten - berichten von einem „Roman“, was niemand – weder der Verlag, noch die Autorin - in dem gebundenen und seit dem 21. Juni 2010 käuflich zu erwerbenden Werk behauptet. Weder auf dem Einband, noch im Klappentext, schon gar nicht im Text selber wird das Werk „Roman“ genannt (mir liegt ein Exemplar der ersten Auflage 2010 vor). Sollten die vorab versandten Rezensionsexemplare und die nichteingehaltene Sperrfrist für Stimmung sorgen – gegen Christa Wolf und ihren Verlag, denn die Autorin hält bis zuletzt an der sozialistischen Utopie fest. Man baue einen Popanz auf und schlage auf ihn ein. Jens Jessen hat es in der Zeit Nr. 25 vom 17.06.2010 auf den Nenner gebracht: „Wer Christa Wolf nicht wohlwill, kann reiche Belege für seine Abneigung finden.“
So reichen denn die Urteile vom Verriss - eines „ungenießbaren Buch[es]“ (so Arno Widmann in der FR) bis zum „großen literarischen Werk“ (so Stephan Lohr im NDR) – beide Urteile vom 14. Juni 2010 – und Christa Wolf wusste, was da komme, wenn sie etwa in der Mitte des Buches schreibt „JEDE ZEILE, DIE ICH JETZT NOCH SCHREIBE; WIRD GEGEN MICH VERWENDET WERDEN“ mit dem Widerwort: „Was hindert mich, diese Aufzeichnungen einfach abzubrechen.“ [soweit nicht anders vermerkt alle Zitate Stadt der Engel …, Berlin 2010, hier: S. 232] Mag es romaneske Züge tragen, das Werk ist weder Erzählung noch Autobiografie, weder Tagebuch noch Reisebericht, es ist alles zugleich und sei darum – so sagt Wolf selbst einmal – patchwork. Zeitloses und immer Gültiges ersteht auf gegen Zeitgeschichte, wie die Endlichkeit von Kulturen und der Zerfall von Staaten und Weltreichen.
Zwei totalitäre Systeme – das nationalsozialistische wie das SED-Regime – musste Christa Wolf überstehen, um mit der Umstellung der Zentralen Planwirtschaft auf die freie, deregulierte Marktwirtschaft wie viele andere auch den Traum von der Freiheit zu Grabe zu tragen, um zu erleben, wie der technokratische Turbokapitalismus demokratische Prinzipien aushebelt. Der titelgebende, an sich schützende Überzieher des Doktor Freud verweist auf das, was das Buch vor allem ist: Selbstentblößung und Analyse – „Ich schrieb mich an einen Kern heran, den ich deutlich spürte, nicht benennen konnte, bis ich eines Nachts aus dem Schlaf aufschreckte und den letzten Satz einer längeren Rede, die jemand mir gehalten hatte, als Schrift vor mir sah: DER FREMDE IN DIR. … Oder, dachte ich, vielleicht auch das Fremde in mir, das ich gespürt hatte, wie man wohl im Körper eine Wucherung spürt, fremdes Gewebe.“ [S. 259]
Allem voran stellt sie sich die Frage, wie sie vergessen konnte, dass sie in einer Stasi-Akte geführt wird. Die IM-Vergangenheit von 1959 bis ca. 1962 holt sie ein, liefert dem eine Begründung, Christa Wolf nicht wohl zu wollen [s. o.]. Doch die drei Protokolle in der Akte haben keinem wehgetan oder geschadet und enthalten nichts, was der Staatssicherheitsdienst nicht schon wusste. Folgerichtig hat sie darum ihre gesamte Stasi-Akte veröffentlicht.

Christa Wolf flieht 1992 also keineswegs vor ihrer Vergangenheit, sie bleibt bis zu ihrem Tode, was sie immer war, Kassandra, die den Untergang Trojas voraussieht und nicht gehört wird von den Machthabern, aber die auch Beute des Agamemnon und also mit ihm erschlagen wird.
Was sich zwei Jahre nach dem Mauerbau in ihrem Roman „Der geteilte Himmel“ (in eine Liebesgeschichte werden soziale und politische Probleme der DDR eingefügt) erstmals zeigt, mündet 1983 mit „Kassandra“ in der Einsicht in die Notwendigkeit (so hat Hegel schon Freiheit definiert), das hierarchisch geprägte männliche Realitätsprinzips zu überwinden.

Kassandra ist sie auch geblieben, wenn sie die Cliff-dwellings aus vorkolumbianischer Zeit entdeckt - Hunderte von Einzelräumen, die zu großen, schwer zugänglichen Baukomplexen zusammengefasst dem vom Erdboden verschwundenen Volk der Anasazi Sicherheit geben sollte. Weil man nicht weiß, wie sie sich selber nannten, hat man die Bezeichnung von den Diné – dem größten Stamm in Nordamerika – übernommen: Anasazi bedeutet in der Sprache der Diné „Die ältesten Leute“ [S. 385]. Und obwohl man weiß, wie die aus dem Norden eingedrungenen Stämme von Jägern und Sammlern sich selbst nennen, kennt man heute die sesshaft gewordenen Diné unter der Bezeichnung, welche sie von den spanischen Eroberern erhielten: Navajo.

Inmitten des Reservats mit 170.000 Diné aber findet sich ein Reservat mit Pueblos der 6.000 Hopi, immer schon sesshafte Pflanzer. Weil die Hopi aber das geschriebene Wort ablehnen, sind sie auf mündliche Überlieferung bis hin zu einem eigenen Schöpfungsmythos angewiesen – wie schon ihre mutmaßlichen Vorfahren in den Cliff-dwellings.
Am Prophecy Rock stehen nun die Bleichgesichter mit Denis, ihrem Reiseführer vom Volk der Hopi. In einer Höhle, in der Zeremonien abgehalten wurden wird der weißen Reisegesellschaft ein Piktogramm gezeigt: „Drei Figuren auf einer Art Wagen, zwei Figuren lassen sich auf einer Schlangenlinie zu ihnen herunter … Denis meinte, die Prophezeiung dieser Zeichnung werde sich erfüllen: Zwei Krieger, die miteinander kämpften. Dieser Krieg werde noch stattfinden. Zwischen wem? Fragten wir. Zwischen den Hopi und den Navajo? Nein, sagte Denis und lachte.“ [S. 397]

Die Opfergaben der Hopi sind hier sehr spärlich. Teuer kauft Wolf sich eine holzgeschnitzte Götter- oder Ahnenfigur, einen Kachina.
„Nachts hielt der Kachina bei mir Wache. Aus dem Schlaf heraus sprach ich mit Angelina, die ich in der Nähe spürte. Ich sagte, wenn man sich tief genug hinabsinken lasse, verschwänden die Unterschiede zwischen den Menschen und Völkern. Ein Geist umschwebe uns alle, sagte ich schlafend. Es sei der Geist dieser Opfergaben, der auch in ihr, Angelina, lebendig sei. … Wollen wir ihn Ehrfurcht nennen? Wir Weißen haben uns am weitesten von ihm entfernt, sagte ich. Aber mir sei jetzt klargeworden, dass mir dieser Mantel des Dr. Freud aus keinem anderen Grund beigegeben sei, als um mich dieses Geistes zu vergewissern. Angelina schwieg.“[S. 398].

Wer also etwas über unsere Zeitgeschichte erfahren will, muss zu diesem Buch greifen, wenn es auch nicht die Qualität einer „Kassandra“ erreicht.
Wer über die Emigranten, die vor den Nazis in das „Weimar unter Palmen“ geflohen sind - von Adorno über Brecht, Feuchtwanger und bis zu Schönberg - der sollte zugreifen! Wie nebenbei erfährt er über einen Streit zwischen Thomas Mann und Arnold Schönberg, das komödiantische Züge aufweist.
Wenn man dann aber über die McCarthy-Ära und die Macht von CIA und FBI erfährt, wundert man sich nicht mehr darüber, dass nichts im land of opportunity unmöglich sei.
Wer noch immer darüber grübelt, was Denis, der Hopi, in das Piktogramm hineinliest, der sei daran erinnert, dass im Rahmen der Globalisierung alle Völker ein geradezu kindliches Vergnügen an der westlichen Kultur finden. Möge es ihnen weiterhelfen.
Wer ein abschließendes Zitat von Walter Benjamin – dessen Atem das Buch von de ersten bis zur letzten Seite durchzieht – im Original lesen will, dem sei es hier angefügt:„Es gibt ein Bild von Klee, das Angelus Novus heißt. Ein Engel ist darauf dargestellt, der aussieht, als wäre er im Begriff, sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt. Seine Augen sind aufgerissen, sein Mund steht offen und seine Flügel sind ausgespannt. Der Engel der Geschichte muss so aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, dass der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.“
Walter Benjamin: Über den Begriff der Geschichte IX

Bleibt noch auf Anakreons Rezension von "Kein Ort. Nirgends" hinzuweisen, hier unter http://www.kurzgeschichten.de/vb/showthread.php?t=47706, nahezu auf halbem Wege zwischen dem 200. Todestag Heinrich von Kleist und dem Todestag von Christ Wolf ...

 

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