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Geliebte Tochter

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28.09.2012
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Geliebte Tochter

Geliebte Tochter,

heute musste ich an den Tag denken, an den du geboren wurdest. 12 Jahre ist es bereits her. Um ehrlich zu sein, du warst kein schönes Baby. Zu großer Kopf, zu sehr hervorquellende Augen, und ein klein bisschen zu dick, sogar für ein Baby. Aber natürlich fand dich jeder wunderschön, warst der plötzliche Mittelpunkt der Welt, unserer Welt, warst ein Wunder. Neun Monate hast du dich im Bauch deiner Mutter versteckt, neun Monate hast du uns Zeit gelassen, unser Leben komplett umzukrempeln, aufzuräumen, neu herzustellen. Nur um dann, als du den ersten Schrei im Kreissaal losgelassen hast, zu wissen, dass man sich gar nicht genug auf ein Kind vorbereiten kann. Weil wenn es dann tatsächlich da ist, ist sowieso alles anders.

Ich denke nicht, dass du mich anfangs leiden konntest. Immer, wenn ich dich auf den Arm nehmen wollte, hast du geschrien, hast gequängelt, die kleinen Händchen zu Fäusten geballt, der Kopf ist rot angelaufen. Warum, das habe ich bis heute nicht herausgefunden. Vielleicht hast du gespürt, dass ich nicht viel mit dir anfangen konnte. Versteh es nicht falsch, das lag nicht an dir, sondern allein an deinem Baby-Sein. Die meiste Zeit hast du geschlafen oder einfach nur die Welt um dich herum angestarrt. Oder du hast in die Windel geschissen und dabei herzhaft jauchzende Laute von dir gegeben. Ich fand das weniger lustig, weil meistens war ich es, der dich wieder sauber machen musste. „Ich muss nachts aufstehen, also bist du fürs Windel-Wechseln zuständig“, hat deine Mutter immer gesagt. Und wer war ich schon, um deiner Mutter zu widersprechen? Schließlich hat sie dich unter Schmerzen aus ihr raus gepresst, und ich fühlte mich irgendwie schuldig, also hab ich eben deinen Popo saubergewischt. Als 24-jähriger konnte man sich zwar Schöneres vorstellen, aber schließlich warst du meine Tochter, und was tut man nicht alles für seine Kleine.

Aber ich habe mich verändert. Vater-Sein verändert. Wie sehr bin ich zum Mann geworden, während du zum Kind wurdest. Manchmal schien es mir, als würde unsere Reifung parallel vonstattengehen, würden wir zu jemand anderem werden, ohne es selbst zu merken. Du lerntest gehen, ich lernte, Verantwortung zu übernehmen. Du lerntest reden, ich lernte zu argumentieren. Du lerntest die Welt kennen, ich lernte, was Liebe wirklich bedeutet. Was im Grunde genommen nicht so sehr unterschiedlich ist. Die Liebe eines Vaters zu seiner Tochter erschüttert einen Mann in seinen Grundsätzen. Was gestern noch so wichtig erschien, war heute seltsam verschwommen. Wer gestern Gott war, war heute nur noch Mensch. Du kleiner Zwerg hast mein Leben grundsätzlich verändert. Damals und heute.

Ich weiß, du wirst auf diesen Brief nicht antworten. Und trotzdem möchte ich dir schreiben. So lange, bis wir uns endlich wieder sehen. Bald. Der Gedanke daran lässt Unruhe in mir aufkommen. Wohlige Unruhe. Wie kann man sich so sehr auf etwas freuen, wenn man gleichzeitig etwas so sehr fürchtet?

In Liebe,
Dein Vater

Geliebte Tochter,

seit langer Zeit habe ich gestern wieder mal mit deiner Mutter telefoniert. Ehrlich gesagt weiß ich schon gar nicht mehr, um was es ging. Um die Kündigung irgendeines Zeitschriften-Abos oder so. Unfreiwillig komisch, um welche Dinge man sich auch nach einer Scheidung immer noch kümmern muss.

Deine Mutter war nie eine jener Frauen, die alles selbst in die Hand nehmen. Ich war immer derjenige in der Familie, der sich um alles kümmern musste. Rechnungen. Den Mist rausbringen. Den Garten instand halten. Glühbirnen auswechseln. Ich war der Mann im Haus. Und ja, das hat mir gefallen. Hat mein männliches Ego gestärkt. Ich war der Mann, der sich um Haus, Hund, Frau und Kind kümmerte. Klingt vielleicht konservativ, war aber alles, was ich mir wünschte. Ein Familienoberhaupt zu sein.

Familie. Seltsam, wie das Wort plötzlich klingt. So leer. Nichts sagend.

Kinder glauben bei Scheidungen ja oft, sie seien der Grund, wieso sich Mama und Papa nicht mehr verstehen. Ist natürlich meist Unsinn. In unserem Fall stimmt es jedoch. Ja, du warst der Grund, wieso wir uns scheiden ließen. Du warst Schuld. Aber ich bin dir nicht böse. Du hast es ja nicht mit Absicht getan. Aber nach allem, was passiert ist, war eine Kluft zwischen deiner Mutter und mir. Nein, es hat uns nicht zusammengeschweißt. Es hat uns auseinander gerissen.

In Liebe,
Dein Vater

Geliebte Tochter,

heute ist wieder einer dieser Tage. Ich bin wütend auf alles und jeden. Auf meinen Chef, den ich für meinen sinnlosen Job verantwortlich mache. Auf Onkel David, weil er mich jeden Tag anruft, und ich das einfach nicht aushalte. Auf deine Mutter, weil sie weg ist. Auf dich, weil du nicht da bist. Auf mich, weil ich es zulasse, wütend zu sein.

Ich bin wütend, enttäuscht, müde. Müde des ewigen Kampfes. Gott, bin ich müde. Ich möchte mich einfach nur ausruhen.

In Liebe,
Dein Vater

Geliebte Tochter,

die Liebe eines Vaters zu seiner Tochter ist … ich denke, es gibt nicht einmal Worte dafür. Bis du in meine Welt kamst, bin ich in der Welt herumgewandert, ziellos, wie in Watte gepackt. Durch dich hat mein Leben einen Sinn bekommen, bin ich Vater und Ehemann geworden, hab meinen Platz in der Welt gefunden, hab meinen Fußabdruck hinterlassen. Ich liebe dich mehr als mein eigenes Leben. Nein, nicht nur das. Für dich würde ich mein Leben geben. Dich aufwachsen zu sehen zu einem glücklichen Menschen mit einer Zukunft, die alles bereithält, was man sich wünscht, hat meine Seele erfüllt, mein Herz springen lassen, mich zum glücklichsten Mann auf der ganzen Welt gemacht. Ich bin, weil du bist.

In Liebe,
Dein Vater

Geliebte Tochter,

weißt du noch, wie wir zusammen immer wieder „Wannabe“ von den Spice Girls gesungen haben? Du warst wie besessen von dem Lied, hat es immer und immer wieder vor dich hin gesungen. Mit einem Englisch, das nur du verstehen konntest. Und ich musste mit klatschen und mit grölen. Du hast mich an den Händen gefasst und wir haben miteinander getanzt. Die Tochter mit dem Vater.

Heute habe ich das Lied zufällig im Radio gehört. Mein Gott, wie ich dieses Lied hasse.

In Liebe,
Dein Vater

Geliebte Tochter,

ich habe mich heute krankgemeldet, war nicht in der Arbeit. Morgen wieder. Morgen. Im Aufschieben von Dingen war ich immer schon Meister. Morgen, morgen, nur nicht heute.

Ich war heute am See, bin spazieren gegangen, am Ufer gesessen, den Anglern zugeschaut. Weißt du noch, als wir stundenland hier gesessen sind und du immer vor Wut geheult hast, weil dir die Fische so leid taten, die am Anglerhaken zuckten? Am liebsten wärst du zu den Anglern hinübergelaufen mit deinen kurzen Beinchen und hättest alle Fische wieder ins Wasser geworfen. Wir haben an diesem Platz am Seeufer, an unserem Platz, über Gott und die Welt geredet. Auch wenn du noch ein Kind warst, erst in der Volksschule, warst du meine liebste Gesprächspartnerin. Du hast komplizierte Dinge so einfach gemacht, nur in schwarz und weiß unterteilt, keine Grauzonen, die das Leben so kompliziert machen.

Ich bin in den letzten Wochen öfters hier her gekommen, um nachzudenken. Ich kam immer dann hier her, wenn ich das Gefühl hatte, die Welt sei so sehr geschrumpft, dass ich nicht mehr atmen kann. Und dann lasse ich meine Gedanken treiben, überallhin, gehe auf Reisen, bin überall, nur nicht hier. Und ich denke an Engel, unwillkürlich, aber immer zu.

In Liebe,
Dein Vater

Geliebte Tochter,

als ich heute von der Arbeit nach Hause fuhr – ein weiterer langweiliger Büro-Arbeitstag -, kam ich an einer Unfallstelle vorbei. Schreckliches Bild, das sich einem da bot. Zwei Autos, bis zur Unkennbarkeit zerstört. Drei Menschen, liegend neben der Fahrbahn. Zwei Erwachsene, ein Mann und eine Frau, und ein Kind. Ein Junge. In deinem Alter, ungefähr. Und viel Blut, überall. Dazwischen wuselten Polizisten und Rettungssanitäter umher, sperrten die Unfallstelle ab, trugen Bahren herbei, telefonierten. Vorbeifahrende Autos wurden langsamer, manche Beifahrer streckten neugierig ihren Kopf aus dem Autofenster.

Seltsam. Man sagt immer, ein Autounfall wäre so schrecklich, dass man einfach hinsehen müsse, auch, wenn man es gar nicht wollte. Bei mir ist es anders. Ich verringerte meine Geschwindigkeit nicht, hatte die demolierten Autos, die Verletzten, die Polizisten, die Sanitäter nur im Augenwinkel und konzentrierte mich weiter auf den Verkehr. Stieg sogar ein bisschen aufs Gas. Aber hinschauen, nein, das tat ich nicht.

Am Abend in den TV-Nachrichten habe ich erfahren, dass die Frau die Mutter des Jungen war. Der Mann saß im zweiten Auto und hatte den Unfall verursacht. Geisterfahrer. Die zwei Erwachsenen überlebten, der Junge war tot. Es ist einfach nicht richtig, wenn Eltern ihr Kind begraben müssen.

In Liebe,
Dein Vater

Geliebte Tochter,

Wenn du weißt, du hast verloren, kommt die Trauer. Wenn du weißt, du hast den Sieg abgegeben, dann trauerst du. Diese Trauer breitet sich wie eine schwarze Decke über dich, und dann kannst du nichts mehr. Nicht mehr atmen, nicht mehr lachen, nicht mehr leben. Denn die Decke ist über dir, und manchmal ist es einfach zu schwer, sie abzustreifen. Denn eigentlich wollen wir nur leben. Auch wenn genau dies das Schwierigste auf der Welt ist, dann wollen wir eigentlich genau das. Denn wenn es zu spät ist, wissen wir, was wir wollen, nämlich genau das, was wir nicht mehr haben können. Und dann läuft das Leben nur noch an dir vorbei. Weil wir nicht mehr die Kraft haben, daran teilzunehmen. Denn die Trauer ist einfach zu stark. Trauer ist stärker als alles andere.

Plötzlich weißt du, dass du nicht stimmst. Weil manchmal wissen wir es einfach. Das Leben wird nie mehr so sein, wie es einmal war. Und dann wissen wir wieder, dass wir doch eigentlich nur leben wollen. Wozu du aber jetzt nicht mehr im Stande bist. Und dann fragen wir uns, warum es passiert. Warum es uns passiert. Warum es überhaupt passiert. Denn für manches kann es keinen Grund geben. Oder verstehen wir ihn einfach nur nicht? Sind die Regeln des Lebens so sehr irrational, so sehr über uns stehend, dass wir es einfach nicht mehr verstehen? Doch, es muss einen Grund geben. Doch verstehen tun wir ihn trotzdem nicht. Und dann fallen uns plötzlich unsere Träume wieder ein – unsere Träume, die plötzlich so weit weg, so unerreichbar erscheinen. Weil wir wissen, dass es nun zu spät ist. Für so vieles. Zu spät um zu sagen „Ich liebe dich“, zu spät um so vieles gut zu machen, so vieles zu erleben, zu spät, um zu fühlen.

Und das Leben geht einfach weiter. Du willst stark sein, doch irgendwie kannst du es nicht. Du kriegst es einfach nicht hin. Die simpelsten Dinge werden zur Qual, du hast die Kraft nicht mehr dazu. Denn es ist vorbei. Und du weißt es. Du weißt es einfach. Es ist vorbei. Zu spät. Und plötzlich will man, dass es wieder wie früher ist. Früher. Und nicht zu spät.

Frühere Zeiten kommen einem vor, wie aus einem anderen Leben. Oder als ein Leben von einem anderen. War das damals wirklich ich? Der, der gelacht hat? Der, dem nichts unterkriegen konnte? Der, der das Leben genoss? Der, der ich war? Es kommt einem so unwirklich vor, dieser Teil seiner Selbst, so als würde man ihn nicht mehr kennen. Nicht mehr wiederfinden. Das tut weh, manchmal so weh, dass man plötzlich wieder weiß, es ist vorbei. Und dann kommt wieder die Trauer.

Du versuchst, positiv zu denken. Es wird alles wieder gut. Es muss doch alles wieder gut werden, nicht wahr? Sag, dass alles wieder gut wird. Bitte sag, dass es vorbei geht. Dass ich mich nicht mehr krampfhaft ablenken muss, nur um noch zu fühlen, dass ich am Leben bin. Nur um nicht in Tränen auszubrechen, wie es so oft passiert in letzter Zeit. Weil dir plötzlich bewusst wird, dass du es in vergangen Zeiten so gut hattest. Und dass diese Zeiten nie mehr wieder kommen werden. Man schätzt es erst, nachdem einem alles genommen wurde.

Irgendwann kannst du einfach nicht mehr. Irgendwann ist es genug.

In Liebe,
Dein Vater

Geliebte Tochter,

alle Vorbereitungen sind getroffen. Ich freue mich auf dich!

In Liebe,
Dein Vater

Geliebte Tochter,

Man sagt, wenn die Eltern sterben, spürt das Kind seine Sterblichkeit. Aber wenn das Kind stirbt, verlieren die Eltern ihre Untersterblichkeit.

Ein einzelner Moment kann dein ganzes Leben verändern. Dann ist nichts mehr, wie es war. Plötzlich ist alles dunkel. Auch wenn es draußen hell ist. Plötzlich wird es zu viel. Du weißt, wenn das Ende gekommen ist. Du weißt, wenn es Aus ist. Und es tut weh, mehr weh, als du es dir je vorstellen konntest. Du weißt, wenn es nicht mehr weitergeht. Wenn es sich so nicht mehr lohnt zu leben.

DU allerdings, du wolltest immer leben. Bist jedem neuen Tag mit einem Lächeln begegnet, bist in den Wiesen, unter der hellen Sonne, herum gesprungen, und wusstest schon so früh, dass das Leben so wertvoll ist. Dass es wertvoll ist, zu leben. Es ist ein Geschenk.

DU warst mein Geschenk.

Und dann geschah es, am 11. März vor zwei Jahren, ein Tag eigentlich wie jeder anderer. Ein Tag, begonnen wie so viele zuvor. Nur nicht endend wie so viele zuvor. Denn du hast das Auto nicht gesehen, als du die Straße zu deiner Schule überqueren wolltest. Oder hat dich der Fahrer nicht gesehen? Aber Gott hat dich gesehen, oder? Er muss dich gesehen und in dem Moment entschlossen haben, dich zu ihm zu holen und einen weiteren Engel auferstehen zu lassen. Ansonsten wäre der Rettungstransport nicht zu spät gekommen, ansonsten hätte mich deine Mutter nicht in der Arbeit unter Tränen angerufen. Ansonsten wäre mein Leben nicht zerstört worden.

Seit jenem Tag wünsche ich mir, ich sei auch tot. Zu leben kam mir nicht mehr mutig, nicht mehr erstrebenswert, sondern nur noch sinnlos vor. Und doch hat es bis jetzt gedauert, bis ich entschlossen habe, zu dir zu kommen. Für immer bei dir zu bleiben. Im Himmel sind wir wieder vereint, sind wieder Vater und Tochter, sind wieder eine Familie.

All diese Briefe habe ich dir ans Grab gelegt, habe mit dir kommuniziert, ohne Antwort zu erwarten. Jetzt muss ich nicht mehr schreiben. Weil wir nun endlich wieder zusammen sind.

Vor einer Stunde habe ich einen Tablettencocktail zu mir genommen. Ich langweile dich nicht mit komplizierten Medikamentennamen, ich weiß, wie sehr du das hasst. Dazu habe ich Wein getrunken, meine Lieblingssorte, jenen, den sich deine Mutter und ich so gerne dann und wann abends gegönnt haben, nachdem wir dich ins Bettchen brachten.

Die Wirkung müsste bald einsetzen. Das Zimmer rund um mich beginnt, sich zu drehen. Fängt es so an? Fängt so das Ende des Lebens an? Dass man Farben, Konturen, Gerüche nicht mehr erkennt, nicht mehr auseinander halten kann?

Ich beginne, schwer zu atmen. Ich glaube, ich muss mich nun auf mein Bett legen. Die Augen schließen, mich ausruhen. Mich auf meine Reise bereit machen. Meine Reise zu dir, meine geliebte Tochter. Denn hier, in einer fahlen, leeren Welt, ohne dich, gibt es nichts mehr zu tun.

Hab ich zu viel gesagt? Mir fallen keine Worte mehr ein.

Ich

 

Das ist meine erste Kurzgeschichte, also sicher noch nicht perfekt...
was aber,

lieber blueValentine –
und damit erst einmal herzlich willkommen hierselbst –

was aber ist schon perfekt? Weder Tochter, noch Vater, weder Autor, noch Leser, oder kürzer: Niemand und Nichts!, dass ich mich sogar hinreißen lasse: alles Leben ist so wenig perfekt wie der Tod nur sein kann, mag er auch das Leben perfekt abschließen … Aber im Ernst: wer hätte da nicht selbst drauf kommen können?

Versteh es nicht falsch, das lag nicht an dir, sondern allein an deinem Baby-Sein.
Was ist der Unterschied eines „Dir“ (= Du, der, die /das andere Ich) und eines „Baby-Seins“, einer frühen Entwicklungsstufe, aber doch auf dem Weg zum baby-talk. Aber Identität ist das Thema des Vaters:
Bis du in meine Welt kamst, bin ich in der Welt herumgewandert, ziellos, wie in Watte gepackt –
mag schon sein, aber „wieso“ in Watte gepackt? Selbst wenn einer geschont wird, ist er nicht in Watte gepackt. Aber unbewusst triffstu das richtige, rettest den Brief“roman“ vorm Kitsch – schon allein das wäre Grund genug, auf Deine Briefgeschichte (Roman will es ja vielleicht noch werden) einzugehen, ob sie mir gefiele oder auch nicht, denn
wada (altfriesisch), wadare (altniederfränkisch, was man heute Niederländisch nennt), watan (althochdeutsch), dass mit dem Mittelhochdeutschen zum „waten“ umgelautet wird, hat weniger mit dem Watt und schon gar nix mit der Watte zu tun, sondern bedeutet ganz einfach ein „hindurch“-gehen. Das passive „in Watte gepackt sein / werden“ wird also zum aktiven „durch die Welt gehen“, denn es ist die Entscheidung des bindungslosen Gesellen, der Briefschreiber einmal war.

Der gleiche Brief enthält einen Satz, über den man eine ganze Philosophie aufbauen könnte, was ich aber unterlassen werde, weil gerade eine Variation darüber über kg.de fliegt …

Ich bin, weil du bist.

Die Kleinkrämerseele konnte ihren Durst ein wenig stillen:

12 Jahre ist es bereits her.
Zahlen bis zwölf werden üblicherweise ausgeschrieben.

…, zu sehr hervorquellende Augen, und ein klein bisschen zu dick, sogar für ein Baby.
Das Bindewort (und) ersetzt in Aufzählungen (wie hier) das Komma, wäre somit entbehrlich, also besser
…hervorquellende Augen […] und ein klein bisschen zu dick, sogar für ein Baby.

Weil die wenn-Passage dann doch mit dem dort freigesetzten Komma besetzt werden kann

Weil[,] wenn es dann tatsächlich da ist, ist sowieso alles anders.
(jeder Nebensatz hat wie das richtige Leben Anfang und Ende; dass Ende hastu ja angezeigt)

Was gestern noch so wichtig erschien, war heute seltsam verschwommen. Wer gestern Gott war, war heute nur noch Mensch.
Sollten da nicht die Gegensätze / Wandlungen durch den Gezeitenwechsel dargestellt werden? Also etwa
Was gestern noch so wichtig erschien, [ist]heute seltsam verschwommen. …, [ist] heute nur noch Mensch.
Oder besser noch im Konjunktiv, da am Wandel ja auch Zweifel aufkommen können – etwa der Identität: wie kann jemand die gleiche Person als Vater sein, die er vor der Vaterschaft war?, um zum Anfang zurückzukehren.

Den Garten instand halten.
Instandsetzen wie –halten immer zusammen!

Schöne, wohl eher zufällige (Tippfehler!) Wortschöpfung (sofern sie sich durchsetzen könnte, wäre es ein schönes Wort für die Aufbewahrungsstätten für Kinder in großen Verkaufszentren)

stundenland

… mit deinen kurzen Beinchen …
Könnten dann nur die Läufe des Dackels sein, selbst beim kleinsten Pinscher wirken sie proportional „lang“.

Wenn du weißt, du hast verloren, kommt die Trauer.
In dem Passus verwechselstu Trauer (um einen anderen) mit der Melancholie, in der es um einen selbst geht, vereinfacht gesagt: um Selbstmitleid, das ja auch im weiteren Verlauf durchklingt
Wie hier:
Wenn du weißt, du hast den Sieg abgegeben, dann trauerst du. Diese Trauer breitet sich wie eine schwarze Decke über dich, und dann kannst du nichts mehr.
Du trauerst nicht, Du wirst schwermütig …!

Seit jenem Tag wünsche ich mir, ich sei auch tot.
Konjunktiv irrealis wäre hier korrekt:
…, ich [wäre] auch tot.

All diese Briefe habe ich dir ans Grab gelegt, habe mit dir kommuniziert, ohne Antwort zu erwarten.
Kommunizieren, tun wir das nicht alle, sogar mit dem Weltraum, quasi ins Leere hinein (denn trotz der Masse an Materie ist der Weltraum „leerer“ Raum, wie die A 1 eine leere Fahrbahn wäre, gingen da alle paar Kilometer voneinander entfernt vereinzelte Fußgänger …

So wäre denn ein erster Schritt getan!

Gruß

Friedel

 
Zuletzt bearbeitet:

blueValentine schrieb zu seiner Geschichte:
Das ist meine erste Kurzgeschichte, also sicher noch nicht perfekt...

Solche Anmerkungen bitte immer in einem extra Posting hinterlegen.

**************************************************

Hallo und herzlich Willkommen, blueValentine

In gewisser Weise liegt das Experiment darin, eine Geschichte mittels Briefen aufzurollen, und so die letzten zwei Jahre des müde gewordenen Vaters Revue passieren zu lassen.

Kann man so machen, allerdings wirkt das auf mich arg konstruiert, ich spüre die Bemühung des Autors, die Katze erst mit dem letzten Brief aus dem Sack, statt etwas mehr die Gefühlswelt des Vaters spielen zu lassen. Die Briefe sind meiner Meinung nach alle gleichförmig, jede Erinnerung monoton, spannungsarm, zerfliesst im Selbstmitleid, das wird mit der Zeit einfach langweilig.
Warum nicht einen wütenden Brief voller Vorwürfe einstreuen, oder einen, bei dem die Banalität des Alltags dem ganzen schon fast ein Ende gemacht hat.

Heute morgen am Kaffee verbrüht, und vor Schreck am Brotmesser geschnitten. Aber nicht so, dass es jetzt genäht werden müsste. Obwohl, der Gedanke war da, einfach ein tiefer Schnitt, einmal feste durch, doch dann klingelte das Telefon, und ich traf nur den Daumen, du hättest mich mal Fluchen hören sollen, es blutetet wie verrückt ...
nur so ein Gedanke. ;)

Weil mMn der Ausgang vorhersehbar ist, hat's mich jetzt nicht so vom Hocker gerissen.
Auch die für meine Begriffe etwas unlogischen Begebenheiten, wie das beschleunigte Vorbeifahren an einem Unfallort ohne Hinzuschauen, und dann trotzdem den Unfallort in allen Details wiedergeben zu können, gefiel mir nicht so gut.

Aber hei, aller Anfang ist schwer, und hier kannst du dich ausprobieren und verbessern. Lese dich in den Rubriken um, kommentiere andere Geschichten, so werden auch deine Texte besprochen und bringen dich weiter.

Viel Spass noch,
Gruss dot

 

Hallo blueValentine

Das ist meine erste Kurzgeschichte, also sicher noch nicht perfekt...

Stimmt, sie ist nicht perfekt. Und auch deine zweite, dritte, vierte usw. werden nicht perfekt sein. Ich habe noch nie eine "perfekte" Geschichte gelesen, ich weiss nicht einmal, was das sein soll.

Zur Geschichte: Ich finde, sie ist hier in der falschen Rubrik. Die Briefform und auch die 2. Person Singular-Perspektive wurden schon so oft verarbeitet, dass ich beides nicht als "experimentell" bezeichnen würde. Oder wo liegt hier deiner Meinung nach das Experiment? Vielleicht habe ich es auch übersehen.

Ich finde die Grundidee gut, und auch die Umsetzung bis zu einem gewissen Grad. Insgesamt hat mir die Geschichte gefallen. Ich gehe einfach mal durch meine Notizen beim Lesen, da ist Positives und Negatives dabei:

Geliebte Tochter,

Zeig mir einen Vater, der einen Brief an seine Tochter mit "Geliebte Tochter" beginnt. Das ist gestelzt und passt nicht zum Stil der Briefe, also ersetze es besser durch "Liebe Yvonne" oder dergleichen.

heute musste ich an den Tag denken, an den du geboren wurdest.

dem

Ein solcher Fehler sollte gerade im ersten Satz nicht passieren. Da sind viele so Flüchtigkeitsfehler drin, das ist sicher etwas, woran du arbeiten musst - die lassen sich allerdings auch leicht vermeiden.

Zu großer Kopf, zu sehr hervorquellende Augen,

"zu sehr hervorquellende" ist eine doppelte "Steigerung", das "zu" steigert ja schon, da kann das "sehr" dann entfallen.
Hat mir aber gut gefallen, dass der Vater seine Tochter als "hässliches" Baby bezeichnet, das ist mal etwas anderes. Normalerweise schwärmen die Eltern ja von ihren Babys, teilweise bis zur Grenze der Zumutbarkeit, also das fand ich dann gut hier. Hat mich dann auch zum Weiterlesen animiert.

Aber natürlich fand dich jeder wunderschön, warst der plötzliche Mittelpunkt der Welt,

Da fehlt ein "du", das kann auch nicht entfallen, weil es im ersten Teil des Satzes "dich" heisst. Besser: "warst plötzlich der Mittelpunkt der Welt". Oder kann ein Mittelpunkt "plötzlich" sein?

Versteh es nicht falsch, das lag nicht an dir, sondern allein an deinem Baby-Sein.

Baby-Sein ist schrecklich, später kommt auch Vater-Sein. Fällt dir da nicht etwas Besseres ein? Notfalls: "... sondern allein daran, dass du ein Baby warst."

Oder du hast in die Windel geschissen und dabei herzhaft jauchzende Laute von dir gegeben.

Du hast viele solche Sätze drin, die aufgebläht mit unnötigen Informationen sind. Da kannst du mMn viel streichen. Hier: "herzhaft jauchzende Laute von dir gegeben". Warum nicht einfach: "und dabei gelacht". Ist viel kürzer und sagt dasselbe aus.

Prinzipiell denke ich, die Geschichte kommt besser rüber, wenn du vieles streichst, das muss kürzer sein. Vor allem, weil du vieles wiederholst und viel auch schlicht unnötig ist. Da verlierst du den einen oder anderen Leser, weil später nur noch überflogen wird (so ging es mir etwa mit dem Drittletzten, recht langen Brief).

Schließlich hat sie dich unter Schmerzen aus ihr raus gepresst,

Das klingt überaus schräg, das muss doch heissen: "aus sich rausgepresst [zusammen!]"

Wie sehr bin ich zum Mann geworden, während du zum Kind wurdest.

Den Satz finde ich sehr gelungen. Es "verstecken" sich ein paar gute Sätze hier, meist aber eben aufgebläht mit unnötigen Informationen. Hier ist das nicht so, deshalb sticht der raus.

Was gestern noch so wichtig erschien, war heute seltsam verschwommen.

Hm ... was meinst du zu: "Was vorher noch wichtig erschien, war plötzlich seltsam verschwommen". Das "gestern-heute" macht irgendwie nur Sinn, wenn sich "heute" auf die Gegenwart bezieht, oder? Auch finde ich "seltsam verschwommen" irgendwie ... seltsam verschwommen ;-).

Deine Mutter war nie eine jener Frauen, die alles selbst in die Hand nehmen.

Auch das geht prägnanter: "Deine Mutter war nie eine [oder: keine] Frau, die alles selbst in die Hand nahm".

Ich war immer derjenige in der Familie, der sich um alles kümmern musste.

Streiche: "in der Familie".

Ich höre jetzt auf mit diesen Beispielen, vielleicht gehst du den Text da nochmal kritisch durch und versuchst, unnötiges zu streichen und das Nötige zu kürzen.

Ich war der Mann, der sich um Haus, Hund, Frau und Kind kümmerte.

Das ist so ein ein Beispiel für inhaltliche Wiederholungen, das wird in dem Absatz in verschiedenen Variationen mindestens fünfmal gesagt. Das ermüdet den Leser, weil er denkt: Ja, schon gut, ich habs jetzt kapiert.

Du warst Schuld.

Hier: Du warst schuld. Aber: Du hattest Schuld. Ich finde erstes besser.

Nein, es hat uns nicht zusammengeschweißt. Es hat uns auseinander gerissen.

Das ist eine inhaltliche Schwäche des Textes, dass vieles nur angedeutet, aber nichts richtig erzählt wird. Da machst du es dir als Autor zu einfach. Ich habe jetzt oft gesagt, kürze hier, streich das, aber gerade hier darfst (oder solltest) du ausführlicher werden. Das wird hier so einfach in den Raum gestellt. Kann natürlich schon so sein, aber was bringt es dem Leser? Später hast du einen viel besseren Absatz drin, mit den Spice Girls, da gibst du dem Leser ein konkretes Bild, das ist viel besser als solche Allgemeinplätze hier, die im Text leider dominieren.

Durch dich hat mein Leben einen Sinn bekommen, bin ich Vater und Ehemann geworden, hab meinen Platz in der Welt gefunden, hab meinen Fußabdruck hinterlassen.

Ja, das weiss der Leser an der Stelle schon, weg damit, am besten mit dem ganzen Absatz. Da kommt nichts Neues.

Und ich musste mit klatschen und mit grölen.

mitklatschen, mitgrölen

Eben, der Absatz, der ist gut, mit dem Lied und so, das hat mir gefallen.

Du hast komplizierte Dinge so einfach gemacht, nur in schwarz und weiß unterteilt, keine Grauzonen, die das Leben so kompliziert machen.

Wieder so Allgemeinplätze. Zwar kommt in dem Absatz ein konkretes Beispiel mit dem Angler (übrigens: Da sind sehr viele Stellen, die man streichen kann, "kurze Beinchen" und so, geh da nochmal drüber), aber irgendwie unterstreicht das Beispiel diese Schlussfolgerung hier nicht, oder nicht genug. Also entweder konkretes Beispiel für die Schlussfolgerung bringen, oder sie streichen.

Ich bin in den letzten Wochen öfters hier her gekommen,

hierher

Nimm etwas anderes im nächsten Satz, das ist sonst gedoppelt und klingt nicht gut.

Der nächste Absatz, der mit dem Unfall, kann komplett raus. dot hat auf die Unlogik schon hingewiesen, und abgesehen davon bringt er den Text nicht weiter.

Der nächste Absatz (Brief) finde ich den schwächsten in der Geschichte, wie gesagt, den hab ich auch mehr so überflogen. Der ist schwulstig, zu melancholisch, pseudo-philosophisch, am Ende einfach nichtssagend. Ich glaube nicht, dass der Text irgendwas verlieren würde, wenn der Brief nicht dabei wäre.

Man sagt, wenn die Eltern sterben, spürt das Kind seine Sterblichkeit. Aber wenn das Kind stirbt, verlieren die Eltern ihre Untersterblichkeit.

Find ich gut, sagt man das so? Hab ich noch nie gehört. Falls es von dir ist, echt gelungen.

Und dann geschah es, am 11. März vor zwei Jahren, ein Tag eigentlich wie jeder anderer.

Warum die konkrete Datumsangabe? Und dann noch eine mehr oder weniger "prominente" (ich dachte an den Amoklauf von Winnenden). Würde ich weglassen.

Er muss dich gesehen und in dem Moment entschlossen haben, dich zu ihm zu holen und einen weiteren Engel auferstehen zu lassen.

Wie oben schon: "zu sich zu holen" klingt deutlich besser, ich weiss nicht einmal ob "zu ihm zu holen" hier grammatikalisch richtig ist.

Also ich glaube, du hast gesehen, worauf es mir ankommt:

Sprachlich: Vieles ist zu aufgebläht, der Text kann stark entschlackt werden und kommt dann sicher besser rüber.

Inhaltlich: Weg mit den Allgemeinplätzen, mehr konkrete Beispiele, dann wird auch deutlicher, was im Leben des Vaters denn nun alles schief gelaufen ist. Natürlich ist der Tod des eigenen Kindes mit das schlimmste Ereignis, das einen Menschen treffen kann, aber es passiert sehr oft und ein Selbstmord danach ist doch eher ungewöhnlich. Da müsste einfach mehr kommen.

Und, wie schon gesagt, für mich die falsche Rubrik.

Hoffe du konntest was mit den Anmerkungen anfangen, viel Spass noch hier auf der Seite.

Viele Grüsse,
Schwups

 

Hi blueValentine!

Mir hat deine Geschichte im Prinzip sehr gut gefallen, weil sie sich, was ja ursprünglich ein wichtiges Merkmal der Kurzgeschichte ist, erst im Laufe der Erzählung selbst erklärt.
Allerdings wirkt das Kernthema, also ihr tod, über die briefe hinweg manchmal zu gezielt vermieden, finde ich.

Außerdem wäre es, glaube ich, besser, wenn du in die einzelnen Briefe jeweils eine Kernaussage hineintust, das liest sich besser und leichter, als wenn er abschnittweise nur von seinem traurig-langweiligen Leben erzählt. Ein roter Faden, der sich durch die Briefe zieht, irgendwas in der art.

So würde auch mehr eine Begründung zu seinem Selbstmord aufkommen.

Was ich sehr gerne mochte, war die Anrede, also "Geliebte Tochter". Ich finde,das hebt die innige und nicht wenig sehnsüchtige Beziehung zu seiner toten Tochter dufte hervor.

alles liebe,

eatpraylove

 

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