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Ein Jahrhundertsommer? Florian Illies’ „1913“

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Ein Jahrhundertsommer? Florian Illies’ „1913“

Ein Jahrhundertsommer? –
Florian Illies’ „1913“, das Jahr, das moderner nicht sein könnte

für Novak

Lange schon ist die Frieden stiftende Kraft der Globalisierung bewiesen, denn allzu eng sind die Realwirtschaften miteinander verknüpft, als dass nicht jede für sich andernfalls Schaden nähme. Kommunikative Netzwerke, vor allem aber die Finanzmärkte verstärken den Effekt, sind quasi der Kitt, der die Welt zusammenhält. Gleichgültig, welche Nation ihre Kräfte an einer anderen militärisch messen wollte, der Einfluss der Finanzwelt gegenüber den Regierungen käme zum Tragen, um jede dem Welthandel ruinöse Situation zu beenden.

Wer würde dergleichen in scharfsinniger Analyse vorgetragenem Ergebnis heute misstrauen wollen, wenn sie denn von einer Koryphäe vorgetragen wird? Wenn zudem der Präsident der Stanford University ins gleiche Horn bläst und überzeugt ist, dass „Bankiers […] nicht das Geld für solch einen Krieg auftreiben [werden], die Industrie wird ihn nicht in Gang halten, die Staatsmänner können es nicht“, und wäre es allein aufgrund eigener Sparbeschlüsse.

Aber es ist Juni, der Sommer ist eher durchwachsen, und wir zählen das Jahr 1913. Wir Nachgeborenen wissen, die Prognose hätte genauso gut von einem Kaffeesatzleser stammen können oder einem Leser des Vogelfluges Gymnogyps californianus', dem fast ausgestorbenen Kalifornischen Kondor. Da kommt die Anekdotensammlung

1913. Der Sommer des Jahrhunderts von Florian Illies​

wie gerufen, um auch heutige Ereignisse zu relativieren.

Kann aber einer, der gerade 600 und mehr Seiten Anekdoten der Tante Jolesch und deren Erben – in denen Friedrich Torberg (1908 – 1979) auf grandiose Weise Prager Milieu und Wiener Kaffeehausgesellschaft der deutsch-jüdischen Kultursymbiose auferstehen lässt, die vom braunen Terror dahingemeuchelt wurde – noch einmal mehr als 300 Seiten Anekdoten verkraften? Man kann, denn was Torberg aus eigener Anschauung und vom Hörensagen festhielt, musste Illies im Faktenstudium sich erarbeiten. Warum sollte ein Leser es also nicht schaffen?

Entstanden ist ein brillantes Werk über das Jahr der großen Illusion, den „Sommer des Jahrhunderts“ nennt Illies ihn. Ein Tempel der kulturellen Ereignisse: Proust, Musil und Joyce arbeiten an ihren Meisterwerken und Gertrude Stein bemerkt scharfsinnig, eine Rose sei eine Rose. Derweil arbeitet Max Weber an der Entzauberung der Welt und Oswald Spengler am Untergang des Abendlandes. Die Welt scheint endlich bereit zu sein, die Geburt der literarischen Moderne z. K. zu nehmen und zu verkraften: Büchners Woyzeck wird uraufgeführt und Strawinskys Le Sacre du Printemps lässt den kulturellen Boden erbeben. Der Blaue Reiter wird in seinem dritten Jahr zu Tode geritten, Kubismus heißt die neue Formel und das Vorderrad eines Fahrrades wird zum ersten Readymade.

Ecstasy wird als Appetitzügler patentiert, der Grabstein zu Tante-Emma-Läden wird gesetzt, ein erster Aldi-Markt eröffnet. Die Mona Lisa wird geklaut und nach langen Monaten vergeblicher Suche wird der Täter zum italienischen Nationalhelden: er hat das Beutestück Napoleons wieder in seine Heimat zurückgebracht!

Wir erfahren wie nebenbei vom Vater-Sohn-Konflikt zwischen Sigmund Freud und C. G. Jung, aber auch von der Rivalität der Ärzte Schnitzler (Traumnovelle) und Freud (Traumdeutung): Als in Schnitzlers Praxis der Sohn eines Industriellen blutüberströmt eingeliefert wird – ein Pony (!) hat ihm in den Penis gebissen! – ordnet Doktor Schnitzler an, den Patienten in die Unfallklinik zu bringen „und das Pony am besten zu Professor Freud.“

Und nun, da ich diese mit leichter Hand zusammengestellte Sammlung mit großem Vergnügen gelesen habe, frag ich mich besorgt: Ist Rilke seinen Schnupfen überhaupt losgeworden? Und: Darf über den Vorabend der Jahrhundertkatastrophe, an der wir heute noch laborieren, gelacht werden – immerhin geistern schon die Würgeengel – in alphabetischer Reihenfolge, damit keiner bevorzugt werde - Hitler und Stalin durch das Buch? Wenn nicht, mag man mich getrost einen Banausen nennen.

Was ich aber weiß ist, dass Kafka auf brieflichem Wege um Felice Bauer wirbt (was ein Kafkaesser natürlich schon vorher weiß …, aber als Anekdoten betrachtet wachsen die Briefe sich zur Kurzgeschichte aus). Es mag die seltsamste Brautwerbung sein, der Heiratsantrag als Offenbarungseid!, allein: der komischste Brief derart stammt immer noch vom 16. Oktober 1847 von Gottfried Keller an Luise Rieter, aufbewahrt in der Zentralbibliothek Zürich! Natürlich verbietet sich eigentlich die Erwähnung dieses Kuriositätenschatzes. Wenn man’s aber weiß, relativieren sich die Leiden der beiden. Aber auch die Koryphäen zu Anfang dieser Rezension – glaube keiner, es gäbe nicht mehr heute dergleichen! – finden Widerspruch in einer eigenwilligeren Koryphäe, die gerade jetzt zum Jahreswechsel auf Schwächen heutiger Politik hinweist, weshalb „Investmentbanker und die von ihnen bezahlten Rating-Agenturen zu Herren der Weltpolitik werden. Sie verstehen immer mehr von immer weniger – und produzieren Schrecken.“

Wie dem auch sei, Illies zitiert Tucholskys Großstadt-Weihnachten, das mit dem Vers schließt „Wir spielen alle. Wer es weiß, ist klug.“, wiederum ein Zitat von Schnitzler. Das sei „so etwas wie der geheime Code des Jahres 1913“, findet Illies. Und 2013?

Illies spielt gekonnt mit dem Jahr!, schafft wie Torberg eine eigene Geschichtsschreibung der anderen Art. Zur Quellenlage könnte freilich die angehängte „Auswahlbibliographie“ etwas präziser sein, was gleichwohl dem Lesegenuss keinen Abbruch tut.
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Verwendete Literatur und daraus verwendete Zitate:

Florian Illies: 1913. Der Sommer des Jahrhunderts, Ffm. 2012,
Zitate zum Pony-Biss S. 62 f., zur globalisierten Friedfertigkeit S. 155 f. und Tucholsky S. 302 f.

Helmut Schmidt: Pflicht zur Solidarität. Mancher in Europa weist den Deutschen in der Krise eine Führungsrolle zu. Wir sollten uns davor hüten!, in: Die Zeit, Nr. 1, 27. 12. 2012, S. 1

Friedrich Torberg: Die Tante Jolesch oder der Untergang des Abendlandes in Anekdoten
ders.: Die Erben der Tante Jolesch

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Friedel,
eine Widmung hab ich noch nie gekriegt.
Da kringelt man sich denn doch mal geschmeichelt auf dem Sofa und freut sich.
Und dann liest sich deine Rezension auch noch überaus gut.
So gut und spannend klingt es, was du schreibst, dass man 1913 für kurzweilig hält. Ist das wirklich so? Oder ist dir da nur deine Friedelfeder mit dir selber durchgegangen? Ich kanns kaum glauben, dass ein 800 seitiges Buch sich so gut liest, du beschreibst es bestimmt nur schön plastisch.
Wie auch immer, deine amüsante Rezeption bebildert Ereignisse und Anekdoten des Jahres 1913 so, dass es Lust auf mehr macht.
Alternative Geschichtsschreibung: Vom Pony mit, ja wie nennt man das Kastrationskomplex? Vom Kubismus bis hin zum Kafka-Werbebrief um Felice Bauer.
Vielleicht hätt er sich lieber frühzeitiger outen sollen, statt so viel Kraft in Briefe zu verpuffen, das ist aber nur meine unmaßgebliche Meinung.
Dankeschön für die kleinen Geschichtsappetizer. Machen Lust auf mehr.
Bis die Tage, ich hoff, du bist gut reingekommen ins neue Jahr.
Vieke Grüße von Novak

 

eine Widmung hab ich noch nie gekriegt.

Dann wurd' das aber Zeit,

liebe Novak!,

und in der Tat, nicht nur ich neig zu Ironie, auch Illies. Aber eines muss ich doch korrigieren: die beiden Torberg-Bände messen über 600 Seiten (ich weiß gar nicht, ob der noch aufgelegt wird, ansonsten sollte er in gutsortierten Büchereien zu finden sein) und der Illies misst etwas über 300 Seiten, dass ich glatt noch mal reinschauen muss, ob ich's missverständlich ausdrück. Aber es gibt auch Bücher mit mehr als 800 Seiten, die sich gut lesen lassen (aber ich bin auch da ziemlich stur).

Friedelfeder
merk ich mir, Friedelengel werd ich aber nie.

Ich hoff, Du bist auch gut rübergekommen, sagt der

Friedel

 

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