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Love to go

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22.01.2013
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Love to go

Um ein gemeinsames Frühstück zu vermeiden, hatte ich mich an diesem Morgen schon viel zu früh auf den Weg zur Arbeit gemacht. Das Beste an Simon war, dass er öfter mal auf Geschäftsreise ging und so würde ich ihm auch heute Abend nicht begegnen. Ohne Eile schlenderte ich dahin und betrachtete dabei in den Schaufenstern das Spiegelbild einer unzufriedenen, mageren Frau. Sie hatte, ich hatte den Gesichtsausdruck einer überforderten Lateinlehrerin.
Versunken in diese etwas trübsinnigen Gedanken, wurde ich von der Veränderung des Ladens an der Ecke überrascht. Er liegt ganz in der Nähe meiner Wohnung und bot seit Monaten ein Bild stetigen Verfalls.

Jetzt aber: Die zerborstenen Fensterscheiben waren ersetzt und die Schmierereien an der Fassade übertüncht worden. Ein Schild verkündete in großen Lettern: Kommenden Samstag Neueröffnung: „Alles rund um Liebe und Liebelei“.
‚Ach ne‘, dachte ich, ‚muss das sein, ein Sexshop hier um die Ecke? Da hab ich ja nichts davon, schon allein wegen der Nachbarn. Wäre echt peinlich, wenn die mich da reingehen sehen.'
Trotzdem schlenderte ich am Samstag wie zufällig an dem Lädchen vorbei und staunte nicht schlecht: Im Schaufenster wurde nicht etwa für irgendwelche Pornos geworben und es lagen auch keine der anderen von mir erwarteten Utensilien in der Auslage. Auf dunkelblauem Samt sorgfältig arrangiert befanden sich vielmehr handgeschriebene Gedichte, CDs mit romantischer Musik und Zärtlichkeit verströmende Zeichnungen. Außerdem kleine Hinweistafeln mit Aufschriften wie: Nachmittagsliebelei, Wahre Liebe (auf eigene Gefahr!), Spezialität des Hauses: Erste Liebe und so fort.
Ins Auge aber sprang mir:
Unser Angebot der Woche: Love to go.
Das klang ein bisschen nach meinem Lieblingskaffee, den ich mir ab und zu morgens vor der Arbeit gönne. Neugierig trat ich ein. Beim Öffnen der Tür begannen Glöckchen melodisch zu klingeln und gleich darauf fand ich mich in einer Mischung aus Café, Buchladen und Apotheke wieder. Um runde Tische herum standen samtweiche, tiefe Sessel. Hohe Regale waren mit bunten Dosen und kunstvoll eingebundenen Büchern versehen. Daneben eine Ecke, die von einem großen Spiegel eingenommen wurde. Der zarte Duft von Orangenblüten streifte mich, irgendwoher kam leise, anrührende Musik und ein Holzofen verbreitete wohlige Wärme. Gerade richtig für diesen kalten Februartag.

Eine junge Frau kam auf mich zu. Obwohl der Laden so klein war, hatte ich sie bisher nicht bemerkt. Sie mochte etwa halb so alt sein wie ich und ihre Kleidung sah ein wenig nach ‚Bezaubernde Jeannie‘ aus. Irgendwie aus der Zeit gefallen. Arm- und Fußkettchen klimperten bei jeder ihrer Bewegungen so melodisch wie zuvor die Eingangstür, dunkle Locken fielen ihr in die Stirn. Ich hatte sie sofort gern. Das lag weniger an ihrem Aussehen als an ihrer sonnigen Ausstrahlung. Sie brachte in diesen schummrigen Raum so etwas Helles, Warmes … keine Ahnung, wie sie das anstellte.
„Kann ich Ihnen helfen?“, fragte sie.
„Vielleicht. Mich interessieren Ihre Werbesprüche aus dem Schaufenster.“
"Das sind keine Sprüche, sondern Versprechen. Lassen Sie mich nachdenken … in Ihrem Fall wäre die Erste Liebe wohl nicht das Richtige? Wobei, das Alter sagt da nicht viel.“

Lief da irgendwo die Versteckte Kamera? Denn was sie behauptete, war selbstverständlich völlig absurd! Leider. Aber - ich brachte es nicht über mich, ihr das in ihr freundliches Gesicht zu sagen. So vertraute ich ihr stattdessen an:
„Die wahre Liebe hatte ich schon. Vielleicht sollte man ihr mal begegnet sein, möglich, aber das reicht dann auch für ein Leben!“
„Die wahre Liebe ist ohnehin mit Abstand das Schwierigste, schon bei der Verabreichung. Wie wäre es dann mit etwas Einfacherem, zumindest für den Anfang? Wir haben Love to go im Angebot.“
„Das wäre ...?“
„Ich fülle hier in diesen Becher …“, dabei hielt sie mir eine große Porzellantasse entgegen, „ … eine nach Karamell schmeckende Flüssigkeit. Die trinken Sie in möglichst kleinen Schlucken, die Tasse können Sie sich dafür gerne ausleihen.“
„Und dann?“
„Das ist mit Worten schwer zu beschreiben. Nur soviel: Es öffnet die Augen - für sich selbst und für andere. In diesem Fall auf leichte und nicht unbedingt dauerhafte Weise. Nehmen Sie doch einfach mal einen ersten Schluck und sehen Sie in den Spiegel.“
Genau das tat ich und sah eine ziemlich schlanke Frau mit dem Gesichtsausdruck einer nur minimal überforderten Sportlehrerin.
Ein paar Minuten später stand ich leicht verwirrt wieder auf der Straße. Mir wurde kalt, die angenehme Wärme des Holzofens fehlte mir ebenso wie das sonnige Mädchen. Aber gehorsam leerte ich Schluck für Schluck den ganzen Becher.
Und ich fühlte mich besser, viel besser sogar! Es war wie ein inneres Auftauen, erst erreichte die Wärme meinen Bauch, dann mein Herz und schließlich fühlte ich mich ganz und gar leicht und wohl temperiert. Leise begann ich zu singen, das erste Mal seit sehr vielen Jahren. Simon hatte mir dieses peinliche Verhalten so gründlich abgewöhnt, dass mir meine eigene Stimme dabei ganz fremd vorkam.

„So fröhlich heute Morgen? Wie schön!“ Erschrocken drehte ich mich um. „Nein, bitte nicht aufhören!“
Den Gefallen konnte ich ihm nicht tun, jetzt, wo ich bemerkt hatte, dass er neben mir stand. Aber ich freute mich über Pauls Bemerkung. Paul, mit dem ich schon die Schulbank gedrückt hatte. Der Paul, der mir in meinen Zwanzigern bei jedem Umzug, den eine gescheiterte Liebe mit sich gebracht hatte, geholfen hatte. Der ewige Paul, dessen Haare grauer und weniger geworden waren mit den Jahren, dessen Lachen aber offen und echt geblieben war. Und seine Augen … meine Güte, das war mir in all den Jahren gar nicht aufgefallen, was für liebe Augen er hatte!

Ich lud ihn auf einen Kaffee ein, dann verbrachten wir wie selbstverständlich den Rest des Wochenendes miteinander. Wir erzählten uns verrückte Geschichten, gestanden uns die schrägsten Phantasien, liebten uns schließlich, erst scheu, dann atemlos – 35 Jahre nach unserer ersten Begegnung in der 7. Klasse! Und lagen uns danach lachend in den Armen.
Am Montagmorgen frühstückten wir noch zusammen, dann ging er fort. Verlegen. Unsicher fragend: „Wir sind jetzt aber noch Freunde, oder? Das haben wir uns jetzt nicht kaputt gemacht, versprich mir das!“
Und war verschwunden.

Am Abend kam Simon von seiner Geschäftsreise zurück.
Ich schaffte es nicht, Paul anzurufen. Er meldete sich auch nicht. Was hätten wir uns auch sagen sollen? Zum Glück begannen sich meine Gefühle nach zwei Tagen allmählich zu beruhigen.
Zumindest dachte ich das, bis ich nachts aufwachte, weil ich Pauls Namen murmelte. Auch Simon wurde davon wach. Als ob er auf diesen Moment schon länger gewartet hätte, packte er seine Sachen, legte den Haustürschlüssel auf den Küchentisch und verschwand nach 12 Jahren fast spurlos aus meinem Leben.

Und einen Tag später stand ich, die geliehene Tasse in der Hand, wieder vor dem Laden. Das übliche Zögern, dann trat ich ein. „Oh, wie schön, da sind Sie ja!“, die junge Frau sah mich strahlend an, „und Sie möchten nicht nur den Becher zurückgeben?“
„Stimmt, ich würde es gerne doch mit der wahren Liebe versuchen.“
„Sie kennen die Risiken? Man vergisst leicht, auf sich selbst aufzupassen.“
„Ich weiß.“
„Dann setzen Sie sich bitte einen Moment, ich bereite Ihre Mischung vor. Zu Anfang müssen Sie ein paar bittere Pillen schlucken, aber besser, man gewöhnt sich gleich daran.“
Trotz ihrer Jugend war sie ein kluges Mädchen!

Nach einer Stunde stand ich wieder auf der Straße. In meinem Kopf noch das unglaubliche Spiegelbild von eben. Erwartungsvoll schaute ich mich um, doch Paul war nicht zu sehen. Trotzdem war ich in gehobener Stimmung, vermutlich wegen der verschiedenen bunten Pillen und Kräutermischungen, die sie mir verabreicht hatte - und die hoffentlich alle legal waren.

Pfeifend lief ich in Richtung Supermarkt, als ein Arm sich um meine Schulter legte.
„Na du? Wie ich höre, ist Simon ausgezogen?“ Mein Herz machte einen kleinen Sprung, als ich mich zu Paul umdrehte.
„Da hast du richtig gehört.“
„Und dir geht's trotzdem so gut? Fein. Komm, wir gehen ein Stück. Wenn du magst, können wir uns nachher zusammen meine neue CD anhören. Die habe ich gestern in diesem Laden an der Ecke gekauft, vielleicht ist der dir schon aufgefallen?“

Doch, konnte man so sagen.

 

„Die wahre Liebe ist ohnehin mit Abstand das Schwierigste, schon bei der Verabreichung. Wie wäre es dann mit etwas Einfacherem, zumindest für den Anfang? Wir haben Love to go im Angebot.“

Hallo Eva,

hab Deine Notiz an anderer Stelle gelesen und es tut mir sehr leid – aber ich hab Zeit und Du solltest sie Dir gönnen und einfach nehmen. Tröstliches kann ein bissiger Hund wie ich wohl gar nicht spenden.

Warum hab ich nun diese Geschichte gewählt?

Weil sie gänzlich anders ist als der „Augenblick“, wenn auch hier mit der Ware und der wahren Liebe gespielt wird wie zuvor mit dem Auge und dem Blick(en). Und ich lese es - vielleicht sogar gänzlich anders als Vorredner - als Satire, der freilich das Gebiss fehlt (braucht man ja auch selten für Getränke), zumindest sind Ansätze zur Satire auf den American Way Of Life und andere "woodways" wie es unser zwoter Bundespräsident einmal versehentlich ausdrückte. Der amerikanische Marketingfimmel, dem man sich bis zur marktkondormen Demokratur anpasst, ist deutlich zu erkennen. Da wandelt sich die „unzufriedene, magere Frau“ mit dem „Gesichtsausdruck einer überforderten Lateinlehrerin“ in eine

ziemlich schlanke Frau mit dem Gesichtsausdruck einer nur minimal überforderten Sportlehrerin.

Welchen Stoff mag sie bekommen und genommen haben? Irgendwann kommt die Regierung auf die Idee, den Stoff ins Trinkwasser zu geben … und man interessiert sich nur noch für alle Paule oder Paulinchen dieser Welt, seien sie nun ewig (was ja eine ziemlich lange Zeit wäre) oder nur bis zum nächsten Paul/inchen.
Der ewige Paul, dessen Haare grauer und weniger geworden waren mit den Jahren, dessen Lachen aber offen und echt geblieben war.
Echt kommt übrigens aus der Rechtsprache (echt = recht, gesetzmäßig) und das Adjektiv ist abgeleitet vom ahd. Substantiv ewa, verkürzt im mhd. auf die betonte erste Silbe zum e (das man das künftige, im nhd. kommende h eigentlich schon merken müsste) und bedeutet Recht, Gesetz, Ehe[vertrag]). Heute ist es nur noch der Gegenpol zu falsch.

Kleinere Flusen

„Kann ich Ihnen helfen?“[,] fragte sie.
(weil der übergeordnete Satz noch folgt)
Das sind keine Sprüche[,] sondern Versprechen.
(wg. der gleichrangigen Wörter [Sprüche, Versprechen] trotz oder besser: gerade wegen der entgegensetzenden Konjunktion [sondern])
verschwand nach 12 Jahren
(üblicherweise werden Zahlen bis zwölf ausgeschrieben)

& dat war't dann für heute schon.

Gern gelesen vom

Friedel

 

Lieber Friedel,

lieben Dank für deine Gedanken!
Ja, da hast du was entdeckt, ein wenig Satire steckt auch darin, denn die Werbung verspricht ja laufend und unermüdlich solche Wunder wie in der Story beschrieben ... Und das dies in dieser Form aus den USA rüberschwappte, habe ich schon als Jugendliche auf einer Japanreise bemerkt. Da schwappte es früher - es unterbrach 'verheißungsvolle Werbung' das laufende Fernsehprogramm - und ich dachte damals: "Wie blöd müssen Menschen sein, um sich das gefallen zu lassen?".
Tja ha ...

Die von dir bemerkten fehlenden Kommas habe ich ergänzt, danke. Die 12 lasse ich stehen, diese Zahl an sich hat für mich eine bestimmte Bedeutung und die merke ich besser, wenn sie nicht in Buchstaben ausgedrückt wird.
Ja, Zeit muss man sich nehmen, da hast du Recht. Aber immer geht das halt nicht, hauptsache halt: oft genug.

Echt kommt übrigens aus der Rechtsprache (echt = recht, gesetzmäßig) und das Adjektiv ist abgeleitet vom ahd. Substantiv ewa, verkürzt im mhd. auf die betonte erste Silbe zum e (das man das künftige, im nhd. kommende h eigentlich schon merken müsste) und bedeutet Recht, Gesetz, Ehe[vertrag]). Heute ist es nur noch der Gegenpol zu falsch.

Was du alles weißt! Du bist ja eine echte Fundgrube des Wissens, Klasse! Ich werde mir angewöhnen, deine Kommentare zu lesen, wo immer sie mir unterkommen.

Viele Grüße aus Südhessen,

Eva

 

Nix zu danken,

liebe Eva!

Die 12 lasse ich stehen,
so soll es sein, und mir ist lieber, eine/r hat ihren/seinen eigenen Kopf, als mir nach dem Maule zu reden. Ich mag zwar ein wandelndes Lexikon sein, aber irren kann ich trotzdem. Zudem soll man heilige Zahlen, wie die 12 nun mal ist, auch hoch halten (im übertragenen Sinne: 12 Stämme Israel, 12 Apostel, 12 Monate, 2 X 12 Stunden Tag usw. Und wenn sie dann noch eine persönliche, besondere Bedeutung hat ...
Du bist ja eine echte Fundgrube des Wissens, Klasse!
Na, woll'n mer ma' nich' übertreiben! Aber ich weiß, wo ich suchen müsste ...
Ich werde mir angewöhnen, deine Kommentare zu lesen, wo immer sie mir unterkommen.
Versuch's doch noch mal mit nem ganz normalen Text ... Wäre schön!

Schönen Gruß nach Südhessen aus der Wiege der Ruhrindustrie und ein - hoffentlich - schönes Wochenende wünscht der

Friedel

 

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