- Beitritt
- 15.07.2004
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Verhandlungssache
Für die anderen bin ich bloß das Sensibelchen.
Der Jammerlappen. Das Weichei.
Nicht, dass mich das überrascht. Ich weiß, was sie hinter meinem Rücken über mich sagen. Der liebe Gott hat mir zwei gesunde Ohren geschenkt. Ich bin nicht taub.
Aber seit gestern habe ich es schwarz auf weiß.
Auf den Dienstplan haben sie es geschmiert. Für alle sichtbar, mit Edding, in Großbuchstaben, direkt neben meinem Namen.
HEULSUSE!
Wahrscheinlich war es Meike, während Nadine, Yvonne und Michaela – ihr Fanclub – sich vor Lachen bepisst haben. Ja, der Meike würde ich das zutrauen. Unsympathisch bis zum Gehtnichtmehr.
Vielleicht war es auch Nadeschka. Der Stationseiszapfen.
Die heult nie. Ist immer zu hundert Prozent professionell. Hart wie Kruppstahl, das Mädchen. Und auch noch stolz darauf.
Nee, so bin ich nicht.
So will ich auch gar nicht sein.
Oder... oder Dr. Banz hat es geschrieben. Das wäre am Schlimmsten. Der Banz mochte mich noch nie. Von Anfang an nicht. Sagt jedem, ich sei zu weich für die Intensiv. Zu labil.
Wenn es der Banz war, dann ... Mensch ... dann kann ich eigentlich direkt hinschmeißen. Ehrlich. Dann bekomme ich hier kein Bein mehr auf den Boden. Nie wieder. Aber der Banz, der ist doch Arzt. Der darf doch nicht...
Verdammt! Ruhig bleiben. Ganz ruhig.
Ich hätte den Plan einfach abreißen sollen. Zerknüllen. Wegwerfen. Vergessen.
Darüber Lachen wäre auch gut gewesen.
Oder ihn wenigstens ignorieren.
Habe ich aber nicht gemacht. Nichts davon. Stattdessen bin ich ins Schwesternzimmer gelaufen und habe geflennt.
Flennen ist typisch für mich.
Heulsuse.
Katharina, die Heulsuse.
Das bin ich.
Ich muss mich zusammenreißen. Wir haben viel Arbeit. Haufenweise Patienten, alle kurz vorm krepieren.
Der Jüngste ist vier. Organversagen. Scheiße noch mal! Vier! Lieber Gott, mach, dass das nicht wahr ist!
Natürlich ist es wahr.
Die ganze Aura des Jungen ist merkwürdig grau. Er sieht aus, als sei er aus einem Schwarzweißfilm in die Gegenwart gefallen. Die Atemmaske ist viel zu groß für sein kleines Gesicht. Neben der Krankenbahre läuft schluchzend seine Mutter, hält seine Hand, schreit seinen Namen.
Yannik. Immer wieder, Yannik.
Der Sanitäter verdreht die Augen.
Meike kommt ihm zu Hilfe. Packt die Mutter am Arm. Sagt ihr, dass sie nicht mit in den Behandlungsraum kommen darf. Dass man alles tun wird, um ihrem Kleinen zu helfen, sicher doch, aber, dass sie Gott verdammt nicht im Weg stehen soll.
„Wir tun unser Bestes!“
Sie schreit es der Frau ins Gesicht. Lässt sie dann stehen und eilt dem Sanitäter hinterher. Einfühlsam ist anders.
Ich merke, wie mir wieder die Tränen in die Augen schießen.
Vielleicht hat Dr. Banz doch Recht und bin ich wirklich zu weich für diesen Job. Aber ein bisschen Menschlichkeit muss es hier doch auch geben. Wenigstens ein bisschen.
Ist das denn wirklich so falsch?
Ich gehe zu der Mutter, die wie versteinert in der Mitte des Krankenhausflures steht. Ihre Augen sind geweitet, starren auf die Tür, hinter der ihr Sohn gerade verschwunden ist. Ihre Hand scheint immer noch seine zu halten.
Ich lege meinen Arm um ihre Schulter und führe sie sanft zu einem Stuhl in der Nähe.
Noch während sie darauf plumpst, fängt sie an zu schluchzen.
Ich umarme sie und weine mit ihr. Das scheint sie zu beruhigen und ihr Kraft zu geben.
„Er schafft es!“, flüstert sie.
Es ist keine Frage.
Ich lächle und nicke.
„Er schafft es!“, antworte ich.
Meine Stimme ist fest und professionell. Ich bin ein bisschen stolz auf mich.
Beim Aufstehen drücke ich noch einmal ihre Hand.
„Er schafft es!“, wiederhole ich.
Und ich ... ich werde meinen Teil dazu beitragen.
Ich handele oft mit dem lieben Gott.
Früher nur bei den schrecklichsten Fällen. Denjenigen, die einem das Herz zerreißen.
Aber es gibt so viele davon. Viel mehr, als man ertragen kann.
Als ich ertragen kann.
Mittlerweile verhandele ich viel öfter mit ihm. Ich bin die Fürsprecherin für die Patienten, die nicht sterben dürfen. Die überleben müssen, weil ihre Zeit noch nicht gekommen ist.
Der graue Junge ist einer davon.
Ich muss einen Moment nachdenken.
Auf Zehenspitzen stehle ich mich an dem Raum vorbei, in dem sie um Yanniks Leben kämpfen. Dort kann ich gerade nichts tun.
Helfen werde ich ihm trotzdem.
Auf meine Art.
Leise öffne ich die Tür zum Nebenzimmer.
Aber dort ist schon Nadeschka. Mit verbissener Miene bearbeitet sie den Oberkörper einer alten Frau.
Reanimation.
Ich hasse dieses Wort. Es klingt so kalt und gefühllos, durch und durch nach Klinik.
Nadeschka bemerkt mich nicht, sondern drückt wie in Trance, versucht alles, um die Patientin zurückzuholen. Ihre Bewegungen sind präzise und zielgerichtet, ihre Mimik ist starr, beinahe fanatisch.
Mit angehaltenem Atem schaue ich ihr zu. Sie arbeitet wie eine Maschine.
Manchmal wäre ich doch gern wie sie.
Dann fällt mein Blick auf die Patientin. Ihr Gesicht liegt mir zugewandt.
Es strahlt trotz allem eine merkwürdige Würde aus und wirkt erstaunlich gelassen.
Diese Frau hat gelebt, durchfährt es mich.
Hier findet der Tod kein Opfer. Hier geht jemand, der bereit dafür ist.
Für einen kurzen Augenblick fühle ich mich erleichtert.
Ich nicke der Alten kurz zu.
Tränen rollen über mein Gesicht, als ich die Tür leise schließe.
Die Heulsuse in Aktion.
Im Schwesternzimmer finde ich die nötige Ruhe.
Kein Mensch ist hier.
Natürlich nicht. Alle arbeiten emsig wie die Ameisen.
Dr. Banz würde mir den Kopf abreißen, wenn er mich jetzt hier sehen würde.
Möglichweise sogar abmahnen.
Aber Dr. Banz ist bei Yannik. Ich wünsche ihm nur das Beste. Als Mensch ist er ein Vollarsch. Als Mediziner fast schon ein Genie.
Ich schließe die Augen und atme tief durch. Dann bin ich bereit.
Die Verhandlungen werden nicht einfach. Das sind sie nie.
Früher dachte ich, es ist genug, einfach zu beten und fest zu glauben.
Ab und an reicht das auch.
Aber eben nicht immer. Ich kann nie wirklich sicher sein.
Auch der liebe Gott hat eine Tagesform. Das musste ich lernen. Manchmal gibt er und manchmal nimmt er. Das darf man niemals vergessen, wenn man mit ihm verhandelt. Ich stehe nie mit leeren Händen da, wenn ich mit ihm ins Geschäft kommen will.
Und trotzdem: Einige sterben dennoch.
„Der Junge“, sage ich leise. „Yannik. Bitte! Bitte, lieber Gott, er ist noch nicht so weit. Hilf ihm! Bitte!“
Ich horche in mich rein, warte auf ein Zeichen.
Aber da ist nichts.
Ich strenge mich noch mehr an, wünsche mir mit jeder Faser meines Körpers, dass er mich erhört.
„Rette ihn, Herr!“
Meine Hände sind ineinander verkrampft. Blaue Adern treten hervor.
„Rette den Jungen!“
Stille.
Es ist an der Zeit, meinen Trumpf zu spielen.
„Du kannst die alte Frau haben“, murmele ich.
Wieder lausche ich. Immer noch nichts.
„Die Frau, lieber Gott! Nimm die Frau! Der Junge muss leben!“
Und dann endlich ein Ton, eine Art Brummen. Kaum zu hören. Aber doch da.
Wir haben Kontakt.
Ich keuche auf.
„Die Frau! Sie ist bereit dafür!“
Ich spüre, dass er mir zuhört.
Der liebe Gott spricht nicht wirklich mit mir. Zumindest nicht so, wie er in der Bibel mit Noah, Abraham oder Moses gesprochen hat. Er sendet mir Töne.
Ich weiß, wie das klingt. Aber es ist die Wahrheit.
Ein Ton heißt ja.
Ja, ich höre dich. Ja, ich sehe dich. Ja, ich wirke durch dich.
Je lauter der Ton, desto sicherer der Deal.
Es hat lange gedauert, bis ich das begriffen habe. Anfangs war ich unsicher.
Mittlerweile weiß ich genau, was ich sagen muss, um den Ton zu verstärken.
Natürlich heule ich wieder, als ich den entscheidenden Satz stammele.
„Und ich ... ich bin auch bereit dafür.“
Der Ton dröhnt jetzt donnernd in meinen Kopf.
Ich habe dem lieben Gott meine Hand gereicht.
Und er hat eingeschlagen.
Als ich das Schwesterzimmer verlasse, sitzt Yanniks Mutter noch immer reglos auf ihrem Stuhl. Ihr Gesicht ist jetzt ebenso grau wie das ihres Sohnes.
In diesem Moment tritt Nadeschka auf den Flur. Sie schüttelt sich kurz. Dann geht sie in den Raum, in dem der Junge liegt.
Die nimmermüde Nadeschka.
Die ewig heulende Katharina.
Der Herr steht mir bei.
Der Ton sirrt in meinen Kopf. Durch ihn fühle ich mich sicher.
Bevor ich tue, was getan werden muss, knie ich mich neben die wartende Frau.
„Gute Neuigkeiten“, sage ich. „Yannik kommt durch.“
Ihr Mund klappt auf. Trotzdem dauert es einige Sekunden, bevor sie einen Satz formen kann.
„Hat das der Arzt gesagt?“
Ich nicke. Es würde keinen Sinn machen, ihr alles zu erklären. Sie könnte es nicht verstehen. Es ist nicht ihre Schuld.
Niemand versteht das.
„Vertrauen Sie mir!“, sage ich sanft. „Warten sie ab! Aber keine Angst. Alles wird gut!“
Niemand beachtet mich, als ich in das Zimmer der alten Frau husche. Yanniks Mutter hält ihr Gesicht in beiden Händen und heult vor Glück. Für die anderen bin ich einfach nur eine Krankenschwester, die ihren Job erledigt. Ich passe ins Bild, bin unverdächtig. Die meisten nehmen mich ohnehin nicht wirklich wahr.
Trotzdem ist es um diese Zeit riskant. Zu viele Menschen auf dem Flur.
Aber Deal ist Deal.
Und Gott hält seine schützende Hand über mich.
Ich atme tief ein. Meine Finger wandern zu dem Gegenstand in der Kitteltasche.
Dann verharre ich.
Schon auf dem ersten Blick sehe ich, dass ich die Spritze mit dem Insulin nicht brauchen werde.
Danke!
Die Frau liegt seltsam verdreht in ihrem Bett. Es wird nicht lange dauern bis die Totenstarre einsetzt.
Ihr Blick ist starr, aber immer noch würdevoll.
Ich schicke ein Stoßgebet zum Himmel.
Der liebe Gott ist gnädig heute. Diesmal hat er selbst die Drecksarbeit übernommen.
Das ist leider nicht immer so.
Aber ich will nicht jammern. Es ist okay, wie es ist.
Ich schenke der Alten ein letztes Lächeln. Hoffentlich hat sie nicht lange leiden müssen.
Dann stehe ich wieder auf dem Flur.
Ich sehe, dass Meike mit Yanniks Mutter spricht. Die Frau schluchzt lautstark, aber es ist ein freudiges Schluchzen.
Meike wischt sich unauffällig eine Träne aus dem Augenwinkel.
So viel zur Heulsuse.
Als wir uns auf dem Gang begegnen, blickt Meike mich an. Lächelt sogar. Sie wirkt richtig nett in diesem Moment. Jetzt kann ich mir kaum noch vorstellen, dass sie es war, die den Dienstplan beschmiert hat.
Sie berührt mich leicht am Arm.
„Der Junge hat es geschafft, Katharina. Es war verdammt knapp. Aber er hat es wirklich geschafft.“
„Ich weiß“, sage ich nur.
Und dann fange ich an zu heulen.