Was ist neu

Copywrite Alte Schatten

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01.01.2010
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Alte Schatten

Der Junge lag im Sterben, als er in den Schutzraum gebracht wurde. Seine Schreie übertönten selbst den Fliegeralarm.
Steinerne Gesichter zerfielen und spiegelten Entsetzen wider; sogar im schummrigen Kellerlicht sah Daniel, wie sie weiß wurden. Zwei Frauen begannen auf der Stelle zu weinen.
„Gütiger Gott“, sagte Daniels Mutter und sprang auf. „Was ist passiert?“
Einer der Männer, die den Jungen hereingebracht hatten, sah auf. „Gegenüber. Haibers Metzgerei hat's erwischt.“ Der alte Mann schluckte. Seine Haut war voller Ruß. „Der Junge war noch drin. Lag unter 'nem brennenden Balken. Gerd und ich waren auf dem Weg hierher, als wir ihn gehört haben. Wir haben ihn da rausgeholt.“
Der andere Mann – Gerd – fuhr sich über das schwarze Gesicht, aus dem aufgerissene Augen hervorstachen. Seine knochigen Hände zitterten, und Daniel sah Tränen auf seinen Wangen.
Der Junge röchelte, wand sich und hinterließ blutige Abdrücke auf dem Steinboden. Sein halbes Gesicht und große Teile des Bauches waren weggebrannt. Die Haut war aufgeplatzt, rotes und schwarzes Fleisch klaffte frei. Brandblasen überzogen seine Arme, und die Kleidung hing in Fetzen an seinem Körper.
„Wir müssen was tun.“
„Wo ist der Verbandskasten?“
„Wer ist das? Kennt den jemand?“
Die Frauen riefen durcheinander, doch Daniel konnte den Blick nicht von dem sterbenden Jungen nehmen. Ein Kind. Das war noch ein Kind, jünger als er selbst. Der Geruch von Ruß und verbranntem Fleisch füllte den Keller. Mit dem Jungen war auch der Krieg in den Schutzraum gelangt.
Nirgends ist man sicher, dachte Daniel. Der Tod findet jede Lücke.
Irgendwann kniete Frau Hauber schluchzend vor dem Kind und legte Mullbinden auf die offenen Stellen. Sie saugten sich voll mit Blut, und der Junge wischte sie fort und brüllte lauter.
„Er muss stillhalten“, rief Frau Hauber. „Es geht nicht, wenn er nicht stillhält.“
Der erste Mann presste die Arme des Jungen auf den Boden, sah hilfesuchend zu Gerd – doch der kauerte am Boden, die Beine angezogen, und schüttelte ununterbrochen den Kopf.
„Er braucht was gegen die Schmerzen. Hat hier niemand was gegen die Schmerzen?“
„Ich habe Schmerzmittel“, sagte Frau Klein. „Oben. In der Wohnung.“
Nicht weit entfernt dröhnten Bomben, die Erschütterungen ließen das Haus über ihnen wanken, und das Licht flackerte. Die Frauen blickten sich an. Keine war bereit, nach oben zu gehen.
„Wir müssen warten, bis Entwarnung kommt“, sagte der Mann. „Es geht nicht anders.“
Der Junge bäumte sich auf, er wurde schwächer. Seine braunen Augen suchten Erlösung, doch alles, was die Frauen ihm geben konnten, waren Tränen.
„Wir sollten ihm mit dem Hammer den Gnadenstoß verpassen“, sagte Thomas, Daniels Bruder. Er war der einzige junge Mann im Keller, sein Klumpfuß hatte ihn vor der Front bewahrt.
„Halt den Mund“, zischte Mutter, die inzwischen ebenfalls vor dem Jungen kniete und seinen Körper unter Binden begrub.
„Er überlebt sowieso nicht. Wir würden ihm die Schmerzen ersparen. Das wäre das einzig Menschliche.“
Keiner antwortete.
Weitere Bomben schlugen ein. Der Junge wimmerte, und irgendwann presste Daniel die Hände auf seine Ohren und atmete durch den Mund, doch die Geräusche des Krieges und sein Geruch ließen sich nicht aussperren.
Der Tod fand jede Lücke. Gerade in diesen Zeiten war er überall.

Der Duft nach gebratenem Fleisch ließ Daniel das Wasser im Mund zusammenlaufen. Die Strahlen der Frühlingssonne fielen durch das Fenster auf seinen Neffen, der auf dem Küchenboden mit Holzautos spielte. Hanno ließ sie in Daniels Richtung fahren, und Daniel schubste sie mit dem Fuß zurück.
Seine Schwester schnitt Tomaten und Zwiebeln. „Ulrich wird bald befördert“, sagte Sofia. „Er soll im neuen Amt eine neue Stelle bekommen. Als Oberinspektor.“ Sie lächelte, die Tränen in ihren Augen mussten von den Zwiebeln kommen. Daniel fand, sie sah heute hübsch und gesund aus.
„Das ist toll“, sagte Mutter, während sie Kartoffeln schälte.
„Stell dir vor, es heißt dann offiziell Bundesministerium, nicht mehr Reichsministerium. Bundesministerium. Wie findest du, klingt das?“
„Klingt wichtig“, antwortete Mutter.
„Und passt zur neuen Bundesrepublik. Ulrich hat erzählt, dass sie vieles umstrukturieren.“
„Warum benennen sie das um?“, fragte Daniel.
„Weil es manchmal wichtig ist, alte Zöpfe abzuschneiden. Besonders diese Zöpfe.“
„Wie die Reichsmark?“
Sofia nickte. „Genau.“
All diese Veränderungen verwirrten Daniel. Klar, vieles wendete sich zum Besseren. Dank der neuen Währung musste man Lebensmittel nicht mehr mit Zigaretten bezahlen, und plötzlich gab es wieder Brot für alle. Erst neulich war die Blockade aufgehoben worden, und die Rosinenbomber blieben am Boden, wo sie nicht abstürzen konnten. Die Ruinen verschwanden nach und nach aus der Stadt – wenngleich Daniel diese Veränderung mit Wehmut beobachtete. Zwar riefen die zerstörten Gebäude bei ihm Gedanken an den Krieg hervor, aber er war auch mit ihnen aufgewachsen. Es waren seine Spielplätze gewesen, der Trümmerstaub und die zerfallenen Mauern seine Sandkästen und Klettergerüste.
Daniel erinnerte sich auch an schlechte Entwicklungen, die nicht lange zurücklagen. Er dachte an den vorletzten Winter, als die Menschen Bäume auf den Straßen fällten, um heizen zu können, und damit reihenweise ihre Wohnungen in Brand setzten. Und letztes Jahr hatten ihnen die Sowjets zwei Tage den Strom abgestellt, was bei Daniel Erinnerungen an die Bombenangriffe ausgelöst hatte.
Es war eine Zeit des Wandels, und all diese Veränderungen machten auch vor seiner Familie nicht halt. Die Enttrümmerungsarbeiten hatten Mutters Rücken kaputt gemacht. Sie weinte viel, meist heimlich, und Daniel vermutete, das lag an den Streitereien in der Familie. Er konnte sich kaum an die Jahre vor dem Krieg erinnern, aber manchmal wünschte er sich diese Zeiten zurück, als auch Papa noch da war. Damals herrschte Frieden und Wohlstand, pflegte Thomas zu sagen.
Als es an der Tür klopfte, blickte Sofia auf. „Wer ist das? Kommt noch jemand?“
„Thomas. Ich habe ihn eingeladen“, antwortete Mutter.
Sofias Gesicht wurde blass. „Das ist nicht dein Ernst.“
„Bitte, Sofia.“ Mutter sah müde aus. „Ich möchte heute alle meine Kinder bei mir haben. Reiß dich zusammen, wenigstens heute. Mir zuliebe.“
Thomas kam in die Küche gehumpelt. Er war ein kleiner Mann, aber der Klumpfuß machte seine Schritte laut. Mit der Hand fuhr er Daniel durchs Haar und nickte Sofia zu. Von seinem Neffen nahm er keine Notiz.
Daniel wünschte sich, sein Bruder würde noch hier wohnen. Oft dachte er an die Geschichten, die Thomas früher erzählt hatte, von Deutschen Helden und Sagen über die Könige in der Walhalla. Aber mit Hannos Geburt war Thomas ausgezogen.
„Hast du Bier?“, fragte Thomas und öffnete den Kühlschrank.
Mutter schüttelte den Kopf. „Nein. Mit dem Geld für diese Woche hab ich den Schmorbraten bezahlt. Hilf mir mal, den Tisch zu decken.“
Während des Essens wurde wenig gesprochen. Der Ärger begann, als Mutter Thomas fragte, ob er mit der Arbeitssuche vorankomme.
Thomas schüttelte den Kopf. „Gibt keine Stellen. Zu wenig Industrie hier. Viele Firmen aus dem Westen haben nur kleine Fertigungen, um die Subventionen einzustreichen. Da ist nix frei.“
„Wäre ein Beruf am Schreibtisch nicht besser für dich?“, fragte Mutter. „Vielleicht kann Ulrich dir eine Stelle im neuen Ministerium beschaffen. Sofia hat erzählt, dass sie ihn befördern wollen.“
„Nein danke. Auf Sozis bin ich nicht angewiesen.“
„Hier am Tisch heißen sie Sozialdemokraten“, entgegnete Mutter. „Ich hab es bloß gut gemeint.“
Schweigend aßen sie weiter, bis Sofia stichelte: „Ulrich würde dir auch keine Stelle beschaffen. Nazis brauchen sie dort keine mehr.“
Thomas lachte. „Lieber bin ich ein Nazi als ein Verräter.“
„Was soll das heißen?“
„Still jetzt“, rief Mutter. „Ich will keine Gespräche über Politik beim Essen.“
Eisiges Schweigen kehrte zurück, doch Sofias Frage hing wie ein schlechter Geruch in der Luft. Lediglich Hanno zeigte sich unbeeindruckt und stopfte kleine Stücke Rindfleisch in den Mund.
„Ich möchte wissen, wie das gemeint war“, sagte Sofia irgendwann. Nie konnte sie Ruhe geben.
„Wie das gemeint war? Dein Mann zieht in den Krieg, und du angelst dir den erstbesten Sozi und lässt dich schwängern. So war das gemeint.“
Sofia knallte ihr Besteck auf den Teller. „Alfred ist an der Ostfront gefallen.“
„Woher willst du das wissen? Der Iwan hält noch tausende Kameraden gefangen. Vielleicht ist Alfred dabei.“
„Kameraden? Ich kann mich nicht erinnern, dass du bei der Wehrmacht warst.“
Thomas' Gesicht wurde rot vor Zorn. Daniel wusste, wie gern Thomas an die Front gegangen wäre und als welche Schande er seine Untauglichkeit betrachtete.
„Schluss jetzt“, ging Mutter dazwischen. „Hört auf! Ich will nichts mehr davon hören.“
„Ich hätte längst Arbeit“, fuhr Thomas fort, „wenn die Besatzer hier nicht alles kaputt gemacht hätten. Frag mal Heinemann. Dem haben sie die Fabrik demontiert und die Einzelteile verschifft. Der steht inzwischen Schlange an der Suppenküche.“
Daniel wollte die Situation entschärfen. „Aber sie bauen doch alles wieder auf?“
Es überraschte Thomas, dass Daniel etwas sagte. „Warum, glaubst du, müssen sie alles wieder aufbauen? Weil sie es zerstört haben. Und dafür lassen sie sich feiern, als Befreier, und wir sind so dumm und jubeln ihnen zu. Glaub nicht, dass der Marshall-Plan erst letztes Jahr begonnen hat. Truman hat den von langer Hand geplant, um uns an die amerikanische Zitze zu hängen.“
„Was ist der Marshall-Plan?“, fragte Daniel.
„So ein Unsinn“, sagte Sofia zu Daniels Linken, seine Frage ignorierend. „Würden sie die Potsdamer Beschlüsse konsequent durchsetzen, anstatt Persilscheine zu verteilen, wäre dein Bruder längst im Gefängnis, wo er hingehört.“
„Da siehst du's“, sagte Thomas, ebenfalls an Daniel gewandt. „Sie ist nicht bloß eine Verräterin an der Familie, sondern auch am Vaterland. Potsdam ist das neue Versailles, nur schlimmer, und sie lobt es.“
Daniel verstand kaum die Hälfte von dem, was gesagt wurde.
„Seit Potsdam herrscht Besatzer-Willkür. Vermutlich würde deine Schwester anders darüber denken, wenn sie die Siegerjustiz mal selbst hätte spüren dürfen. Hätte sich da unten bestimmt anders angefühlt als ihr Sozi-Freund, wäre aber nicht verkehrt gewesen. Dann wäre sie jetzt vielleicht vernünftig.“
Das Klatschen von Mutters Ohrfeige ließ Daniel zusammenzucken. Einen Augenblick herrschte Totenstille, und Thomas fasste sich an die Wange. Hanno begann zu weinen.
Sofia sprang auf. „Du – du brauner Krüppel.“ Sie wandte sich an Mutter. „Ich werde keine Sekunde länger mit ihm am Tisch sitzen. Entweder er geht, oder ich.“
Thomas stand auf. „Mach dir keine Umstände. Mit Verrätern esse ich nicht. Und auch nicht mit Bastarden, was das angeht.“
Unbeholfen humpelte er zur Tür, während Sofia Hanno in den Arm nahm. Dann drehte er sich noch einmal um. „Schade, dass sie nicht gründlicher waren, sonst hätten sie deinen Sozi-Freund nach Sachsenhausen geschickt. Und dich am besten gleich mit.“
Raus hier!“, brüllte Mutter, und Daniel sah Tränen in ihren Augen glitzern.
Thomas verschwand.
Hanno weinte. Sofia ging mit ihm auf und ab.
„Warum habt ihr ihn rausgeworfen?“, fragte Daniel. „Was hat er denn Schlimmes gesagt?“
Mutter begann, den Tisch abzuräumen, obwohl noch kein Teller leer war. „Nichts. Iss fertig und sei still.“ Und so kam es, dass Daniel das Familienessen am Gründungstag der Bundesrepublik allein beendete.
Er fragte sich, wie die Politik etwas Gutes sein konnte, wenn sie seine Familie auseinanderriss.

Am nächsten Tag saß er in einer voll besetzten U-Bahn und trug eine Einkaufstasche mit zwei Litern Milch und einem Laib Brot auf dem Schoß. Seine Mutter hatte ihn mit Geld und Lebensmittelmarken losgeschickt. Inzwischen war es kein Problem, Nahrung zu kaufen. Daniel erinnerte sich an die Zeit kurz nach dem Krieg, als Menschen verendete Hunde von den Straßen auflasen, um überhaupt etwas zu essen zu haben.
Ihm gegenüber saßen zwei Männer mit tiefen Furchen in den Gesichtern.
„Mein Schwager überlegt, ins Ruhrgebiet zu gehen. Die Stahlindustrie ist im Kommen, sagt er. Inzwischen produzieren sie dort wieder mehr als der Franzose.“
Der andere runzelte die Stirn. Eine Narbe zog sich über seine linke Wange. „Ich hab gehört, dass die Franzosen und Belgier dort immer noch Fabriken auseinandernehmen. Wäre mir zu unsicher. Kann mir nicht vorstellen, dass die Deutschland langfristig Stahl produzieren lassen.“
„Die haben letzten Monat irgendein Abkommen gegründet, sagt mein Schwager. Es gibt jetzt eine Behörde, die das alles kontrolliert. Mein Schwager sagt, die würden so was nicht gründen, wenn die vorhätten, dort alles einzustampfen.“
Der Mann mit der Narbe grunzte. „Ich trau denen nicht. Ist meine Meinung. Die können von jetzt auf nachher ihre Meinung ändern, und dann stehst du mit leeren Händen da.“
„Abwarten. Mein Schwager sagt, die Republik macht uns unabhängiger. Langfristig gesehen.“
Der Mann mit der Narbe machte eine wegwerfende Handbewegung. „Wegen mir hätt's keine Republik gebraucht. Ich hab noch die Schnauze voll von der letzten.“
„Besser als die Trizone ist sie allemal“, sagte der Mann mit dem Schwager.
„Mal sehen, was der Stalin dazu sagt. Letztes Jahr haben sie uns wegen der neuen Währung den Hahn abgedreht. In meinen Augen ist die Republik eine unnötige Provokation, nichts weiter. Damit treiben sie einen Keil durchs Deutsche Volk, und bald rollen wieder Panzer am Brandenburger Tor.“
Der andere Mann dachte nach. „Ich glaub' nicht an die Kommunisten. Dem Stalin trau ich weniger als den Amis.“
„Ich trau denen allen nicht. Aber wer kann heute sagen, wer der Sieger wird? Geh doch mal in den Osten. Mit Russland im Rücken leben die nicht schlecht. Und die haben den Vorteil, dass nur ein Besatzer den Ton angibt.“
Der Mann mit dem Schwager zuckte die Achseln. „Steht jedem frei, in den Osten zu gehen. Ist ja nicht so, dass da 'ne Mauer stünde. Momentan sieht's aber eher umgekehrt aus, viele aus dem Osten kommen zu uns.“
Der Mann mit der Narbe grunzte. „Man muss eben Entscheidungen treffen. In diesen Zeiten ist das ganz besonders wichtig.“
An der nächsten Haltestelle stiegen beide Männer aus.
Ihr Gespräch hallte lange in Daniels Kopf nach.

Mittwochnachmittags hatten sie Religionsunterricht bei Pfarrer Ka. Sie lasen Das Gleichnis des Verlorenen Sohnes aus dem Lukas-Evangelium und sprachen anschließend über den Umgang von Jesus mit Zöllnern und Sündern.
Nach dem Unterricht wartete Daniel, bis seine Mitschüler das Klassenzimmer verlassen hatten, dann trat er an das Pult zu Pfarrer Ka. Er zögerte. „Herr Pfarrer, ich möchte noch eine Frage stellen, wenn ich darf.“
Pfarrer Ka blickte von seinen Notizen auf und sah Daniel aus blauen Augen an. Daniel mochte diese Augen – sie waren freundlich, und das sah man nicht häufig in diesen Zeiten des Misstrauens. „Daniel. Sicher, was möchtest du wissen?“
„Es geht um Gott.“
„Ja?“, fragte der Pfarrer und legte seinen Füller beiseite.
Daniel hoffte, seine Frage würde Pfarrer Ka nicht wütend machen. Ihm selbst erschien sie ketzerisch. „In der Bibel steht, Gott ist allmächtig. Und dort steht auch, er ist gütig, zumindest im Neuen Testament.“ Daniel zögerte.
„Und?“, ermunterte ihn der Pfarrer.
„Wenn Gott allmächtig und gütig ist, warum hat er den Krieg zugelassen?“
Daniel machte sich auf den Zorn des Pfarrers gefasst. Doch stattdessen lächelte Ka. „Das ist eine sehr alte Frage, Daniel. Viele kluge Leute haben sich darüber den Kopf zerbrochen.“
Das überraschte Daniel. Er hatte gedacht, ihm sei dieser Widerspruch als erstes aufgefallen.
„Und was sagen die klugen Leute?“
„Sag mir erst, was du darüber denkst.“
Diese Antwort erschreckte Daniel. Er hatte sich den Kopf zerbrochen, doch die einzige Lösung, auf die er gekommen war, besagte, dass es Gott nicht geben konnte. So etwas durfte er unmöglich einem Pfarrer sagen, das wäre eine schwere Sünde. „Ich – ich weiß nicht“, stammelte er und wagte schließlich eine abgeschwächte Version. „Vielleicht ist Gott nicht allmächtig?“
Der Pfarrer schüttelte den Kopf. „Wenn Gott nicht allmächtig wäre, wäre Er nicht Gott.“
„Hm. Dann – ist Er vielleicht nicht gütig?“
„Aber natürlich ist Er das. Hast du heute nicht aufgepasst? Hat Jesus die Sünder etwa verstoßen? Nein, er war barmherzig, und das ist ein anderes Wort für gütig.“
„Dann verstehe ich nicht, wieso es den Krieg gibt.“
„Es gibt verschiedene Ansätze, diese Frage zu beantworten. Zwei schlüssige Erklärungen stechen meiner Meinung nach hervor. Die erste besagt, dass es nichts Böses auf der Welt gibt. Wir halten manches zwar für böse, aber in Wirklichkeit gehört das alles zu Gottes großem Plan, Gutes zu tun. Sieh dir zum Beispiel den Holocaust an.“
Daniel wartete.
„Findest du den böse? Würdest du sagen, ein gütiger Gott sollte den Holocaust verhindern?“
Daniel überlegte. War das eine Fangfrage? „Ich finde schon“, sagte er.
„Nun, manche sind der Ansicht, der Holocaust sei Gottes Strafe für die Juden gewesen, weil sie Seinen Geboten nicht treu waren. Seine gerechte Strafe. Und Strafen sind notwendig, das weißt du auch. Auf der anderen Seite haben die Juden inzwischen ihren eigenen Staat, den sie ohne den Holocaust nicht hätten. Also war der Holocaust vielleicht nur Gottes Weg, um Sein eigenes Volk in das Gelobte Land zu führen.“
Der Pfarrer sah ihn an, als erwarte er eine Antwort. Daniel verstand diese Zusammenhänge nicht.
„Findest du den Holocaust immer noch böse?“, fragte Pfarrer Ka.
„Ich – ich weiß nicht –“
„Du siehst, wie schnell solche Fragen kompliziert werden. Ich möchte Gottes Plan nicht infrage stellen. Ich maße mir nicht an, Seinen Weg zu verstehen. Ich vertraue darauf, dass er gut ist.“
Daniel überlegte, inwiefern ein Kind, das auf dem Boden eines Kellerlochs an seinen Verbrennungen starb, zu Gottes gütigem Plan gehören konnte.
„Was ist die zweite Erklärung?“, fragte er den Pfarrer.
„Die zweite Erklärung?“
„Sie haben gesagt, es gibt zwei schlüssige Erklärungen. Was ist die zweite?“
Pfarrer Ka räusperte sich. „Die zweite Erklärung ist, dass das Böse lediglich die Abwesenheit des Guten darstellt. Ein Leerraum, sozusagen. Ein Vakuum.“
Was konnte er damit meinen? „Heißt das, weil die Besatzer nicht da waren, haben wir Böses begangen?“
Der Pfarrer schüttelte den Kopf und hob die Hände. „Nein. Nein, auf keinen Fall. Daniel – du musst dich von der Vorstellung trennen, dass die Deutschen die Bösen und die Besatzer die Guten sind. Das ist keinesfalls so, auch wenn dir das viele einreden wollen.“
Daniel verstand das alles nicht. Sofia war überzeugt, dass die Nazis die Bösen waren.
„Du spielst auf Nürnberg an, nicht wahr?“, fragte Pfarrer Ka.
Nürnberg?
Der Pfarrer fuhr fort, ohne eine Antwort abzuwarten. „Du darfst nicht glauben, dass dort Recht gesprochen wurde. Das waren politische Prozesse. Es ging um Macht und darum, ein Exempel zu statuieren. Die Kirche hat zu alldem eine klare Meinung. Wir lehnen diese Siegerjustiz ab.“
Dieses Wort hatte Thomas auch verwendet, fiel Daniel ein, während Pfarrer Ka sich in Rage redete. „Es hat sich herausgestellt, dass die Alliierten keinen Deut besser sind als die Menschen, über die sie glauben, urteilen zu dürfen. Nicht einen Deut besser. Viele sind sogar schlimmer. Das ging los mit den Gesetzen des Kontrollrats und der sogenannten Entnazifizierung und setzt sich fort bis nach Nürnberg zur Todesstrafe.“
Feine Speicheltropfen sprangen von Pfarrer Kas Lippen. Er strich sich über den Scheitel und lächelte wieder. „Das sind nicht unsere Freunde, Daniel. Und es sind auch keine guten Menschen. Vergiss das nicht.“
Der Pfarrer räusperte sich erneut. „Habe ich deine Fragen beantworten können?“
Daniel wollte ihn nicht enttäuschen, also nickte er.
„Prima. Dann schau, dass du aus der Schule kommst, ehe sie abschließen“, sagte Pfarrer Ka und deutete zur Tür.

Mutter deckte ihn zu und gab ihm einen Kuss auf die Stirn.
„Schlaf gut“, sagte sie und schlich zur Tür.
Daniel hätte gerne noch die Geschichte über Siegfried und den Drachen gehört, aber er war kein kleiner Junge mehr und Thomas weit weg.
„Mama.“
Mutter blieb an der Tür stehen. Ihr krummer Rücken zeichnete sich unter der Strickjacke ab. „Ja?“
Es war still im Haus. So still.
„Glaubst du, die Republik ist eine gute Idee?“
Mutter zuckte mit den Schultern. „Das haben nicht wir in der Hand.“
„Ich hab gestern gehört, wie zwei Männer in der U-Bahn geredet haben. Der eine hat gesagt, die Zukunft ist in Westdeutschland. Und der andere wollte nach Ost-Berlin. Sie haben gesagt, niemand weiß, was auf uns zukommt. Und dass wir von anderen abhängen, die dauernd ihre Meinung ändern. Und dass Stalin wieder Panzer fahren lässt.“
Mutter antwortete nicht. Sie blickte in seine Richtung, hatte aber das Licht bereits gelöscht. Daniel konnte ihr Gesicht nicht sehen.
„Pfarrer Ka hat gesagt, die Besatzer sind keine guten Menschen.“ Daniel war überrascht, wie schnell sein Herz pochte. „Mama, glaubst du, es gibt wieder Krieg?“
„Ich weiß es nicht“, sprach das Gesicht aus der Dunkelheit. „Das entscheiden die Politiker.“
„Ich mag die Politiker nicht“, sagte Daniel. „Und die Politik auch nicht. Alles ändert sich, und keiner weiß, was richtig ist. Ich verstehe das alles nicht.“
„Schlaf jetzt“, sagte Mutter.
„Mama“, rief Daniel.
„Was?“
„Warum kann nicht wieder alles sein wie vor dem Krieg? Ich meine – warum kannst du dich nicht wieder mit Thomas vertragen? Warum kann sich Sofia nicht mit ihm vertragen?“ Daniel verstand nicht, wie etwas so Flüchtiges wie politische Entscheidungen seine Familie kaputtmachen konnte.
„Es wird nie wieder wie vor dem Krieg. Diese Zeiten sind vorbei.“
„Aber warum nicht? Was hat Thomas denn Böses getan? Es waren doch viele für den Hitler damals. Warum ist das jetzt auf einmal falsch, wenn es früher richtig war?“
Mutter überlegte lange, und Daniel hoffte auf eine Antwort, die ihm alles erklären würde. „Das ist kompliziert. Du bist noch ein Kind und verstehst davon nichts. Schlaf jetzt.“
Sie schloss die Tür seines Zimmers und ließ ihren Sohn im Dunkeln zurück.

Daniel stand vor dem Haus in der Kochstraße und blickte die schmutzige Fassade empor. Er war noch nie hier gewesen, doch die Adresse stimmte. Einige Scheiben im Erdgeschoss waren zerbrochen, die im dritten Stock sahen in Ordnung aus.
Er ging zur Eingangstür, die nicht verriegelt war. Im Treppenhaus roch es nach Zigaretten, und vor einer Wohnungstür standen Bierflaschen.
Daniel hoffte, auf keinen der Bewohner zu treffen, und ging das Treppenhaus nach oben.
Du weißt nicht einmal, ob er da ist.
Andererseits – wo sollte er sein?
Vor der Tür im dritten Stock standen Schuhe. Daniel war erleichtert.
Er atmete tief ein und klopfte.
Dann wartete er und lauschte, presste sogar sein Ohr gegen die Tür, aber aus der Wohnung kamen keine Geräusche.
Er ist nicht da.
Daniel klopfte erneut. Er wollte sich gerade abwenden, als er schlurfende Schritte hinter der Tür vernahm. Thomas öffnete.
„Du?“, fragte er überrascht.
Daniel nickte.
„Was willst du hier?“
So genau wusste er das auch nicht. „Nur mal hallo sagen“, antwortete er.
„Hallo“, sagte Thomas.
„Hallo“, sagte Daniel.
Thomas blickte sich um. „Bist du allein?“
„Ja.“
„Komm doch rein.“

Thomas führte ihn in die Küche. Es war alles kleiner als bei Mutter, und schon dort war der Platz knapp. In der Mitte der Küche stand ein Klapptisch mit drei Stühlen. Aus einem Aschenbecher quollen Zigaretten.
„Willst du was trinken?“
„Was hast'n da?“
„Für dich Wasser.“
Daniel zuckte die Schultern, und Thomas interpretierte das wohl als ein Ja. Er ging zu einem Küchenschrank, bei dem die Türen fehlten, nahm ein Glas heraus und hielt es ins Sonnenlicht. Dann füllte er es mit Leitungswasser.
Er stellte es vor Daniel auf den Klapptisch. „Hier. Setz dich doch.“
Thomas nahm gegenüber Platz und zündete eine Zigarette an.
Daniel blickte auf das Glas, im Wasser schwammen irgendwelche Teilchen. Thomas zuliebe nahm er einen Schluck, aber nur einen kleinen.
„Wie geht’s dir?“, fragte Thomas.
„Gut. Und dir?“
„Ich lebe. Wenn du Bescheid gegeben hättest, hätte ich Hans gesagt, er soll hierbleiben. Dann hättest du ihn mal kennengelernt.“
Hans wohnte mit seinem Bruder in dieser Wohnung.
„Beim nächsten Mal vielleicht“, sagte Daniel.
„Hör mal, wegen Montag. Tut mir leid, was da passiert ist. Ich wollte nicht, dass es so weit kommt, und hab ein paar dumme Sachen gesagt.“
„Was denn?“
Thomas lachte, antwortete aber nicht.
Nach einer Weile fragte Daniel: „Was bedeutet Siegerjustiz?“
Thomas hustete. „Wie kommst du auf so was?“
„Du hast es neulich zu Sofia gesagt.“
„Hm.“ Thomas überlegte. „Das bedeutet, dass andere über dich bestimmen und dir sagen, dass du Fehler gemacht hast. Sie schieben dir für alles die Schuld in die Schuhe.“
Daniel nickte. „Pfarrer Ka hat das auch gesagt. Ich hab's nicht richtig verstanden, aber ich glaube, er hat das auch so gemeint.“
„Du redest mit 'nem Pfarrer über so was?“
„Eigentlich nicht.“
„Was heißt eigentlich?“
„Eigentlich hab ich ihm 'ne ganz andere Frage gestellt. Ich hab auch nicht kapiert, warum er dann das Thema gewechselt hat.“
Thomas rauchte und beobachtete seinen Bruder aus zusammengekniffenen Augen.
„Du solltest dich von Pfarrern fernhalten“, sagte er schließlich.
„Warum?“
„Weil sie dir falsche Ideen in den Kopf setzen. Im Grunde geht’s ihnen auch nur darum, dir die Kontrolle zu entziehen. Dir zu erzählen, du bist ohne Gott wertlos. Im Grunde tun sie dasselbe wie die Besatzer.“
Daniel runzelte die Stirn. „Das verstehe ich nicht. Pfarrer Ka hat gesagt, die Besatzer sind schlechte Menschen.“
„Klar. Weil die Besatzer die Macht an sich reißen. Das stinkt der Kirche natürlich, weil sie die Macht lieber bei sich selbst hätte. Halt dich fern von denen, das ist mein Rat. Mit denen ist nicht zu spaßen. Selbst der Führer hat vor denen gekniffen.“
Daniel beobachtete die Teilchen, die durchs Wasserglas schwammen. Sie glichen dem Durcheinander in seinem Kopf. Nationalsozialisten. Sozialdemokraten. Kommunisten. Besatzer. Deutsche. Russen, Amerikaner. Franzosen. Stalin. Die Kirche. Jeder behauptete über den anderen, schlecht zu sein. Und inmitten von alldem zerfiel seine Familie.
„Glaubst du an Gott?“, wollte Daniel wissen und war überrascht, eine solche Frage aus seinem Mund zu hören.
Thomas schüttelte den Kopf. „Nein. Du?“
Daniel traute sich nicht, die Wahrheit zu sagen, und zuckte stattdessen mit den Schultern.
Langsam sagte Thomas: „Das einzige, woran ich glaube, ist der Nationalsozialismus.“ Er beobachtete Daniel, doch der zeigte keine Reaktion. „Denn im Gegensatz zur Kirche steht beim Nationalsozialismus das Volk im Mittelpunkt. Die Familie. Der Mensch. Kein Gott. Wir glauben an uns selbst und schieben die Verantwortung nicht ab. Es war ein Problem des Führers, dass er die Kirchen nicht losgeworden ist.“
„Aber der Nationalsozialismus ist tot. Wir haben den Krieg verloren.“
Thomas beugte sich nach vorne. „Das zweite stimmt. Das erste nicht. Den Krieg haben wir nur verloren, weil es zu viele Verräter gab. Der Führer wurde von seinen eigenen Generälen verraten, als unsere Kameraden vor den Toren Moskaus standen. Diese Generäle haben ihn zu einem Krieg an mehreren Fronten gezwungen. Glaubst du, der Führer wollte einen Krieg gegen die Amis? Oder gegen die Briten?“
Daniel antwortete nicht. Er wusste, dass viele britische Flieger Bomben über Berlin abgeworfen hatten.
„Geh doch mal raus auf die Straße“, fuhr Thomas fort. „Heute erzählt dir jeder, dass er gegen Hitler war. Gegen den Nationalsozialismus. Vor zehn Jahren haben sie alle dem Führer zugejubelt. Das ist ein Volk von Verrätern und Heuchlern. Ein Fehler des Nationalsozialismus war, dass er zu nachsichtig mit seinen Feinden umgegangen ist. Solche Fehler dürfen beim nächsten Mal nicht wiederholt werden.“
„Beim nächsten Mal?“
Thomas drückte seine Zigarette aus und zündete sofort eine neue an. „Bei der Machtergreifung hat uns der Führer das tausendjährige Reich versprochen. Eine Epoche des Friedens und des Wohlstands. Und am Anfang war es das, aber dann wurden Fehler gemacht, und es endete alles in Schutt und Asche. Heute steht Deutschland am Scheideweg. Es müssen Entscheidungen getroffen werden.“
Daniel erinnerte sich an den Mann mit der Narbe.
Man muss eben Entscheidungen treffen. In diesen Zeiten ist das ganz besonders wichtig.
„Und wie es aussieht wendet sich die eine Seite dem Westen und die andere dem Osten zu. Beides wird zum Untergang des Deutschen Volkes führen, wenn wir nichts dagegen unternehmen.“
„Wer ist wir?“
„Momentan sind wir eine kleine Gruppe und haben regelmäßige Treffen. Und wir haben ein gemeinsames Ziel: einen Nationalsozialismus, wie er dem Führer vorschwebte. Ohne die Fehler der Vergangenheit. Bei uns steht das Volk im Mittelpunkt. Die Familie. Wir wollen wieder die Verhältnisse, die wir 1933 hatten, vor dem Krieg.“
„Aber – aber wie wollt ihr das schaffen? Die Leute sind alle gegen Nazis.“
„Noch“, sagte Thomas. „Warte ein paar Jahre. Es geschieht nicht schnell, aber es geschieht. Deshalb ist es wichtig, dass wir geduldig und vorsichtig sind. Selbst der Führer sprach zu Beginn seiner Karriere vor kaum zwanzig Leuten in einem Bierkeller. Wenn du magst, komm doch mal zu einem Treffen mit.“
Daniel überlegte. Auch er wollte Frieden und Stabilität. Und was sein Bruder über die Familie gesagt hatte, deckte sich mit seinen Ansichten.
„Ich weiß nicht“, antwortete er.
„Überleg es dir. Wir zwingen niemanden. Das unterscheidet uns von denen, die sich Demokraten nennen und uns die Meinung verbieten. Nicht, weil wir im Unrecht wären. Sondern weil sie uns immer noch fürchten. Bei uns ist alles freiwillig. Wir zwingen niemanden zu irgendwas.“
Es klang vernünftig.
„Eins nur“, sagte Thomas. „Du darfst keinem davon erzählen. Ganz besonders nicht Mutter oder Sofia. Frauen verstehen nichts von Politik. Die sollten sich dort raushalten. Das ist Sache der echten Männer.“ Er zwinkerte Daniel zu. „Meinst du, du schaffst das? Bist ja schließlich schon ein großer Junge.“
Daniel nickte langsam. „Ich denke schon. Ich kann ja mal vorbeikommen und es mir anschauen.“
Thomas lächelte, und Daniel lächelte zurück.
„Mach dir keine Sorgen, kleiner Bruder. Das sind wilde Zeiten, aber gemeinsam stehen wir sie durch.“
Er fuhr Daniel durchs Haar.
„Erzählst du mir mal wieder von Siegfried und dem Drachen?“, fragte Daniel.
Thomas grinste. „Davon erzähle ich ganz besonders gern.“

 

Mensch Schwups,

da dachte ich erst, "das Seelchen, rettet den armen jungen aus Kews Geschichte", und dann sowas:

Der Junge röchelte, wand sich und hinterließ blutige Abdrücke auf dem Steinboden. Sein halbes Gesicht und große Teile des Bauches waren weggebrannt. Die Haut war aufgeplatzt, rotes und schwarzes Fleisch klaffte frei. Brandblasen überzogen seine Arme, und die Kleidung hing in Fetzen an seinem Körper.
:sconf: Das ist ja scheusslich. Aber gut, Du hast ja recht, mir den Krieg nicht gemuetlicher zu machen.

Also erstmal muss ich sagen, Hut ab!, wie viel Arbeit und Sorgfalt, Du in diese Kopie investiert hast. Wenn Du nicht von Hause aus ein Geschichts-Freak bist, musstest Du sicher auch ziemlich viel recherchieren. Und weil ich mich nicht gut genug auskenne, um das alles in seinen Einzelheiten zu pruefen, nehme ich Dir das auch alles als historisch akkurat ab.

Das Thema ist auch spannend, wie diese Naziideologie in der Republik ueberlebt. Allerdings finde ich, dass Du Dir da, wahrscheinlich auf Grundlage von Kews Geschichte, mit Thomas nicht so die eindruecklichste Figur gesucht hast, das zu demonstrieren. Solche Thomasse, die wahrscheinlich gerade aus einem Minderwertigkeitskomplex an der Ideologie festgehalten haben, gab es natuerlich auch. Aber der hat ja kaum Einfluss. Ich persoenlich finde Spannender, wie sich das im Grossbuergertum gehalten hat, bei Richtern, Professoren und Politikern, die dann die Stuetze der neuen Gesellschaft sein sollten. Gut, ich wuesste jetzt auf Anhieb auch nicht, wie man das in ne gute Kurzgeschichte verwandeln koennte, also musst Du diese Kritik nicht so ernst nehmen.

Was mich etwas grundsaetzlicher gestoert hat, ist die didaktische Art der Aufbereitung. Also ich kann mir gut vorstellen, dass diese Geschichte in einem Geschichtsbuch stehen koennte, um den Schuelern zu erklaeren, welche Haltungen es zur Bundesrepublik so gab und wie die Umstaende so waren. Da hast Du so die Rollen verteilt, hier die Frau des Sozis, die in die Zukunft blickt, da der verknoecherte Nazi, da der zynische Kirchenmann und dazwischen der unbedarfte Junge, der son bisschen als Vorwand dient, damit die da mal alle ihre Meinungen vorstellen duerfen. Hinter diesem historisch-didaktischen Anliegen verschwinden die Geschichte und die Figuren etwas. Und man merkt auch, dass das so Konzepte sind, die sich schwer in eine knappe Kurzgeschichte verpacken lassen - also da muesste es ja darum gehen, eine Handlung und einen Konflikt zu erfinden, der diese Fragen implizit evoziert. Und was Du stattdessen machst ist, dass Du einfach alles ueber Dialoge regelt, in denen das explizit durchgekaut wird. Die Figuren werden so Sprachrohre fuer bestimmte Geisteshaltungen und die Handlung besteht darin, dass der Junge von einem Meinungstraeger zum naechsten geht. Ich muss sagen, dass mich auch bei Kews Text, der mir sonst sehr gut gefallen hat, dieses Abschlussgespraech mit dem Pfarrer gestoert hat. Denn da driften Geschichten fuer mich schnell in so philosophische Lehrdialoge ab. Das ist einfach nicht so mein Ding. Ich haette mir gewuenscht, dass das Zeitgeschichtliche und Weltanschauliche da etwas weniger an der Oberflaeche gelegen haetten.

Also ich habe echt Respekt vor Deinem Anspruch und denke auch, dass die Geschichte bestimmte didaktische Zwecke sehr gut erfuellt. Aber ich persoenlich wuensche mir von Kurzgeschichten was anderes.

lg,
fiz

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Schwups,

Mensch warst Du fleißig! Also, davor ziehe ich schon mal den Hut.
Ich muss mal sagen, dass ich das schon gern gelesen habe, ich fand das schon interessant. Allerdings, und da geht es mir ähnlich wir feirefiz, fehlt es mir hier irgendwie an irgendwas. Ich kann das ja nicht Konflikt nennen, weil, der ist ja da. Ein innerer bei dem Jungen und ein äußerer in der Familie. Am Ende ist es aber dann doch so, dass der Junge durch die Stadt läuft und Antworten sucht, auf seine Fragen. Dass er da ein hübsch buntes Bild vorfindet, wie verwirrt das alles gewesen sein muss damals, und dass man nicht wissen konnte, an was man glauben konnte, was richtig oder falsch ist, wer die Guten, wer die Bösen, Wem in dieser Zeit, nach dieser Zeit noch vertrauen? Und es war ja auch so, dass keine der "Mächte" nur gut oder böse waren, und auch Gott von Vielen in Frage gestellt wurde. Diese ganze Verwirrung, dass ist schon ein großes Thema, deshalb bin ich auch am Text geblieben.

Im ganzen, glaube ich, hätte es mir jedoch besser gefallen, wenn all das in der Familie geblieben wäre, da am Mittagstisch. Welche Rolle die Zeitfragen also direkt für den Einzelnen, für das unmittelbare soziale Gefüge mit sich brachte, welchen Wirkung auf den eigenen Alltag. Ich denke, hier hätte man viel mehr die Möglichkeit eine unglaublich starke/intensive Geschichte aus dem Thema zu stricken.
Du arbeitest das recht schnell ab. Bruder kommt, Mutter heult, Schwester brüllt, Bruder verschwindet. Aber genau dazwischen hätte man all das andere packen können. Weil Familie ja auch wichtig ist und die hier, die zerbricht eben an dem Wechsel der Zeiten, an Glaubensfragen. Also, da eine Gottgläubige Mutter, eine Demokratin, einen Nazi und ein naives Kind zusammenzubringen und das auf familiärer Ebene auszuspielen, also Du hast das ja gemacht, aber ich hätte die ganze Geschichte gern in dieser Szene gehabt ;). Vorliebe, weiß nicht - aber dann wäre man näher dran und drin, als in der Schnipseljagd, die der Junge da dann betreibt. Das emotionale Drama hätte mehr Potential, oder so.

Steinerne Gesichter zerfielen und spiegelten Entsetzen wider;

wieder

Den ersten Absatz finde ich richtig stark. Also die Frage, was ist menschlicher, den Jungen zu töten oder ihn an seinen Schmerzen sterben lassen. Große Frage, ja auch heute noch, wenn es um Sterbehilfe geht.

Er dachte an den vorletzten Winter, als die Menschen Bäume auf den Straßen fällten, um heizen zu können, und damit reihenweise ihre Wohnungen in Brand setzten.

Diese zeitlichen Einschübe, finde ich toll. Das hat mich auch wirklich am Text gehalten. Hier musste ich an Brecht denken:

Eine Pappel steht am Karlsplatz Mitten in der Trümmerstadt Berlin, Und wenn Leute gehn übern Karlsplatz, Sehen sie ihr freundlich Grün. In dem Winter sechsundvierzig Frorn die Menschen und das Holz war rar, Und es fielen da viele Bäume, Und es wurd ihr letztes Jahr. Doch die Pappel dort am Karlsplatz Zeigt uns heute noch ihr grünes Blatt: Seid bedankt, Anwohner vom Karlsplatz, Daß man sie noch immer hat!

Auch die Familienszene fand ich unglaublich spannend, also ab da, wo der Bruder auftaucht, vorher zog sich das für mein Gefühl ein bisschen und dann fällt der Text für mich leider ab.

Sprachlich kam ich gut durch den Text. Sauber, ohne Spielcherchen und klar. Gefällt mir bei dem Thema und der Bearbeitung recht gut, dieses nüchterne, so im Kontrast. Hat jedenfalls auf mich so gewirkt.

Fazit: Copy-Ansatz finde ich gut, sau starkes Thema, schöne Zeiteinsprengsel, aber eben zu sehr Doku-Charakter für mich. Ich hätte gern ein richtiges Drama gehabt. Aber ich bin da vielleicht ein bisschen zu viel Böll, gerade was Literatur betrifft, die sich mit der Nachkriegszeit beschäftigt. Die Meßlatte ist natürlich fies und ich schäme mich auch dafür.

Vielen Dank für den Rückblick und auch Respekt, sich diesem Thema überhaupt anzunehmen.
Beste Grüße Fliege

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Schwups,

hätte ja nie gedacht, dass du die Geschichte nimmst. Die ist so alt, die musst ich selbst nochmal lesen, um zuwissen, wie das da alles abläuft. :D War aber eine coole Gelegenheit sich mal anzuschauen, was sich seit dem geändert hat.

Zu deinem Ansatz:

Du machst ja Daniel jünger, als ich ihn mir gedacht habe. Und eigentlich ist das eine coole Idee, weil so hast ihn wirklich als Spielball zwischen den einzelnen Positionen und er ist quasi das unbeschriebene Blatt, auf das alle Einfluss üben. Das ist als Idee wirklich gut.
Bisschen geschwankt hab ich immer beim Alter. Ich weiß nicht, wie alt der Junge ist - hoffe ich hab da nichts überlesen. An sich ist das kein Problem, aber ich hab hin und wieder das Gefühl, dass er, wenn er noch Erinnerungen hat an die Zeit vor dem Krieg, dann muss er so 13 sein, und dafür ist er mir manchmal etwas zu unbeschrieben. Der weiß ja quasi gar nichts, für den sind viele dieser Begriffe so neu und unbekannt. Vielleicht hab ich da auch falsche Vorstellungen, aber ich glaube, der hätte da schon mehr von aufgeschnappt und es nur nicht richtig verstanden, weil es immer nur Fetzten sind und nichts erklärt wird. Sicher das wäre schwieriger umzusetzen und wohl auch zu viel für den gegebenen Zeitraum, aber spannender wäre es doch, wenn er mehr wüsste und noch mehr die Interpretation der einzelnen Parteien im Vordergrund stünde, als die Wissensvermittlung.
Geht sicher auch so, wie es jetzt ist. Ist mehr eine Möglichkeit als ein Muss.

Deinen Priester finde ich übrigens besser als meinen. Dieses perfide Umdeuten des Holocaust, diese verinnerlichten Naziwerte. Das finde ich stark. Da ist auch dieses manipulierende drin, was bei Unterricht ja immer schnell gegeben sein kann, weil man dem Pfarrer ja alles glaubt bzw. dem Lehrer, wenn da zu Hause niemand gegenhält. Mein Pfarrer ist dagegen ja eher, nunja, ein Rumschreier. Und der Teil ließt sich für mich mit dem Abstand echt seltsam. Vielzuvielzu didaktisch.

Wobei wir beim dem Punkt wären, den ja auch die anderen sehen. Du handelst da vieles didaktisch ab - gut, ich bin da der Falsche dir das vorzuwerfen, ist ja in meiner Vorlage noch und nöcher drin. Dieses Abhandeln von Gedanken und so. Aber ich denke doch, dass die Geschichte gewönne, wäre die Politikdichte etwas geringer. Etwas mehr Momente aus dem Leben, wo das alles nur so mitschwingt und nicht so durchgekaut wird. Als konkreter Vorschlag: Nimm die Bahnfahrt raus. Also ich finde, die passt nicht so wirklich rein. Der Pfarrer ist gut auf seine Art und die ganzen Konflikte in der Familie auch - aber die beiden da, die führen ziemlich raus.
Insgesamt ist das sicher okay so - solange du dir das nicht für spätere Geschichten von mir abschaust :D

Thomas hast du ja auch aus seiner Statistenrolle befreit und das ist schön. Der hat ja Potential als Figur. Der Bruder, der die falsche Einstellung hat, aber deswegen ja nicht aufhört der Bruder zu sein, vor allem, weil Daniel sich ja nicht direkt für Politik interessiert. Das ist auch schön eingefangen mit der Gutenachtgeschichte. Weil da das menschliche, persönliche vor dem politischen steht. Hat mir so gefallen.

Insgesamt, hast du ja quasi das Gegenteil von meiner Geschichte geschrieben: Bei mir geht's ja mehr um das neue, Zukunftsträchtige und bei dir um die Altlasten, um das was übrig bleibt und weiter gährt und eben nicht so schön vorrüber ist, wie manche die meisten gehabt hätte. Das ist ein toller Ansatz für ein Copywright und ich hab's gerne gelesen.

Ich fürchte, das war jetzt nicht die informativste Kritik, aber das Problem ist ja bekannt. :)

Gruß,
Kew

PS.:
Die Kellerszene fand ich stark. Da ist viel zusammengedrängt. Dieses Sterben von Kindern, das nicht helfen können, weil niemand bereit ist sein Leben zu riskieren, für einen Jungen, der wohl so oder so stirbt. Und dann das mit dem Gnadenstoß, der zwar tatsächlich das menschlichste wäre, aber der dennoch grausam rüberkommt und kalt und der dann ja auch abgewiesen wird. Das ist echt gut verdichtet. Vielleicht die letzen zwei Sätze am Ende der Szene streichen, die wirken etwas plakativ. Der Leser bekommt auch so mit, was gemeint ist.

 

Hallo fiz

Also erstmal muss ich sagen, Hut ab!, wie viel Arbeit und Sorgfalt, Du in diese Kopie investiert hast. Wenn Du nicht von Hause aus ein Geschichts-Freak bist, musstest Du sicher auch ziemlich viel recherchieren.

Nein, ein Geschichts-Freak bin ich sicher nicht, auch wenn mich die Deutsche Geschichte so ab Bismarck durchaus interessiert. Aber für diese Geschichte habe ich erstmalig mehr Zeit ins Recherchieren als ins Schreiben investiert, von daher freut es mich, wenn man das auch erkennt.

Ich persoenlich finde Spannender, wie sich das im Grossbuergertum gehalten hat, bei Richtern, Professoren und Politikern, die dann die Stuetze der neuen Gesellschaft sein sollten.

Stimmt, das finde ich auch einen spannenden Aspekt. Das Volk wurde nach 1945 ja nicht einfach ausgetauscht. Der Pfarrer sollte das ein wenig rüberbringen ...

Was mich etwas grundsaetzlicher gestoert hat, ist die didaktische Art der Aufbereitung.

Hm, damit hab ich gerechnet. Ich hatte einen ähnlichen Eindruck, als die Geschichte fertig war. Eigentlich wollte ich auch erst eine ganz andere Kopie schreiben, aber, du kennst das sicherlich, man hat eine Idee, denkt drüber nach, alles ist super, bis man sich hinsetzt und schreiben will - und nichts richtig klappt. Es geht einfach nicht auf. So ein Fall war das hier. Normalerweise lässt man es dann wieder gut sein und setzt sich vielleicht nach ein paar Wochen nochmal an die Geschichte, aber hier gab es ja eine Deadline, die eingehalten werden wollte :)

Das soll keine Ausrede sein - mir hat es Spass gemacht, den Text so zu schreiben, wie er ist. Ich hab mich da eine ganze Weile in verschiedene Themen eingelesen, und wollte die alle irgendwie mit einfliessen lassen - unter dem Grundgedanken, dass der Junge auch vier Jahre nach dem 2. WK von der Ideologie der Nazis verblendet wird, weil die halt in verschiedenen Formen noch immer in der Gesellschaft besteht. Ich fand auch Kews Vorlage da ziemlich inspirierend und wollte einen Text schreiben, der eben in die andere Richtung weist.

Dass über all den Informationen die Geschichte zu kurz gekommen ist - ja, ich kann die Kritik verstehen. Mich persönlich interessieren die Themen, die hier mitschwingen, vor allem auch die Theodizee-Frage, und ich fand es spannend, das alles zu kombinieren. In dem Zusammenhang bin ich überhaupt zum ersten Mal über den Begriff der "Holocaust-Theologie" gestossen, und ja, das wollte ich da auch noch drin haben.

Und man merkt auch, dass das so Konzepte sind, die sich schwer in eine knappe Kurzgeschichte verpacken lassen - also da muesste es ja darum gehen, eine Handlung und einen Konflikt zu erfinden, der diese Fragen implizit evoziert. Und was Du stattdessen machst ist, dass Du einfach alles ueber Dialoge regelt, in denen das explizit durchgekaut wird.

Es sollte schon so ein übergeordneter Kontext mitschwingen - aber vielleicht kommt der zu kurz. Während Kew die Hoffnung betont, habe ich den Schwerpunkt auf die Unsicherheit gelegt und versucht, die am Beispiel des Jungen einzufangen.

Denn da driften Geschichten fuer mich schnell in so philosophische Lehrdialoge ab. Das ist einfach nicht so mein Ding.

Ja, schade - wie gesagt, ich lese so etwas sehr gerne und fand das eine schöne Gelegenheit, auch mal was in der Richtung zu schreiben. Natürlich sollte es kein Lehrdialog sein, sondern schon kurzweilig und interessant ...

Danke auf alle Fälle fürs Lesen und das Feedback. Das hier ist keine typische Geschichte für mich, vermutlich muss ich dir das nicht sagen, wo du doch für dein eigenes copywrite einige meiner Geschichten gelesen hast. Ich werde auch in Zukunft weniger didaktisch schreiben, nichtsdestotrotz hatte ich auch bei einem solchen Text mal Spass am Schreiben.


Hallo Fliege

Mensch warst Du fleißig! Also, davor ziehe ich schon mal den Hut.

Vielen Dank :)

Diese ganze Verwirrung, dass ist schon ein großes Thema, deshalb bin ich auch am Text geblieben.

Schön, wenn dich das am Ball gehalten hat - wie ich oben bei fiz erwähnte, sollte die Unsicherheit auch das zentrale Thema sein. Nicht nur bezogen auf Daniel, sondern auf die gesamte Bevölkerung - daher ist auch die "Schnitzeljagd" notwendig.

Welche Rolle die Zeitfragen also direkt für den Einzelnen, für das unmittelbare soziale Gefüge mit sich brachte, welchen Wirkung auf den eigenen Alltag. Ich denke, hier hätte man viel mehr die Möglichkeit eine unglaublich starke/intensive Geschichte aus dem Thema zu stricken.

Ich verstehe was du meinst. In einer ersten Version der Geschichte kam übrigens der Pfarrer die Familie besuchen, also da bin ich schon eher im kleinen Rahmen geblieben. Aber es ergab sich einfach kein vernünftiger Dialog, von daher hab ich am Ende den Pfarrer und Daniel isoliert - weil ich eben auch die Theodizee-Frage mitbehandeln wollte. Ich finde gerade in diesem Kontext ergibt diese Fragestellung viel Sinn, und es gibt auch interessante Antworten darauf. Das liess sich dann einfach nicht mehr im Familienkreis abhandeln, daher bin ich aus dem ausgebrochen.

Diese zeitlichen Einschübe, finde ich toll. Das hat mich auch wirklich am Text gehalten. Hier musste ich an Brecht denken:

Ich find das toll, dass du das erwähnst. Da hab ich viel Arbeit reingesteckt. Den Absatz von Brecht kannte ich noch nicht, aber er spielt auf denselben Winter an. Dabei ist mir aufgefallen, dass ich ihn ein Jahr zu spät datiert habe - 47/48, nicht 46/47.

Fazit: Copy-Ansatz finde ich gut, sau starkes Thema, schöne Zeiteinsprengsel, aber eben zu sehr Doku-Charakter für mich. Ich hätte gern ein richtiges Drama gehabt.

Danke für das Lob, das freut mich sehr, und das mit dem Doku-Charakter kann ich auch nachvollziehen. Ich könnte das sogar auch als Kompliment auffassen, weil ich da schon Wert drauf gelegt hab, viel Geschichtliches im Text unterzubringen, aber wie bei fiz hat bei dir auch die eigentliche Geschichte zu sehr drunter gelitten.
Wie gesagt, für mich war das trotzdem mal interessant, so einen Text zu schreiben - bei meinen anderen Geschichten gings immer schon dramatisch genug zu :) jetzt wollte ich auch mal was Ruhigeres, bisschen was Anderes schreiben - und wo könnte ich das, wenn nicht in der Kreativwerkstatt (und vielleicht eines Tages mal im Maskenball)?


Hallo Kew

Auf deinen Kommentar war ich ganz besonders gespannt, warst du doch die Inspiration für alles.

Die ist so alt, die musst ich selbst nochmal lesen, um zuwissen, wie das da alles abläuft.

Ich kannte sie auch nocht nicht - war aber mal ne schöne Gelegenheit, deine Texte zu lesen, und ich hab auch viele Ähnlichkeiten drin gefunden. Ich hatte mir noch überlegt, "Spiel ein Spiel mit mir" zu nehmen, aber da gabs ja schon zwei Versionen :).

Bisschen geschwankt hab ich immer beim Alter.

Ich hab ihn auf 12 gesetzt - geboren 1937, dann hat er sowohl die Bombenangriffe bewusst mitbekommen, ist aber auch noch nicht alt genug, um die politischen Hintergründe von 1949 zu durchschauen.

Der weiß ja quasi gar nichts, für den sind viele dieser Begriffe so neu und unbekannt.

Das ist ein interessanter Kommentar - ich hab mir das selbst überlegt. Ich kann mich nicht mehr richtig daran erinnern, was ich politisch alles verstanden habe, als ich 12 war, aber ich glaube, viel war es nicht. Als die Mauer fiel, war ich 10, und klar hab ich das mitgekriegt, aber wenn mich jemand damals nach Hintergründen gefragt hätte ... also ich finde, aus der Sicht eines damals lebenden 12jährigen, so weit ich mich in ihn hineinversetzen kann, weiss er nicht zu wenig. Wie gesagt, viele Erwachsene waren unsicher zu der Zeit damals.

und noch mehr die Interpretation der einzelnen Parteien im Vordergrund stünde, als die Wissensvermittlung.

Ja, auch darüber hab ich nachgedacht - es brächte auch den Vorteil, Gegenpositionen zu haben. Vor allem beim Gespräch mit dem Pfarrer wäre es gut gewesen, einen Gegenpart zu haben. Aber ich wollte ihn bewusst politisch "ungeformt" darstellen, um dann zu zeigen, wie er auf die verschiedenen Strömungen reagiert. Und letzten Endes entscheidet er sich ja nicht aus politischen Gründen, sondern weil er jemanden findet, der ihm seine Fragen beantwortet und zu dem er Sympathien hegt (wie du weiter unten richtig bemerkst).

Deinen Priester finde ich übrigens besser als meinen.

Find ich schön, dass er dir gefällt. In meinen Augen ist er sogar schlimmer als Thomas, genau aus diesen Gründen:

Da ist auch dieses manipulierende drin, was bei Unterricht ja immer schnell gegeben sein kann, weil man dem Pfarrer ja alles glaubt bzw. dem Lehrer, wenn da zu Hause niemand gegenhält.

Exakt so sollte es sein. Schön, wenn das so rüberkam.

Du handelst da vieles didaktisch ab - gut, ich bin da der Falsche dir das vorzuwerfen, ist ja in meiner Vorlage noch und nöcher drin.

Mich hat das gar nicht gestört in der Vorlage. Im Gegenteil, ich fand vor allem die Frage "Warum lässt Gott das alles zu" in Verbindung mit dem Krieg und dem Holocaust interessant - also etwas, über das ich auch mal ganz gern nachdenke (und ich bin weder religiös noch philosophisch, aber solche Fragestellungen interessieren mich dann doch, vor allem auch, welche Antworten darauf gegeben werden).

Aber ich denke doch, dass die Geschichte gewönne, wäre die Politikdichte etwas geringer.

Mir erschien sie wichtig, um die Geschichte realistisch klingen zu lassen. Ich hab da sogar einige Dinge wieder rausgenommen, bzgl. Berliner Lokalpolitik zu der Zeit, die mir überflüssig erschienen.

Als konkreter Vorschlag: Nimm die Bahnfahrt raus.

Ich verstehe den Vorschlag und die Begründung, aber das bring ich nicht übers Herz :)

Der Bruder, der die falsche Einstellung hat, aber deswegen ja nicht aufhört der Bruder zu sein, vor allem, weil Daniel sich ja nicht direkt für Politik interessiert.

Ich seh schon, bei dir sind viele Dinge so angekommen, wie sie gemeint waren. Wenn es dir dann noch gefällt, freut es mich doppelt.

Insgesamt, hast du ja quasi das Gegenteil von meiner Geschichte geschrieben: Bei mir geht's ja mehr um das neue, Zukunftsträchtige und bei dir um die Altlasten, um das was übrig bleibt und weiter gährt und eben nicht so schön vorrüber ist, wie manche die meisten gehabt hätte. Das ist ein toller Ansatz für ein Copywright und ich hab's gerne gelesen.

Schönes Fazit. Genau - bei mir sollte es in die andere Richtung gehen, quasi die Gegenseite zu deiner Schilderung sein.

Danke auch noch für das Kompliment mit der Kellerszene - sie entspricht ja am ehesten dem, was ich sonst geschrieben habe. Ich kann mir kaum vorstellen, wie grausam das in diesen fast schutzlosen Kellern gewesen sein musste - viele Leute hatten da noch nicht mal einen Platz und sind draussen herumgeirrt. Schrecklich. Was die letzen beiden Sätze angeht - ich möchte sie stehenlassen, weil sie für mich nochmal Daniels Stimmung in diesem Moment betonen.

Nochmal vielen Dank euch dreien fürs Lesen & das ausführliche Feedback. Auch wenn diese Geschichte etwas aus dem Rahmen fällt und ich zukünftig auf eine solche historische / politische Dichte verzichten werde, nehme ich wieder einiges mit, auf das ich bei den nächsten Texten achten werde.

Viele Grüsse,
Schwups

 

Hi Schwups,

hier sollte jetzt eigentlich ein Verriss stehen, weil du ja meine Copywrite-Geschichte nur solala gefunden hast... ;)

Nein, ernsthaft, mir gefällt deine Geschichte gut.
Es stimmt schon, da ist eine Menge Information in der Story und es gab durchaus den einen oder anderen Moment, wo auch ich mich gefragt habe, ob es nicht doch ein bisschen zuviel ist.
(Beispielsweise bei der Episode mit dem Pfarrer, die ich im Prinzip gut finde, allerdings etwas lang und dadurch ein Stückchen weit zu bemüht).
Letztendlich fand ich den Text aber rund und habe ihn - durchaus auch als ehemaliger Geschichtsstudent - mit Interesse und zunehmender Faszination gelesen.
Ich finde auch den Doku-Charakter nicht störend, für mich ist genug Drama vorhanden, ich mag das unterschwellige in der Bruderbeziehung.
Insgesamt glaube ich - um wenigstens ein bissche zu kritisieren ;) - dass es der Geschichte gut täte, ein wenig gestrafft zu werden. Dann stellst du viellleicht auch einige der anderen Kritiker zufrieden, die zuviel Info bemängeln.

Und noch ein bisschen Gekrittel: Dass ausgerechnet der "Krüppel" der begeisterte Nazis ist, finde ich ein bisschen sehr klischeehaft (nicht böse gemeint, aber das habe ich zu oft in Büchern-, Filmen usw. gesehen bzw. gelesen.) Für meinen Geschmack kann der Klumpfuß weg.

Als dickes Lob noch eines: Ich finde die Geschichte sowohl als Copywrite, aber auch als eigenständige Story sehr interessant.

Alles in allem habe ich die Geschichte wirklich gern gelesen und finde - als jemand, der in der Science-Fiction-Ecke weniger zuhaus ist -, dass dir der Historik-Anzug durchaus steht, könntest du also gern öfters anziehen ;)

LG svg

 

Hallo svg

hier sollte jetzt eigentlich ein Verriss stehen, weil du ja meine Copywrite-Geschichte nur solala gefunden hast...

Einen Verriss aus niederen Beweggründen hätte ich natürlich sofort durchschaut ;)

Nein, ernsthaft, mir gefällt deine Geschichte gut.
Es stimmt schon, da ist eine Menge Information in der Story und es gab durchaus den einen oder anderen Moment, wo auch ich mich gefragt habe, ob es nicht doch ein bisschen zuviel ist.

Ja, das ist nachvollziehbar. Es hängt natürlich auch immer damit zusammen, ob einen diese Art der Information persönlich interessiert.

(Beispielsweise bei der Episode mit dem Pfarrer, die ich im Prinzip gut finde, allerdings etwas lang und dadurch ein Stückchen weit zu bemüht).

Ok, ich schaue mal, ob ich da noch streichen kann. Eher am Anfang des Dialogs als am Ende, gerade den Anfang find ich auch noch nicht glücklich.

Letztendlich fand ich den Text aber rund und habe ihn - durchaus auch als ehemaliger Geschichtsstudent - mit Interesse und zunehmender Faszination gelesen.

Das finde ich ein schönes Kompliment :)

Und noch ein bisschen Gekrittel: Dass ausgerechnet der "Krüppel" der begeisterte Nazis ist, finde ich ein bisschen sehr klischeehaft (nicht böse gemeint, aber das habe ich zu oft in Büchern-, Filmen usw. gesehen bzw. gelesen.) Für meinen Geschmack kann der Klumpfuß weg.

Der Klumpfuss hat verschiedene Gründe. Zum einen taucht auch im Original schon eine Fussverletzung auf. Zum anderen braucht es aber auch einen Grund, warum der überzeugte Nationalsozialist nicht im Krieg mitkämpft, zumal er noch im passenden Alter ist. Und zum dritten gibt es eine (gestrichene) Szene, wo er auf Goebbels anspielt, der auch einen Klumpfuss hatte.
Also vor allem als Begründung für seine Untauglichkeit, auf die ja dann auch die Schwester anspielt, brauche ich was in der Richtung, ein Klumpfuss erscheint mir angemessen.

Alles in allem habe ich die Geschichte wirklich gern gelesen und finde - als jemand, der in der Science-Fiction-Ecke weniger zuhaus ist -, dass dir der Historik-Anzug durchaus steht, könntest du also gern öfters anziehen

Vielen Dank für das Lob. Mein Steckenpferd ist eher der Horror, und in die Richtung sollte die Geschichte auch erst gehen. Jetzt passt sie eher in die Historik-Ecke, schön dass auch das für dich aufgegangen ist, zumal du Geschichte studiert hast.

Danke fürs Lesen & dein Feedback!

Viele Grüsse,
Schwups

 

Lieber Schwups!

Sonntagmorgen und eine Story über zehn Seiten. Boah, irgendwie hatte ich nicht so wirklich Bock auf solch einen Brocken. Hab dann aber doch angefangen zu lesen.
Bereits nach kurzer Zeit hab ich nach unten links auf die aktuelle Seitenzahl geschielt, nur rein aus informellen Gründen, nicht, weil mir langweilig war, und zu meiner Überraschung befand ich mich schon auf Seite neun!

Daniel verstand kaum die Hälfte von dem, was gesagt wurde.
Sehr geschickt, hier eine politisch uninformierte Hauptfigur einzusetzen. Dann kann alles schön erklärt werden.
Aber nicht nur das. Daniel, als politisch unbeschriebenes Blatt, spiegelt in dieser Nachkriegsgeschichte die Verführbarkeit des „normalen“ Bürgers und der Bauern in den dreißiger Jahren wieder. Thomas möchte ich nicht mit dem großen Verführer Hitler gleichsetzen, sondern mit den vielen „kleinen“ Verführern, die letztendlich für Hitlers Erfolg gesorgt haben, Leute aus der Verwandtschaft und dem Bekanntenkreis.
Auch aus dieser Sicht eine äußerst interessante und in dieser Zeit – Quatsch, in allen Zeiten wichtige Geschichte.

Steinerne Gesichter zerfielen und spiegelten Entsetzen wieder;
:)

Erst neulich war die Blockade aufgehoben worden, und die Rosinenbomber blieben am Boden, wo sie nicht abstürzen konnten.
Du möchtest möglichst viel Info unterbringen. Hier, dass einige Rosinenbomber abgestürzt waren und das Hilfsprogramm dennoch nicht aufgegeben wurde. Aber dieser Anhang „wo sie nicht abstürzen konnten“ ist für die kundigen Leser überflüssig, und für die anderen unfreiwillig komisch.

Es waren seine Spielplätze gewesen, der Trümmerstaub und die zerfallenen Mauern seine Sandkästen und Klettergerüste.
Sehr schön eingefangen, dieses Zeit-Bild.

Gern gelesen!

Liebe Grüße

Asterix

 

Hi schwups,

Also ich bin so ein bisschen zwi mit diesem Text. An erster Stelle habe ich ein Problem mit deinem Daniel. anscheinend ging es den anderen nicht so, aber ich hab den einfach nie scharf gestellt bekommen. wie alt ist der bitte? Für einige Gedanken erscheint er mir schon sehr reflektiert zu sein, dann aber fungiert er als der ewige Naivling, der weder etwas versteht noch von was eine Ahnung hat. Das eckte auf die Dauer bei mir an. Auch, weil dieses ständige nachfragen so Programm-mäßig auf mich wirkte. Das war ganz klar: über den Unwissenden wird dem Leser Information verkauft.
Zum anderen sind es die Infos selbst. Das empfand ich an einigen Stellen als sehr ... Hm... bequem hingeblättert.
Deine Einstiegsszene, die ist krass, die Brettert voll rein, hook par excellence! Dann dieser krasse Cut. Da musste ich erstmal drauf klar kommen. Ich lese da plötzlich einen deftigen Wohlstand raus, das kommt mir irgendwie zu geblümt. Da wirken die Sätze, dass Mutter alles Geld für den Braten ausgegeben hat und dass ihre Küche eigentlich eng ist, fasst unpassend, weil mir da ein anderes Bild vermittelt wurde.
Der weitere Verlauf dann, ich weiß nicht, irgendwas fehlt mir da. Vielleicht ist es auch wegen des Einstiegs, weil der eben so dramatisch war und dann geht es eben so ... Brav Gesteuert weiter.
Das Ende finde ich dann wieder sehr gelungen, das fand ich echt geschickt gemacht, wie du da die Nähe aufbaust. Da brichst du auch immrichtigen Moment ab, das kommt bitter wie der gelungene Einstieg.
Jetzt klingt meine Kritik so harsch, merke ich gerade. Dabei finde ich die Geschichte nicht schlecht, gar nicht. Für mich ist der Daniel nur nicht der richtige Vermittler.

So, nun noch etwas Textkram, der mich so angesprungen hat.

„Gütiger Gott“, sagte Daniels Mutter und sprang auf. „Was ist passiert?“
Einer der Männer, die den Jungen hereingebracht hatten, sah auf

-sprang auf/ sah auf

Der Junge –“ Der alte Mann schluckte
Der / der

das Licht fackelte. Die
Fackeln?

Der Junge bäumte sich auf, er wurde schwächer. Seine braunen Augen suchten Erlösung, doch alles, was die Frauen ihm geben konnten, waren Tränen, denn davon hatten sie im Überfluss.
Das kannst du dir sparen, redundant und sehr melodramatisch

Er soll im neuen Amt eine neue Stelle bekommen. Als Oberinspektor
2x neu

Mit polternden Schritten humpelte Thomas in die Küche

Polternd humpelte er zur Tür

Das finde ich zu viel des Guten, wie du den Thomas einmarschieren und ausmarschieren lässt. Poltern +humpeln, nee, das liest sich unbeholfen

„Raus hier“, brüllte Mutter, und Daniel sah Tränen in ihren Augen glitzern.
Da sollte ein ! In die WR, das Komma vor und ist irritierend

Daniel. Sicher. Was möchtest du wissen?“
Lieber einen Punkt weniger. sicher, was möchtest ...
ch keine guten Menschen. Zumindest die meisten von ihnen nicht. Vergiss das nicht
2x nicht am Satzende
Daniel verstand nicht, wie etwas so Flüchtiges wie politische Entscheidungen seine Familie kaputtmachen konnte
Diese Stelle zum Beispiel. Das finde ich schon sehr reflektiert, allein die Wortwahl. Gleichzeitig ist er so ... Naiv. Ich krieg das nicht so ganz stimmig zusammen.

Grüßlichst
Weltenläufer

 

Lieber Asterix

Sonntagmorgen und eine Story über zehn Seiten. Boah, irgendwie hatte ich nicht so wirklich Bock auf solch einen Brocken. Hab dann aber doch angefangen zu lesen.

Schön dass du der Geschichte eine Chance gegeben hast – und auch schön, wenn sie dich unterhalten hat und du dich nicht durchquälen musstest.

Sehr geschickt, hier eine politisch uninformierte Hauptfigur einzusetzen. Dann kann alles schön erklärt werden.

Genau, bis auf Daniel hat ja jeder eine Meinung. Für ihn ist das alles verwirrend, weil sich so vieles so schnell ändert. Die Politik selbst interessiert ihn gar nicht, er kann das ja auch alles gar nicht verstehen, er sehnt sich eigentlich danach, wonach sich der Grossteil der Menschen sehnt: Ein Leben in Frieden und Sicherheit zu führen.

Thomas möchte ich nicht mit dem großen Verführer Hitler gleichsetzen, sondern mit den vielen „kleinen“ Verführern, die letztendlich für Hitlers Erfolg gesorgt haben, Leute aus der Verwandtschaft und dem Bekanntenkreis.

Ja genau, und für solche Verführungen braucht es einen Nährboden. Unsicherheit, Angst, auch Wut. So waren die Zeiten der Weimarer Republik und die Wirtschaftskrise seinerzeit ein Nährboden für den Nationalsozialismus. Und Daniel erlebt diese Unsicherheiten zwar nur „im kleinen“, ist aber gerade wegen seiner Ängste offen dafür.

Aber dieser Anhang „wo sie nicht abstürzen konnten“ ist für die kundigen Leser überflüssig, und für die anderen unfreiwillig komisch.

Ehrlich gesagt wusste ich gar nicht, dass so viele davon abgestürzt sind, bis ich bei der Recherche darüber gelesen habe. Ich habe es deshalb mit reingenommen, weil es schön zum „vieles wendete sich zum Besseren“ kurz vorher gepasst hat – aber vermutlich reicht da die Info, dass die Blockade aufgehoben wurde, schon aus. Ich schau mir das nochmal an.

Sehr schön eingefangen, dieses Zeit-Bild.

Danke – die Inspiration dafür war tatsächlich eine Fotographie, die ich mal gesehen habe.

Vielen Dank für dein Feedback und die interessanten Gedanken, die du dir zum Text gemacht hast!


Hallo weltenläufer

An erster Stelle habe ich ein Problem mit deinem Daniel. anscheinend ging es den anderen nicht so, aber ich hab den einfach nie scharf gestellt bekommen. wie alt ist der bitte?

In meiner Vorstellung ist er 12. Ich gebe zu, es fällt mir alles andere als leicht, mich in einen 12jährigen reinzuversetzen. Vor allem in sein politisches und gesellschaftliches Verständnis und Interesse.

Vielleicht kennst du das Buch Der Junge im gestreiften Pyjama von John Boyne. Darin geht es um den (neunjährigen) Sohn eines KZ-Wärters, der durch einen Zaun hindurch Freundschaft mit einem jüdischen Gefangenenkind schliesst. Einer der Hauptkritikpunkte an diesem Buch war, dass der Junge viel zu naiv rüberkommt, weil er keine Ahnung hat, was um ihn herum passiert. Ich hatte beim Schreiben auch die Befürchtung, dass jemand das über Daniel sagt.

Für einige Gedanken erscheint er mir schon sehr reflektiert zu sein, dann aber fungiert er als der ewige Naivling, der weder etwas versteht noch von was eine Ahnung hat. Das eckte auf die Dauer bei mir an. Auch, weil dieses ständige nachfragen so Programm-mäßig auf mich wirkte. Das war ganz klar: über den Unwissenden wird dem Leser Information verkauft.

Ich denke, du spielst hauptsächlich auf die Szene mit dem Pfarrer an.
Davor beim Essen, ich glaube wirklich nicht, dass ein 12jähriger damals die Potsdamer Beschlüsse oder den Marshall-Plan kannte. Ich denke, da ist es normal, wenn er nachfragt – und dass er die Andeutung von Thomas, was die Vergewaltigung von Sofia durch die Besatzer angeht, nicht versteht – ja, ein 12jähriger heute würde es vielleicht kapieren, weil die aufgeklärter sind als damals. Ich find das jetzt nicht zu weit hergeholt.
Aber gut, zum Pfarrer. Sagen wirs so, wenn ich die Geschichte nicht als Copywrite geschrieben hätte, hätte es die Szene vermutlich nicht gegeben. Aber mich hat am Original eben auch dieses Element gereizt, und vielleicht wirkt es deshalb aufgesetzt. Und es soll auch den immer noch verwurzelten Nationalsozialismus in der gesellschaftlichen „Elite“ zeigen, also nicht nur bei so gescheiterten Leuten wie Thomas. Ich verstehe den Kritikpunkt, das war auch die Szene, die ich am öftesten umgeschrieben habe (erst war der Pfarrer zu Besuch bei der Familie und hat nur mit der Mutter geredet , dann fand das Gespräch im Rahmen einer Beichte statt ). Ich fände es schade, den Teil ganz rauszunehmen, auch wenn er für die Geschichte wohl keine tragende Rolle spielt.

Ich lese da plötzlich einen deftigen Wohlstand raus, das kommt mir irgendwie zu geblümt.

Na ja, die Szene spielt auch schon 1949 – klar, der deftige Wohlstand war noch nicht ausgebrochen, vieles lag auch noch in Trümmern, aber es ging wieder aufwärts. Braten, Kartoffeln ... ich hab die Szene jetzt nochmal gelesen, aber für mich klingt das nicht nach übermässigem Wohlstand (es ist ja auch kein Bier im Haus ;)). Natürlich gibt sich die Mutter Mühe, wenn die ganze Familie am Tisch sitzt, es wird ja auch erwähnt, dass das nicht alltäglich ist, es ist ja auch ein besonderer Anlass.

Der weitere Verlauf dann, ich weiß nicht, irgendwas fehlt mir da. Vielleicht ist es auch wegen des Einstiegs, weil der eben so dramatisch war und dann geht es eben so ... Brav Gesteuert weiter.

Stimmt schon, die Dramatik und das Tempo vom Anfang werden nicht gehalten. Ich habe da mal versucht, etwas ruhiger zu schreiben und sowohl ein familiäres als auch gesellschaftliches Bild zu der Zeit zu zeichnen, die Ängste und die Verwirrung und die Hoffnungen einzufangen.

Das Ende finde ich dann wieder sehr gelungen, das fand ich echt geschickt gemacht, wie du da die Nähe aufbaust. Da brichst du auch immrichtigen Moment ab, das kommt bitter wie der gelungene Einstieg.
Jetzt klingt meine Kritik so harsch, merke ich gerade. Dabei finde ich die Geschichte nicht schlecht, gar nicht. Für mich ist der Daniel nur nicht der richtige Vermittler.

Ich verstehe die Kritik und hab auch kapiert, was dir am Text nicht gefallen hat. Die Alternative ist, Daniel da komplett rauszunehmen oder weniger den Fokus auf ihn zu legen.

Die Frage ist halt, warum hab ich den Text so geschrieben, wie er jetzt dasteht? Wo lag für mich der Schwerpunkt beim Schreiben? Und den wollte ich schon auf dem Jungen haben, eben mit seinen Ängsten und wie die ganzen gefestigten Meinungen der Erwachsenen auf ihn einprasseln und er eigentlich nur sein friedliches Familienleben haben will. Wenn ich den Daniel da jetzt rausnehme oder in den Hintergrund schiebe, ist die Frage, wo liegt dann der Schwerpunkt? Vielleicht auf dem, was fiz gesagt hat:

Ich persoenlich finde Spannender, wie sich das im Grossbuergertum gehalten hat, bei Richtern, Professoren und Politikern, die dann die Stuetze der neuen Gesellschaft sein sollten.

Das wäre sicher auch eine interessante Alternative, würde vielleicht im Rahmen des Copywrite auch noch durchgehen, aber halt eine andere Geschichte.

Deinen Textkram hab ich fast komplett übernommen. Für das 2x auf zu Beginn hab ich noch keine gute Alternative, das 2x neu in der WR ist Absicht.

Ja - also da war viel wertvoller Input dabei. Ich muss mal schauen, was ich mit den Infos anfange. Ich glaube nicht, dass ich die Geschichte jetzt radikal umschreibe, aber wie immer werde ich mir die wichtigsten Punkte notieren damit sie mir in Erinnerung bleiben. Vielen Dank für das Feedback und das Auseinandersetzen mit der Geschichte!

Grüsse,
Schwups

 

Hallo Schwups,

also ehrlich gesagt, so lange Geschichten sind eigentlich nicht mein Ding. Ich finde auch, du hättest sie straffer erzählen können.
Aber die Kriegs- und Nachkriegszeit hast du total überzeugend geschildert. Anders als viele ihrer Generation hat meine Mutter, BDM-Führerin damals und freidenkende Demokratin heute, viel erzählt aus dieser Zeit und das, was du schreibst, stimmt mit ihren Berichten verblüffend genau überein. Und Thomas klingt beinahe wie ein, inzwischen verstorbener, Nazionkel von mir.

Und trotz des zeitlichen Abstands ist es noch und wieder ein wichtiges Thema, unterschwelliger oder offener Rechtsradikalismus, Feindbilder, Orientierungslosigkeit. Die Anfänge liegen weit zurück, wehren muss man ihnen aber immer noch!
Daniel steht für viele, nicht nur jugendliche, nicht nur damalige, Orientierungslose. Ich finde ihn gut als Figur, auch, dass er sich zwar für Politik interessiert, aber eher ihre zerstörende Wirkung auf seine Familie wahrnimmt und persönliche Beziehungen (zu Thomas z.B.) ihm wichtiger sind.

Gut, dass du so ein Thema aufgegriffen hast,

viele Grüße,

Eva

 

Hallo Eva

also ehrlich gesagt, so lange Geschichten sind eigentlich nicht mein Ding.

Umso schöner, dass du sie trotzdem gelesen hast. Ich weiss, dass es mir oft schwerfällt, mich kurz zu fassen. Die Texte sind in ihrer Rohfassung auch nochmal deutlich länger, also ich kürze jedes Mal mindestens 10%, bevor ich sie hier einstelle - und, wenn mich nicht alles täuscht, ich glaube das hier ist die kürzeste Geschichte, die ich hier gepostet habe :)

Aber die Kriegs- und Nachkriegszeit hast du total überzeugend geschildert.

Das ist ein schönes Kompliment, gerade weil ich sehr viel Zeit ins Recherchieren verwendet habe.

Und trotz des zeitlichen Abstands ist es noch und wieder ein wichtiges Thema, unterschwelliger oder offener Rechtsradikalismus, Feindbilder, Orientierungslosigkeit. Die Anfänge liegen weit zurück, wehren muss man ihnen aber immer noch!

Ich denke auch, dass es wichtig ist, sich mit der Geschichte (also nicht mit dieser hier, aber mit Geschichte allgemein, mit der Historik) zu befassen und auch mit den Motiven, warum sie sich so zugetragen hat - und das gilt nicht nur für die NS-Zeit. Es ist dann auch erstaunlich, wie viele Parallelen man oft feststellt - genau die Dinge, die du nennst. Geschichte wiederholt sich eben doch erstaunlich oft.

Ich finde ihn gut als Figur, auch, dass er sich zwar für Politik interessiert, aber eher ihre zerstörende Wirkung auf seine Familie wahrnimmt und persönliche Beziehungen (zu Thomas z.B.) ihm wichtiger sind.

Er ist auch in einem Alter, in dem er einfach noch zu jung ist, um die ganzen politischen Verflechtungen und Zusammenhänge zu verstehen (obwohl - wann ist man eigentlich alt genug, um da wirklich durchzuschauen?). Gerade in dieser Zeit, in der der Friede permanent bedroht ist, ist es wichtig, in einer intakten Familie zu leben, wo wenigstens der "innere" Friede besteht. Darauf legt Daniel Wert, aber eben, den gibt es bei ihm auch nicht und kann es auch nicht geben.

Vielen lieben Dank für deinen Kommentar, Eva.

Grüsse,
Schwups

 
Zuletzt bearbeitet:

„Nichts. Iss fertig und sei still“
, war gleichermaßen in Ost und West die Haltung bis in die 1960-er Jahre hinein,

lieber Schwups,
und nun bin ich erstaunt, dass Fliege eine Art Tradition hierorts begründet über Deine starke Geschichte hier und Kews Muttertext „Neue Hoffnung“ (so wurde ursprünglich der spätere Großkonzern der Guten Hoffnungshütte genannt von der ersten Eisengewinnung übern Bergbau über Eisen und Stahl, Schwerindustrie und Maschinenbau. Kew darf sich so mal wieder auf einen Besuch freuen. Dass ich nun – aber erst nach dem 31. Mai – mich an den Geschehnissen vom Berliner Vietnamkongress bis hin zum Attentat Gründonnerstag 1968 versuchen werde, sollte jetzt niemand verwundern. Es würde das Bindeglied zwischen 1949 f. und 1989 f. (man vergesse nicht den zeitgleichen Prage Frühling, der auch mithilfe deutscher Panzer niedergewalzt wurde)

Aber zu Deinem Text, der gegen Ende die latente Gefahr der weltanschaulichen Rechtslastigkeit in Deutschland mit einem aktuellen Satz ausspricht

Wenn du magst, komm doch mal zu einem Treffen mit.
Ein Köder allerdings allen Extremismus’, um junge Leute zu fangen (wg. Pfarrer Ka hätt ich jetzt fast das biblische Wort vom Menschenfischer verwendet).

Paar sachliche Korrekturen solltestu vornehmen:

Oft dachte er an die Geschichten, die Thomas früher erzählt hatte, von Deutschen Helden und Sagen über die Könige in der Walhalla.
Die Walhalla ist die Ruhmeshalle in München, das Walhall („Valhöll“) ist das germ. Heldenparadies … Selbstverständlich könnten „steinerne“ Helden gemeint sein, aber die Anspielungen auf den Drachentöter widersprechen dem eigentlich.
Steinerne Gesichter zerfielen und spiegelten Entsetzen wider; …
teinern“ (ahd./mhd. steinin) bedeutet buchstäblich „aus Stein“. Nun kann Stein tatsächlich zerfallen (kann gespalten werden, splittern zu immer kleineren Einheiten bis hin zum Kiesel und Sandkorn, blass werden fiele ihm schwer, fühlte ein Stein denn). Ein steinernes Gesicht kann nur ein Bildhauer schaffen. Ein menschliches Gesicht kann aber wie ein Stein aussehen, im übertragenen Sinn und (kürzer also) „versteinern“.

„Findest du den böse? Würdest du sagen, ein gütiger Gott sollte den Holocaust verhindern?“
Behauptet Ka., der merkwürdige Pfrrer. Mag es den Begriff im anglo-amerikanischen Raum gegeben haben, der „Holocaust“ tauchte in der Bundesrepublik erst mit der amerikanischen Fernsehserie Holocaust auf, also Ende der 1970-er Jahre und etablierte sich dann gegen die älteren Begriffe "Endlösung", Judenverfolgung und Shoa.

Was mir dann noch auffällt, dass Du zwo Hauptsätze selbst wenn sie durch eine Konjunktion verbunden werden noch einmal grundsätzlich mit einem Komma versiehst, wie hier bei einem kurzen Beispiel:

Thomas lächelte, und Daniel lächelte zurück.
Für Hauptsätze gilt gleiches wie zu Nebensätzen und/oder gleichrangigen Wortgruppen und Wörtern: Das Komma wird durch die Konjunktion entbehrlich (es sei denn, Du wolltest einen Satz besonders hervorheben – aber sicherlich nicht jeden …)

Bei gelegentlicher indirekter Rede wäre m. E. Konjunktiv I anzuwenden,

Daniel fand, sie sah heute hübsch und gesund aus.
(besser: „sie sehe/sähe … hübsch aus.)gelegentlich sogar Konj. II - etwa hier
…, und Daniel vermutete, das lag an den Streitereien in der Familie.
(besser: „ … vermutete, das läge an den …)

Gern gelesen vom

Friedel
Nachtrag: Jetzt frag ich mich doch tatsächlich, ob Schatten altern können ... besonders wenn wir an den Dortmunder Norden denken ...

 

Hallo Friedel

Danke für deinen Kommentar zu der doch inzwischen etwas älteren Geschichte - und entschuldige die verspätete Rückmeldung, aber momentan ist leider ziemlich viel los (inklusive laufendem neuen Copywrite ;)).

Ein Köder allerdings allen Extremismus’, um junge Leute zu fangen (wg. Pfarrer Ka hätt ich jetzt fast das biblische Wort vom Menschenfischer verwendet).

Ja, würde die Geschichte fünfzig Jahre später spielen, wären es vielleicht CDs auf dem Schulhof oder Einladungen zu Konzerten gewesen. Der Extremismus kommt zunächst immer harmlos daher, gleichzeitig auch verheißungsvoll; etwas, worin man vermeintlich etwas findet, nach dem man sucht. Das war damals wie heute so.

Die Walhalla ist die Ruhmeshalle in München, das Walhall („Valhöll“) ist das germ. Heldenparadies … Selbstverständlich könnten „steinerne“ Helden gemeint sein, aber die Anspielungen auf den Drachentöter widersprechen dem eigentlich.

Gemeint ist hier schon die Walhalla; natürlich keine Sagen über die steinernen Helden, sondern über deren lebendige Vorbilder, also müsste der Satz ganz korrekt wohl lauten: "... und Sagen über die Könige, deren Statuen in der Walhalla stehen". Das klingt aber recht sperrig, ich finde, die Bedeutung geht aus dem Satz hervor.

Ein menschliches Gesicht kann aber wie ein Stein aussehen, im übertragenen Sinn und (kürzer also) „versteinern“.

Da hast du recht, "versteinert" wäre hier korrekt.

Behauptet Ka., der merkwürdige Pfrrer. Mag es den Begriff im anglo-amerikanischen Raum gegeben haben, der „Holocaust“ tauchte in der Bundesrepublik erst mit der amerikanischen Fernsehserie Holocaust auf, also Ende der 1970-er Jahre und etablierte sich dann gegen die älteren Begriffe "Endlösung", Judenverfolgung und Shoa.

Interessant, das wusste ich noch gar nicht. Wird geändert.

Zum Konjunktiv: Rein grammatikalisch hast du vermutlich recht. Ich bin da oft auch unsicher, wende im Zweifelsfall dann aber das an, was intuitiver klingt, im Sinne von umgangssprachlicher. Konjunktiv II wie "sähe" oder "läge" - das gibt dem Text einen komischen Klang, finde ich.

begründet über Deine starke Geschichte

Gern gelesen

Über die Komplimente freue ich mich, auch nach längerer Zeit. Grössere Anpassungen werde ich am Text selbstverständlich keine mehr vornehmen, aber es waren ja auch eher Kleinigkeiten, die dir aufgefallen sind.

Danke für deine Zeit & mach es gut und ich sag mal, bis demnächst, weil wir sicher bald wieder voneinander hören ;)

Grüsse,
Schwups

 

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