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Reflexion

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12.04.2007
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Reflexion

Reflexion -​
Present Development of the Past​

„Durch alle Wesen reicht der eine Raum:
Weltinnenraum. Die Vögel fliegen still
Durch uns hindurch. O, der ich wachsen will,
Ich seh hinaus und in mir wächst der Baum.“
Rilke​

Einst war weit westlich der großen Städte ein wundersamer Ort - umschlossen von hohen Hängen und wohlbedacht vom blauen Tuch des großen Zeltes, lag er von der Welt abgeschieden und kaum zugänglich in einem Hochtal. Da wogt’ es und rauscht’s die Hänge hinab durchs Immergrün der an Atem reichen dichten Wälder. Also wird erzählt in Puebla.

Weiter heißt es, dort säße ein jeder zu Tisch ohne Anfang und Ende, dass er zwischen zwei Gleichen und niemand höher zu sitzen käme als irgend ein anderer. Friede herrschte, auf dass Handel und Wandel blühten, und alle, die da im Hochtal wohnten, fänden und hielten gleichermaßen Anteil am Wohlstand.

Und selbst wenn eines Tages die Stimme des Erzählers verstummt, die Tinte der Niederschrift verblasst und die Schrift dem Leser fremd wird und nichts mehr wäre, wie es einmal war, hießen die Nachbarn den Ort immer noch mit schnalzender Zunge Tschoolollan, was in der Sprache des Volkes ohne jeden Schnalz „Ort des Laufens“ bedeutet, denn ohne Zweifel sind die Leute aus Tschoolollan immer schon die schnellsten und zugleich ausdauerndsten Läufer auf der Welt, dass selbst der Kaiser des fernen Morgenlandes neugierig wurde auf dieses Volk.

Also fragte der Kaiser seinen Beichtvater: „Vater Schwarzrock, was sagen uns die Heiligen Schriften über diesen Ort des Laufens? Und sage mir, was ihr Schwarzröcke und Gelehrte darüber wisst und was sich in euren Archiven über diese ferne Welt findet!“

Die Schriften aber schwiegen über den Ort wie die Archivare im Hort der Bewahrung jeder Bewegung abhold waren und sich schon allein vor dem Namen eines Ortes des Laufens ekelten.

So zuckte der Beichtvater zunächst mit den Schultern, kratzte sich verlegen am Kopf und blieb stumm, bis der Kaiser seinen Finger erhob und das Wort ergriff: „Heißt es denn nicht schon im Schöpfungsbericht, dass am sechsten Tage dem Menschengeschlecht geboten wurde, sich zu mehren und die Erde zu füllen, dem König der Könige aber aufgegeben wurde, sich alle Welt untertan zu machen und zu herrschen über alles, was da sei?“, um listig zu schließen: „Und wer wäre denn der König der Könige, wenn nicht der Kaiser?“

Da schnellte der Finger des Beichtvaters hinauf und der Schwarzrock fügte an: „Wie wahr, mein Herr, wie wahr! So lautet denn der Missionsbefehl in der frohen Botschaft, dass unserm Herrn gegeben sei alle Gewalt im Himmel und auf Erden und wir hingehen, allem Volk das Gesetz zu bringen.“

Der Kaiser fühlte sich bestätigt in dem Gedanken, der in ihm keimte.

„Ziehe hin, find uns dieses Scholloolaan und bringe deinem König der Könige den besten Läufer, kost’ er, was es wolle, auf dass wir die nächsten Olympiaden gewinnen!“, befahl darauf der Kaiser seinem Generalintendanten, „es soll dein Schade nicht sein!“, und ernannte den begnadeten Hofintriganten sogleich zum Admiral der sieben Weltmeere und Botschafter des Morgenlandes allen Völkern jenseits des westlichen Meeres.

Also rüstete der Admiral eine Flotte von Galeeren mit vielem Volk und Galeonen mit reichlich Kanonen an Bord, tänzelte mit der Armada übers Wasser der untergehenden Sonne entgegen, dass man nicht vom Kurs abkomme und das Abendland verfehle.

Für den Rückweg hieß er eine rote Spur über die Wasser des westlichen Meeres legen in Form von Leuchtfeuern auf all den Inseln, die durch die bloße Berührung mit den Stiefeln aus heimischem Leder in seinen Besitz übergingen und also dem kaiserlichen Eigentum hinzugefügt wurden.

*

“For with pomp to meet him came,
Clothed in arms like blood and flame,
The hired murderers, who did sing
»Thou art God, and Law, and King.”
Shelley​

Wie das flotte Ballett endlich das Abendland erreichte, hatten die Leute von Tschoolollan bereits von denen aus Puebla erfahren, dass da wer auch immer übers östliche Meer antanze nach einer fremden und umso außergewöhnlicheren Choreografie und Melodie.

Die Sonne zog vor, sich hinter den Bergen zu verbergen, um ihre Tränen nicht zu zeigen. Das große Zelt errötete zunächst vor Scham und wechselte hernach das himmelblaue Tuch gegen ein schwarzes. Selbst der Wald hielt seinen Atem an und erstarrte stumm.

Und dennoch: als die Leute des Hochtales erfuhren, dass das orientalische Ballett seinen Tanz in den östlichen Stätten fortsetzte, achtete man in Tschoolollan nicht so sehr des wilden Tanzes, als vielmehr der Tradition der Väter folgend, jedem Fremden gastfreundlich und allem Neuen aufgeschlossen und ohne Vorurteil zu begegnen.

Also tat man, als hätte man den Primballerino immer schon erwartet, brach das Brot mit ihm und begrüßte ihn als einen Freund. Weil er aber bleicher war als andere Reisende aus dem Morgenland, von denen man wusste, schmeichelte man ihm und nannte ihn Ketsalkoter, beherrschte doch der smaragdgrüne Trogonsketsal mit dem langen Schwanz das Immergrün. Das bleiche Gesicht des Eintänzers erinnerte die Leute von Tschoolollan an Vogelschiss.

Dem Generalintendanten kam alles im Hochtal spanisch vor und der Admiral wähnte sich in Tschoolollan in einem böhmischen Dorf. Der Botschafter des Orients erkannte dennoch recht schnell, dass die Leute im Ort des Laufens ständig am Rad drehten.

„Die haben einen Vogel“, befand er, womit er nicht unrecht hatte.

„Aber“, so ließ er seinen fernen Kaiser wissen: „Die Leute von Tschoolollan sind für Wettkämpfe und die moderne Welt ungeeignet, dass es sich nicht lohnt, sie einzugemeinden“, dass gar bald alle Orientalen fanden: „Die von Tschoolollan piepen nicht richtig!“, zumindest aber, so meinten Schlaumeier wie Scherzbolde auf ihre Art feinfühlig, eine hinterschwarzwäldlerische Kuckucksuhr, die nicht richtig ticke.

Da hatten die Orientalen nicht ganz unrecht, wenn auch nicht unbedingt recht.

Weder liefen die Leute des Hochtales vor jemand noch irgendetwas davon und schon gar nicht hetzten sie irgendwas oder sonst wem hinterher. Ihnen war der Gedanke fremd, mit dem großen Boot übers östliche Meer zu fahren und sich der Gefahr auszusetzen, durchnässt oder gar vom Wasser gefressen zu werden, um den fernen orientalischen König der Könige auf einem Thrönchen zu huldigen und zu beobachten, wie er seinen Besitz krampfhaft einbehielte und zugleich auf dessen Mehrung drängte.

Im Stillen tuschelten sie trotz aller Menschenfreundlichkeit, die Orientalen müssten verrückt sein, wenn nicht schon „rittitti!“ oder gar noch heftiger „plemmkacki!“ Statt nämlich selber zu laufen, ließen die Leute von Tschoolollan ständig Töpferscheiben laufen.

Von morgens bis abends.
Tag und Nacht.
Jahrein, jahraus.
Generation auf Generation.
Vom Anfang der Welt bis zu ihrem Niedergang,
denn immer schon fragte alle Welt nach den kunstvoll geformten Batzen Erde aus dem Ort des Laufens.

Teskatlipoka, wie der Name des Bürgermeisters von Tschoolollan heute noch lautet, bläst dort alltäglich den getöpferten Figuren seinen Odem mit dem ersten und zugleich einfachsten Ton ein. „’s ist der einfachste und darum edelste und ursprünglichste aller Laute, Euer Liebden“, übersetzen die Grimmbrüder einst das Tagewerk des Teskatlipoka übern großen Wörtersee hinweg, „der darum zu Anfang allen Alphabetes steht, wiewohl er genau die Mitte zwischen i und u bildet und doch zugleich zu e und o sich wandeln mag. Mit dem ersten Atemzug erschallt voll der Laut schon aus der kleinsten Brust und dem winzigen Kehlchen und wird in seiner Wiederholung zum ersten und einfachsten Wort fürs größte Bedürfnis eines jeden, ob beim hilflosen Säugling oder dem mächtigsten Fürsten, der Ruf nach dem Topf wie nach dem Thrönchen.“ Und Teskatlipoka weiß, dass es so weiter gehen wird, solange alle Welt sich ans und am Kacken halten kann.

Was aber ist mit dem Generalintendanten des Hoftheaters, dem Admiral der sieben Weltmeere und Botschafter des Orients und zugleich choreografisch außergewöhnliche Primaballerino geschehen, wenn doch Tschoolollan den heißen Tanz überstanden hat? Wie, zum Teufel, konnte Tschoolollan dem grausamen Ballett entkommen?

Eine Antwort gab der Botschafter des Morgenlandes, als er die Botschaft an seinen fernen Kaiser resigniert schloss: „Selbst zum Kanonenfutter sind die Leute im Ort des Laufens wenig bis überhaupt nicht geeignet“, wobei er verschwieg, dass das Hochtal sich dem schweren Geschütz als unzugänglich erwiesen hatte.

*

- Il faut quelques secondes
Pour effacer un monde -
Houellebecq​

Im Immergrün der Hänge ums Hochtal und inmitten des Ortes des Laufens auf einem pyramidalen Stein, der seit undenklicher Zeit als Altar dient, leben die Götter dieser seltsamen Vögel.

Natürlich!, –
wie könnte es anders sein? –
selbst mittelgroße, farbenprächtige Vögel mit elend langem Schwanz.
Die lieben die Freiheit über alles.
Selbst wenn sie in goldenen Käfigen und Luxus gehalten würden,
bräche ihnen das Herz und sie gingen ein.
Wie sollte es anders sein –
natürlich!,
lässt doch keine Gottheit sich gerne wegsperren, weshalb die göttlichen Vögel nicht Scheusal, sondern Ketsal gerufen werden. Der smaragdgrüne Trogonsketsal aber gilt als ihr Fürst, der weniger herrscht, als vielmehr darüber zu wachen hat, dass alle Ketsal frei bleiben.

Käme also daher der Name Vogelfrei?

Eines Morgens kam aus der Dämmerung eine Schlange, die schmückte sich mit den fremden Federn der Ketsal, dass sie nicht erkannt werde. So sehr die Ketsal die Freiheit liebten, so sehr fürchteten sie den unermesslichen Hunger des Eindringlings. Als Götter wussten sie natürlich, was heute jeder Bürotrottel weiß, und sprachen unter sich: „Lassen wir die Fremde die Treppe hinauf fallen, bevor wir alle ihr zur Beute fallen!“

Also schlängelte sich die Schlange rasch durch die Hierarchie und stieg im Götterhimmel des Hochtales auf. Letztlich wurde das Scheusal einstimmig von den Ketsal zur Majordomina bestimmt und erhielt den Ehrentitel Ketsalkota.

Die Ketsal aber fanden zunächst, dass es gut sei, eine Herrin zu haben, um damit Friede, Freude, Feierkuchen und zugleich die gute alte Vogelfreiheit zu bewahren. Aber es änderte sich viel unter dieser Regentschaft, konnte doch Ketsalkota sich nicht am eigenen Wahlvolk gütlich halten.

Die gefiederte Schlang verlangte nun regelmäßig Opfer von den Gläubigen im Hochtal –
am liebsten Innereien, frisch mit dem Obsidian einem lebendigen Leib entnommen -
Zunge, Herz, Lunge, Leber, Niere,
über Nacht in Milch der frommen Denkungsart entgiftet,
gut gewürzt verspeist am nächsten Tag mit dem Nachtisch,
vom Hirn die Sülze und gelegentlicher Blutwurst, Panhas,
Himmel und Erd’.

Ketsalkota verlangte aber Tschoolollan allzu viel ab, um den eigenen Hunger zu stillen, dass ein Murren im Hochtal aufkam. Damals schon befand der Teskatlipoka , „die Ketsal müssen verrückt sein!“, und zweifelte an seinem Glauben und fürchtete schon das Scheusal von Regentin.

Des jammerte die Frau des Trogonsketsal und sie suchte nach einem Ausweg. Den fand sie, wenn sie ihrem Mann den gepflegten Hausdrachen gab, in der Eitelkeit des eigenen Geschlechts und vor allem aber in der Selbstgefälligkeit der Macht. Also hieß die Trogonsketsa den Spiegelbauer, einen besonderen Spiegel zu schaffen und gar bald hieß es im Ort, dass der Spiegelbauer wohl von bösen Geistern heimgesucht werde und rittiti geworden sei.

Geführt von der Trogonsketsa brachten die Gesellen des Spiegelbauers das im blauen Tuch des großen Zeltes gehüllte vierflügelige Werk zum Teskatlipoka, auf dass er es der Majordomina schenke. „Achte aber darauf“, so warnte die Frau des Trogonsketsal, „dass du nur die glatte Rückseite siehst, wenn die Hülle abgenommen wird und die Spiegel mit ihren gekrümmten inneren Flächen wie eine Wand um den steinernen Altar der Ketsalkota gestellt werden!“, und schloss mit der Warnung, nicht einmal dahinter schauen zu wollen, was denn da mit Ketsalkota geschehe, wenn sie in die Glaswand sehe.

Und eben so sollte es geschehen.

Der Bürgermeister trat inmitten Tscholollans vor den pyramidalen Stein, auf dem Ketsalkota thronte – oder vielmehr: ruhte und die meiste Zeit verschlief, bis sich wieder der Hunger meldete.

Teskatlipoka und die Gesellen richteten das blaue Geschenk vorsichtig zwischen sich und der Majordomina auf, dass Altar wie Wohnstätte hinter den verhüllten Wänden verschwand, und warteten, bis ein erstes Knurren des Magens hinter den Spiegeln zu vernehmen war.

So gab denn Ketsalkota selbst das Kommando zu ihrem Untergang.

 
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Hab ich mich jetzt erschreckt,

liebe Eva,

die Ameland (nicht zu verwechseln mit dem schönen Lummerland als einer Insel mit zwei Bergen ...) Erinnerung aus dem Sand der nördlichen Strände wieder ausgegraben zu finden.

Verstehen werden es wenige, um so schöner, dass Dir die "Komposotion" insgesamt gefällt, was für eine gewisse Musikalität meiner Sprache spricht (mein Gesang aber noch was aufs Dylan'sche Genuschel draufsetzt). Schließlich wurde schon ein unwesentlich älteres Sück Geschichte (alles ergeht sich bei mir in Historik, der eigenen Geschichte oder der fremden, des Einzelnen oder ganzer Völkerschaften) einen Kollegen die Fuge erkannt (die hier eher nicht zu finden ist, außer man nähme einen Spiegel ...). Wilhelm Berliner hat mal bei mir darauf hingewiesen, dass Unverständlichkeit die einzige Art des Widerstandes gegen den mainstream sei (er hat's feiner ausgedrückt). Darum gibt's ja jetzt auch eine neue Übersetzung der Bibel in "verständlicher" Sprache, wahrscheinlich wird die Kinderbibel politisch korrekt dem gläubigen Volke angedient. K. A., auch uninteressant für einen wie mich, der selbst den ollen Luther und Grimmelshausen noch lesen kann ohne Übersetzungshilfen.

Ja, was kann ich noch sagen, außer dass ich mich über die warmen Worte mehr als entschreckt hab und mich freu.

Dank Dir fürs Lesen und Wohlwollen!

Auch Dir einen schönen Advent(sonntag) und bis bald

Friedel

 

Das ist keine Prosa!

Da bin ich anderer Auffassung,

lieber baba,

es ist sogar ein sehr prosaisches Werk wie halt die Weltgeschichte auch, nur eben sehr verdichtet. Bei dem Satz

Die ganze KG ist ein schönes Gedicht!
bade ich allerdings wie in Milch und Honig.

Hat mich gefreut!

Nebenbei, das ist nur der zweitkürzeste, vollständige Kommentar zu einem Text von mir. Den Rekord hält immer noch das Wort "cool"! zu einer kleinen Satire, die sich dann in den Kommentaren buchstäblich fortsetzt.

Dank Dir fürs Lesen und die gebremste oder angedeutete Sprachlosigkeit (wenn man es so sagen darf).

Ich wünsch noch einen schönen Sonntagabend und sag "bis bald!"

Friedel

 

Lieber Friedel,
ein sehr lyrischer Text, ich würde gerne einen Minnesänger deine Worte jubilieren hören.
Witzig und wunderschön. Damit gehe ich nun schlafen.
Vielen Dank, Du virtuoser Poet und lieben Gruß Damaris

 

ein sehr lyrischer Text, ich würde gerne einen Minnesänger deine Worte jubilieren hören

Schön, aber wen nehmen, wenn nicht wiederbeleben? Und mein Organ setzt auf Dylan's Nuschelrock noch eins drauf ...

liebe Damaris,

und das würde Dear - so ist zu befürchten - den Schlaf rauben. Aber dank Dear für die Ausgrabung aus dem S(tr)ande Amelands und der salzigen Nordseeluft ...

Gruß in den Süden unserer schönen Republik vom

Friedel,
der ja schon mit Walther (v. d. V.) unter den Linden war ...

 

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