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Augenblick

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22.01.2013
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Augenblick

Das Auge, das ein wenig verloren auf seiner Fußmatte lag, schaute ihn vorwurfsvoll an. Beinahe hätte Jonas es mit seinem Fuß zerquetscht, als er seine Morgenzeitung aus dem Briefkasten holen wollte, doch zum Glück ließ sein nackter Zeh es nur ein kleines Stückchen kullern. „Wie groß es ist!“ war absurderweise sein erster Gedanke, noch ehe sich ein unangenehmes Kribbeln vom Genick aus über seinen Körper ausbreitete. Mit zitternden Händen nahm er die Zeitung, atmete tief aus und wandte sich der Haustür zu. In der wagen Hoffnung, dass ihm lediglich seine Phantasie einen Streich gespielt habe.

Wie im letzten Monat, als er dachte, Esther käme ihm entgegen. Fröhlich wie so oft. Er hatte schon die Hand zum Gruß gehoben, sich auf die Wärme ihrer Umarmung gefreut, als er bemerkte, dass die junge Frau nur einen ähnlichen Gang und die gleiche Haarfarbe hatte. Esther war tot, seit fast drei Jahren. Sie konnte ihm nicht mehr entgegengehen.

Vorsichtig drehte sich Jonas um. Seine Hoffnung zerfiel. Noch immer warf ihm das Auge einen missbilligenden Blick zu. Ein leichter Schwindel erfasste ihn, nur mit Mühe schaffte er es bis ins Wohnzimmer. „Es muss da weg, sofort“, dachte er, aber seine Beine weigerten sich, ihm wieder aus dem Sessel zu helfen. Bald würden seine Kinder aufwachen und vor diesem Anblick wollte er sie beschützen. Wenigstens davor. Lilli war acht, Tim fast fünf Jahre alt, und sie hatten in den letzten Jahren mehr durchgemacht, als richtig war.

***​

„Es tut mir unendlich leid, die Entfernung des Auges ist die einzige Chance, die wir haben.“ Dr. Kosam sah Esther und Jonas mitfühlend an. Das 'Wir' war okay, keine Spur herablassend, denn seit acht Monaten kämpfte er mit ihnen gemeinsam gegen den Gehirntumor. Zunächst mit kleinen Erfolgen. Doch jetzt war auch ihr linkes Auge betroffen. Esther hielt krampfhaft Jonas Hand, als ob er ihr irgendeinen Halt geben könnte. Konnte er nicht. Ihre Augen. Wenn er etwas an ihrem Äußeren ganz außergewöhnlich und wunderschön fand, dann ihre Sternenaugen. Tiefblaue Spiegel ihrer Seele. Und nun sollte eines rausgeschnitten werden? Wenn er den Arzt richtig verstand, für eine unbestimmte Hoffnung ...

„Sag es mir, was soll ich tun? Ich weiß nicht mehr weiter!“ Esther schaute ihn hilfesuchend an. Seit sie zusammen waren, hatten sie alle wichtigen Entscheidungen gemeinsam getroffen. Ob es um eine neue Wohnung, einen spannenden, aber unsicheren Job oder Lillis Kindergarten ging, sie diskutierten manchmal bis in die Nacht hinein, wenn es sein musste bis zum Morgen. Nur sie und er und eine Flasche Wein. Eine Lösung fand sich immer. Bisher. Doch hier hatte er das Gefühl, nichts beitragen zu können.
„Du musst wissen, was für dich richtig ist. Ganz egal, was ich dazu meine.“
„Du hältst es für zwecklos, oder?“
„Wirklich, meine Meinung spielt keine Rolle. Tue, was immer du denkst.“

Sie quälte sich mit der Entscheidung, tagelang. Es tat weh, ihr dabei zuzusehen. Und es tat weh, mit einem Mal nutzlos zu sein.
Dabei war er vor Kurzem noch ihr Held gewesen. Wirklich, genauso hatte sie ihn vor nicht einmal einem Jahr genannt. Ihre Katze war abends nicht nach Hause gekommen, Esther hatte sich Sorgen gemacht. Deshalb war er losgegangen, hatte die ganze Nacht gesucht und Mika schließlich verletzt im Gebüsch gefunden. Die Tierärztin meinte, dass sie ein paar Stunden später nichts mehr hätte tun können.
Doch jetzt und hier war alles anders. Er war kein Held mehr. Er war noch nicht einmal der Mann, an den sie sich anlehnen konnte.
Mit seinem Schmerz darüber wuchs sein Zorn, langsam, unaufhörlich.

Hätte ihr Hausarzt, an den sich Esther wegen ihrer Kopfschmerzen und der beginnenden Probleme, die richtigen Wörter zu finden, zunächst gewandt hatte, nicht abgewiegelt, zu großen Stress vermutet, Tabletten verschrieben – die fatalerweise zunächst halfen - , sie könnte heute geheilt sein. So aber hatte der Krebs seine Chance bekommen. Nach und nach wurde aus seinem Zorn Hass, bitterer Hass.
Man müsste diesem verdammten Quacksalber das Handwerk legen, ein für alle Mal. Und Jonas hatte dazu auch ein paar Ideen …

***​

Er hörte von oben ein Kichern, die Kinder waren aufgewacht. Endlich fand er die Kraft, aufzustehen und zurück zur Haustür zu gehen. Das Ding, er musste es wegbringen, bevor seine Beiden es zu Gesicht bekamen. Aber als er zögernd die Tür öffnete, war es verschwunden.

***​

„Überlegen Sie sich das noch einmal, bitte! Sie haben doch zwei kleine Kinder, dies wäre zumindest eine Möglichkeit!“
Dr. Kosam schien fassungslos über Esthers Entscheidung, sich nicht operieren zu lassen. Für Jonas keine Neuigkeit. Ihre Worte vom Tag zuvor hallten noch als Echo in seinem Kopf: „Ich kann das nicht. Wie sollte das sein, aus der Narkose zu erwachen, in mein Gesicht zu schauen und dann …“. Sie war sich anscheinend sicher. Das hatte sie Jonas gesagt und das versuchte sie nun dem Arzt klarzumachen, doch der verstand nicht - oder wollte nicht verstehen.

„Es ist nur ein Auge! Und eine Chance. Ich würde Ihnen das sonst nicht vorschlagen, glauben Sie mir!“
Ob es eine Chance war oder nicht, Esther wollte sie nicht ergreifen.
Jonas stand daneben, versuchte, für sie da zu sein, für seine Kinder da zu sein. Manchmal gelang ihm das.

Doch oft, während er im Krankenhaus ihre Hand hielt oder mit Tim und Lilli Zeichentrickfilme schaute, dachte er sich weg, flüchtete in seinen Plan, feilte an den Einzelheiten. An dem, was der Hausarzt mehr als verdient hatte.
Das von ihm gegründete ‚Forum gegen Kunstfehler‘ hatte zwar bisher nur drei Mitglieder, aber schon Zeitungsartikel platziert, der Ärztekammer geschrieben, Flugblätter verteilt, Ärztebeurteilungen ins Internet gestellt. Langsam stellten sich Erfolge ein. Das Wartezimmer von Herrn Herbst (nicht mal promoviert war dieser Scharlatan) leerte sich. Selbst als eine Grippewelle die Stadt erfasste, kam nur noch eine Handvoll Patienten zu ihm.

Zur selben Zeit gab Esthers Körper auf. Tag für Tag wurde sie müder, schwächer. An vielen Tagen ertrug sie das mit erstaunlicher Gelassenheit, doch manchmal, plötzlich und unvorhersehbar, wurde sie unberechenbar in ihrer Verzweiflung.
„Ich will keine Blumen, die gehören aufs Grab, nicht hierher!“, schrie sie einmal und schmiss einen Strauß samt Vase aus dem Fenster. Die zerbrach laut krachend, splitternd auf dem Asphalt. Zerrissene Blüten zwischen Scherben.
Jonas spürte ab und zu schmerzhaft, dass sie über den kommenden Abschied sprechen wollte. Doch er ertrug es nicht. Er redete lieber darüber, was sie noch gemeinsam tun würden, sprach über seinen Job, die Aktionen gegen den Hausarzt, die bevorstehenden Wahlen, über ein Kunstprojekt in ihrem Ort, die neuen Schuhe der Kinder.

Viereinhalb Monate später war Esther tot.

***​

„Papa, guck was ich für dich gemalt habe!“ Lilli zeigte Jonas stolz ihr neustes Bild. Hellblaue, flauschige Wolken, funkelnde Sterne, ein dunkelblauer Mond und dazwischen – mitten in einem rasanten, geradezu halsbrecherischem Flugmanöver – ein blonder, über beide Backen strahlender Sternenengel. „Schau, Mama fliegt von allen Engeln am allertollsten!“
„Klar tut sie das.“
Lilli lachte zufrieden und Jonas befestigte ihr Bild am Kühlschrank. So lange hatte seine Tochter ihre Mutter nicht mehr gesehen, und wie gut hatte sie sie getroffen. Er selbst hatte bisweilen Mühe, sich an ihre Wärme, ihr Lächeln, ihre Zartheit zu erinnern. Und an ihren Schmollmund, wenn sie erfolglos versuchte, ihm böse zu sein. Wie konnte es sein, dass seine Erinnerungen ihn mehr und mehr im Stich ließen?

Tim kam verschlafen die Treppe herunter. „Kommt Marie jetzt, Eis essen?“ fragte er. Jonas hörte ihm an, dass er sich auf die Verabredung freute wie ein Schneekönig. Ach ja, in einer halben Stunde würde Marie die Kinder abholen, fast hätte er das vergessen. Marie, Esthers beste Freundin und auch seine, kümmerte sich um Lilli, Tim und ein wenig um ihn seither.

Eine halbe Stunde später waren die Drei bestens gelaunt losgezogen und Jonas blieb allein im Wohnzimmer zurück. Sie hätten ihn gerne dabei gehabt, aber er brauchte Zeit für sich.

‚Schloss Gripsholm‘ von Tucholsky, das hatten sie sich zu Beginn ihrer Liebe gegenseitig vorgelesen und heute wollte er es zum ersten Mal wieder in die Hand nehmen. Vielleicht kam er Esther so wieder näher?
Der anstrengende Job als Versicherungsmakler - als ob es möglich wäre, sich gegen irgendetwas zu versichern - die Pausenbrote und Elternabende, platte Fahrradreifen und Mäkeleien an seinen ausbaufähigen Kochkünsten. Er fürchtete langsam, sie ganz zu verlieren in seinem Alltag.
Auf dem Foto, das auf der Anrichte stand, sah er ihre strahlenden Augen, ihre widerspenstigen Locken. Aber der Duft ihrer Haare, wenn er sein Gesicht in ihnen vergrub, war so verloren wie der Geschmack der Küsse, mit denen sie sich gegenseitig hatten hilflos machen können.
Und obwohl er natürlich wusste, wie unveränderbar ein Foto war, wunderte er sich, dass sie immergleich weiterlächelte, obwohl er ihre Birkenfeige inzwischen zu Tode gegossen hatte.

Jonas zog den schmalen Band aus dem Regal, dabei fiel ein hellblauer Brief heraus. Auf dem Umschlag sein Name, in Esthers Handschrift. Sein Herz überschlug sich. Schmerz und Freude nahmen ihn so gefangen, dass er sich kaum bewegen konnte. Eine Weile saß er still, dann nahm er den Brief, öffnete ihn und begann zu lesen:

Mein allerliebster Jo,

mein letztes Wochenende zuhause. Und meine letzte Möglichkeit, dir zu schreiben. Einen weiteren Urlaubstag hier bei euch wird es wohl nicht mehr geben und im Krankenhaus fühle ich mich so weit weg von allem.
Es wird eine Weile dauern, bis du auf meine Zeilen stößt. Das ist gut. Im Moment bist du so verletzt, zornig, fasst erstarrt, du würdest nicht viel von dem verstehen, was ich dir sagen möchte. Mir ging es lange so, ich war unglaublich wütend und gleichzeitig traurig darüber, was das Schicksal mir zumutet. Erst jetzt kann ich akzeptieren, dass es ist wie es ist. Aber es fällt mir unendlich schwer, euch allein zu lassen.

Liebster, ich war auch wütend auf dich, über unsere Sprachlosigkeit. In deinem Leid hast du mich manchmal allein gelassen. Ich weiß, dass du nicht anders konntest, spürte, dass du unter dem Ungesagten leidest wie ich. Trotzdem machte mich das eine Zeitlang traurig. Aber weißt du was? Ich war gar nicht allein, Marie war für mich da, wo du es nicht sein konntest.

Es ist alles gut. In jedem Moment habe ich gewusst, wie sehr du mich liebst. Wie ich dich kenne, haderst du in dieser Sache trotzdem noch immer mit dir. Das brauchst du nicht, wirklich. Letztlich habe ich alles bekommen, was ich brauchte.

In deiner Verzweiflung kämpfst du gegen den Herbst. Er hat einen Fehler gemacht, ja, aber Fehler kommen vor. Nicht nur bei ihm. Falls du noch immer kämpfst, höre auf damit. Ich kann dir diese Bitte nicht ins Gesicht sagen. Ich glaube, du brauchst das im Augenblick noch, um alles durchzustehen. Doch inzwischen wird genug Zeit vergangen sein ...

„Auge um Auge - und die ganze Welt wird blind sein“, das war früher einmal dein Lieblingszitat von Gandhi, erinnerst du dich?

Vielleicht zweifelst du inzwischen an meiner Entscheidung gegen die Operation? Und meinst sogar, du hättest mich überreden sollen? Das hättest du nicht gekonnt. Mir war irgendwann klar, dass sie nichts ändern würde. Ich spürte, dass da für mich keine wirkliche Chance lag, egal was Dr. Kosam meinte. Sonst hätte ich es getan.

Lieber Jonas, meine Liebe zu dir kann nicht verschwinden, da bin ich ganz sicher. Die wirst du immer mal wieder spüren, egal wo ich selber sein werde. Aber schau, dass sie dir ins Leben hilft und es nicht verhindert. Du bist ein unglaublich toller, lieber, wunderbarer Mann. Dein Humor, deine Hilfbereitschaft, deine Liebe und deine Geduld mit meinen Schwächen: Fast immer, wenn ich an dich denke, komme ich ins Schwärmen. Wie so ein Teeny, und das nach mehr als acht gemeinsamen Jahren! Wäre doch schade, wenn ich die einzige Frau bliebe, die das ganz und gar genießen durfte.
Gib Lilli und Tim hin und wieder einen Kuss von mir,

in Liebe,

Esther

P.S. Weißt du eigentlich, dass Marie dich geradezu unverschämt gerne mag?

Jonas ließ den Brief sinken. Esther war ihm mit einem Mal so nah, als wäre sie nur kurz zum Einkaufen gegangen und könnte jeden Moment zur Tür herein kommen - wie immer viel zu bepackt. Mit einem unsicheren Lächeln, weil sie wieder eine Menge Geld für eine Menge Zeug ausgegeben hätte, das sie seiner Ansicht nach gar nicht brauchten. Er würde übertrieben seufzen, sie scheinheilig Besserung geloben und gemeinsam würden sie schließlich den ganzen Kram verstauen. Und da die Kinder gerade unterwegs waren, würden sie die günstige Gelegenheit ...

Die hohen, aufgeregte Stimmen, die sich der Haustür näherten, holten ihn zurück. Jonas wischte sich schnell über die Augen. Er hörte Tims Gehüpfe auf dem Kiesweg und Lillis Gezeter: „Iiih, da ist ja schon wieder so was. Dieser doofe Jan verteilt wieder Schweineaugen. Die hat der von seinem Vater, aus dem Schlachthaus. Ist das eklig, pfui! Marie, guck mal!“, und dann, ganz mutige, große Schwester: „Lass mal Tim, die schmeiß ich in die Bio-Tonne.“ Dann dreifaches Gequieke und Gelächter, das Klappen des Deckels und schließlich der Schlüssel im Schloss.

Hoffentlich blieb Marie noch ein bisschen.

 

Hallo Eva,

Das Auge, das ein wenig verloren auf seiner Fußmatte lag, schaute ihn vorwurfsvoll an.

Das fand ich einen tollen ersten Satz und dachte, jetzt wird sie aber schräg, ich wurde tatsächlich neugierig. Und dann wurde es gar keine schräge Geschichte, sondern eine, ja, wie sie thematisch scheinbar gern von KG-Autoren geschrieben wird. Der Verlust des Partners durch Krankheit, Verlust eines Elternteils durch Krankheit, wie auch immer - Trauerarbeit scheint es vielen angetan zu haben. Und es ist kein einfaches Thema. Und obwohl darin von Hause aus Dramatik drin steckt, gelingt es nur ganz wenigen Autoren, diese auch auf mich als Leser zu übertragen. Eigentlich fällt mir gerade nur eine einzige spontan ein, die mich mit diesem Thema je erwischt hat: Trauerräume.

Dort ist das setting natürlich ganz anders und auch sonst haben Deine und die Geschichte recht wenig gemeinsam, aber in der, höre ich die stummen Schreie die die Prot ausstösst. Das gelingt Deiner Geschichte bei mir nicht. Fast mag ich glauben, es ginge Dir um den Brief - der nimmt ja unheimlich viel Raum ein - und die Figuren bleiben irgendwie Skizzen, allgemeine Platzhalter. Mir fehlt es in der Geschichte wirklich an Individuellem, auch wenn ich Deine Bemühungen erkenne. Aber - die Geschichte ist zu kurz, es ist eine Abfolge von Schlaglichtern, die kurz aufleuchten um sogleich wieder abzutauchen und ein neues zu setzen.
Du brauchst viel Zeit für die Arztgeschichte, den Brief, die Diagnose und den Krankheitsverlauf. All das sind Infos die ich brauche, aber es bringt mir die Emotionen die dabei im Spiel sind nicht wirklich näher. Ich kann mich nicht einfühlen, mittrauern, mit wütend sein auf den Arzt, weil die Figuren mich nicht erreichen. Da muss wirklich mehr Butter bei die Fische, mehr Raum für sie geschaffen werden. Ihr Alltag vorher, während der Krankheit, danach - da kann ein Leberwurstbrot wirklich wichtiger sein, als die Behandlungsfolge.

Was ich nicht verstanden habe, war das mit dem Auge. Sie hat Krebs, schon zu groß um operiert zu werden, er streut, streut bis in Auge und dann, nehmen wir das Auge raus - hat sie eine Chance. Aber deshalb bleibt doch der Hauptanteil im Kopf drin. Wo ist da die Chance, wenn man einen kleinen Teil davon entfernen würde? Ich raff das nicht, aber im Zweifelsfall hast Du es gut recherchiert oder erlebt und mir fehlt es hier eindeutig an Wissen.

Ich habe es nicht ungern gelesen. Im Gegenteil, ich bin gut durch den Text gekommen, nur hat er mich eben nicht wirklich berührt, weil ich keine Bindung zu den beiden gefunden habe.

Soviel zu meinen Leseeindrücken. Bin gespannt, wie die Geschichte auf andere wirkt, das kann ganz anders ausgehen.

Beste Grüße, Fliege

 

Liebe Fliege,

vielen Dank für deinen Kommentar!

Ich wollte das Medizinische nicht so ausbreiten, einige Hirntumore kann man z.B. mit Bestrahlungen 'in Schach halten', es wäre halt eine Chance auf mehr Zeit gewesen, nicht mehr, aber auch nicht weniger. Allerdings ist es sicher so, dass Betroffene spüren können, was noch nützen kann und was nicht.

Das wird mir öfter rückgemeldet, dass Leser keine Beziehung zu meinen Figuren entwickeln können. Ich muss noch mal drüber nachdenken, weshalb das auch hier so ist - diesmal liegen die mir nämlich sehr am Herzen. Sobald ich ein bisschen Zeit habe, lese ich die von dir erwähnte Geschichte, vielleicht gibt mir das Impulse.

Nochmals danke und schöne Tage,

Eva

 

Servus Eva,

mir ging es leider ähnlich wie Fliege.
Ich las eine Geschichte, die mir eigentlich das Herz zerreißen müsste, trotzdem ließ sie mich seltsam unberührt. Wovon du erzählst, ist wirklich tragisch, aber wie du das erzählst, das haute mich einfach nicht um.
Für mein Gefühl hast du eigentlich nicht viel falsch gemacht. Die Handlung hast du durchdacht und schlüssig konstruiert, der verstörende Beginn mit dem Auge weckt gleich mal Neugierde und dieses Auge spielt ja dann zum Schluss noch einmal eine Rolle, eine sozusagen versöhnliche, weil es das Kinderlachen auslöst, die Geschichte sich letztlich in Wohlgefallen auflösen lässt, hoffnungsfroh, optimistisch, irgendwie. Und auch die Figuren verhalten sich der Situation angemessen. Jonas trauert noch nach Jahren um seine geliebte Frau, die Kinder gehen ihrem Alter entsprechend um einiges lockerer mit dem Verlust der Mutter um, kindlich halt, die Rückblenden erklären mir, worum es überhaupt geht, und den zitierten Brief erkenne ich als das, was er sein soll, ein emotionaler Overkill und Trost gleichermaßen. Passt eigentlich alles, also das Formale, der Aufbau der Geschichte hat so gesehen Hand und Fuß.
Aber trotzdem, irgendwas passt mir da nicht. Womöglich kann ich gar nicht richtig erklären, was das ist, ich vermute mal, es hat mit der Sprache zu tun, in der du mir die Geschichte erzählst. Die klingt mir zu brav, zu besonnen, zu nüchtern irgendwie. Klar, du schreibst sehr sicher, beinahe souverän, fehlerlos sowieso, aber mir fehlen einfach Sätze, Formulierungen, die der Tragik des Plots angemessen sind, irgendwelche außergewöhnlichen Sprachbilder, denen es gelingen könnte, mir einen Pfahl ins Herz zu rammen. Oder die mich zumindest kurz schlucken, mir den Atem stocken lassen.
Nicht sowas:

Er selbst hatte bisweilen Mühe, sich ihre Ausstrahlung zu vergegenwärtigen.
An dem Satz z.B. ist nichts falsch, aber der klingt einfach furchtbar. „… sich ihre Ausstrahlung zu vergegenwärtigen“, klar, das ist bestes Hochdeutsch, aber in so einem Stil kann man doch nicht über so eine Tragödie schreiben, das klingt so bemüht, so gefühllos irgendwie, der Satz darf meinetwegen in einer psychologischen Fallstudie stehen, aber doch nicht in einer Geschichte, die mir das Herz zerfetzen soll. Du erzählst mir die Geschichte lediglich, leiden jedoch lässt du mich nicht. Und überhaupt klingt mir das letztlich alles zu gefällig, zu reibungslos, zu versöhnlich, irgendwie halt auf ein Wohlfühl-Ende hingeschrieben. Als hättest du Angst davor, die Leser zu verstören, oder auch dich selbst …

Ach Eva, ich weiß nicht, was ich da von dir verlange, vielleicht zu viel, keine Ahnung. Versuche nicht schön, nicht perfekt, nicht überkorrekt zu schreiben, sondern mit Herzblut, hau mir Sätze um die Ohren, wie ich sie noch nie gehört habe, lasse mich als Leser so richtig leiden, tu mir weh. Und lasse Jonas leiden, erspare ihm und mir dieses rosabrillige Ende mit Marie, das ist ja schließlich nur eine Geschichte, nicht das wirkliche Leben, oder?

offshore

 

Liebe Eva

Mit Verblüffung las ich die einleitenden Worte zwei Mal. Im zweiten Absatz dann der Hinweis, dass es sich nicht um eine surrealistische Geschichte oder rein um ein Produkt überspannter Fantasie des Protagonisten handelt. Damit eröffnest du ein Erleben anscheinend in den Weiten von Traumata und Belastungsstörungen, die in ihrer originellen Eröffnung mich neugierig machte. – Derzeit in arger Zeitnot, konnte ich am Morgen leider erst einen kurzen Teil lesen und musste mich nun bis zu später Stunde gedulden.

„Wie groß es ist!“ war absurderweise sein erster Gedanke, noch ehe sich ein unangenehmes Kribbeln vom Genick aus über seinen Körper ausbreitete.

Wenn es auch die Erzählstimme ist, die die Absurdität des Gedankens deutet, scheint es mir doch einen durchdachten Vorgang einzuleiten.

Er nahm die Zeitung aus dem Briefschlitz und wandte sich der Haustür zu. In der Hoffnung, dass ihm lediglich seine Phantasie einen Streich gespielt habe.

Hier dünkt mich der Übergang vom Briefkasten leeren zur Abwendung von seiner obskuren Wahrnehmung etwas abrupt. Klar, er hatte in diesem Zusammenhang schon Sinnestäuschungen erfahren, es zeigt sich im nächsten Abschnitt. Dennoch müsste es ihn meiner Meinung nach mehr bewegen, ihm vertieft Gefühle wecken. Umso mehr er sich deren Wertigkeit, wie sich danach zeigt, nicht bewusst ist, da er meint, es entfernen zu müssen.

Lilli war acht, Tim fast fünf Jahre alt, und sie hatten in den letzten Jahren mehr durchgemacht, als richtig war.

Aber was war überhaupt noch richtig in diesem Leben?


Über das richtig stolperte ich zu früher Morgenstunde. In dieser Situation schien es mir noch weniger treffend, als es auf das Leben bezogen mir ohnehin scheint. Den Gedanken nahm ich wenig bewusst grübelnd mit in den Tag und alsbald fiel mir ein, warum ich es nicht mochte. Lili und Tim würde ich da mehr Gerechtigkeit zugestehen, auch wenn das Leben dies nicht immer für jeden bereithält. Ich denke, zumindest für mich erhielte die Aussage eine andere Gewichtung, wenn der Gedanke des Protagonisten wäre: Aber was war überhaupt noch gerecht in diesem Leben?

seit 8 Monaten kämpfte er mit ihnen gemeinsam gegen den Gehirntumor,

Die Zahl wirkt mir hier als Störenfried, wäre sie ausgeschrieben mit acht Monaten jedoch flüssig.

Zerrissene Blüten zwischen Scherben.

Dieses Bild will mir nicht recht gelingen, obwohl das zerrissen hier wie ein Stilelement gelungen wirkt. Aus grosser Höhe geworfen, müssten die Blumen wohl platt gedrückt oder angeklatscht daliegen? Obwohl, jetzt bin ich mir selbst unsicher, können ihre Blüten je nach Art da nicht auch zerreissen, die Wucht sie zerschmettern?

Eine Weile saß er still, dann nahm er den Brief, öffnete ihn und begann zu lesen:

Mich berührte die echt wirkende Fassung, mit der dieser Brief auf die Geschichte entscheidend Einfluss nimmt. Er beantwortet Fragen, die mich als Leser abwägen liessen, hätte sie sich so entschieden. Auch ihr Verständnis für seine Sprachlosigkeit, wie es solch dramatische Ereignisse mit sich bringen, rundet mir die Geschichte.

Dieser doofe Jan verteilt wieder Schweineaugen.

Und hier gelang dir ein pointierter Brückenschlag, der die Realität wieder ins Bild rückt.

Mir hat es gut gefallen, diese Eröffnung, die eine Sinnestäuschung suggerierte, was sich durch den Verlustschmerz verstärkte, um sich dann als reale Lösung aufzuklären. Eine Verquickung von stilvollem Humor mit menschlichem Leiden, was ich als hohen Schwierigkeitsgrad einschätze.

Ich habe nun noch die beiden weiteren Kommentare gelesen. Ich verstehe die Einwendungen von Fliege und offshore vollumfänglich. Das Thema und auch die Geschichte hätte das Potential, hier alle Register von Dramatik und menschlicher Tragödie zu ziehen. Es stimmt, dass die Figuren die Nähe zueinander, die sie einst anscheinend hatten, nicht mehr zurückgewinnen – und sie dem Leser damit auch nicht vermitteln können.

Dennoch, auch wenn mir eine andere Version der Geschichte sicher gefallen, ich es vielleicht lebendiger wahrgenommen hätte, wirkte es mir doch in dieser Darlegung abhebend gelungen. Es widerspiegelt die Sicht des nachhaltig dumpf leidenden Protagonisten. Die Trauerarbeit müsste längst abgeschlossen sein, doch er bewegt sich noch immer in einem Ausnahmezustand. Dass offen bleibt, in welcher Verfassung er insgesamt sein muss, zollt sich der Kurzgeschichte, und ritzt sich mit diesem Ende auch nicht.

Aus meiner Sichtweise, eine ungewöhnliche und sehr schöne Geschichte, die ich gern gelesen habe.

Schöne Grüsse

Anakreon

 
Zuletzt bearbeitet:

Lieber offshore,

ja, mit der 'Ausstrahlung vergegenwärtigen' und Ähnlichem, da hast du völlig recht.

Du erzählst mir die Geschichte lediglich, leiden jedoch lässt du mich nicht.
Ja, da muss ich wirklich noch versuchen, dran zu drehen. Vielleicht wollte ich irgendwo für mich selbst noch so einen Sicherheitsabstand einbauen? Sollte nicht so sein, deshalb werde ich die Sache sprachlich auf deinen Einwurf hin nochmal durchforsten, sobald ich ein wenig Zeit habe. Denn zumindest den Jonas soll man halt gern haben.
Das für deine Begriffe zu rosarote Ende wird aber bleiben, denn so ist es meiner Ansicht nach in echt. Wie brutal die Lücke auch ist, die der Verlust eines geliebten Menschen reißt, es gibt das Hier und Jetzt und Liebe und das Weiterleben und das macht auch immer mal wieder einfach nur Spaß, trotzdem.

Vielen Dank für deinen Kommentar und viele Grüße,

Eva


Lieber Anakreon,

auch dir herzlichen Dank für die Worte, die du zu meiner Geschichte gefunden hast.

Mir hat es gut gefallen, diese Eröffnung, die eine Sinnestäuschung suggerierte, was sich durch den Verlustschmerz verstärkte, um sich dann als reale Lösung aufzuklären.
Es freut mich sehr, dass sie dir gefällt, deine Einwürfe werde ich einbauen, sobald ich etwas Ruhe habe.
Schön, dass bei dir der gewollte Kontrast zwischen 'in der Vergangenheit hängend leiden' und der Gegenwartszugewandtheit der Kinder ankam.

Schöne Tage für dich,

Eva

 

Das für deine Begriffe zu rosarote Ende wird aber bleiben, denn so ist es meiner Ansicht nach in echt. Wie brutal die Lücke auch ist, die der Verlust eines geliebten Menschen reißt, es gibt das Hier und Jetzt und Liebe und das Weiterleben und das macht auch immer mal wieder einfach nur Spaß, trotzdem.

Ja, Eva, das Ende passt ja eigentlich eh.
Ich hab es wohl hauptsächlich deshalb bemängelt, weil es mir halt irgendwie zu konziliant erschien, zu sehr einem eventuellen Harmoniebedürfnis der Leser entgegenkommend.
Du hast natürlich recht, im wirklichen Leben wäre ein Mann, der den Tod seiner Frau nicht bewältigt, elend lang verstrickt bleibt in seinem Kummer, ohne Ende leidet, nicht nur ein armer Hund, sondern obendrein auch ziemlich weltfremd, ein erbärmlicher Jammerlappen eigentlich, noch dazu, wenn er Vater zweier Kinder ist.
Ja, womöglich bezog dein Geschichtenende die Prügel von mir vor allem deshalb, unverdient und quasi stellvertretend, weil es der Geschichte davor einfach nicht gelungen war, stärkere Gefühle in mir zu wecken. Weil mir das alles eben zu wenig aufrüttelnd, ja, einfach zu versöhnlich war. Und dann eben auch noch gekrönt wurde sozusagen von dem Versprechen „Alles wird gut.“
So sehr ich mir im echten Leben für nahezu jede Situation ein Happyend wünsche, ich weiß nicht, ob ich’s in einer fiktiven Geschichte immer brauche, weil vom wirklichen Leben kann ich ja auch in der Zeitung lesen.
Aber wenn nun mein Anspruch, als Leser von einer Geschichte mit dieser Thematik in besten Fall tief bewegt, wenn nicht sogar verstört zu werden, einfach nicht erfüllt werden kann, weil deine Intention ja eine ganz andere war, nämlich eine zwar traurige, aber trotzdem schöne Geschichte zu schreiben, kann ich das ja schwerlich dir vorwerfen. Da bleibt mir letztlich nichts anderes über, als das zu wiederholen, was ich schon unter deinem Debüttext schrieb: „Ich war wohl wieder einmal der falsche Leser für den richtigen Text.“

Ja, das Ende geht schon in Ordnung, Eva.


offshore

 

Hallo Eva!

Der Einstieg, ein Auge auf der Fußmatte, ist schon ein wenig unheimlich und verspricht Spannung. Ich kann sagen, bereits da gefällt mir die Geschichte.
Auch die überleitende Frage „Aber was war überhaupt noch richtig in diesem Leben?“ klingt vielversprechend. Dahinter kann ich alles Mögliche erwarten und meine Neugier ist kaum noch zu zügeln. Ich mache es mir bequem auf meinem Sessel.

Nun, die Dinge sind dann etwas bodenständiger als vermutet, jedoch nicht weniger interessant. Die Gemeinsamkeit im Kampf gegen den Krebs endet an einem gewissen Punkt. Esther hat scheinbar die Hoffnung verloren und ist ausgebrannt. Für Jonas wäre der Verlust ihres Auges der erste sichtbare und sozusagen dingliche Akt einer langen Verabschiedung. Die Augen seiner Frau sind für ihn die Spiegel ihrer Seele, und der Tod hielte ein Stück davon in seiner Klaue.
Doch all das sagt Jonas nicht. So muss seine Antwort „Wirklich, meine Meinung spielt keine Rolle. Tue, was immer du denkst“ auf Esther wie der Tritt auf eine am Boden Liegende wirken. Sie ist wütend auf ihn und wendet sich Marie zu, wie aus ihrem Brief zu erfahren ist, und Jonas tritt in den Kampf gegen Herbst.

Der Wendepunkt nach Esthers Tod ist für Jonas der Brief. Darin wird manches erklärt und vieles verziehen. Vor allem wird eine Zukunftsperspektive aufgezeigt – nebenbei, dass ist witzig: Kürzlich habe ich eine Geschichte mit ähnlichem Thema und Verlauf geschrieben, nur statt Brief erscheint die Verstorbene als hilfreicher Geist *grins* –, die Perspektive heißt Marie.


Das Auge, das ein wenig verloren auf seiner Fußmatte lag,
2x das kann man vermeiden.

Doch zum Glück versetzte sein nackter Zeh ihm nur einen leichten Stoß
Mit dem „ihm“ hadere ich ein wenig. Davor und danach steht jeweils „es“, wenns ums Auge geht.

„Sag es mir, was soll ich tun? Ich weiß nicht mehr weiter, ich bin so leer!“
„ich bin so leer!“ find ich zu viel.

Langsam stellten sich Erfolge ein, das Wartezimmer von Herrn Herbst (nicht mal promoviert war dieser Scharlatan) leerte sich.
Da kann man zwei Sätze draus machen. Ich erwähne das deshalb, weil an anderen Stellen gegen Monstersätze herumgetrickst wird und durch Punktsetzung unvollständige Sätze geschaffen werden.

Lilli lachte zufrieden und Jonas befestigte ihr Bild am Kühlschrank. So lange hatte seine Tochter ihre Mutter nicht mehr gesehen, und so gut hatte sie sie getroffen.
So, so, die vielen so’s im Text fallen direkt auf. Wenn ich dazu komme, suche ich die anderen Füllwörter noch raus.

Tim kam verschlafen die Treppe herunter. „Kommt Marie jetzt, Eis essen?“ fragte er. Man hörte ihm an, dass er sich auf die Verabredung freute wie ein Schneekönig. Ach ja, in einer halben Stunde würde Marie die Kinder abholen, fast hätte er das vergessen. Marie, Esthers beste Freundin und auch seine, kümmerte sich um Lilli, Tim und ein wenig um ihn seither.
Dieser kleine Absatz birgt eine etwas unglückliche Verquickung von Innen-Perspektive und Erzähler-Part. Entweder „Man“ durch Jonas ersetzen oder „Ach ja“ raus.

Gern gelesen!


Lieben Gruß

Asterix

 

Hallo offshore,

danke für's nochmal Melden. Mit deiner Kritik liegst du ja richtig und ich versuche in den nächsten Tagen, soweit ich das hinkriege, noch ein wenig mehr sprachlich spürbar zu machen von Jonas inneren Kämpfen.
Ich meine übrigens nicht, dass mit dem Ende 'alles gut' ist, denn Esther wird weiter fehlen. Nur dass eben der Verlust nicht alles ist und es noch jede Menge Schönes daneben gibt, dass soll die Geschichte schon erzählen.

Beste Grüße,

Eva


Hallo Asterix,

gibt's deine Geschichte schon zu lesen? Würde mich ja interessieren :-).
Danke für dein Feed-back! Einige deiner Vorschläge habe ich übernommen, über den Rest grüble ich noch ein bisschen.
Wie schön, dass du den Inhalt genauso auffasst, wie ich ihn mir gedacht habe.
Ein schönes Wochenende,

Eva

 

„Eine Träne fing ich nicht mehr, sie rollte. »Heul nicht«, sagte die Prinzessin, die zwinkerte, »heul nicht! Die Sache ist viel zu ernst zum Weinen!« Ich schämte mich vor [Esther], die uns mitleidsvoll ansah. Ihre Augen blickten warm. Sie sagte leise etwas zur Prinzessin, und als nun beide zu mir herübersahen, fühlte ich, dass es etwas Freundliches gewesen sein musste. Ich vergaß, dass ich [Esther] begehrt hatte, und flüchtete zu der Prinzessin.“ Tucholsky, leicht abgeändert und dem neoreformatorischen Teutsch angepasst durch mich

Wenn er etwas an ihrem Äußeren ganz außergewöhnlich und wunderschön fand, dann ihre Sternenaugen
seltsam, dass ich vor über fünf Monaten mitsamt steilstem Weinberg der Welt in Augen – wenn auch keinen „tiefblauen“ - versunken bin und nicht mehr herausfinde (mich auch gar nicht bemüh, es ist angenehm, darin zu versinken - nicht nur im Wein) und seit der September-Verbannung hierselbst von allem, was Liebe ausmacht von M. Glass über lakita nebst Tashmunt und einige mehr nicht mehr losgelassen werde, dass es kein Zufall sein kann, dass wir uns heute schon das dritte Mal begegnen,

liebe Eva –

und damit herzlich willkommen hierorts von dem Trottel, der mittags gar nicht gemerkt hat, dass es eine erste Begegnung war. Es kann nie zu spät sein für dergleichen. Hoff ich doch!

Selbstverständlich hab ich den ersten Satz bemerkt, aber wo alle drauf abfahren, muss ich es nicht auch noch. Mir fallen die hebräischen Namen auf: Jonas, d. i. die Taube, Est(h)er jene Migrantin, die am Hofe Xerxes (5. Jh. v. Chr.) ein Attentat auf den Großkönig verhindert, Marie (Mirjam), deren ungeklärte exakte Bedeutung oft mit dem Meer (wahrscheinlich wegen der romanischen Ableitung des Namens) und damit Weite in Verbindung gebracht wird. Und selbst die Kinder (Tim / Timotheus und Lilli / Elisabeth) ließen sich von der Bedeutung her auflösen, muss aber nicht, denn schon steigt die Konstellation am Hofe Jonas mit Marie als Prinzessin und Nachfolgerin Esthers vor mir auf ...

Kommt dann doch der erste Satz zum Tragen? Da isser!

Das Auge, das ein wenig verloren auf seiner Fußmatte lag, schaute ihn vorwurfsvoll an.
Oft wird schnippisch mit Vorwurf verwechselt ...

Im dt. hat das Auge, oder genauer, der Gesichtssinn eine riesige Bedeutung, selbst für Dinge, die nur der äußeren Form gleichen (vom Bull- überm Fett- ans Hühner- bis hin zum Pfauenauge u. a.), der eine hat buchstäblich, der andere im übertragenen Sinne was im Auge. Dem einen werden die Augen geöffnet, dem andern zugedrückt usw. usf. Aber im Augapfel obsiegt dann eine Frucht übers Auge (war die Frucht vom Baum der Erkenntnis nicht ein Stechapfel?) – und er verführt an sich wie der Ball zum wegkicken (um ein Haar hätt’ der Gleichklang zu wegkieken = wegsehen obsiegt). Das Auge spiegelt nicht nur die eigene Seele, sondern auch den Andern – sofern er nur hineinschaut – und bevor ich ausufer zum Trivialeren!


Hier wäre ein Komma nachzutragen

„Wie groß es ist!“[,] war absurderweise sein erster Gedanke, …
da der begleitende, übergeordnete Satz weitergeführt wird. Kommt weiter unten nich mal vor:
„Kommt Marie jetzt, Eis essen?“[,] fragte er

Hier bistu wahrscheinlich dem Gleichklang von „wagen“ (i. S. v. etwas riskieren) und „vage“ (etwa: unbestimmt) aufgesessen:
In der [v]agen Hoffnung, …

…, und sie [Anm.: die Kinder] hatten in den letzten Jahren mehr durchgemacht, als richtig war.
Klingt ein bisschen nach Adornos "es kann kein richtiges Leben geben im falschen."
Hm, alles, was recht ist, es klingt mir nicht richtig .
„Richtig“ ist zwar von „recht“ abgeleitet, wird aber fast nur noch als Gegenpol zum „falschen“ genutzt - wobei der eine oder andere „recht(s)“ auch nur mehr als Gegenwort zu „links“ ansieht. Vllt. „erträglich“ oder doch eher „rechtens“? Aber das ist jetzt Dein Problem ...

Es tat weh, ihr dabei zuzusehen. Und es tat weh, mit einem Mal nutzlos zu sein.
Interessante Konstruktion des doppelten „wehtun“, die erst wie ein Mangel wirkte. Tatsächlich ist „weinen“ eine Bildung zu „weh“ als ein „weh rufen“ und die ältere Substantivierung „Weh“ Schmerz und Leid (also: wehtun = Leid / Schmerz zufügen). Es umfasst mehr, als dort auf Anhieb zu erkennen ist.

So lange hatte seine Tochter ihre Mutter nicht mehr gesehen, und wie gut hatte sie sie getroffen.
Vielleicht kann die Pronomenflut nur einem Banausen wie mir auffallen, als müsse der Besitzanspruch über Possessivpronomen gestärkt werden
… seine Tochter ihre Mutter …
was ja alles grammatikalisch eben nicht falsch ist, aber doch eher aufs bürgerliche Sachenrecht verweist.
und gegen Ende das Doppel: „sie sie“, Tochter vs. Mutter.
Aber wissen wir nicht schon, dass es die Mutter der Tochter ist, die da gezeichnet festgehalten wird?

Flüchtigkeiten

deine Hilfbereitschaft
Die hohen, aufgeregte[n] Stimmen,

Hoffentlich blieb Marie noch ein bisschen.

Gönnen wir’s den beiden und dann den vieren!

Gern gelesen vom

Friedel,
der nicht bereut, das erste Mal seit Jahr und Tag ein zweites Mal an einem Tag ins Internet gegangen zu sein und seine eigenen Regeln verletzt zu haben (wofür wären die sonst da?) und
der sich freut, mal wieder jemand entdeckt zu haben, der nicht dem Irrtum anhängt, der Konjunktiv gewönne (ich hab absichtlich nicht gewänne gewählt) irgendwelche Würde nur durch würde-Konstruktionen.

 

Herrje lieber Friedel,

da hast du die Geschichte rausgeangelt, die mir selbst - neben meiner ersten - am wenigsten gefällt ... und für dieses verlorene Kind sogar noch (gute) Vorschläge mitgebracht.
Ich muss mir allerdings noch einen Ruck geben, um sie einzubauen. Das geht nicht gleich, denn wieder ist so ein unbegreiflicher Tod im Umfeld eingeschlagen und nach der Beerdigung morgen brauche ich sicher ein wenig Zeit, um mir die Thematik und damit meine Geschichte überhaupt wieder anzuschauen.

Auf alle Fälle ein dickes Dankeschön,
und immer schön weiter tief in die Augen gucken, gell?

Eva

 

Hallo Eva,
Also, insgesamt liest sich diese Geschichte für mich flüssig und die Sprache ist angenehm.
Den Anfang fand ich besonders gelungen: die Idee mit dem Auge, der Hass auf Augen und diese Art Verfolgungswahn durch Augen, die sich da andeuten. Eigentlich sollten es ja Gehirne sein. Aber so schauende Augen eignen sich wirklich gut. So hat die Einleitung sofort große Erwartungen geweckt.

Die folgenden Teile fand ich dann nicht mehr so interessant. Auch konnten mich Deine Figuren nicht mehr fesseln. Ich weiß jetzt auch nicht richtig, was man da besser machen könnte. Ich versuche, ein paar Stellen herauszugreifen und zu kommentieren.

„Es tut mir unendlich leid, die Entfernung des Auges ist die einzige Chance, die wir haben.“ Dr. Kosam sah Esther und Jonas mitfühlend an.
Danach sollte eine genauere Erklärung kommen. Das zweite Auge scheint ja noch gesund zu sein. Als Mutter von zwei kleinen Kindern würde sie so eigentlich der Operation zustimmen. Ich fände es besser, wenn eine 20%ige oder noch kleinere Chance bestehen würde, dass der Tumor nicht tödlich wird. Dann könnte man Esthers Entscheidung nachvollziehen. Aber so wie es dasteht, Operation oder tot, bleibt die Entscheidung nicht nachvollziehbar. Sie wäre ja nach der Operation, wie ich verstehe, nicht blind, würde mit dem anderen Auge noch sehen. Zudem bleibt das kaputte Auge doch in seiner Höhle, es wird nicht herausgeschnitten; es wird sich nur nicht mehr bewegen können, blind sein und deswegen abschreckend wirken. Eine andere Möglichkeit wäre noch, dass der Gehirntumor beide Sehnerven zerstören würde. Dann wäre sie nach der Operation blind.
„Sag es mir, was soll ich tun? Ich weiß nicht mehr weiter!“
Gehirnoperation mit einem blinden Auge oder tot? Da würde ein normaler Ehemann doch alles tun, um die Operation durchzusetzen. Oder hat er Angst, die Frau stirbt während der Operation? Dann würde er nochmal mit den Ärzten reden.
Seit sie zusammen waren, hatten sie alle wichtigen Entscheidungen gemeinsam getroffen.
Warum denn jetzt nicht?
Doch hier hatte er das Gefühl, nichts beitragen zu können.
Dieses Gefühl hätte er eben normalerweise nicht. Er weiß doch, dass operiert werden muss. (Siehe aber weiter unten)
Der anstrengende Job als Versicherungsmakler - als ob es möglich wäre, sich gegen irgendetwas zu versichern - …
Das gefällt mir. Sicher vermakelt er auch Krankenversicherungen. Da ist er natürlich froh, wenn die Operationskosten gespart werden. Ab da sehe ich ihn als Scheisskerl, als geldgierige Pfeife und Betrüger. Hier gewinnt die Geschichte für mich wieder an Fahrt. Aber es kommt dann nichts weiter in diese Richtung.

Nach und nach wurde aus seinem Zorn Hass, bitterer Hass.
Man müsste diesem verdammten Quacksalber das Handwerk legen, ein für alle Mal. Und Jonas hatte dazu auch ein paar Ideen …
Der Quacksalber sollte näher beschrieben sein, um den Hass besser nachvollziehen zu können. Es könnte ein Typ sein, der sein Pullover bis zum letzten Fetzen aufträgt, sich nicht kämmt, kein Fleisch isst und nur öffentliche Verkehrsmittel benützt oder ein arrogantes „Fotomodell“ für Herrenmode, das immer den neuesten BMW fährt und jedes Jahr eine andere Freundin hat. Dieser Hass kommt, so wie hier dargestellt, ziemlich unbegründet rüber. Im Brief kommt das ja dann raus. Der Patient muss immer selbst Entscheidungen treffen und dieser Arzt hat, außer der falschen Diagnose, bis jetzt keine richtige Schuld; ist grenzwertig, ich weiß. So empfinde ich es als Leser. Der Quacksalber könnte aber penetrant auf seiner Diagnose und Methode beharren und die Patienten einschüchtern: „Wenn Sie nicht tun, was ich sage, sterben sie an einem Gehirnschlag“, oder so ähnlich. Dann dreht er ihr noch ein Medikament gegen Depressionen an, das er von einer Firma, die ihm und seiner Familie einen Skiurlaub finanziert hatte, empfohlen bekommen hat. Zudem entscheidet die Art der Krankenversicherung auch mit. Oft übernehmen Versicherungen keine Kosten für Prophylaxen. So ist die Krankenversicherung eigentlich mitschuldig. In dieser Hinsicht könnte der versicherungsverkaufende Ehemann Gewissensbisse bekommen, denkt aber gar nicht darüber nach, dieser Unsympath.

Der Schluss ist dann bittersüß. Das ist so gewollt und funktioniert auch. Der Protagonist bekommt wieder eine Frau, aber die andere ist dafür gestorben. Ich denke aber, es ist zuvor zu wenig Konflikt in die Geschichte eingebaut worden, so dass das Ende doch trocken bleibt. Und Esther hätte nicht sterben müssen.

Dieser doofe Jan verteilt wieder Schweineaugen. Die hat der von seinem Vater, aus dem Schlachthaus.
Das hat mir wieder gefallen.
Ich hoffe, ich konnte dir etwas helfen.
Viele Grüße
Fugu

 

Lieber Fugusan,

dass du diese Geschichte (mit der ich selbst so ein paar Schwierigkeiten habe) rausgesucht hast, zwingt mich dazu (zumal das auch Friedel vor Kurzem gemacht hat), mich in absehbarer Zeit nochmal mit ihr zu beschäftigen.
Ja, ich glaube schon, dass deine Hinweise hilfreich sind. Bestimmt sogar. Aber ich hoffe du verstehst, wenn ich mir mit einer Überarbeitung noch etwas Zeit lassen muss. Erstens habe ich mit den glatt-kitschigen Stellen Probleme, denn so ist das Leben nicht (aber ich weiß noch nichts besseres) und zweitens kann ich gerade überhaupt nicht gut mit dem Thema Tod bzw. vor allem Tod in jüngerem Alter umgehen. Das wird aber wieder anders und dann baue ich ein paar Sachen um und mache auch von deinen Ideen Gebrauch.
Vielen Dank für deine Zeit und Vorschläge,

viele Grüße,

Eva

 

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