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„Vielleicht Esther“ – Gewinnerin des Bachmannpreises 2013

Beitritt
05.03.2013
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„Vielleicht Esther“ – Gewinnerin des Bachmannpreises 2013

Die Leichtigkeit des Grauens

Der Bachmannpreis ist gerettet, die Siegerin gekürt: Katja Petrowskaja hat ihn für die Lesung von „Vielleicht Esther“ bekommen.
Mehrere Handlungs- und Reflexionsstränge durchziehen die Erzählung.

Wissen und Nichtwissen
Die Babuschka, Urgroßmutter der Erzählerin, formuliert einen „antiken Aphorismus“: „Lasse der Herrgott Dich so viel wissen, wie ich nicht weiß.“
Auf die Fragen ihres belesenen Enkels, des Vaters der Erzählerin, weiß sie meist keine Antwort. Ob sie sich selbst trösten oder die Vorwitzigkeit des Enkels tadeln möchte, bleibt unklar. Das sokratische „Ich weiß, dass ich nichts weiß“ steht im Hintergrund.

Die Babuschka
Die gehbehinderte Babuschka, die „Vielleicht Esther“ oder auch nicht so heißt, schleppt sich zur Zeit der deutschen Besatzung Kiews mühsam die Treppen zur Straße hinab, meldet sich bei zwei deutschen Soldaten, um die Aufforderung, alle Juden hätten sich „einzufinden“, zu erfüllen, und wird erschossen.
In der Stadt herrscht kriegerisches Chaos, aber „Vielleicht Esther“ weiß davon „anscheinend nichts“. Trotz der Warnungen von Nachbarn, sich zu melden, unterwirft sich die Babuschka gerne dem deutschen Ordnungssinn. „All diese exakten Anweisungen.“
Berichten über deutsche Gräueltaten in Polen und der Ukraine glaubt sie nicht. Sie erwartet von den Deutschen, die 1918 in Kiew Ordnung geschaffen hatten, vielleicht erneut die Ordnung der Stadt.
Aber: „Die Deutschen, die sich erst fast friedlich in der Stadt niedergelassen hatten“, geraten wegen der Aktivitäten von Partisanen in Panik. Deshalb erlassen sie den Befehl, „Alle Juden der Stadt Kiew müssen sich pünktlich einfinden“, „am Montag den 29. September um 8 Uhr morgens an der Ecke Melnikova und Dokhturovska“. Diesem Befehl gehorcht „Vielleicht Esther“ und geht zu den beiden Soldaten, die sie (vielleicht) erschießen.

Der Fikus:
Im August 1941 fliehen viele Einwohner Kiews vor den Deutschen. Der Vater der Erzählerin entkommt, weil sein Vater einen Fikus vom Transportwagen genommen hat, um für den Sohn Platz zu schaffen.
Die Erzählerin erinnert sich, dass der Vater diese Geschichte mit dem Fikus erzählt hat. Der Vater erinnert sich nicht daran. Diesem Fikus verdanke sie ihr Leben. Die Unsicherheit über die Existenz dieser „Hauptfigur“ in ihrem Leben, den Fikus, lässt die Erzählerin zum Mittel der Literarisierung greifen. „Gab es den Fikus, oder ist er eine Fiktion? Wurde die Fiktion aus dem Fikus geboren – oder umgekehrt?“ Die Verwirrung wird noch größer, denn der Vater erinnert sich nun plötzlich doch, dass es einen Fikus gegeben habe. Nur: „Ich glaube, ich erinnere mich an einen Fikus. Vielleicht. Oder habe ich den Fikus jetzt von dir?“

Achilles
Als weitere Figur wird Achilles in zwei Zusammenhängen eingeführt.
Der Gang der Urgroßmutter zu ihren Henkern vergleicht die Erzählerin mit dem Wettlauf von Achilles mit der Schildkröte. In Zeitlupe der Schildkröte geht sie in den Tod, erinnert sich an den Stolz „auf ihr Deutsch“ und die Verehrung der deutschen Kultur.
Die Mutter der Erzählerin hat dieser häufig die Geschichte erzählt, weshalb Achilles an seiner Ferse verletzbar ist. In dieser verletzlichen Ferse entdeckt sie ihre eigene Verwundbarkeit und schließt daraus, dass dies „der einzige Beweis der Unsterblichkeit [ist], eigentlich“.

Die Erzählerin
Die Erzählerin will wissen, wie ihre Urgroßmutter gestorben ist: Alle Beobachter dieser Szene sind nicht erreichbar. Sie sucht nach Beweisen und findet sie in einer Fotografie und einer Geschichte. Ein Luftbild, das im Text zu sehen ist, zeigt zerstörte Häuser. Einzelheiten sind nicht zu erkennen. Die Erzählerin meint, dass „man dieses Bett sehen [kann], auf dem sich mein neunjähriger Vater noch im ersten Kriegssommer gesonnt hatte“.
Der Großvater habe die Geschichte vom Hausmeister: „Es scheint mir, dass an diesem 29. September 1941 jemand am Fenster gestanden hat. Vielleicht.“
So schließt das Kapitel mit der „Zeugenaussage“ des Hausmeisters, der die Ermordung vielleicht aus dem Fenster gesehen hat.

So weit der Versuch einer Strukturierung dieses Siegertextes.

Zorn
Mag sein, dass die Autorin „Zorn und Zeit“ von Peter Sloterdijk rezipiert hat. Dort stellt er fest, dass das erste Wort der europäischen Literatur das Wort Zorn ist. „Den Zorn, besinge, Göttin, des Achilles …“
Die Mutter, die die Geschichte erzählt, „stieß das Wort Zorn mehrmals aus.“ Welche Funktion dieser Ausflug in die Antike hat, bleibt unklar. Ist es nur Bildungsballast? Immerhin erkennt die Erzählerin in dieser Geschichte ihre Unsterblichkeit, aber nur „eigentlich“.

Vielleicht
Das Wörtchen „vielleicht“ kommt eine entscheidende Rolle zu. Nach dem Duden-Wörterbuch relativiert „vielleicht“ „die Gewissheit einer Aussage, gibt an, dass etw. ungewiss ist; es ist denkbar, möglicherweise, unter Umständen.“

Das bedeutet, dass alle wichtigen Aussagen in dem Text im Raum der Möglichkeiten, nicht der Wirklichkeit zu suchen sind. Mag dies, vorausgesetzt, dass der Leser der Geschichte Wirklichkeitsanspruch zuschreibt und historisch gewappnet ist, ein Spiel mit der (Neu)Erfindung der Vergangenheit sein, mag sein, dass es ein Glasperlenspiel mit Erinnerungsfetzen ist, so scheint der Stoff für solche Spiel nicht geeignet. Die Einstellung, alles ist vielleicht, relativiert die Verbrechen der Nazis. Leser, die dem rechten Spektrum der Gesellschaft angehören, können sehr „leicht“ dieses „Vielleicht“ ummünzen in Erfindung und Lüge. Wer so vage dies erzählt, rüttelt an der Glaubwürdigkeit der historischen Überlieferung. Diesen Eindruck könnten Leser mitnehmen. Die Erzählerin fantasiert sich in das Geschehen, wie die Urgroßmutter sich bei den Deutschen meldet, hinein und versucht die Gesichter der Soldaten, die die Babuschka erschießen, zu sehen. „Ich sehe die Gesichter nicht. Verstehe nicht, und die Historiker schweigen.“ Dass Historiker die Gesichter der verbrecherischen Besatzungsmitglieder nicht zeigen, ist spätestens seit der Ausstellung „Verbrechen der Wehrmacht“ falsch. Ganz im Gegenteil, gerade die Historiker der jüngeren Generation schauen genau hin und schweigen nicht.
Es mag für eine feinsinnige Urenkelin nicht nur ein intellektuelles Spiel, sondern auch ein Ringen um die Erinnerung sein, für andere Leser lässt sich die Unbestimmtheit der ganzen Erzählung schwer ertragen, denn mit dieser Darstellung löst sich alles in Unverbindlichkeit und in „Vielleichts“ auf; auch das Dritte Reich.

Esther im Alten Testament
Eine Intrige von Hamam, dem zweiten Mann im Reich, veranlasst den König (Artaxerxes), ein Dekret herauszugeben, das die Ausrottung von Juden erlaubt. Esther, eine Jüdin, geht zum König und bittet ihn, das Dekret zurückzunehmen. Dies gelingt ihr. Ihr Vater Mordechai übernimmt die Stelle von Hamam und erwirbt ein Dekret, das es Juden erlaubt, sich gegen ihre Feinde zu wehren. Es kommt zu einem blutigen Widerstand der Juden gegen ihre Verfolger.
„Vielleicht Esther“ mag meinen, dies bei den deutschen Soldaten wiederholen zu können. Vielleicht weist die Namensgebung darauf hin. Vielleicht ist sie der Ausdruck einer Hoffnung, den die Urgroßmutter hatte. Vielleicht. Das kommt viel zu wenig heraus, dass hier der Widerstand gegen die deutschen Kriegsverbrecher gemeint sein könnte. Zu vage ist die Andeutung.

In der Diskussion der Kritiker wurde immer wieder die Leichtigkeit des Textes bewundert. Dies muss eine Leichtigkeit sein, die willkommen ist, um von der bedrückenden Last des Dritten Reichs zu befreien. Dieser Generation (geboren 1979) sind nur noch Erinnerungsfetzen und Vermutungen zugänglich. Das ist das Traurige an der Geschichte: Die Vorfahren und ihr Leid und ihre Verbrechen verschwinden im Nebel des „Vielleicht“.

 

„Cherr Offizehr, begann Babuschka mit ihrem unverkennbaren Anhauch,
überzeugt davon, sie spreche Deutsch: Zeyn Zi so fayn, sagen Sie mir, was zoll
ick denn machen? Ikh hob di plakatn gezen mit instruktzies far yidn, aber ich
kann nicht so gut laufen, ikh kann loyfn azoy schnel.“
Katja Petrowskaja: Vielleicht Esther, S. 11 (PDF-Format)​

Ich halt nicht allzu viel von Wettbewerben wie überhaupt vom Markt und hatte mir doch die eine oder andere Lesung zu Klagenfurt am Wört(h)ersee auf 3sat anschauen wollen, ging ich doch davon aus, dass es die letzten Tage nicht so sehr der Menschheit als der deutschsprachigen Literatur wären (wobei Pidgin auch eine „funktionierende“ Sprache ist, die zum Kreolisch sich irgendwann verfeinern wird, wobei obiges Zitat kein Pidgin oder Kreolisch ist, um gleich dem entgegenzutreten, ders dafür hält). Nun, was ich wohl wirklich verpasst hab, ist die verbale Verlängerung des Siechtums und Dahinscheidens um fünf Jahre.

Die Vorfahren und ihr Leid und ihre Verbrechen verschwinden im Nebel des „Vielleicht“,
schreibstu,

lieber Wilhelm,

und dem Zuhörer, oder genauer gesagt: dem vor allem, der auf bloße Unterhaltung aus ist und dem schon Infotainement zu anstrengend werden kann – wie wohl auch hierorts einigen, wenn nicht sogar den meisten – wird der geschichtliche Hintergrund mit seinen Querverbindungen des nicht mal 13-seitigen pdf-formatierten Textes der Petrowskaja einiges an Wissen (das er notfalls durch googlen zu ersetzen meint) und Denk-arebeit (im mhd. Sinne) und Sitzfleisch abverlangen, manchem wird er gar mit seiner über ½-stündigen Vortrags- bzw. Lesezeit (bei geschätzten drei Minuten je Seite) zu lang sein und allzu viel Aufmerksamkeit fordern. Aber was ist nun m. E. dran an „Vielleicht Esther“?

Ich geb mal eine erste Hilfestellung:
Am 14. Adar (Februar/März) feiert die jüdische Gemeinde das Purim. Zu diesem Fest wird Brauchtum gepflegt mit Verkleidung, Aufführungen und Geschenken – als fielen Karneval, Weihnachten und Ostern auf einen Tag – und in den Gottesdiensten wird die Est(h)er-Rolle verlesen. Das Buch im Alten Testament berichtet vom Aufstieg der Est(h)er am Hof des persischen Königs (meine Quelle meint sogar, Xerxes I., den Sohn des großen Kyros, mit dem der Messias-Mythos ja seinen ersten realen Repräsentanten mit der Befreiung aus der sog. babylonischen Gefangenschaft feierte), einerseits, weil ihr Ziehvater eine Verschwörung gegen den damals mächtigsten Mann der Welt aufdeckt, andererseits kann Est(h)er einen vom Großwesir ( der heißt auch hier wie Deiner ...) geführten Anschlag auf Juden verhindern, ein Bruch, der den Gesetzen, insbesondere aber der religiösen Toleranz im persischen Großreich widerspricht. Gleichwohl ist die Geschichte eine fromme Legende, ohne das Gott im Buch Ester erwähnt wird. In keiner andern Chronik wird sonst über diese oder vergleichbare Ereignisse berichtet.
Achja, bevor ich’s vergess, das Purimfest wird verkürzt als „Losfest“ übersetzt, „Los“ i. S. von Schicksal. Tatsächlich wäre es also ein Fest der Lossagung vom Schicksal, kurz: "Erlösung", wie es sich durchs Alte Testament von Noah an durchzieht.

Aber ist das, was da über Babuschka erzählt wird, Erlösung?

Wer auch immer uns diese Geschichte durch den Mund der Petrowskaja erzählt, hat sie von seinem Vater. Babuschka war dessen Großmutter, folglich die Urgroßmutter dessen, der sie durch den Mund der Petrowskaja erzählt –
ch glaube, sie hieß Esther, sagte mein Vater. Ja, vielleicht Esther. Ich hatte zwei Großmütter, und eine von ihnen hieß Esther, genau.
Wie‚ vielleicht!? fragte ich empört. Du weißt nicht, wie sie hieß?
Ich habe sie nie bei ihrem Namen genannt, erwiderte mein Vater. Ich sagte Babuschka, und meine Eltern sagten Mutter“(ebd., S. 2),
heißt es da prägnant im nahezu authentisch wirkenden und zugleich titelspendenden Kurzdialog, wie es halt im Gespräch Vater-Kind vorkommt.

Und das Enkelkind gibt weiter, was es als damals Neunjähriger selbst erlebt zu haben glaubt, bereichert um das, was sein Vater hinwiederum über seine Mutter – eben vielleicht eine Esther – von einem Hausmeister erfahren hat … Geschichte aus einem Gutteil Gerücht und verschmolzen zum (neuen) Mythos, mündlich überliefert von der einen auf die andere Generation – wie in allen schriftlosen Kulturen, bis sie einer aufschreibt, ob Homer oder namenlos, wie Odysseus dem menschenfressenden Polyphemos vorgaukelt, bevor er dem Kyklopen entkommen kann:

„Niemand ist mein Name; denn Niemand nennen mich alle,
Meine Mutter, mein Vater, und alle meine Gesellen.
…; und drauf versetzte der grausame Wütrich:
Niemand will ich zuletzt nach seinen Gesellen verzehren;
…“ (Die Odyssee, übers. v. Voss, V. 366 ff.)​
und die m. E. wesentliche Illusion in der Erzählung sieht etwa so aus:

Esther oder vielleicht nur so ähnlich, gibt sich der Illusion hin, die deutsche Besatzungsmacht 1941 verhielte sich preußisch korrekt, welcher Fasson des Seligwerdens einer auch zugetan wäre nach friedizianischem Gerücht (dem Alten Fritz war's egal, welchen Glauben einer hatte, sofern er ein "guter" Untertan und auch gelegentlich Kanonenfutter sei). Ein scheinbarer Schnappschuss aus der deutschen Besatzung Kiews von 1918 (die brachte Ordnung in die Stadt).

Dabei war der Erste Weltkrieg nur Etüde zum nachmalig größeren Schlachten. Keineswegs gings da ritterlich zu, sonst hätte Karl Kraus nicht über einen „chlorreichen Sieg“ spotten und Giulio Douhet 1921 schon treffend zusammenfassen können, dass Kriege entschieden werden durch „Schnelligkeit“ (mittels technischem Fortschritt) wie allemal „dem Feinde zuvorzukommen“, wie’s am 1. September 1939 praktiziert wurde.

Aber vielleicht verklärte sich im sowjetischen Kiew die jiddische (vgl. im Einleitungszitat das „yidn“) und somit Babuschkas Erinnerung, dass sie allen schlimmen Nachrichten über Gräuel gleich Gerüch(t)en misstraute (vgl. ebd. S. 5 f.).

Wie Petrowskaja das vielleicht Historische/Biografische als ein Gemisch aus Daten und Fiktion erzählt, wäre in jedem Fall ein Renner hierorts unter Historik, Horrorlogen hingegen wär’s der blanke Horror wegen der Ironie. Oder wie’s Ijoma Mangold in der Zeit vom 11. d. M. professionell vermerkt: „Wie sie [Anm. v. mir: Petrowskaja] das macht, hat mit den Routinen literarischer Vergangenheitsbewirtschaftung [Anm.: !, keineswegs „-bewältigung“], wie es sie in der deutschen Gegenwartsliteratur gibt, nichts zu tun.“ Ist die Frage nicht nur, ob das Leben schön sei, wie durch Roberto Benignis Augen gesehn, oder ob man über Helge Schneider als Hitler lachen dürfe, sondern auch, ob man den Schrecken ironisieren darf.

Gleichwohl: Ich bin gespannt auf Katja Petrowskaja, die erst in ihrem 29. Jahr im letzten Jahr des vorigen Jahrtausends nach Berlin kam …

Gruß

Friedel

 
Zuletzt bearbeitet:

Geschichte schreiben ist eine Art, sich das Vergangene vom Halse zu schaffen.
Johann Wolfgang von Goethe; Maximen und Reflexionen. Dritter Band, erstes Heft
Hallo Friedel,
vielen Dank für Deine Ergänzungen.
Das Kapitel „Vielleicht Esther“ ist sicherlich komplex angelegt, mit vielen Anspielungen, konzentriert auf den Gang der Urgroßmutter in den Tod. Eine ergreifende Schilderung, ein intellektuelles Vergnügen.
Ich habe gerade vergleichbare Seiten eines Romans vor mir.

„Ich habe in Deutschland studiert“, antwortete er würdevoll und reserviert. „Das war früher ein großes Land.“ Es musste einer der Leningrader Professoren gewesen sein. „Was wollen Sie mir sagen?“, fragte ich schroff. Der kleine Junge, der den Mann um den Hals gefasst hatte, betrachtete mich aus großen blauen Augen. Er mochte zwei Jahre alt sein. „Ich weiß, was Sie hier tun“, sagte der Mann ruhig. „Es ist ungeheuerlich. Ich wollte Ihnen nur wünschen, dass Sie diesen Krieg überleben, damit Sie in zwanzig Jahren Nacht für Nacht schreiend aus dem Schlaf schrecken. Ich hoffe, dass Sie Ihre Kinder dann nicht anblicken können, ohne die unseren zu sehen, die Sie ermordet haben.“
Jonathan Littell: Die Wohlgesinnten, Berlin 2008, S.343 f.
Wie schreiben diese Kinder?
Herzlichst
Wilhelm

 

Babuschka allein zu Haus[’]

Da ist mir doch vorgestern meine eigene Etymologie abhanden gekommen,

lieber Wilhelm,
liebe(r) Lese(r),

so kann’s gehen, wenn einem der Kopf von Est(h)ern, Babuschka und Katja P. verdreht wird und Frau Schavan zudem der Doktortitel verweigert wurde - unberechtigter Weise durch mich armes Würmlein, dass man - selbst wenn Notizen vorliegen - das Leichteste vergisst, eben das mit der eigenen Etymologie, die weder eine Volksetymologie noch durch germanistische Forschung (da schon ga’ nich’) belegt ist und ich Wort- und Anspielung (s. o.) auf die Kulturindustrie hineingelesen haben mag (welch eine schöne Konstruktion!), wenn es heißt

„Als die Familie im August 1941 vor der deutschen Armee aus Kiew floh und mein Großvater Semjon an die Front musste, blieb Babuschka allein zu Hause …“ (ebd., S. 1), erinnerte mich der Name „Semjon“ an den Sermon und die Babuschka an den armen Kevin …

War es nicht Hollywood, das Ende der 1970-er Jahre mit „Holocaust“ (-light) eine Diskussion hierzulande anstieß, selbst während der Arbeitszeit im MPI für Kohleforschung?

Das Kapitel ist in der Tat mit all seinen Querverbindungen und Anspielungen

komplex angelegt
dass es vielen eher zu viel abverlangen wird als bloße Unterhaltung. Aber ich hoffe, man spürt, dass es für mich keine Geschmacksfrage ist (da könnt' man sich halt reinflüchten). Der Text ist einfach gut (und was ich jetzt noch gelesen hab von der Veranstaltung) sicherlich unter andern guten der beste am Wört(h)ersee gewesen.

Bis bald!

Friedel

 

„Eigentlich stehen die einzelnen Passagen, aus denen ich den Text für heute zusammengesetzt habe, im Roman getrennt“, gesteht Jekaterina („Katja“) Petrowskaja der Morgenpost am 7. d. M.
„Was ich mache, bezeichne ich nicht als Literatur. Als ich ungefähr 38 Jahre alt war, schien es mir einfach an der Zeit, meine Familiengeschichte aufzuschreiben. Das ist natürlich nicht sehr originell, das machen alle. Überraschend für mich selbst war dabei, dass ich deutsche Sätze gebildet habe. In dem Konglomerat sowjetisch-jüdischer Geschichte, das sich vor mir auftat, bin ich immer wieder ungewollt über den Krieg gestolpert. Ich wusste nicht, warum und wozu. Denn mein Plan war es eigentlich gewesen, etwas Friedliches zu schreiben. Die deutsche Sprache kam da einer Befreiung gleich.“

Hallo Wilhelm,
hallo Leute,

da bin ich wieder ohne zu flaxen und nach einem kleinen Studium all dessen, was ich über Petrowskaja und die Klagenfurter Veranstaltung 2013 in die Hände bekommen hab und –
das schon mal vorweg: meine Meinung zu Vielleicht Esther ist im Unbestimmten geblieben, selbst wenn ich den Text entgegen ihrer Meinung (s. Zitat oben) für Literatur halte – das angeblich „einstimmige“ Votum der Jury erinnert mich stark an einige Urteile des Bundesverfassungsgerichtes: vier zu drei ging’s Votum hinter den Kulissen aus. Und der Juror Paul Jandl hat es m. E. auf den Nenner gebracht: es sind locker zusammengefügte Versatzstücke – und Petrowskaja gibt auch zu, dass sie a) an dem gleichnamigen Titel noch arbeite (der Roman soll dann im nächsten Jahr bei Suhrkamp als Buch erscheinen, was bei einem Jung-67-er schon allein für die Qualität des Werkes spricht), von der Einladung nach Klagenfurt überrascht wurde und c) die eingereichte Geschichte tatsächlich aus unterschiedlichen Teilen des Romans zusammengeschustert hat. Es ist also eine Montage (keine Geschichtsklitterung, find ich) oder, vielleicht besser, es ist Feuilleton, aber sicherlich keine Erbauungsliteratur, denn „[e]s gibt dazwischen zum Beispiel noch einzelne Abschnitte über Babij Jar. Ich habe es sehr überarbeitet.“

Ich selbst werd mir den Roman besorgen. Wäre dann die Aufgabe hier, vor allem an Babij Jar Ende September 1941 zu erinnern.

Im Text erwähnt Petrowskaja den Komponisten Dmitrij Dmitrijewitsch Schostakowitsch – ein, wenn man so will – gemäßigtes Opfer des stalinistischen Systems: mehrmals des westlichen Formalismus beschuldigt und zu Allgemeinverständlichkeit und Volkstümlichkeit gezwungen – erinnert er mit der Sinfonie Nr. 13 an „Babij Jar“. Den Text dazu schuf Jewtuschenko.

Was nun ist Babij Jar?, das einen zentralen Platz in Vielleicht Esther einnimmt.

Als am 19. 9. 1941 Kiew von den Deutschen eingenommen wurde, wurden in der Stadt zahlreiche von der Roten Armee vorbereitete Sprengsätze zeit- und ferngezündet, was Repressalien gegen „Partisanen und Juden“ führte.
Bis die Rote Armee die Stadt zurückeroberte wurden 150.000 Zivilisten abgeschlachtet, weniger durch die SS als durch die Wehrmacht – einem Abbild der Bevölkerung des nazistisch-verseuchten dt. Reichs. Der Höhepunkt dieses Gemetzels verbindet sich mit dem Namen Babij Jar: Am 29. und 30. September 1941 wurden nördlich von Kiew – eben in Babij Jar - 33.000 Juden hingerichtet.

Zitate aus Holger Heimann: Deutsch war für Bachmann-Preisträgerin Petrowskaja Befreiung, in der Berliner Morgenpost vom 7. 7.2013

Wer etwas über die teutsche Überheblichkeit im Herbst/Winter 1941 erfahren will, lese die Dokumentation von Johannes Hürter: „Es herrschen Sitten und Gebräuche, genauso wie im 30-jährigen Krieg“. Das erste Jahr des deutsch.sowjetischen Krieges in Dokumenten des Generals Gotthard Heinrici in den Vierteljahresheften für Zeitgeschichte, Heft 2, April 2000, S. 329 ff.

Heinrici war übrigens kein Nazi, aber erst recht kein Freund der Weimarer Republik. Er war schlicht autoritär im Kaiserreich aufgewachsen und verdiente sich im Kaiserreich die ersten Sporen

 

Hallo Friedel,

schön sind deine Aufklärungen. Das Unbehagen an dem Text, das ich in meinem ersten Beitrag äußere, findet hier doch eine Erklärung. Wenn es so ein Patchworktext ist, tut man dem (künftigen) Roman unrecht, wenn von diesem Verlegenheitsprodukt auf das Endprodukt schließt.
So warten wir gespannt auf das Endprodukt.
Es dürfen die Bücher von Iris Hanika „Das Eigentliche“ und natürlich von Jonathan Littell „Die Wohlgesinnten“ nicht vergessen werden.
Von Hanika stammt der Begriff der Vergangenheitsbewirtschaftung. Die Hauptfigur, Hans Frambach, widmet sein Leben der Vergangenheit, dem Dritten Reich. Im Archiv des Instituts für Vergangenheitsbewirtschaftung ordnet er die Dokumente des Grauens und der Schuld. Das ist für ihn das „Eigentliche“ in seinem Leben. Für seine Freundin Graziella, die einmal ebenso von der Vergangenheit bedrückt worden ist, wandelt sich die Vergangenheitsbetroffenheit in eine (unglückliche) Liebe zu einem Mann um.
Eine Broschüre in einer Kirche zeigt Hans die Ritualisierung und Standardisierung des (Ge)Denkens an das Dritte Reich, letzthin die Verlogenheit und Scheinheiligkeit der Vergangenheitsbewirtschafter.
„Wie falsch das alles war, wie das alles nicht stimmte […] weil der liebe Gott es ja praktisch in seinem Schöpfungsplan schon vorgesehen hatte.“ (S. 107) Die Kirche verspricht Heilung der Schuld:
„DURCH SEINE WUNDEN SIND WIR GEHEILT: Darum ist unser Weg auch in Bruchstücken nicht umsonst.“ (S.107)

Eingerahmt wird der Roman durch ein Gedicht.
JEDEM LIED WOHNT AUSSCHWITZ INNE,
jedem Baum, jedem Strauch.
Jedem Lied wohnt Auswitz inne
Und jedem deutschen Menschen auch.

Fiderallala, fiderallala, fideralls lala la.” (S. 11, 171)

Dem Eichendorf-Gedicht der Deutschidyllik nachempfunden steht der erste Teil („Schläft ein Lied in allen Dingen.“) der "Vogelhochzeit" gegenüber, allerdings in Anspielung auf ein Lied der (rechten) Band Kommando Freisler (das ich nicht zitiere).
Ein bösartiger Hinweis auf pervertierte Beschäftigung mit der Vergangenheit.
Dem persönlichen, ernsten Bemühen um die Auseinandersetzung mit den Schatten der Vergangenheit von Thomas steht die professionelle Vergangenheitsbewirtschaftung gegenüber: Bewirtschaftung, ein Gasthaus der Erinnerung (die Kirche), aber halt nur ein Trauerritual, keine Trauer.
Fazit von Thomas:
„Ganz ruhig.
Ganz leer.
Keine Wörter im Kopf, kein Gefühl im Körper, wie nicht vorhanden.
Dieser Zustand erschien ihm wie Glück.“ (S. 173)
Herzlichst
Wilhelm

Iris Hanika: Das Eigentliche, München 2011

 
Zuletzt bearbeitet:

Ich habe zu diesem, wie bei fast allen Texten des Bachmannspektakel, keinen Zugang gefunden. Drückt ein paar Knöpfe, Holocaust und so, aber neue Erkenntnisse, eher nicht. Allen Texten gemein ist eine seltsame Weltfremdheit, eine Abgehobenheit. Da wird auf 'das Performative' des Textes spekuliert, die sind so offen, da kann jeder (wenn er will) was rausziehen, fast ein wenig wie Seduktion.

Jörg Fauser bleibt für mich der Geilste in diesem Reigen.

 

Hallo jimmysalaryman,

der häufigste (Halb)Satz der Jury war: gut gemacht.
Ein Kritiker (Namen vergessen), schrieb einmal (Ort vergessen), dass die gegenwärtige Literatur sehr gut geschrieben sei, nur hätten die Autoren nichts zu erzählen. So sind sie auf verzweifelter Suche nach einem Stoff, der sie existentiell etwas angeht. Gefunden haben sie - nichts? Eine Generation ohne Geschichte und Geschehen? Wohlstandliteratur?
Herzlichst
Wilhelm

 

Eine Generation ohne Geschichte und Geschehen? Wohlstandliteratur?
Das Problem bei Klagenfurt ist viel eher, dass 30jährige so schreiben wollen, dass es 50jährigen gefällt, die Bücher für ein 70jähriges Publikum bereit legen.

Ich hab das dieses Jahr am letzten Tag verfolgt, ich hab's die Jahre davor auch schon verfolgt, für mich zeigt der Wettbewerb, wie das Feuilleton aus der Zeit fällt. Aber das ist durchaus amüsant, wie sie da um Relevanz ringen und immer wieder betonen, wie wichtig der Wettbewerb sei, während sie da in Liegenstühle Lebensweisheiten über den Literaturbetrieb von sich geben.

Dass man vielleicht auch mal was ändern sollte/müsste, um den Wettbewerb ein wenig zu modernisieren, kommt da keinem in den Sinn. Wäre z.B. ein wichtiger Schritt professionelle Sprecher anzuheuern, die die Texte vortragen. Im letzten Jahr hat eine Frau mit so starkem Akzent gewonnen, dass man ihr einfach nicht zuhören konnte.

Das ist den Juroren und dem Publikum da ziemlich egal, weil sie nach dem geschrieben Wort gehen, aber als Zuschauer: Keine Chance. Dann versucht man immer auf die oberflächlichste Weise, sich irgendwie dem Zeitgeist anzupassen. Und richtet eine Twitter-Seite ein und macht eine Online-Wahl ... so ein Käse. Komische Bildspielereien, damit das Fernsehen, das einfach nur einen lesenden Menschen zeigt, ein bisschen spannender wird.

Ich weiß auch nicht, wie man von Autoren, die 20, 25, 30 sind, verlangen kann, die Art von Literatur zu schreiben, die die Jury-Mitglieder da lesen wollen Die wollen die Texte, die selbst gelesen haben, als sie 15-20 waren.

Mit der Biographie der Autoren zu kommen, die nicht viel erlebt haben, ist halt auch eine Form von Nostalgie und "Die Literatur ist nichts für die jungen", der typische Genieglaube, dem wir es auch zu verdanken haben, dass es in Deutschland nur 2 Literatur-Institute für kreatives Schreiben gibt.

Ich halt das schon für ziemlich gewagt, sowas zu sagen. Es gibt sicher heute 30jährige, die auch ein sehr bewegtes Leben hatten. Grade Autoren mit Migrationshintergrund. Die Idee, die heutige Jugend wachse in einem Schlaraffenland auf - ohne erzählenswerten Konflikt - find ich schon happig. Aber ich denke die Idee ist im Feuilleton weit verbreitet, da sehnt man sich nach wie vor nach den Trümmerromanen, dem Holocaust. Der Fingerabdruck des dritten Reichs muss sich aus Qualitätssiegel auf den Texten finden.

Die Juroren, das sieht man ja Jahr für Jahr, wollen ja eigentlich Romane und Texte, die eigentlich nur von 80jährigen geschrieben werden können. Slawisch geprägte Texte, in denen es um Partisanen und Freischärler, und Schuld und Nazis und Vertreibung und Identität geht. Ich glaub so Texte haben die letzten 3 Wettbewerbe gewonnen.

Die Frage ist: Sind so Texte auch außerhalb der sehr engen Grenzen Klagenfurts und des Feuilletons noch überlebensfähig? Das ist wirklich ein Mikrokosmos, eine Szene, der die Leute wegsterben.
Vor Jahren war die Passig mal da, das ist eine ganz andere Richtung, die hat da wohl mehr ironisch mitgemacht und ironisch gewonnen, und nimmt den Wettbewerb seitdem liebevoll auseinander.

Ich seh das Jahr für Jahr und - es gibt immer wieder Texte, die in eine ganz andere Richtung gehen. Aber die haben es sehr schwer.
Es ist auch logisch: Wer früh Erfolg hat, muss da nicht hingehen, um sich eine Abreibung einzufahren.

Das Amüsante bei Klagenfurt sind die unterschiedlichen Juroren. Da gibt es wirklich tolle Leute, grad bei den weiblichen Juroren. Da so die Macken und Ideen über die Jahre wachsen zu sehen, find ich spannend. Aber da geht es natürlich auch darum, das eigene Produkt und die eigene Marke zu definieren und zu kultivieren.

So wie das hier in dem Beitrag auch abläuft. Da definiert man halt die eigene Literatursicht in Konflikt zu den anderen. Der eine sagt: Wohlstandsjugend hat nichts mehr zu erzählen. Der andere: Die haben gar kein historisches Bewusstsein, ich hab mich damit viel mehr befasst. Und der nächste sagt: Ist mir nicht nah genau an der Lebenswelt.
Ist halt so. Wenn die da in Klagenfurt jedes Jahr die Literatur machten, die wir auch alle machen wollten, müssten wir mit dem Schreiben aufhören. Zum Glück machen die das nicht.

 

Hallo Quinn,

Das Problem bei Klagenfurt ist viel eher, dass 30jährige so schreiben wollen, dass es 50jährigen gefällt, die Bücher für ein 70jähriges Publikum bereit legen.
Eine richtige Beobachtung: Wer schreibt für wen, der das Geschriebene wem verkaufen will? Wie sind die Produktionsmechanismen der sogenannten Publikumsverlage?
Wie sehr schielen Autoren, Lektoren oder Redakteure auf das, was sie für den Markt halten?

Deine Bemerkungen zu dem Bachmannpreis sind bedenkenswert. Mir kommt die Veranstaltung vor, als wäre ich in einem literarisch-katholischem Hochamt, mit Spinner als Kardinal.
Weitere Funktionen will ich nicht verteilen. Es ist halt eine pseudoreligiöse Veranstaltung mit dem Anspruch, „der“ Literatur zu helfen. Als solche genieße ich sie teilweise durchaus. Auch mit einer Literatur-Oper könnte man sie vergleichen; und auch als solche genieße ich diese Veranstaltung (teilweise).


Mit der Biografie der Autoren zu kommen, die nicht viel erlebt haben, ist halt auch eine Form von Nostalgie und "Die Literatur ist nichts für die jungen", der typische Genieglaube, dem wir es auch zu verdanken haben, dass es in Deutschland nur 2 Literatur-Institute für kreatives Schreiben gibt.

Ich halt das schon für ziemlich gewagt, sowas zu sagen. Es gibt sicher heute 30jährige, die auch ein sehr bewegtes Leben hatten. Grade Autoren mit Migrationshintergrund. Die Idee, die heutige Jugend wachse in einem Schlaraffenland auf - ohne erzählenswerten Konflikt - find ich schon happig. Aber ich denke die Idee ist im Feuilleton weit verbreitet, da sehnt man sich nach wie vor nach den Trümmerromanen, dem Holocaust. Der Fingerabdruck des dritten Reichs muss sich aus Qualitätssiegel auf den Texten finden.

Biografie und erlebtes Leben; nicht alle, die „etwas erlebt haben“, können darüber schreiben, und manche, die wenig erlebt haben, machen daraus Literatur; das ist schon klar.
Konflikte hat man auch in der Wohlstandsgesellschaft; auch das ist klar.
Sicherlich sind Erwartungen (Älterer) und Traditionen in der deutschen Literatur seit 1945 eng mit dem Komplex des Dritten Reichs verknüpft. Das geschieht „unehrlich“, wie bei Hanika, oder mit der Suche nach den Resten wie bei „Vielleicht Esther“.
Der „Fingerabdruck“ des Dritten Reichs, wie du schön formulierst, ist immer noch zu spüren.
Wenn man die Tendenz in dem Text von Petrowskaja (der nur eine Themenübersicht bietet), erkennt, geht es um das Entschwinden des Vergangenen, um den Beginn des Vergessens.


Die Juroren, das sieht man ja Jahr für Jahr, wollen ja eigentlich Romane und Texte, die eigentlich nur von 80jährigen geschrieben werden können. Slawisch geprägte Texte, in denen es um Partisanen und Freischärler, und Schuld und Nazis und Vertreibung und Identität geht. Ich glaub so Texte haben die letzten 3 Wettbewerbe gewonnen.

So wie das hier in dem Beitrag auch abläuft. Da definiert man halt die eigene Literatursicht in Konflikt zu den anderen. Der eine sagt: Wohlstandsjugend hat nichts mehr zu erzählen. Der andere: Die haben gar kein historisches Bewusstsein, ich hab mich damit viel mehr befasst. Und der nächste sagt: Ist mir nicht nah genau an der Lebenswelt.
Ist halt so. Wenn die da in Klagenfurt jedes Jahr die Literatur machten, die wir auch alle machen wollten, müssten wir mit dem Schreiben aufhören. Zum Glück machen die das nicht.

Das kann ich nur unterstützen.
Herzlichst
Wilhem

 

Vielleicht Esther, ganz gelesen

Meine Überlegungen zu „Vielleicht Esther“ als Beitrag zum Literaturwettbewerb in Klagenfurt kann ich auf das gesamte Werk ausweiten.
Weitaus überzeugender, als ich das vorher dargestellt habe, ist die literarische Qualität. Faszinierend ist es, der Erzählerin zuzuschauen, wie sie mit sich und den wenigen Informationen über ihre Verwandten umgeht, wie sie Fragen stellt, Möglichkeiten untersucht, in den Archiven forscht, Reisen unternimmt … Sprachlich sehr differenziert, gedanklich ziseliert und emotional „innig“ baut die Erzählerin ihre Identität auf, wie man das in dieser Qualität selten findet. Es ist eine Reise zu sich selbst.
Als Historiker bleibt der Vorbehalt, dass diese subjektive Sicht das historisch-kritische Verstehen des Dritten Reichs nur bedingt fördert. Mir scheint das Verbrecherreich in einem (zu) milden Licht. Aber es sind Geschichten, nicht ist es Geschichte. Es sind Geschichten, die einen Weg zu sich beschreiben, nicht zu Esther.
Herzlichst
Wilhelm Berliner

 
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Das Buch Vielleicht Esther

Vielleicht Esther: Das Buch

“God is a concept by which we measure our pain.”
Plastic Ono Band, 1970​

„ - Ich sage Ihnen ein Wort, und Sie sagen mir, was es bedeutet. Ja?
- Okay.
- Babij Jar.
- Hat es was mit Indianern zu tun?
[…]“
Der nackte Mann auf dem Sportplatz. Film von Konrad Wolf, 1974“ [*]

„Wenn jemand eine Reise tut, so kann er was verzählen“,​
tönt’s seit Matthias Claudius durch Volkes Mund. Und also machte sich auf in ihrem 38. Jahr eine junge Frau – geboren zu Kiew in dem Jahr, da John Lennon allen Götzen incl. Beatles abgesagt hatte, hinein in eine Zeit, da Überlieferung zunehmend gering geachtet und dem Vergessen anheimfallen wird, auf dass Gott Mammon in marktkonformer Demokratie umso leichter sein Süppchen zum Lobe der Plutokratie kochen kann. Also begab sich diese junge Frau von Berlin aus auf die Suche nach ihren jüdischen Wurzeln in untergegangen Imperien wie Polen-Litauen über die k. u. k.-Monarchie bis hin zur Sowjetunion, um verloren geglaubtes Wissen wiederzufinden und davon in der ihr fremden Sprache der Stummen beredt zu erzählen.

Von Tante Lida erbt die Icherzählerin dabei nicht nur ein poetisches Rezept, denn welches Rezept wendet sich schon mit der zutraulichen Anrede „[d]u kochst … / [d]u wäschst …“ direkt an seinen Leser, um geradezu alttestamentarisch im elften Gebot zu münden „[d]en Dill sollst du waschen und schneiden. …“[32], sondern begreift auch mit dem Tod der Tante vor allem, was Geschichte heißen soll und sei: „Geschichte ist, wenn es plötzlich keine Menschen mehr gibt, die man fragen kann, sondern nur noch Quellen. Ich hatte niemanden mehr, den ich hätte fragen können … Was mir blieb: Erinnerungsfetzen, zweifelhafte Notizen und Dokumente in fernen Archiven. Statt rechtzeitig Fragen zu stellen, hatte ich mich am Wort Geschichte verschluckt. […] Ich fühlte mich der Geschichte ausgeliefert“[30].

So stolpert sie auf der Suche nach der Vergangenheit nicht nur über Straßenpflaster mit hebräischen Buchstaben - „ein Memory für Erwachsene“[136] - aus zerschlagenen Grabsteinen eines jüdischen Friedhofs, sondern auch über die Frage, wo sie in den Nürnberger Gesetzen „steht“ und weiß doch sogleich, „[e]igentlich müsste man die Frage nicht im Präsens, sondern im Imperfekt stellen und im Konjunktiv, wo wären wir gewesen, wenn wir damals gelebt hätten, wenn wir in diesem Land gelebt hätten – wenn wir jüdisch gewesen wären und damals hier gelebt hätten. Ich kenne diesen mangelnden Respekt vor der Grammatik, auch ich stelle mir solche Fragen, wo bin ich auf dem Bild, die mich aus der Welt der Vorstellung in die Realität versetzen, denn die Vermeidung des Konjunktivs macht aus einer Vorstellung eine Erkenntnis oder sogar einen Bericht, man nimmt die Stelle eines anderen ein … und so erprobe ich jede Rolle an mir selbst, als gäbe es keine Vergangenheit ohne irgendein Als-ob, Wenn oder Falls.“[45]

Wenn mit und um Sprache nicht mehr gerungen wird, Sprache quasi umgangen wird, mag sie allemal zum Exkre(men)t unter andern menschlichen Exkre(men)ten verkommen. Vor Sprechdurchfall ist die Icherzählerin wahrlich doppelt gefeit, hätte sie doch zu jeder Geschichte, die sie erzählt, Romane schreiben können. Zudem verlassen die Geschwister Petrowskij den sicheren Boden der russischen Muttersprache erst mit Ende zwanzig. Der Bruder lernt Hebräisch, eine um vieles ältere Sprache als das Russische und das Deutsche, die aber vermengt mit deutschen und slawischen Elementen zu einer deutschen Mundart wird, quasi die Lingua franca der mosaischen Gemeinde, die freilich bei den Petrowskijs nur noch in einem Wort – sinnigerweise „meschugge“ (= verrückt, bekloppt) – erhalten ist, wenn auch die titelgebende Person, die Urgroßmutter der Icherzählerin und des Hebräisch-Lernenden, noch fließend Jiddisch gesprochen haben muss [vgl. 220].

Die Icherzählerin lernt Deutsch – die Sprache des Feindes und zugleich des Volkes, das in slawischen Sprachen mit der Vokabel des „Stummen“ belegt ist, was wiederum eine wundersame Verknüpfung findet in den Vorfahren bis hin zur Elterngeneration als Lehrer, die taubstummen Kindern zu sprechen beibringen, „als müsste ich das stumme Deutsch lernen, um sprechen zu können …“[79] Wer nicht spreche, verheimliche etwas – und so nimmt sie über die Sprache die Rolle von Opfer und Täter ein und weiß trotz ihrer Minderjährigkeit in der Stummen Sprache mit Grammatik umzugehen. So komme ihr (nach eigener Aussage) die deutsche Sprache einer Befreiung gleich, was die deutschsprachigen Gazetten von der Berliner Morgenpost (Juli 2013) bis zur Zeit (März 2014) getreulich wiedergeben und auch, dass das, was sie da mache, von ihr selbst nicht als Literatur bezeichnet werde.

Was aber wäre dann dieses Buch, das über Leben und Sterben in der Familie erzählt, die erst mir dem Sieg der Bolschewiki ihren heutigen Hausnamen erhält, als Großvater Schimon Stern seinen (Deck-)Namen Semjon Petrowskij beibehält, „ein Stein unter Sternen“ [Anm.: griech. „petros“ = Fels, zugleich eine Anspielung auf Matthäus 16,18: „Und ich sage dir auch: Du bist Petrus, und auf diesen Felsen will ich meine Gemeinde bauen, und die Pforten der Hölle sollen sie nicht überwältigen.“], denn der Großvater „durchlief eine revolutionäre Taufe, die den kleinen Leuten Gleichberechtigung versprach: Hier ist kein Jude noch Grieche, hier ist kein Knecht noch Freier, hier ist kein Mann noch Weib, denn ihr seid allzumal Menschen und Proletarier.“[142]

In Kalisz (Stadt westl. v. Łódź, dt. Kalisch / Lodsch) »stolpert« Petrowskaja über das oben erwähnte Straßenpflaster aus zertrümmerten „jüdischen“ Grabsteinen und irritiert mich ein wenig, wenn es heißt, dass „Hey Jude“ in ihrem Kopf geisterte: „Ich war so auf meine Buchstaben fixiert, dass ich die Autos nicht hupen hörte, nur ein Lied in meinem Kopf: »Hey, Jude«, summte es, »and any time you feel the pain, …«“[136]. Ein Wortspiel? Oder: Eine Verwechselung, „Jude“ mit “Jew“? Kann eigentlich nicht sein, denn im ersten Kapitel, als über die Zweideutigkeit der Aufschrift „Bombardier“ [7 ff.; Anm.: urspr. der Geschützmeister, später der Artillerist, zugleich eine deutsche Firma] am Berliner Hauptbahnhof sinniert wird, fällt das engl. “Jew“[11]. Um auch dieses Geheimnis zu lüften: Paul McCartney verschlüsselte mit dem “Jude“ im August 1968 den Namen Julian Lennon’s, der vaterlos aufwachsen musste, obwohl der Vater bekannt war wie ein bunter Hund.

Allen Generationen wie auch den Stern / Petrowskijs gemeinsam ist die Zerrissenheit zwischen Hoffen und Bangen, kann doch Gewalt in einem Buch über das langwährende ausgehende 19. Jahrhundert nicht verschwiegen werden. Wer zum Teufel hätte denn in Klagenfurt daran gedacht, dass das geopolitische Denken des langen 19. Jahrhunderts sich auch im 21. Jahrhundert breitmachen könnte?

Aber sind wir nicht grundsätzlich immer noch die alten Troglodyten – halt auf technisch höherem Niveau?

Katja Petrowskaja hat ein Buch geschrieben, das in Anekdoten und individuelle Geschichten über die eigene Familiengeschichte hinausweist und damit ein Mosaik europäischer Geschichte seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert zusammenfügt, mit dessen zentralen und titelgebenden Kapitel [208 – 223/**] die Autorin im vorigen Jahr Klagenfurt gewann, das in der Tat keine Literatur i. S. von Belletristik ist. Es ist Geschichtsschreibung im besten Sinne des Wortes, denn es ist keine Hofberichterstattung und kein Loblied auf die europäischen Eliten. Mit Recht führte sie zwei Monate die Bestenliste des SWR an. Es ist zugleich eine Liebeserklärung an die neue Heimat: „Mein Deutsch blieb in der Spannung der Unerreichbarkeit und bewahrte mich vor Routine. Als wäre es die kleinste Münze, zahlte ich in dieser spät erworbenen Sprache meine Vergangenheit zurück, mit der Leidenschaft eines jungen Liebhabers. Ich begehrte Deutsch so sehr, weil ich damit nicht verschmelzen konnte, getrieben von einer unerfüllbaren Sehnsucht, eine Liebe, die weder Gegenstand noch Geschlecht kannte, keinen Adressaten, denn dort waren nur Klänge, die man nicht einzufangen vermochte, wild waren sie und unerreichbar“[78 f.], Symptome der Liebe fürs Leben.

„Die Landschaft bleibt, indessen unser Zug
Zurücklegt die ihm zugemeßnen Meilen.

Die Zeit steht still. Wir sind es, die enteilen.“
Mascha Kaléko​

______

* Alle Zitate aus:
Katja Petrowskaja: Vielleicht Esther. Geschichten, Berlin 2014
(ca. 285 Seiten, 19,95, als e-book 16,00 €)
Zitat hier: S. 183

** Vgl. hierorts den Beitrag Wilhelm Berliners vom 14.07.2013: „Vielleicht Esther“ – Gewinnerin des Bachmannpreises 2013

http://www.wortkrieger.de/showthrea...Esther“-–-Gewinnerin-des-Bachmannpreises-2013

 
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Lieber Friedel,
ohne parallel Wiki aufzumachen, komme ich durch Deine Texte nicht durch, es ist, als wäre Deinetwegen Windows erfunden worden, so finde ich " Troglodytes troglodytes", der Zaunkönig, da er so klein ist, stellt er wenigstens den Schwanz steil auf, hast Du uns damit in Beziehung setzen wollen? - sicher nicht. Menschen haben selten Höhlen bewohnt, viele Höhlen mit menschlichen Hinterlassenschaften waren Kultstätten, vereinzelt finden sich Spuren von Nahrung, Nahrungszubereitung etc., die auf vorübergehende Nutzung der Höhle als Unterschlupf hinweisen.
Deine Rezension macht neugierig, allein die Metapher, dass wir über die Grabsteine hinweglatschen und die hebräischen Buchstaben uns dabei anschauen, dann die Definition von Geschichte (wenn es niemanden gibt, den man fragen kann), sehr spannend, denn mit dem Tod der Zeugen, spätestens dann, beginnt nicht nur die Geschichtsschreibung, sondern auch die Legendenbildung, oder etwas unpolitischer: die Entstehung von Mythen, die Einordnung des Geschehenen in die archetypischen historischen Muster; was nicht passt, wird passend gemacht. Da wir aber die Wirklichkeit immer in uns tragen, wir können gar nicht anders, ist diese Suche nach den Wurzeln nur die Beschaffung von Bildern für das Wissen in der Seele.
Wird bestellt, Gruß Set

 
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Hallo set,

Dank Dir für's Kommentieren - das Bild des Troglodyten stammt übrigens von dem von mir verehrten Karl Kraus - aber frag mich nicht mehr, woher genau aus den vier Jahrzehnten Fackel - die übrigens vollständig im Internet eingestellt ist - Grund zur nächsten Rezension?

Nee - die gibt's schon hierorts: »Mir fällt zu Hitler nichts ein« - von wem wohl?
http://www.wortkrieger.de/showthread.php?49181-»Mir-fällt-zu-Hitler-nichts-ein«

Gruß

Friedel

 
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70 Jahre nach Kriegsende erinnert Chrismon 5/2015 an die Soldaten der Roten Armee und auch Babi Jar, einem zentralen Thema der Bachmann-Preisträgerin. Grund genug, Schlaglichte hier einzustellen!


Am 28. September 1941 meldete die SS aus Kiew nach Berlin: „Exekution von mindestens 50 000 Juden vorgesehen. Wehrmacht begrüßt Maßnahmen und erbittet radikales Vorgehen.“

Zwei Tage später waren 33 771 Juden erschossen.

„Die Deutschen waren in der Ukraine auf dem Rückzug“, berichtet Viktor Maximow im Interview, „wir rückten vor, und ich sah die Folgen der deutschen Besatzung: all die ermordeten Zivilisten, Kinder, Alte, Frauen. Ein Kriegsverbrechen. Und ich sah die Berge von Kinderschuhen in der Schlucht von Babi Jar bei Kiew.“ (a. a. O., S. 14)

An sich wollte Maximow viel lieber über Versöhnung statt Krieg sprechen.

Er will auf einem deutschen Soldatenfriedhof beerdigt werden.

 
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Heute vor 75 Jahren begann das größte Massaker an über 30.000 Juden in Babi Jar, der "Weiberschlucht" in der Nähe von Kiew, bevor die verwaltungsmäßige und industrielle Vernichtung von Juden, Roma und Sinti u. a. begann.

Es ist ein zentrales Kapitel im Roman.

Am 22. 4. und am 5. 6.2014 haben Wilhelm und ich unsere Eindrücke über das Buch niedergeschrieben.

Es ist allemal lesenswert

Friedel

 

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