Was ist neu

Gutes Erzählen - schlechtes Erzählen

Beitritt
05.03.2013
Beiträge
565
Zuletzt bearbeitet:

Gutes Erzählen - schlechtes Erzählen

Gutes Erzählen – schlechtes Erzählen
Reflexionen über die Erzähltheorie von Petra Morsbach
in ihrem Buch: Warum Fräulein Laura freundlich war. Über die Wahrheit des Erzählens
(erschienen im Piper Verlag München Zürich 2006, Preis: 4,90 €)

Die Kluft

Irgendwann ist der Mensch herausgefallen: aus dem Paradies (Bibel), aus dem Urwald (Blumenberg), aus dem Mutterleib: von der Geborgenheit in die Unsicherheit. Er erlebt sich als Mängelwesen und sucht nach einem Halt.
Petra Morsbach setzt in ihrem Buch „Warum Fräulein Laura freundlich war“ bei dieser Grundproblematik an. Die inneren und äußeren Gegebenheiten führen zu Problemen und Konflikten. Um lebensfähig zu bleiben und Orientierung zu gewinnen, erzählt sich der Mensch (beinahe ununterbrochen) Szenen aus seiner Biographie: zur Selbstvergewisserung und als Kommunikationsgrundlage mit anderen. Diese Erzählungen haben mit der Wahrheit nur sehr wenig zu tun. Der Erzählende deutet die vergangenen Ereignisse meist für sich erträglich. Ob er sie verdrängt oder beschönigt oder ins Lügen verfällt, die Wahrheit schlummert in seinem Inneren und wird als ungelöstes Problem ihn weiterhin belasten, auch wenn ihm dies nicht bewusst wird. Alle sprachlichen Äußerungen sind in die Überbrückung der Kluft zwischen Urzustand und Menschsein, zwischen Erleben und Erzählen eingespannt.

„Wir deuten, indem wir uns selbst und anderen erklären, was wir erlebt haben, wie wir es sehen und wie wir daraufhin handeln wollen. […] von unserem Selbst- und Weltverständnis hängt in gewissem Maß unsere Handlungsfähigkeit ab, also auch unser Schicksal.“
(S.16)
Die Ambivalenz der Erzählung

Die sprachliche Darstellung ist nach Morsbach allerdings ambivalent: Wir wollen geliebt werden und gestalten unsere Erzählungen so, dass dies uns möglich scheint. Je komplizierter das Leben wird, desto schwerer fällt einem das Jonglieren zwischen Lebensbeschönigung und Lebenswahrheit.
Schreckliche und peinliche Erfahrungen erzählen wir gerne so, dass wir vor uns selber und vor anderen möglichst gut dastehen. Als Kinder spielten wir Held und Heldin, was uns die Zuhörer bestätigen sollten. Wir erzählen so, dass wir möglichst viel Bestätigung und Zuwendung bekommen, als Held/in oder, wenn es sein muss, als bedauernswertes Opfer.
Die bewundernden oder tröstenden Worte bauen auf oder lindern den Seelenschmerz oder die Scham zeitweise. Diese Lebenslügen vernachlässigen die Wahrheit. Die Spannung zwischen den ungelösten seelischen Urwäldern und der parteilichen Erzählung bleibt und frisst Kraft.
So der Gedankengang von Petra Morsbach, die anschließend einen besseren Weg vorschlägt.
Die Einsichten

„Wir sind nicht das Zentrum der Welt, und die anderen handeln nicht auf uns zu, sondern jeder für sich. Das ist die erste Stufe: Wir sind nicht immer unschuldig an den Konflikten, in die wir geraten. Das ist die zweite Stufe. Und es kommt noch schlimmer: Wir sind nicht so gut, wie wir gern wären, nicht so liebenswert, nicht so schön, nicht so stark.“
(S.17)
Hat man alle diese Beschönigungsattrappen beseitigt, fühlt man sich erleichtert und unbeschwert oder man gerät in Wut und zieht sich hinter neue Attrappen zurück. Die Erzähltheorie von Morsbach ähnelt den psychoanalytischen Erzählkuren.
„Wir sehnen uns nach der Wahrheit und fürchten sie.“
(S. 18) Das Tosen von Gefühlen in uns durchsäuert unsere Erzählungen:
„All diese Leidenschaften wirken mit elementarer Kraft auf uns ein, und all unsere Erzählungen sind von ihnen gezeichnet. Unsere Welt ist ein Chaos von mehr oder weniger bemühten und hilflosen, aber auch von wahnhaften, zynischen, betrügerischen Deutungen, ein Chaos, das nicht nur Lärm und Missverständnisse bedeutet, sondern auch Ausbeutung und Krieg. Und nirgends gibt es einen übermenschlichen, von allen respektierten Schiedsrichter, der verbindlich sagte, welche Deutung die richtige wäre und welche nicht.“
(S. 18)
Menschen äußern sich nicht, ohne dass sie Einblicke, bewusst oder unbewusst, in ihre Seele geben. Jede Erzählung spricht vom Autor, spricht über seine Strategien der Problembewältigung und –verdrängung, über sein Leben. Der Autor ist in den Buchstaben.

Wo ist die Wahrheit?
Im Traum und in der Kunst. Es ist nicht die Wahrheit an und für sich, sondern eine Deutung, die durch Verdichtung Distanz zum Ereignis schafft, sodass es dem analytischen Verstehen zugänglich wird. Das gilt auch für die Kunst:

„Idealerweise liefern die Schriftsteller Modellerzählungen, die präzis, überparteilich und konkret anhand fiktiver Schicksale unsere Gegenwart spiegeln. Idealerweise kann die literarische Deutung unsere Realität ohne Rücksicht auf herrschende Ideologien schildern und […] zu unseren tiefsten Problemen und heimlichsten Phantasien vordringen“
(S 19 f.). Darin erkennen wir Leser uns wieder und dringen in die eigenen Probleme weit ein, auf dem Vehikel der Protagonisten.
Aber auch Schriftsteller unterliegen ähnlichen Problemen wie andere Menschen.
„Sie kämpfen um ihr Ego, hadern mit ihrem Schicksal, sind beschränkt und mit Vorurteilen geprägt und wollen außerdem noch im sozialen Kontext bestehen, was unter anderem bedeutet, dass sie ihre Bücher verkaufen müssen.“
(S.20) Hohe Literatur oder Wunscherfüllungsliteratur (nebst Mischformen), vor diese Alternative stellt uns Morsbach. Meistens findet sich der Leser mit Mischformen konfrontiert.
Träger der Differenzierungen ist die Sprache mit ihren vielfältigen Möglichkeiten, durch Benennungen Erkenntnis zu schaffen.
Von einer guten Erzählung erwartet Petra Morsbach eine Deutung von Ereignissen, die zwischen unkontrolliertem Plaudern und dürren Statements liegt. Je weiter sich die Erzählung von Standardfabeln („Ich bin ein Pechvogel“) entfernt, desto besser die Leistung des Autors. Er soll eine differenzierte Deutung von Ereignissen schreiben, um einen lebendigen Text anzubieten. Das gilt für Alltagserzählungen wie für literarisches Erzählen, zwischen denen es nur graduelle Unterschiede gibt. Die Schreibprofis allerdings verwenden mehr Zeit für ihre Erzählung und schreiben deshalb bessere Texte. Immer und immer verbessern sie den Text, bis der richtige Ton gefunden ist. Die Arbeit am Text und an der Sprache ist Arbeit an der eigenen Persönlichkeit.
„Wir Menschen, also auch Autoren, neigen dazu, Schwächen zu unterdrücken, denn sie ängstigen, beunruhigen und beschämen uns. Die unterdrückten Themen aber streben ins Bewusstsein, verbinden sich mit gebilligten Themen und finden einen Ausdruck in sprachlichen Kompromissen. In der freien Wiedergabe von Erlebtem, also beim Erzählen, wird das besonders deutlich deswegen, weil die Bedeutung des Erlebten nicht zu erkennen ist und der Erzähler immer auch instinktiv strukturieren muss. Unsere Erzählung […] hat also eine höhere Integrität als unser Bewusstsein. Die Integrität des Textes kann ein Schlüssel zur Integrität des Erzählers sein. Und sie kann dem Leser helfen, reagierend eigene Deutungsstörungen und –defizite aufzuklären.“
(S. 169)

Sprache und Erkenntnis
In den Mittelpunkt ihrer Theorie stellt Morsbach die Sprache, die zu Erkenntnissen führt.

„Wo der Autor idealisiert, ideologisiert, traditionellen Vorgaben oder aktuellen Richtlinien folgt, verzichtet er auf eigene Anschauung zugunsten einer kollektiven Interpretation. Kollektive Interpretationen aber sind immer interessengesteuert und ungenau. Das wirkt sich sprachlich aus. Es gibt keine kreative sprachliche Leistung auf niedrigem individuellem Niveau, ebensowenig wie es eine hohe literarische Deutungsleistung auf niedrigem sprachlichem Niveau gibt.“
(S.26)
Für eine gute Erzählung setzt Morsbach ein
„möglichst präzises, unparteiisches, objektives Wahrnehmen und Erfassen unserer Wirklichkeit“
(S. 27) voraus. Und dies kann man nur durch die Sprache. Angeborener Erkenntnisdrang würde die Menschen dazu antreiben, sich und die Welt besser zu beobachten und ihre Beobachtungen in Sprache zu fassen.
Auf dieser Grundlage deutet der Mensch Ereignisse und kommt nach einer langen Korrekturphase zu einer gelungenen Erzählung, die den Leser, wegen der „Langzeitprüfung“ (S. 28) der Menschheitsprobleme, zu besserer Einsicht in seine Persönlichkeit und seine Position in der Welt bringt: Selbstverständnis und Weltverständnis würde Literatur vermitteln.
Innere Bewegung treibt Autoren an, sich mit der Welt schriftlich auseinanderzusetzen, sie in Worte zu fassen, um die innere Bewegung bei Leser auszulösen, die diesen zu weiterer Erkenntnis „bewegt“.
„Gute Literatur sollte zünden, emotional stimulieren, damit die in ihre enthaltene Erkenntnis auf den Leser überspringt. Aber die Leser müssen bereit und fähig sein, sich stimulieren zu lassen.“
(S. 29)
Was ist für Morsbach Erkenntnis? Wenn das Gefühl meint, etwas „gefunden“ (S. 30) zu haben. Erkenntnisleistung sei, dass
„eine tiefe individuelle Erkenntnis, die zeit- und kulturübergreifend möglichst von vielen erkenntnisfähigen Individuen ein möglichst tiefes Echo findet“
(S. 30). Wie vage diese „Definition“ ist, erkennt die Autorin selber:
„Der einzige Beleg für diesen Ansatz ist die Erfahrung, dass so im Laufe der Jahrtausende viel erstklassige Kunst-Substanz zusammengetragen worden ist.“
(30)
In dem umfangreicheren zweiten Teil erprobt sie ihre theoretischen Überlegungen an drei Büchern. Alfred Andersch: Der Vater eines Mörders; Marcel Reich-Ranicki: Mein Leben und Günter Grass: Die Blechtrommel.
Die Besprechungen von Morsbach dieser drei Bücher enthält hervorragende Beobachtungen, scharfe Analysen und überzeugende Urteile.
Heil Himmler
An den ersten beiden Sätzen von „Der Vater eines Mörders“ zeigt Morsbach minutiös, wo Andersch literarisch einwandfrei gearbeitet und wo er „unprofessionell“ private Betroffenheit ausagiert hat.
Die Griechisch-Stunde sollte gerade beginnen, als die Türe
des Klassenzimmers noch einmal aufgemacht wurde.
„Der erste Satz liefert einen schnellen Einstieg und auch die entscheidenden Stichworte: Griechisch-Stunde, Klassenzimmer. „... sollte gerade beginnen“ erzeugt Gegenwärtigkeit. Das umgangssprachliche Wort „aufgemacht“ legt nahe, daß hier die Schülerperspektive gilt. Wir haben hier einen einfach und zweckmäßig strukturierten ersten Satz, der sinnvolle Informationen enthält.“
(S. 34)
Zweiter Satz:
Franz Kien schenkte dem Öffnen der Türe wenig Aufmerksamkeit; erst, als er wahrnahm, daß der Klassenlehrer, Studienrat Kandlbinder, irritiert, ja geradezu erschreckt aufstand, sich der Türe zuwandte und die zwei Stufen, die zu seinem Pult über der Klasse hinaufführten, herunter kam, - was er nie getan hatte, wenn es sich bei Eintretenden um niemand weiteres als einen verspäteten Schüler gehandelt hätte - , blickte auch er neugierig zur Türe hin, die sich vorne rechts befand, neben dem Podest, auf dem die Tafel stand.
„Der zweite Satz ist komplizierter.“
(S. 34) Ausführlich schildert der Erzähler die Situation, auch mit selbstverständlichen und überflüssigen Informationen. Die vielen Nebensätzen verlangsamen das Lesetempo. Morsbach stellt einen Gegensatz zwischen dem „flotten Schülerton“ im ersten Satz „zum altertümlich-gymnasialen Schriftdeutsch“ (S.36) heraus.
Sichtbar bemüht Authentizität herzustellen, verwendet Andersch Detailgenauigkeit, häufige Erklärungen und Vergegenwärtigungen. Und zwar in einem Maße, dass sich der Leser fragt, warum der Autor ihn so nachdrücklich überzeugen will, also würde der Leser ihn für unglaubwürdig halten. Begründet? Dieses eifernde Bemühen um Glaubwürdigkeit erzeugt eine Menge von handwerklichen Fehlern (s. u.).
Sehr ausführlich und nachvollziehbar führt Morsbach ästhetische Mängel auf hohe persönliche Betroffenheit beim Autor zurück, mag sie ihm bewusst oder unbewusst sein.
Hätte Andersch nur eine Geschichte „Leiden an der Schule“ geschrieben, hätte dies nach Morsbach handwerklich gelingen können. So eine Erzählung hätte zur Wahrheit führen können, zu einer ganz normalen guten Geschichte ohne erzähltechnische Verwerfungen.
Aber in dieser Erzählung lauert nach Morsbach ein anderes Problem, das zu kaschieren und zu verdrängen das Buch dient. Das Verhalten von Andersch während des Dritten Reichs war problematisch. Er hat in dieser Zeit Schuld auf sich geladen, die ihn bis zum Lebensende beschäftigte.
„Jedesmal, wenn ich daran denke, spucke ich innerlich vor mir aus.“
(Andersch zitiert S. 50) Er ließ sich 1943 von seiner halbjüdischen Frau scheiden (die überlebte), um veröffentlichen zu können. So prägen Schuld und Scham sein Leben. Sein Schreibdrang hat seine Ursache in diesem Komplex. Durch das Schreiben möchte er Schuld und Scham loswerden, um aus der psychischen Problembelastung herauszukommen. Aber nicht der Durchbruch zur Wahrheit in sich ist damit verknüpft, sondern Banalisierung und Dämonisierung des Lehrers. Himmler (Vater) wird schlimmer dargestellt, als er war. Er hatte damals (Andersch verließ 1928 das Gymnasium) sicher nichts mit den Verbrechen seines Sohnes zu tun hatte. Der Ruch der Verbrechen im Dritten Reich werden ihm vorweg zugeschrieben. So als würde hier schon das Böse, das im Sohn zum Ausbruch kam, lauern. Im Buch muss die Hauptfigur, die große Ähnlichkeit mit Andersch besitzt, wegen der Bosheit Himmlers von der Schule gehen. In Wirklichkeit ist Andersch einfach nur wegen mangelhafter Leistungen durchgefallen.
Fazit von Morsbach:
„Der Vater eines Mörders ist, denke ich, vor allem als Tragödie eines ehrgeizigen Moralisten zu lesen: als ästhetisch verunglückter, subjektiv aber verzweifelt notwendiger Versuch, sich durch Schuldzuweisung an einen anderen von einer als übermäßig empfundenen Beschämung freizusprechen, somit als qualvoller Ausdruck dieser übermäßigen Beschämung.“
Kritiker von 1980 erzählten den Inhalt und sahen in dem Buch eine Erklärung, „wie es zu Hitler und Himmler kommen konnte.“
(Hessischer Rundfunkt, zitiert S. 51) Vernachlässigt wird das Ausweichen des Autors auf außerliterarische Bezüge, sehr gefühlsbetonte Werturteile, häufige Verwendung von Superlativen, die Rückkoppelung zur Mehrheit und überflüssigen Selbstaussagen, die das Buch kennzeichnen (S. 52). Die literarische Gestaltung spiegelt das innere Chaos ab und dringt nicht zum Kern vor, sondern weicht „erregt“ auf allgemeine Erläuterungen und Verurteilungen aus. Der Text vermeidet die Wahrheit im Sinne vom Morsbach. Die Deutung seines Lebens ist Andersch missglückt, weil die emotionale Belastung durch den Stoff ihn handwerkliche Fehler machen ließ und weil er Schuld auf andere (Himmler) schieben wollte. Die Sprache ist deshalb verzerrt und verzogen.
In ähnlicher Weise behandelt Morsbach die beiden anderen Texte, die hier nicht mehr referiert werden sollen.
Vorsicht, Theorie!
Mitreißend ist das Buch geschrieben, gerne eilt man von Satz zu Satz und fühlt sich bereichert. Flott bringt man die Lektüre zu Ende stimmt, beifällig nickend, der Autorin aus ganzem Herzen zu und fühlt, dass das mal gesagt werden musste.
Bei der zweiten Lektüre entdeckt man Mängel. Was versteht die Autorin unter Literatur? Sie wird nicht definiert, sondern im Zusammenhang mal weit, mal eng verwendet. Der Mensch erlebt etwas, deutet es und bettet es sprachlich in seine Biographie (Lebenserzählung) ein. Sind Erzählung und Literatur alles, was an Erlebtem zur Sprache gebracht wird? Oder ist es nur Außergewöhnliches? Sind Naturbeobachtungen Erzählungen, wenn man an Brehms Tierleben denkt? Ist ein Mathematikbuch eine Erzählung? Darf man nur das professionelle literarische Erzählen so nennen? Hier fehlt die Klarheit in der Verwendung von Begriffen. Ebenso bleiben die Begriffe „Deutung“, „Erkenntnis“ und „Wahrheit“ unklar, obwohl es zentrale Begriffe des Theoriekonzepts sind. So verweilt der ganze theoretische Teil im Vagen, differenziert zu wenig und verliert deshalb an Tiefe, Nachvollziehbarkeit und Glaubwürdigkeit.
Die Kernaussage, dass die Sprache eines Textes von den inneren Zuständen des Autors beeinflusst wird und dazu führen kann, dass Ungereimtheiten und Unausgewogenheiten den Wahrheitsgehalt mindern, verfolgt die Autorin konsequent und nachvollziehbar. Je mehr ein Autor mit der Überlagerung der persönlichen Problematik beschäftigt ist, desto mangelhafter ist die ästhetisch-literarische Gestaltung. Andererseits hilft eine präzise Arbeit am Text sine ira et studio, den Wahrheitsgehalt aus der Problematik herauszuholen und sich ein wenig zu erleichtern. Gelingt dies dem Autor, sich durch literarische Schreiben zur Wahrheit durchzukämpfen, dann wirkt dies auf den Leser erkenntnisfördernd und damit „heilsam“.
Die Analysen der drei Bücher sind teilweise hervorragend. Minutiös arbeitet Morsbach sich von Wort zu Wort vor und stellt die Ungereimtheiten klar vor Augen. Wenn auch die Wertung „Was ist eine gute Erzählung“ sehr unbestimmt bleibt, so trifft die Einschätzung meistens zu.
Unangenehm wird doch manchmal der überlegene Ton über die armen geplagten Autoren, die mit ihren Problemen nicht fertig werden und dies so offen zur Schau stellen, sich selbst entblößen, ohne dies zu beabsichtigen. Hier scheinen andere Probleme die Feder der Rezensentin geführt zu haben als nüchterne Analyse. Fällt sie in die selbe Falle, in der sie die drei Autoren vermutet?
“Ich habe gezeigt, wie in der Blechtrommel mit ungeheurem Aufwand eine verzerrte virtuelle Welt entworfen wurde, um ein zentrales menschliches Thema, die Verführbarkeit des Ich, auszuschließen. Dadurch eliminierte der Deuter aus dem Bild genau das, was ihn an meisten betraf. Das Bild verlor sein emotionales Zentrum und geriet flach; das „Dritte Reich“ ist in dieser Darstellung nicht erlebbar, sondern nur als Chiffre vorhanden. Wer erfahren möchte, wie Faschismus funktionierte, der erfährt hier nichts. Die Blechtrommel ist kein Erkenntnistext, sondern ein Haltungstext: Sie demonstriert mit phantastischer Energie nur, dass Grass, als er sie schrieb, gegen den Faschismus war.“
(S. 168)?
Herr Grass: Setzen 6; Thema verfehlt!
Cui bono?
Wem nützen diese Überlegungen von Morsbach? Sie bieten als Dispositiv eine Hilfe, über Sprache und Erzählung nachzudenken.
Mit den oben zitierten Sätzen von Andersch bewertet sie unterschiedliche Schreibweisen: Der erste Satz: kurz, knapp, übersichtlich, nur die nötigen Informationen. Der zweite Satz: Verlangsamung, überflüssige Informationen, Selbstverständlichkeiten, Schachtelkonstruktion, umständliche Formulierungen, Inhaltsschwäche. Grund für diese Fehler ist die Flucht vor den Problemen, Flucht vor der Arbeit am Text. Durchgearbeitet heißt, es steckt Wahrheit drin. Es ist aber dies eine Wahrheit, geschliffen und gereinigt, sodass sie als Wahrheit nie Wirklichkeit sein kann, sondern ein Arbeitsprodukt, das durch die Mühlen bürokratischer Regeln geflossen ist. So könnte eine Erzählmaschine produzieren. Kurse für kreatives Schreiben werden sich gerne bei Morsbach bedienen.
Die Umwandlung von innerem Chaos in gefällige Literatur ist wirklichkeitsfremd, denn die meisten Menschen erzählen im Stile von psychisch belasteten Menschen, wie die drei Autoren in diesem Buch. Inwieweit die Arbeit an der Sprache und am Text in „heilt“, mag dahingestellt sein. Jedenfalls ist es eine Verengung auf Gefälligkeit und „Lesbarkeit“, die das Inkommensurable ausklammert oder verzaubert. Die Ganzheitlichkeit soll auf das, was sie als „Wahrheit“ und „Erkenntnis“ (vage) gekennzeichnet hat, reduziert werden.
Aber Literatur umfasst mehr als die Beachtung von Schreibratgeberliteratur, auch Klischees, Vorurteile, Wertungen, Gefühle, Abneigungen, Hass und Liebe gehören dazu. Wenn man den veröffentlichten, wenn das gelingt, in einen Text unterzubringen, hat man ein ungefiltertes Bild eines Seelen- und Geisteszustandes des Schreibenden. Und dann erst wird es spannend, nicht die bequeme Straße glatten Lesens zu gehen, sondern die Steinhaufen von Wörterungetümen zu erklimmen.
So ziehe ich mich denn zur Entspannung zurück und lese Zettels Traum von Arno Schmidt:
: Anna Muh-Muh !′ -

 

(›watered by a beautiful stream,
which bears the name of ISIS, the
divinity of the Nile & the Ceres of
the Egyptians‹. ( REC. WALSH ))​

Wir wollen geliebt werden und gestalten unsere Erzählungen so, dass dies uns möglich scheint.
Da kennt Frau Morsbach mich so viel wie ich sie,

lieber Wilhelm,

nämlich gar nicht. Und so wenig man alles wissen muss, muss man jeden kennen. Gleichwohl ist es ein Risiko, zu einer Buchbesprechung, dessen Muttertext, eben

„Warum Fräulein Laura freundlich war. Über die Wahrheit des Erzählens“
, dass ich weniger modisch chic und googlete als Blätter wälzte.

Der kürzeste Lexikoneintrag, den ich zu Morsbach gefunden hab (bei Bertelsmann), nennt neben persönlichen Daten drei Romane und dass Morsbach mit „lapidarem Humor“ vor allem „Alltagssituationen“ wie „das Frauenbild verschiedener Generationen“ darstelle. Sicherlich ist Frau Mosbach nicht die Singularbildung des Frauenbildes im Lexikonartikel anzulasten, selbst wenn eine schwarzgelbe K. Schröder noch einem älteren Frauenbild anhängt: Tatsächlich hat sich das Frauenbild von – um nur zwei Namen aus Großeltern und Enkelgeneration zu nennen - Hedwig Dohm (+ 1919) bis Alice Schwarzer (* 1942) selbst unter Rückschlägen stark gewandelt und bestehn doch alle Frauenbilder mehr oder weniger einträchtig nebeneinander, was uns schon mal einen Einblick in eine nicht gar so gelungene Darstellung einer Redaktion eines Lexikons gibt.

Der Titel der Reflexionen bringt auf den Nenner, was der Untertitel des besprochenen Werkes andeutet: dass es Frau Morsbach mit der Ethik halte (gut/schlecht, Wahrheit), was nun wieder in einem naturwissenschaftlichen Zeitalter der Wahrscheinlichkeiten religiös anmutet und sich zur fundamental(istisch)en Definition auswächst:

Für eine gute Erzählung setzt Morsbach ein
Zitat:
„möglichst präzises, unparteiisches, objektives Wahrnehmen und Erfassen unserer Wirklichkeit“
(S. 27) voraus,

was sehr nach der Erzählkunst des Polizeiberichtes klingt und eine langweilende Literatur gäbe. Da werden wir die Erzählungen der Bibel u. a. mit dem Attribut „schlecht“ versehen müssen.
Aber es gab tatsächlich eine Zeit, da das Erzählen demnach gut war!, und auch heute noch ist – in der Verwaltung, denn erzählen ist vom Ursprung her an der Zahl orientiert und im verzählen drängt es sich auf: Der Schreiber als Vorläufer dessen, der eine Schrift erstellt, war ein Verwaltungsangestellter/-beamter und die ersten Schriftzeichen waren Zahlen. Gezählt wurde das Vieh/Vermögen des/der Herr/i/n, kurz, es wurde Inventur gehalten und das Inventar festgestellt und niedergeschrieben. Noch die ersten schriftlichen Zeugnisse germanistischer Zunge, dem Gotischen, sprechen den Buchstaben Laut- und Zahlenwerte zu.
Der nächste Schritt in der schriftlichen Erzählung war dann das Loblied des/der Mächtigen und schließlich außergewöhnliche Ereignisse wie zB die Sintflut …

Doch zurück zur Definition der Frau Morsbach!, denn selbst die Wissenschaften relativieren Objektivität als Intrasubjektivität. Wahrnehmung ist immer schon ein bloßes für-wahr-Nehmen und wirklich ist nur, was auch wirkt. Das kann die Lüge oft besser als die „Wahrheit“ – wobei Lüge auch zu spalten ist, in das, wo ich um die Lüge weiß – also wider besserem Wissen falsch Zeugnis rede - oder es halt nicht besser weiß und somit unbewusst falsch Zeugnis rede, dem Lügner und dem Verlogenen.

Ich stelle mir besorgt die Frage, wie Literatur unter dieser Definition auszusehen habe: Witz und Ironie wären mit (Warn- und Gebrauchs-)Hinweisen zu versehen, der Satire werden die Zähne gezogen, schwarzer Humor weich- und weißgespült, Polemik verboten. Erzählen hätte eindeutig zu sein – wie eine mathematische Formel, der Schulaufsatz, die allgemeinverständliche und sofort eingängige umgangssprachliche Rede im Familien-/Freundes-/Bekanntenkreis nebst Lobgesang und Huldigung auf Vorgesetzte und die einem Toten angemessene Trauerrede. Erzählen fände zurück zu seinen Ursprüngen. Nunja, mit einer kaufmännischen Ausbildung lässt sich das bewältigen, denn trotz aller wirrtuellen und buchmäßigen Fortschritte wäre wenigstens einmal im Jahr die Inventur körperlich durchzuführen. Schwund und Diebstahl sind nun mal nicht kalkulierbare Größen.

Da lob ich mir doch die Kreter und ihren Epidemidis ...

Gruß

Friedel

 

Letzte Empfehlungen

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom