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Verwirrungen

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19.05.2008
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Verwirrungen

Von einem gewissen Punkt an
gibt es keine Rückkehr mehr.
Dieser Punkt ist zu erreichen.

Franz Kafka, Er​

Theos Liebe zu Leonie war das einzig Unlogische in seinem Leben. Er studierte im letzten Semester Mathematik. Morgens brauchte er exakt zweiundzwanzig Minuten im Bad. Für die sorgfältige Reinigung der Zahnzwischenräume und die Nassrasur, bei der er unter der Nase eine kleine Ausnahme machte. Wenn er früher fertig war, starrte er in den Spiegel. Manchmal linste dann Leonie ins Bad und sagte: „Wenn ich dein Spiegelbild schlucke, bist du nur noch ein Geist, Theo.“ Das machte ihm Angst. Alles, was er nicht verstand, machte ihm Angst. Auch Leonie. Sie konnte seine Gedanken nicht lesen, aber sie wusste, dass er beim Küssen darüber nachdachte, wie viel Prozent seiner Lippen Kontakt mit ihrer Zunge hatten, und sie mochte nicht, dass er solche Gedanken dachte, sie mochte den Schnurrbart nicht, der ihm ins Hirn zu wachsen schien, vor allem nicht, wenn es juckte oder kratzte oder er zu lange zwischen ihren Schenkeln blieb, sie mochte nicht, wenn er im Restaurant „Variabilitäten“ bestellte, sie mochte so vieles nicht an ihm, einiges hasste sie, abgründig sogar. Aber es war nicht die Summe von Eigenschaften, die sie liebte, sondern das, was Theo war.

Leonie war Aushilfe bei einer Prüfungsaufsicht, so wie sie Aushilfe in einer kuschligen Altstadtbar und einer Touristeninformation war. Sie wusste nicht, was geprüft wurde. Ihre einzige Aufgabe bestand darin, präsent zu sein, so dass möglichst wenige auf die Idee kamen, von ihrem Nachbarn zu kopieren. Theo war ihr sofort aufgefallen. Nicht etwa, weil er versucht hätte, abzuschreiben, sondern weil er den anderen jegliche Möglichkeit nahm, seine Lösungen einzusehen. Wie ein Sichtschutz aus Fleisch hockte er eingekeilt zwischen den Sitzreihen. Erahnte er einen Blick von der Seite, schaute er böse um sich. Dabei durfte er keine Zeit verlieren. Er schrieb immerfort, auch ohne hinzusehen. Die Tinte fraß sich in den Zellstoff, der auf dem viel zu kleinen Pult vor ihm lag.
Leonie konnte ihren Blick nicht von diesem (für sie) Irren abwenden. Sie versagte in ihrer einzigen Aufgabe. Leonie hörte auf, präsent zu sein, und weil der Professor sich hinter einer Zeitung vergraben hatte, begannen sich die Prüflinge erst leise, dann immer unverschämter auszutauschen, bis am Ende jeder seine Lösungen mit den anderen verglichen hatte, und sich die meisten bereits beim Hinausgehen, als sie ihre Arbeit neben die Zeitung des Professors legten, eines sehr guten Ergebnisses sicher waren. Bloß einer scheiterte an der Prüfung: Theo. Es mangelte ihm nicht an Wissen. Er war bestens vorbereitet gewesen, vermutlich hätte er die Arbeit eine Viertelstunde vor Prüfungsschluss fast fehlerfrei abgeben können. Aber er hatte sich die ganze Prüfung über wahnsinnig beobachtet gefühlt. Theo konnte sich nicht konzentrieren. Leonies Blicke zogen ihn aus dem Moment, und auch er hörte auf, präsent zu sein. Sie waren beide irgendwo anders, und so sehr er sich auch anstrengte, die Formeln langsam anzudenken, zerbrachen sie beim Rechnen und schlussendlich lagen sie falsch herum auf dem Papier. Zur Wiederholung hatte er sich abgemeldet und auf das Unverständnis des Professors hin erwiderte er nur:
„Ich bin beschäftigt.“
„Mit was denn?“
„Es hat, glaube ich, mit Gefühlen zu tun.“
„Gefühle? Ich erkenne Sie gar nicht wieder, Herr Liebknecht! Gefühle sind unberechenbar.“

Er strich das Wort „Regelstudienzeit“, riss ein paar Blätter aus einem Notizheft, kugelte sie zusammen und warf sie in dem Zimmer umher. Es war klein genug, um jedes Ziel sicher treffen zu können. Ein Papierkügelchen schmiss er in den Pokal, den er damals bei den Mathematiklandesmeisterschaften gewonnen hatte. Er fischte das Papier wieder heraus und fragte sich, warum er niemals aus dem Pokal getrunken hatte. Rotwein oder Bier. Das Bett betrachtete er mit einem verwandten Gedanken. Hatte er es nie vermisst, dass jemand bei ihm schlief, weil es gar nicht für zwei gemacht war, weil dieses Bett das Bett eines Einsamen war? Theo schaute aus dem Fenster und sah, wie sich zwei Vögel in die Tiefe stürzten. Er wollte das gar nicht sehen und er wollte auch nichts in Frage stellen, er wollte einfach dasitzen, mit einer leisen Konzentration in einem Buch lesen, sich später schlafen legen, um am nächsten Tag einen ähnlichen Tag zu leben. Ihm war, als hätte jemand einen Fremdkörper in das Zahnrädchenwerk seiner Gedanken geschoben.

Einige Tage später begegneten sich Leonie und Theo in einer Einkaufsstraße. Sie brauchte mehr von der grünen Ölfarbe, die sie so verschwenderisch in ihre Bilder kleckerte; er wollte die Solarfunktion seines Taschenrechners reparieren lassen. Es war kein allzu großer Zufall, denn die beiden waren schon dutzende Male aneinander vorbeigelaufen, doch war Leonies Gesicht für Theo nur irgendein Gesicht gewesen, und umgekehrt. Aber jetzt war Leonies Gesicht das Gesicht des Bösen, des Untergangs, des unabwendbaren Chaos in seinem geordneten Leben. Er packte sie am Arm, etwas zu grob vielleicht, denn er spürte, wie der Muskel seinen Fingern wich. „Du bist schuld an allem“, sagte Theo. Er lockerte seinen Griff, ließ ganz von ihr ab und wäre am liebsten in die vorbeifahrende Bahn gesprungen, weg von ihr. „Du auch“, sagte Leonie und pflückte die Faltennarbe, die sein unfeiner Griff auf dem Stoff hinterlassen hatte, aus dem Trenchcoat.

Stille.

Unzählige Menschen drängten an dem Gegenüber, dem Gegeneinander oder Aneinander der beiden vorbei. Ein kleiner Junge schrie mit einer Mädchenstimme nach seiner Mutter, die mit zwei Bauarbeitern sprach, die nicht arbeiteten, sondern etwas tranken, lachten und Radiomusik hörten, nicht laut, aber doch deutlich hörbar, wie das Quietschen von Fahrradreifen auf dem Fußgängerweg, oder die hallenden Geräusche der Bahn in der Ferne. Feinstaub hing in der Luft und jedes Körnchen schien seinen eignen, winzigen Lärm zu machen, aber Theo und Leonie standen nicht in diesem Lärm, sie standen daneben. Sie standen in der Stille und schauten sich an. Wie zwei Fragezeichen, denen man den Punkt weggezogen hatte.

Dann hatte er Leonie nach ihrem Namen gefragt, um dieses Phänomen zu benennen, dieses grauenhafte An-nichts-anderes-denken-können. Es war keine Liebe auf den ersten Blick gewesen, sondern eine Verwirrung. Zuvor saß Theo in seinem Zimmerchen und bastelte an Algorithmen, während Leonie an einem Auftragsgemälde arbeitete, und obwohl der Kunde seine Phantasie recht präzise beschrieben hatte, klaffte auf der Leinwand tödliches Nichts, umtanzt von der Vorstellung, ein Aktbild von Theo zu zeichnen. Sie fragte ihn, ob sie ihn zeichnen dürfe und er sagte, er könne es sich ja mal ansehen. So kam es, dass er wenige Augenblicke später, bis auf einen kaputten Taschenrechner unbekleidet, in ihrer Wohnung stand. Leonie beeilte sich, weil sie die Gänsehaut auf Theos Körper bemerkte. Mit schnellem Pinsel übersetzte sie Theo in etwas Zweidimensionales. Sie kritzelte seine breiten Schultern und das bisschen Bauch, den aus dem Bauch fallenden Nabel, die Schamhärchen und sein schüchtern verschrumpeltes Geschlecht, die Augen, die grün leuchteten, als hätte er sie zuvor in grüne Farbe getunkt, nur beim Schnurrbart log sie. „Das ist falsch“, sagte Theo als er ihr Werk beäugte. „Ich dachte, ihr Künstler stilisiert, erhöht, verschönert. Das da ist ja ein Spiegel-Ich. Eines ohne Bart.“ Leonie verstand das als Kompliment und kicherte sich die Wangen rot. Dann stieg sie aus ihrem Kleidchen und stellte sich nackt vor Theo auf, unantastbar, wie eine Plastik im Museum. So lautete der Deal.
„Ich zeig dir meins, du zeigst mir deins, wie im Kindergarten“, hatte Theo gemeint, bevor er sich die Hose ausgezogen hatte. „Willst du mich auch malen?“, fragte Leonie. „Jeder Pinselstrich wäre eine Beleidigung“, sagte Theo, der seine Erregung in den Klamotten versteckte, die er vom Boden gesammelt hatte. Ihre zarte Haut umspannte den Körper wie eine Leinwand, auf die bis auf ein paar Muttermale nichts gemalt worden war. Das dunkelblonde Haar reichte ihr an die Brust, konnte die leicht schielenden Brustwarzen jedoch nicht verdecken. Tiefer wollte Theo gar nicht tasten mit seinen Blicken. Aus Höflichkeit und aus Angst. Sie versteckte sich hinter dem Aktbild von Theo, weil sie nicht wollte, dass er ihr beim Anziehen zuguckte. Hastig flüchtete auch er zurück in seine Kleidung, die nach Kreide und Zigaretten roch. Er stolperte zur Wohnungstür und als er sich umdrehte, pappte Leonie ihm einen Kuss ins Gesicht. Dass sein erster Kuss mit einem Mädchen, mit diesem Mädchen, diesem Ungeheuer namens Leonie, ein Abschiedskuss war, störte ihn nicht. Beim Glückssprung auf dem Nachhauseweg hätte er sich beinah den Fuß verstaucht.

Sie wiederholten das nie. Sprachen auch nicht darüber. Leonie und Theo gehörten nicht zu den Menschen, die „Kannst du dich daran erinnern?“ sagten. Sie begriffen Erinnerungen als eine Art Decke, auf der man sitzen oder unter der man kuscheln konnte; etwas, das die Macht besaß, zwei Menschen miteinander zu verbinden, unsichtbar, fast unterbewusst. Ein Händchenhalten der Vergangenheiten.

Theo hatte Leonie nicht nach ihrer Nummer gefragt und so konnten sie nicht miteinander über die nächste und übernächste, die danachnächste und daraufnächste Begegnung sprechen. Aber er hatte sich gemerkt, wo sie wohnte, und stand am folgenden Tag vor dem Klingelbrett. Es war ein hochgewachsenes Gebäude. Acht Stockwerke zählte Theo, und auf das geöffnete Fenster, aus dem Leonies suizidale Blume lehnte, konnte er deuten. Obwohl er wusste, dass sich ihre Wohnung in der fünften Etage befand und dass ihr Name Leonie war, konnte er sie keinem Nachnamen zuordnen.

Rosentreter
Grüblich
Mai the Huy
Hedderoth
Sokolowski
Kindermann
Sternthal

In Gedanken ergänzte er jeden Namen mit Leonie. Leonie Rosentreter. Leonie Grüblich. Leonie May the Huy. Das klang sehr falsch. So konnte sie unmöglich heißen. Sokolowksi mochte ihm auch nicht passen, sie hatte nichts Osteuropäisches an sich. Auch wenn das eine Milchmädchenrechnung war, fand er Sternthal am schönsten. Leonie Sternthal. So musste ihr voller Name lauten. Es klingelte. Gespannt hoffte er auf ihre Stimme. Es meldete sich ein alter Mann, jedenfalls klang er abgenutzt und rauchig, so wie kein junger Mensch klingen konnte.

„Hallo?“
„Ich suche eine Leonie. Wissen sie zufällig, bei welchem Namen ich klingeln muss?“
„Hier wohnt keine Leonie.“
„Doch, sie wohnt hier ganz gewiss.“
Danach verstummte die Sprechanlage. Kurz überlegte Theo, ob er alle Namen probieren sollte, aber er entschied sich für eine etwas ältere Variante. Theo begab sich auf die andere Straßenseite, formte seine Hände zu einem Trichter und richtete diesen auf das geöffnete Fenster im fünften Stock. „LEONIE!?“ Es gelang ihm, sowohl das Ausrufezeichen als auch das Fragezeichen zusammen mit dem Schrei durch ihr Fenster zu werfen.

„Verschwinde endlich!“

Der alte Sternthal, der aus einem Fenster im dritten Stock lehnte, fuchtelte wild mit dem Telefon und musste seine Brille immer wieder zurück auf die Nase schieben, weil sie herunterzufallen drohte. Nun beugte sich auch Leonie aus dem Fenster.

„Herr Sternthal, es ist alles in Ordnung!“
„Belästigt sie der junge Mann?“, fragte der immer noch verärgerte Greis, nachdem er seinen Kopf mit einer rostigen Bewegung schräg nach oben gedreht hatte.
„Ja“, antworte Leonie. „Aber es ist eine schöne Belästigung!“

Daraufhin schloss der Mann das Fenster und verzog sich. „Ich komme runter“, rief Leonie und während Theo auf sie wartete, überlegte er sich Gründe für sein Kommen, die er ihr nennen konnte. Als sich die Türe öffnete und Leonie heraus schlüpfte, hatte er einen Grund gefunden, bloß war ihm die Formulierung abhandengekommen. Sie gingen aufeinander zu und trafen sich mitten auf der Straße. Ein Auto hupte. Zweimal. Sie wichen aus und gaben sich die Hand. Weil das komisch war, umarmten sie sich, und beide verliehen der Umarmung einen leichten Druck, aber weil sich das immer noch komisch anfühlte, berührten sich ihre Lippen, zu kurz, um es Kuss nennen zu können. Ein Küsschen.

„Ich wollte dich fragen“, stammelte Theo, „wie viel du kostest.“
Leonie lächelte. „Wie bitte?“
„Ich meine, wie viel du willst, damit du mir …“
„Jaaa …?“
„Ein Bild malst.“
Sie schüttelte den Kopf.
„Das kommt ganz darauf an, welches Format, welches Motiv, wie aufwendig das alles ist, welche Farben du möchtest.“
„Das ist mir alles egal. Ich will nur, dass du mir ein Bild malst. Irgendeines. Nenn mir einen Preis!“
„Ich weiß es nicht. Zweihundert Euro?“
„Das ist dein Freundschaftspreis?“
„Nein! Wir sind keine Freunde. Ich kann dir doch keinen Freundschaftspreis geben. Du musst zahlen, wie jeder andere Kunde auch. Du bist sogar ein schwieriger Kunde, weil du nicht weißt, was du willst. Wenn Kunden sagen, was sie wollen, ist es viel leichter. Stell dir vor, du gehst ins Restaurant und bestellst etwas zu Essen. Was denkst du, bringen die dir?“
„Irgendetwas. Vielleicht ein Gericht, das sie irrtümlich zu viel gekocht haben.“
„Du meinst, ich soll dir ein Bild verkaufen, das ein Kunde nicht abgeholt hat?“
„Nein! Du musst das schon für mich malen.“
„Aber du würdest etwas essen, das für einen anderen gekocht wurde?“
„Das schmeckt man ja nicht.“
„Dem Bild siehst du auch nicht an, ob ich es für dich gemalt habe.“
„Ich glaube schon.“
„Du hast doch keine Ahnung!“
„Stimmt“, sagte er.
Dann fügte er hinzu: „Also zweihundert?“´
„Einverstanden“, sagte sie und ging die Straße entlang.

„Wohin gehen wir?“, fragte er.
„Ist das so wichtig?“, fragte sie.
„Nein“, log Theo.

Sie gingen in den Stadtpark. Eine Gruppe Akrobaten simulierte mit Holzstäben einen Feuertanz. Eine ältere Dame bückte sich nach dem Haufen, den ihr kleiner Hund auf die Grenze zwischen Kies und Wiese geschissen hatte. Ein Junge stellte ein Papierboot in den kleinen Bach, der das Grün zerschnitt und sich unter zahlreichen Brückchen hindurch schlängelte.
„Was malst du eigentlich so?“, fragte Theo.
„Ich male alles, so wie es ist. So wie es wirklich ist“, sagte Leonie.
„Wie würdest du diesen Bach malen?“
„Wenn ich solche Bäche sehe, mit diesem gelben Wasser, dann muss ich immer daran denken, wie die Welt aussähe, wenn die Kanalisation oberflächlich verliefe.“
„Kein schöner Gedanke.“
„Nein.“
„Und wie würdest du die Akrobaten malen?“
„Ich würde denen Flammen an die Holzstückchen malen. Vielleicht den ganzen Park in Brand setzen, in ein ungefährliches Feuer, das man bestaunen, in dem man aber nicht verbrennen kann.“
„Und warum hast du mir keinen Schnurrbart gemalt?“
„Weil ich den fürchterlich finde“, sagte Leonie.

Ein anderes Mal brachte Theo ihr Blumen, aber sie schmiss sie in den Müllcontainer im Innenhof und sagte bloß: „Blumen mag ich nicht.“ Sie hielten nie Händchen und solange sich ihre Münder nicht berührten, wäre niemand auf die Idee gekommen, dass die beiden ein Paar waren. Selbst sprachen sie nicht darüber. Vielleicht dachte sie sich etwas dabei, wenn sie ihn küsste oder anschaute, vielleicht dachte auch er sich etwas dabei. Sie waren; aber was, sagten sie nicht. Sie trafen sich in Museen, Leonie erzählte ihm etwas über Kunst, über Andy Warhol, und was er gesagt hat über sich, dass jemand, der alles wissen will über ihn, nur die Oberfläche anzusehen braucht, die seiner Bilder und Filme und von sich - das sei er.
Da wäre nichts dahinter. Theo schaute Leonie ins Gesicht, auf die leise Andeutung von Sommersprossen, die kleine Narbe an ihrer Lippe, deren Geschichte er nicht kannte, das Lächeln, denn irgendwie hatte Leonie keinen Mund, sondern ein Lächeln, und in ihre Augen, die so aussahen, als könnte man mit ihnen mehr sehen. Er versuchte, dahinter zu gucken, hinter die Oberfläche, aber er sah nichts, und es machte ihm Angst, dass dort wirklich nichts sein könnte. Oder etwas, das er nicht verstand. Er spürte nur etwas. Etwas ganz und gar Undefinierbares. Dann wurde ihm schlecht. Leonie setzte sich zu ihm und kraulte seinen Rücken. Hinter ihnen hingen Gemälde von Breton und Yves Tanguy, die tief genug waren, um hineinfallen zu können, aber an diesem Tag fielen sie nicht. Sie saßen und als es Theo wieder besser ging, knutschten sie „surrealistisch“, wie Leonie Zungenküssen nannte. Sie biss ihm die Lippen blutig, und als er sie fragend und auch ein bisschen erschrocken anguckte, sagte sie bloß: „Sonst schmeckt das ja nach nichts.“

Theo gelang es, seine Vorlesungen wieder regelmäßig zu besuchen. Auch, weil in der Stadt viel los war und Leonie viel in der Bar aushelfen musste. Eines Tages setzte sich Leonie mit ihm in den Hörsaal, aber was der Professor an die Tafel klatschte, verursachte ein nervöses Zucken an ihrem Augenlid. Sie versuchte einzutauchen in die Logik, in die Choreographie aus Formeln und Zahlen, aber ihre Gedanken stolperten vorbei. Einmal hatte ihr Theo von „Primzahlzwillingen“ erzählt. Primzahlen, mit einem Abstand von zwei. 11 und 13 waren solch ein Pärchen. Aber je größer die Zahlenwerte wurden, desto seltener wurden Primzahlen. Umso überraschender war das Phänomen, dass auch bei wirklich großen Zahlen, immer wieder solche Primzahlzwillinge vorkamen. 1.000.037 und 1.000.039, beispielsweise. Leonie mochte diesen Gedanken, aber mehr aus einer romantischen, weniger aus einer mathematischen Sicht.
„Ich habe übrigens dein Aktbild verkauft“, sagte Leonie.
Theo biss auf den Stift, auf den er zuvor geknabbert hatte.
„An wen?“
„An meine Großmutter. Die hat mich neulich besucht und war ganz begeistert gewesen von dem Bild.“
„Du hast ein Nacktbild von mir an deine Oma verkauft?“, fragte Theo.
„Das klingt echt komisch“, gab Leonie zu. „Aber sie hat mir tausend Euro dafür gegeben, weil ich mich anfangs gesträubt habe. Dann habe ich mich gesträubt, so eine hohe Summe von ihr anzunehmen, aber mehr aus Höflichkeit.“
„1.000 Euro für eine Kohlezeichnung?“
„Ich habe es noch einmal gemalt. Mit Öl.“
„Wunderbar! Jetzt hänge ich nackt im Wohnzimmer deiner Oma und all deine Verwandten betrachten mich, während sie aus einer Tasse Tee schlürfen und Kekse mampfen.“
„Ich hatte nicht mehr genügend Grün für deine Augen. Hab stattdessen blau genommen. Die würden dich nie wiedererkennen“, lächelte Leonie.
„Dafür bekomme ich mein Bild umsonst“, sagte Theo.
„Okay“, sagte Leonie. Ganz leise. Denn das Bild existierte schon. Trotzdem sagte sie ihm immer, dass es noch nicht ganz fertig sei, dass sie noch ein bisschen Zeit bräuchte. Es war ihr perfekt gelungen. Sie konnte ihre Gedanken und Phantasien mit den Farben vermischen und alles auf die Leinwand bringen. Alles, was sie in Theo sah oder für ihn fühlte. Dass es das Beste war, was sie je gemalt hatte, wollte sie weder behaupten noch glauben. Sie versteckte es vor ihm. Und vor sich selbst.

„Ich habe zwar ein kleines Bett“, sagte Theo. „Aber wenn du möchtest, kannst du einmal bei mir schlafen.“
Darauf sagte Leonie nichts. Das war das Ende ihres fünfundzwanzigsten Treffens. Theo zählte mit. Sie hatten sich oft geküsst, sich nackt gesehen, nackt berührt, aber miteinander geschlafen hatten sie noch nicht. Theo war siebenundzwanzig und hatte noch überhaupt nie mit irgendjemandem geschlafen. Leonie schon. Mit wem und mit wie vielen Wems sagte sie nicht. Ein Professor von Theo meinte einmal zu ihm: „Sobald du deinen Schwanz in sie steckst, sind die Gefühle weg.“ Das ließ er lange Zeit unangefochten in seinem Weltbild stehen. Doch als an jenem Abend Leonie an seiner Tür klopfte und sie sich schon im Flur nahe kamen, weil es eine Notwendigkeit der Architektur war, genauso wie sie das dünne Bett zwang, eng aneinander zu liegen, und als er ihr die Jeans von den Beinen streifte und ihr den Pullover über den Kopf zog, als er den BH mit ungeschickten Bewegungen öffnete und sie zusammenzuckte, weil der Schnurrbart an ihrer Brust kratzte, als sie sich den Slip auszog und auch er endlich nackt war, als er sich zwischen ihre Beine schob, als er ihre Schamlippen berührte, nicht mit dem Mund oder den Fingern, als sie anfing, sich mit dem Becken gegen ihn zu stemmen, als sie einen gemeinsamen Rhythmus gefunden hatten, sie leise begann, zu stöhnen, und sich hin und wieder die Schweißperlen von der Brust wischte, die Theo von der Stirn tropften, als sie sich auf dem Studentenbett liebten, war alles sinnvoll und logisch und die Gefühle, die hätten verschwinden sollen, blühten.

Auch Monate später waren die Gefühle nicht weg. Es waren andere, aber es waren Gefühle. „Ich habe Gefühle“, sagte Theo, als handle es sich um eine ansteckende Krankheit. Theo wollte wissen, was genau das jetzt war mit ihnen. Leonie wischte sich das Lächeln aus dem Gesicht, trat sich die Füße blutig in den Scherben, weil sich Theo seit kurzem ständig den Kopf zerbrach. Über sie und sich und über das, was sie waren, wenn sie zusammen waren, und was sie blieben, wenn sie etwas trennte. Wenn Theo von „uns“ sprach, flüchteten ihre Lippen schnell an seine. Sie wollte nicht, dass er ihnen ein Namensschild umhängte, eine Erklärung; wie er alles betitelte und untertitelte, um manchmal das Dahinter oder Darüber zu übersehen. Sie wollte etwas anderes, etwas Verbindendes. Etwas, das sie zusammen verwirrte.

„Lass uns zusammen träumen“, sagte Leonie.
„Wie meinst du das?“, fragte Theo.
„Zusammen in einem Traum sein. Demselben Traum.“
„Das ist unmöglich“
„Hast du es je versucht?“
„Es ist trotzdem unmöglich.“
„Lass uns es trotzdem versuchen.“
„Okay“, sagte Theo. „Und wie machen wir das?“
„Wir hören Musik. Leise, so dass wir nicht aufwachen, wenn wir schlafen, aber so, dass wir gemeinsam in einen Schlaf schlüpfen können. Wir liegen ganz nah aneinander und du versuchst im Traum, mich zu finden, und ich dich, und wenn wir uns gefunden haben, träumen wir miteinander.“
„Können wir vorher miteinander schlafen?“, fragte er.

Ein paar Atemzüge nach Theo schlief auch Leonie ein. Die Musik hatten sie vergessen. Theo war in irgendeiner Bar und die Leute spuckten Kaffee in einen Becher und reichten ihn an ihren Nachbarn weiter, der ihn trank und wieder in einen Becher spuckte, und so weiter und so fort. Er suchte nach Leonie, bis ihm auffiel, dass alle Frauen ihr Gesicht hatten. Als er ihren Namen rief, fühlten sich alle angesprochen und schauten erschrocken im Raum umher. Welche Leonie war seine Leonie? Er setzte sich zu einer an den Tisch und begrüßte sie. Ihre Stimme war verzerrt und die Narbe an ihrer Lippe fehlte. Aus diesem Grund setzte er sich zu einer anderen Leonie, aber auch die war nicht ganz echt. Die Narbe war auf der falschen Seite und er fragte sie: „Bist du du?“
„Nein“, sagte sie, spuckte Kaffee in den Becher und reichte ihn Theo.
„Nein, Danke!“
„Du musst!“, sagte sie. „Sonst fallen wir auf.“ „Leonie?“
„Psst!“
Er nahm den Becher und trank. Zum Glück schmeckte er nichts. Eine Leonie, die hinter ihm saß, stupste ihn an und forderte den Becher. Theo hatte den Kaffee aber geschluckt und konnte nichts zurück in den Becher spucken. Jene Leonie, die ihm gegenübersaß, beugte sich über den Tisch und küsste ihn, küsste ihn, küsste ihn. Er war aufgewacht und Leonie saß wie ein Mädchen neben ihm, das Geburtstag hatte und wegen der Geschenke früher aufgestanden war als sonst.
„Und?“, fragte sie ihn. „Hat es geklappt?“
„Ich weiß nicht. Ich war in einer Bar.“
„Ich auch!“, schrie Leonie. Theo setzte sich auf.
„Du hast mir Kaffee in den Becher gespuckt und ich habe es getrunken.“
„Nein!“ Leonie schüttelte angewidert den Kopf. „Wir haben Pfirsichnektar getrunken.“
„Was träumst du auch von Pfirsichnektar! So etwas gibt es in meiner Welt nicht. Auch nicht im Traum.“ Theo war ein bisschen enttäuscht, aber es freute, nein, beruhigte ihn, dass es nicht möglich war.

Sie wiederholten diese Zeremonie nicht. Aber sie tauschten sich aus über die Träume, die sie träumten, und vielleicht waren sie zufällig in denselben Traum geraten. Manchmal war es ihm unangenehm, den wahren Hergang seines Traumes zu schildern. Auch weil er wiederholt pornographische Leonieabenteuer träumte. Im Laufe der Zeit nahmen sie seine Erzählungen als eine Art literarisches Vorspiel, und Leonie fand sogar großes Gefallen daran. Sie hingegen verschwieg ihre Träume oder log sie langweilig, so dass Theo jegliches Interesse an ihrer Schlafwelt verloren hatte.
„Letzte Nacht habe ich etwas total Verstörendes geträumt“, sagte Theo. „Wir waren in deiner Wohnung, die ganzen Bilder waren zerschnitten, an der Wand stand irgendetwas geschrieben, ich kann mich nicht mehr genau erinnern. Jedenfalls standest du da in deinem grünen Kleid, es war von Ölfarben beschmiert. Anfangs habe ich gedacht, du blutest, aber es war nur Farbe. Du hast nichts gesagt. Du standest einfach da und hast mich angeschaut und als ich einen Schritt auf dich zugegangen bin, hast du dich zum Fenster gestürzt. ‚Du wirst mich nie einholen‘, hast du gesagt und bist gesprungen.“ Leonie bekam Nasenbluten. Das Lächeln aus ihrem Gesicht verschwand und sie wurde ganz bleich. Richtig kalt sah sie aus in diesem Moment. „Es tut mir leid“, sagte Theo. „Ich hätte dir das nicht erzählen dürfen.“ Leonie schwieg. Sie starrte ins Leere. Theo brachte ihr ein Taschentuch, damit sie sich das Blut aus dem Gesicht wischen konnte. „An der Wand stand HAPPY END“, sagte sie. „Wir hatten den gleichen Traum.“

*

Theo hatte inzwischen sein Mathematikstudium abgeschlossen. Er war Mathematiker und wusste nicht, was er damit anfangen sollte. Der Logik und den Gesetzmäßigkeiten traute er immer weniger, manchmal misstraute er ihnen sogar. Statt eine Formel einfach anzuwenden, leitete er sie aufwendig her, damit er sich sicher sein konnte, dass sie stimmte. An einige namhafte Versicherungen hatte er Bewerbungen geschickt. In den Monaten des Wartens arbeitete er an einem Programm, das Gedichte schreiben sollte. Er fragte Leonie, welche Dichter ihr am besten gefielen, denn er selbst kannte nur Goethe und Schiller. Die Namen, die Leonie aufzählte, sagten ihm alle nichts, also bat er sie, ihm einige Gedichte zu geben, die sie gut fand. Nach ein paar Wochen gelang es seinem Programm, metrisch einwandfreie Reime zu produzieren, die jedoch inhaltlich keinen Sinn ergaben, aber immerhin grammatikalisch in Ordnung waren. Zwei Gedichte gefielen Leonie sogar. „Bin auf Sehnsucht nach dir“ und „Zusammenfallen“. Als ihm eine Versicherung zusagte, ließ er vom Programm ab und berechnete von nun an Wahrscheinlichkeiten und Beiträge für Lebensversicherungen. „Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Mensch stirbt“, sagte er zu Leonie, „beträgt 100%. Der Zeitpunkt des Todes ist entscheidend und der lässt sich erschreckend genau vorhersagen. Statistisch gesehen natürlich.“
„Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass wir beide zum gleichen Zeitpunkt sterben?“
„Wir besitzen kein Auto, gehen Berufen nach, die auf der Risikoskala nicht einmal einen Score erreichen, eine Schachtel Zigaretten reicht uns das ganze Jahr, das ist wichtig, weil Raucher häufiger bei einem Unfall sterben als Nichtraucher. Unsere Herzen schlagen zuverlässig und haben nicht vor, stehenzubleiben oder uns in den nächsten Jahren ein Gerinnsel ins Hirn zu pumpen. Die Wahrscheinlichkeit, in den nächsten fünf Jahren bei einem Unfall zu sterben, liegt bei weniger als fünf Prozent. Berücksichtigen wir nur die Zeit, in der wir zusammen verunglücken könnten, geht die Wahrscheinlichkeit gegen Null.“ Leonie hatte gespannt zugehört. „Also werden wir nicht zusammen sterben?“
„Eher nicht.“
„Findest du das komisch?“
„Nein. Das ist natürlich.“
„Aber wenn du früher oder später stirbst als ich, sind wir nicht mehr zusammen.“
„Wenn wir zum gleichen Zeitpunkt sterben, sind wir auch nicht mehr zusammen.“
„Ich glaube schon. Ich bin mir sogar ziemlich sicher.“
„Wieso?“
„Ich glaube, dass es etwas nach dem Tod gibt. Etwas Schönes sogar. Man ist dort bloß am Anfang allein. Die Seele muss von hier nach dort wandern. Aber wenn zwei Seelen im gleichen Moment wandern, ist man zusammen. Dann ist man auch nach dem Tod nicht getrennt.“
„Ich weiß nicht so recht.“
„Der Tod ist unlogisch, Theo. Genau wie die Liebe.“
„Schon möglich.“
„Lass uns ein Versprechen machen“, sagte Leonie.
„Wenn jemand von uns stirbt, bringt sich der andere um. Damit wir im Tod zusammen sein können. Es darf nur wenig Zeit verstreichen, denn wohin die Seelen fliegen, und wie schnell, weiß niemand.“ Theo schluckte. „Vorausgesetzt wir haben keine Kinder“, fügte Leonie hinzu.
„Das ist Wahnsinn!“, sagte Theo.
„Es ist, was es ist“, sagte Leonie.

Die Schmetterlinge im Bauch puppten sich ein. Gefühle wachsen nicht, sie verändern sich, schlagen tiefe Wurzeln, graben sich in einen Charakter, bis das Gefühl zu einem dazugehört. So gehörte die Liebe zu Leonie genauso zu Theo wie sein Schnurrbart, den er immer noch trug. Als letztes, leises Nein gegenüber Leonie. Sie zogen nicht zusammen, aber er verkaufte sein Bett und schlief immer bei ihr. Als sie mit zwei Freundinnen für ein Kunstprojekt nach Kroatien geflogen war, dort Steine suchte und in den Steinen nach Figuren, und an einem Tauchunterricht teilnahm, saß er alleine in ihrer Wohnung, hatte aus ihrer Tasse getrunken, auch diesen bitteren Kräutertee, den er beim ersten Mal ausgespuckt hatte. Er hatte auf der Seite des Bettes geschlafen, auf der sie immer lag und die warme Stelle vermisst. Einmal hatte er sogar ein wenig Farbe auf die Leinwand gekleckert, und indem er sie nachspielte, war sie ein bisschen bei ihm. Diese Sehnsucht gefiel ihm, weil es ein Gefühl war, das er noch nie zuvor gefühlt hatte, und weil er wusste, dass dieses seltsam schöne Gefühl bloß ein Nebengefühl war. Eine Nebenwirkung der Verwirrung zu Leonie. Aber ein Gedanke machte ihn verrückt. Während er in der Arbeit saß und mit seinem Vorgesetzten über eine Erhöhung der Beiträge stritt oder mit einem Mathematikfreund ein Bierchen trank oder allein einen Pornofilm guckte, während er irgendetwas tat, so, als wäre nichts Sonderbares geschehen, konnte Leonie tot sein. Er könnte über einen schlechten Witz seines Kollegen lachen und Leonie wäre tot. Leonie wäre tot und er würde weiterleben, als wäre alles normal. Als würde sie in ein paar Tagen zurückkehren. Dabei wäre sie weg. Unerreichbar.

„Das ist doch kindisch“, sagte Mira, eine von Leonies erfolgreicheren Künstlerfreundinnen, „so ein Versprechen. Du glaubst doch nicht ernsthaft, dass sich Theo umbringt, bloß weil du tot bist. Und wenn du dich umbringst, wenn dieser Freak stirbt, bist du hoffnungslos dumm.“
„Mag sein“, sagte Leonie. „Du kannst ja dafür sorgen, dass er sich umbringt, wenn es soweit ist.“
Leonies Handy klingelte. Sie ließ es läuten. Dann wandten sie sich wieder dem Projekt zu, sie mussten sich beeilen, denn nachmittags wollten sie tauchen.

Theo ging durch die Wohnung. Er glaubte, die nassen Spuren zu sehen, die sie hinterlassen hatte, nachdem sie das letzte Mal aus der Dusche gestiegen war. Er folgte den Spuren. Sie führten ihn zu ihrem Kleiderschrank. Er öffnete ihn und sah die vielen Kleider und Röcke. Er sah sie, wie sie mit dem Lächeln über Wasserpfützen sprang, wie er mit einem Pinsel nach ihr warf und ihr das Kleid danach noch besser gefiel oder wie ihre Kleidung auf dem Boden lag und sie auf ihm. Theo griff nach ihrem Lieblingsschal, den sie selten, aber schon seit er sie kannte, umhatte, und tauchte seine Nase in den dunkelbunten Stoff. Er atmete sie. Nach diesem Atemzug stand sie kurz neben ihm, hatte ihren Kopf an seine Schulter gelehnt. Sie war ganz nah bei ihm, er konnte ihr Haar an seinem Hals spüren, und diese unsichtbare Anwesenheit von Leonie erschreckte ihn so sehr, dass er den Schal fallen ließ. Er bückte sich nach ihm, weil er sie noch einmal heraufbeschwören wollte, weil er sie riechen wollte, weil er diesen Duft nicht beschreiben und sich nicht an ihn erinnern konnte, sobald er aus seiner Nase verschwunden war. Aber als er sich nach dem Schal bückte, erblickte er eine Leinwand, die hinter dem Schrank lehnte, ummantelt von einem braunen Tuch. Theo schob den Schrank ein Stück nach vorne. Er zog das Bild hervor und lehnte es an die Wand. Dann befreite er es von seiner Verkleidung. Es war jenes Bild, das Leonie ihm von Anfang an versprochen, das sie sehr bald gemalt, ihm aber nie gezeigt hatte.

Auf dem Bild waren Theo und Leonie zu sehen. In der Dunkelheit waren sie nicht viel mehr als zwei Schatten. Er lag auf dem Boden, grau, bis auf das Grün seiner Iris. Sie lehnte an dem Bett, trug ein Kleid aus Blut. Beide waren tot. Das Bild stand wie ein Spiegel an der Wand. Bloß zeigte es nicht das Jetzt. Trotz der Sonne, die ins Schlafzimmer schien, war es nicht hell und nicht warm. Je länger Theo auf das Bild starrte, desto realer wirkte es. Am Ende spürte er den giften Geschmack von Ölfarbe auf seinen Lippen. Er versuchte, sich mit der Hand über den Mund zu wischen, aber seine Finger zerliefen und blieben als schwarze Rinnsale in seinem Gesicht kleben. Sein Schrei schrumpfte zu einem Blubbern. Dann fiel er.

*

„Warum willst du uns umbringen?“, fragte Theo, als er Leonie vom Flughafen abholte. Sie trug ein braunes Kleid. Die Sonne hatte sich auf Leonies Haut gedrückt und er hatte ganz vergessen, wie verzaubernd ihr Lächeln aussah, selbst wenn es in Momenten wie diesen zurückzuckte.
„Ich will niemanden umbringen“, sagte Leonie. Und nachdem sie von dem Fluglärm, den anfahrenden Autos und den Millionen Gesprächsfetzen in ein Taxi geflohen waren, fügte sie hinzu: „Du hast das Bild gefunden, stimmt’s?“
Theo nickte. „Du hast einmal gesagt, du malst alles, so wie es ist. So wie es wirklich ist.“
„Wenn man nach dem Happy End weiter macht, wird’s scheiße.“
„Und deswegen willst du uns umbringen?“
Leonie schwieg. Der Taxifahrer drehte die Musik lauter und schaute nur in den Rückspiegel, wenn er die Spur wechselte.
„Wann“, sagte Theo, „war unser Happy End?“
„Ich weiß es nicht“, sagte Leonie. „Können wir bitte über was anderes sprechen? Du hast mich gar nicht gefragt, wie es in Kroatien war!“
„Wie war es in Kroatien?“, fragte er.
„So macht das keinen Spaß“, sagte sie.
„Ich dachte, wir lieben uns, um zusammen zu leben. Nicht, um zusammen zu sterben“, sagte Theo.

Theo mochte ihren halboffenen Schlafmund, ihre schläfrigen Augen am Morgen und wie sich ihre piepsige Stimme überschlug, als wären die Töne seitenverkehrt. Auch ihr Gesicht beim Gähnen gefiel ihm. Vielleicht, weil sie in solchen Momenten harmlos aussah. Die schlafende Leonie beobachtete er oft, wenn er wach im Bett lag und an das Bild hinter dem Schrank denken musste. Nach dem Zähneputzen zählte er noch einmal die Messer in der Küche. Erst dann schlüpfte er zu Leonie unter die Decke. „Das macht keinen Sinn“, dachte er und kuschelte sich an sie.

„Das Bild“, flüsterte er ihr ins Ohr, „gehört mir, oder?“
„Ja“, sagte sie, zu laut für eine Einschlafende.
„Wenn es mir gehört, kann ich es nehmen und mit ihm machen, was ich will, oder?“
„Ja“, sagte Leonie. „Was willst du denn damit machen?“
„Ich will es aus der Wohnung tragen. Irgendwo hinstellen, vielleicht vernichten.“
„Das wird nichts ändern“, log sie, küsste ihm auf den Oberarm und schlief ein.

Theo überlegte, das Bild am nächsten Tag verschwinden zu lassen, während Leonie in der Touristeninformation arbeitete, aber er zog es noch in derselben Nacht vorsichtig hinter dem Schrank hervor, schob es aus der Wohnungstür, balancierte es das Treppenhaus hinab und schleifte es in den Innenhof, wo er es mit einem Teppichmesser zerschneiden wollte. Aber dann musste er an gemeinsame Träume denken und grüne Kleider und an Leonies Blume im fünften Stock. Auf der Straße hörte er eine Gruppe Jugendlicher grölen. „Entschuldigung!“, schrie er ihnen hinterher. „Hat irgendjemand von euch Feuer?“ Sie verstummten, drehten sich zu ihm und begannen, ihn zu umkreisen. Ein Junge stellte seine Wodkaflasche auf das Kopfsteinpflaster. Sein Gesicht war ein blödes Grinsen, eine Seite des Kopfes war kahl rasiert, am Hals blitze ein unglückliches Tattoo. Er kramte eine Streichholzschachtel aus der Tasche, entzündete ein Streichholz und schnippte es in Theos Richtung.
„Wir brennen“, sagte er. Ein Mädchen mit schwarzen Haaren und Katzenohrringen spuckte Theo vor die Füße. „Wir brennen.“ Ein anderer klatschte Theo in den Nacken. „Mal sehen, ob du Feuer schlucken kannst.“

„Warst du schon einmal verliebt?“, fragte Theo.
„Kopfüber“, sagte Leonie.

Kopfüber hing die Welt, in der Theo am Boden klebte; zusammengekauert auf dem nassen Asphalt des Innenhofes, erhellt vom brennenden Gemälde, das in seinem von Schmerzen vernebelten Blick noch fürchterlicher aussah als zuvor. Die jungen Vandalen hatten fortgesetzt, was er bloß angedacht hatte. Er fiel in einen Schlaf, aus dem er sich Stunden später vom alten Sternthal wecken ließ, der mit einem Gehstock gegen Theos Schienbein klopfte.

*

Theo entführte Leonie in einen Urlaub. Die Tritte schmerzten immer noch unter seiner Haut, aber ihn beunruhigte das Gefühl, sich verbrannt zu haben. Irgendwie - mit allem. Dem ganzen Körper. Aber es war nichts zu sehen, und wenn er sich anfasste, schmerzte es nicht mehr und fühlte sich nicht anders an als sonst. Auch Leonie hatte ihm gesagt, dass sie sich verbrannt fühlte, ohne genau benennen zu können, was sie damit meinte. Er hatte das, was sie waren, verbrannt oder verbrennen lassen und jetzt musste er an einen kalten Ort. Er wollte mit ihr in eine Nichtfarbe reisen. Mit der Bahn fuhren sie nach Norwegen. In Göteborg waren sie gezwungen, fünf Stunden nebeneinander zu sitzen, weil ihnen der Anschlusszug entwischt war.
„Kopfüber sagst du“, sagte Theo.
„Ja“, sagte Leonie.
„In wen?“, fragte Theo.
„In dich und in dich und in dich, oder in drei Theos, die dir nicht ähneln. Es ist traurig, dass du nicht du geblieben oder du geworden bist.“
Als sie am Bahnsteig standen und der Vorwind, durch ihr Haar und Kleid und seinen Schnurrbart wirbelnd, den einfahrenden Zug ankündigte, spürte er ihre Hand in seinem Rücken, wie er die Verbrennung auf seiner Haut spürte. Er fühlte etwas, das nicht da war und nicht da sein konnte, aber es waren ihre Hände. Die Hände, die ihn liebkosten, die Zukünfte pinselten und applaudierten nach dem Sex. Ihre fünf Finger in seiner Lende, dabei umklammerte sie mit beiden Händen ihren vollgestopften Koffer. „Es ist kalt dort“, hatte Leonie gesagt und sich auf den Koffer gesetzt, damit Theo den Reißverschluss zuziehen konnte. Er fühlte den Zug, den Stoß, das Ende. Leonie ließ ihren Koffer fallen, um ihn vor den Zug zu schubsen. Dieses Bild zerschnitt und verbrannte er in seinem Kopf, aber selbst die Fetzen und die Asche dieser Angst verwirrten seine Gedanken. Vielleicht hätte sie wirklich ihren Koffer fallen gelassen, vielleicht wäre der Koffer aufgeplatzt und der Lieblingsschal, ein roter Handschuh oder eine tödliche Skizze herausgesprungen, vielleicht hätte sie ihn dann mit einem unerwartet heftigen Stoß vor den Zug geschubst, der ihn zermahlen würde. Vielleicht hätte sie das alles getan, aber er stellte seinen Rucksack ab und küsste ihr aufs Lächeln, ohne dass sie sich hätte dagegen wehren können.

„Du bist auch nicht du geblieben. Und was du geworden bist, weiß ich nicht“, sagte Theo.
„Findest du das traurig?“
„Nein. Das ist natürlich.“

„Es wird kalt werden“, sagte Leonie und stieg in den Zug. Er brachte sie nach Oslo, wo sie in einer Jugendherberge übernachteten. In einem Stufenbett. Sie schlief oben und Theo mochte den Gedanken, dass Leonie über ihm schlief.

Draußen schneite es. Es war Winter, aber es war ein anderer Winter hier. Die Schneeflocken waren schwerer, die Kälte eisiger und die Luft tat weh, wenn man sie atmete. Theo und Leonie besuchten das Museum für zeitgenössische Kunst, das Museet for Samtidskunst. Drinnen schmolz ihnen der Schnee von den Schuhen und während sich Leonie vor Skulpturen verrenkte, um sie nachzustellen, sprach Theo immerfort von Abel, einem norwegischen Mathematiker. Von Abelscher partieller Summation und seinen elliptischen Integralen, mit denen man diesen in Stein geschlagenen Kuss teuflisch genau auseinander rechnen konnte. Leonie und Theo standen vor einem Paar, das beim Kuss zu einer Statue verschmolzen war.

„Das schaffe ich nicht allein!“

Leonie zog Theo an sich, führte die Hände zur gegenseitigen Umklammerung an die richtigen Stellen und küsste ihn. Obwohl er sich nicht wehrte, vermischte sich nichts. Theo blieb Theo und Leonie blieb Leonie.

„Ich hab die Kunst nur, wenn ich davor stehe, aber du hast deine Mathematik immer im Kopf“, sagte Leonie.
„Das ist es nicht“, sagte Theo. „Du liebst mich nur, wenn ich vor dir stehe, wenn du dein Ohr am Telefon gegen meine Stimme drückst oder sonst irgendwie mit mir verwirrt bist.“
Leonie öffnete ihren Mund zum Widerwort, aber stieß dann bloß Luft aus, und wunderte sich, dass sie sie nicht sehen konnte.

„Willkommen im kältesten Plätzchen Norwegens“, begrüßte sie der Exkursionsleiter Erik Dahl in Kirkenes, einer kleinen Stadt im Norden. Theo wusste nicht mehr, warum er sie zum Eistauchen angemeldet hatte. Vielleicht wollte er ihre flammenden Phantasien in der Kälte ersticken, vielleicht dachte er auch, dass man für manche Wahrheiten einfach in die Tiefe tauchen musste. Theo war unerfahren im Tauchen, aber Leonie zeigte ihm den Umgang mit der Sauerstoffflasche und fälschte seine Unterlagen. Sein Logbuch war schön. Erik hatte die beiden böse angeschaut. Vermutlich hatte er mitbekommen, dass Theo nicht viel Ahnung hatte, aber die Scheine passten und er brauchte jeden Kunden. Und Theo und Leonie wollten tauchen. Zusammen in die Stille hinein, die wegschwimmen würde, wie ein verschreckter Schwarm Fische. Sie schlüpften in die Neoprentauchanzüge. Es war das hässlichste, was er je an Leonie gesehen hatte. Er sagte es ihr und sie kicherte. Bevor sie sich die Tauchmasken überzogen und den Schlauch in den Mund steckten, küsste er sie ein letztes Mal. Sie tasteten am Tauchseil entlang Erik hinterher. Leonie hing über Theo und Theo mochte den Gedanken nicht, dass sie über ihm war. Vor jedem Atemzug hatte er Angst, dass sie den Schlauch aus seiner Flasche gezogen hatte, um sich auf ihn zu stürzen und in Zeitlupe zusammen mit ihm in die Tiefe zu sinken. Und tatsächlich spürte er ein Zerren an seiner Flasche. Er drehte sich um und sah in Leonies Gesicht. Es war nicht das Gesicht einer Verliebten oder Verwirrten, auch nicht das Gesicht einer Mörderin. Es war das panische Gesicht einer Sterbenden.

*

Sechs Monate lag sie nun schon im Koma. Das Lächeln war ihr sinnlos geworden. Sie konnte nichts mehr sagen, nicht mehr küssen und nicht mehr lächeln, auch nichts mehr essen. Der Mund war nur noch ein Loch, ohne das ihr Gesicht komisch ausgesehen hätte. „Ich habe sie umgebracht“, dachte Theo, und Mira, die hinter ihm stand, sagte mit Tränen in den Augen:
„Sie hat euch beide umgebracht.“
Dann weinten sie zusammen und ob Leonie etwas mitbekam von den Tränen, die auf ihre Decke tropften, wussten die Ärzte nicht. „Möglich, aber nicht wahrscheinlich“, sagten sie, und Theo las ihr aus ihren Lieblingsbüchern vor, Süskind und Zeh und Fried. Später auch aus seinen mathematischen und philosophischen Büchern. Nachdem er mehr Zeit neben ihrem Bett verbracht, als zusammen mit ihr gelebt hatte, hörte er auf, an sie zu glauben, und daran, dass irgendetwas von dem, was er sagte oder für sie fühlte, bei ihr ankam. Theo besuchte Leonie nur noch jeden zweiten, jeden dritten, jeden fünften Tag. Seine Tränen waren unsichtbar geworden, aber sie waren da und sie tropften auf Leonies eingefallene Wangen, wenn er über ihr lehnte und überlegte, ob er ihr einen Kuss geben sollte, sich aber dann doch abwand, weil er sie nicht ohne ihren Willen küssen wollte, weil ein Kuss etwas war, was man nicht alleine schaffen konnte. Es wäre bloß die Berührung zweier Lippen gewesen, nicht die Fortsetzung von Gefühlen. So ließ er sich zurück in seinen Stuhl fallen und wischte ihr die unsichtbaren Tränen aus dem Gesicht, berührte ihre Hände, die ihm tödlich schienen, in Wirklichkeit aber immer voll Zärtlichkeit und Liebe gewesen waren.

Etwa fünf Jahre nach dem Vorfall unter dem Eis, der Leonie in eine seltsame Zwischenwelt gerissen hatte, küsste Theo das erste Mal eine andere Frau. Er hatte sie in den Winterferien kennengelernt, aber der Schnee klebte ihm auf den Lippen wie der letzte Kuss von Leonie. Er war in einer Modeboutique für Frauen, weil er einen Schal suchte, der Leonies Lieblingsschal ähnelte. Er wollte ihr einen neuen Lieblingsschal kaufen, weil sie das Gepäck in Norwegen lassen mussten und bei der Nachsendung etwas schief gelaufen war. Er vermisste seine Sachen nicht und sie brauchte ihre nicht, aber wenn er bei ihr saß und sah, wie draußen die Schneeflocken durch die Äste tanzten und die Wasserpfützen im Park gefroren, vermisste er den Lieblingsschal um ihren Hals. Marie fragte Theo nach einer bestimmten Jeansgröße, weil sie ihn mit einem Verkäufer verwechselt hatte. Obwohl er klar stellte, dass er hier nichts verkaufen würde und vor allem niemanden beraten könne, verbrachte er den ganzen Tag mit Marie und sah ihr dabei zu, wie sie ohne Ausnahme alles in dem Laden probierte. Den Schal, der falsch aussah um ihren Hals, kaufte er, und legte ihn einige Tage später auf Leonies Nachtkästchen. „Es tut mir leid. Es tut mir so leid.“

Vorsichtig schüchtern waren Maries Küsse und sie schmeckten ganz anders als die von Leonie. Sie fühlten sich falsch an, aber taten gut, auch wenn sie den letzten Kuss von Leonie nicht wegküssen konnten. „Es macht Sinn“, redete sich Theo ein. Wenn sie miteinander schliefen, musste das Licht brennen, weil er in der Dunkelheit mit Leonie schlief, weil er dann nicht Maries Gesicht sah, sondern Leonies Lächeln. „Es ist okay“, sagte sich Theo. „Es ist logisch.“ Es kam der Tag, an dem Marie ihm sagte, dass sie es komisch fand, dass er Leonie so oft besuchte. „Warum besuchst du so oft deine tote Vergangenheit?“, hatte sie ihn gefragt, und er war wütend auf Marie. Aber letztendlich unterließ er die Besuche und an manchen Tagen vergaß er sogar, dass Leonie woanders lag und er nicht bei ihr.

Er küsste Marie, schaute in ihre graublauen Augen, die so aussahen, wie das Loch, das Erik damals ins Eis geschnitten hatte. Er besuchte mit ihr zusammen einen Tanzkurs und verliebte sich in den Schwindel, den er mit ihr dort erlebte. In der Arbeit bekam er ein eigens Büro mit einem großen, leeren Fleck, den er gerne mit einem Bild von Leonie verscheucht hätte, aber Marie ließ eine Fotografie von sich auf Leinen spannen, und so saß er auf seinem Stuhl und Leonie war tot. Leonie war tot und er scherzte mit einem Geschäftspartner am Telefon über eine Floskel im Kleingedruckten, die der Versicherung endlos Geld einbringen würde. Leonie war gestorben und er lebte weiter, als wäre nichts Sonderbares geschehen.

„Tu es nicht“, sagte Mira am Telefon.
„Was?“, fragte Theo.
„Bring dich nicht um“, sagte sie und legte auf.

Theo saß an dem nackten Schreibtisch und wunderte sich, dass die Tischlampe nicht flackerte oder etwas den Papierstoß durcheinander wirbelte. Nur die neue Wanduhr tickte zu laut. Als er die Augen schloss, sah er ein kleines Mädchen. Es stand weinend in einem Blumenfeld und schaute auf eine Frau, die tot auf dem Boden lag. Er sah das kleine Mädchen, wie es einen kleinen Jungen küsste, kicherte und weglief. Wie es schreiend mit einem Kissen auf ein blutiges Bett schlug. Er sah das Mädchen, als es kein Mädchen mehr war und erkannte in ihrem Kussmund Leonies Lächeln. Sie umarmte ganz viele ganz unterschiedliche Männer; knutschte mit ihnen. Bei Sonnenaufgang und Sonnenuntergang. Bei Sonnenfinsternis. Im Mondschein. Einmal in einem Auto, in das das fahle Licht einer Laterne fiel. Sie schlief mit ihnen. Nacheinander, miteinander, durcheinander. Ohrfeigte einen und weinte um einen anderen. Er sah sie, wie sie auf einer Brücke stand, auf der anderen Seite der Brüstung, an der sie sich mit einer Hand festhielt. Sie beugte sich gegen die Tiefe und suchte im Wasser die winzige Stelle, in der sie sich spiegelte und sprang hinein. Sie fiel sieben Sekunden lang und schlug mit dem Gesicht auf. Bewusstlos trieb sie den Fluss entlang. Er sah Leonie mit einer kleinen Narbe an ihrer Lippe in einem Krankenhausbett sitzen. Sie erinnerte ihn an die Leonie, die er so oft besucht hatte, aber nie besuchen konnte. Jetzt sah er Leonie und ihr Lächeln und wie sie einen Mann küssten, der aussah, wie Theo. Noch einmal sah er sich und Leonie, wie sie waren und was sie waren, aber er sah es mit ihren Augen. Er hörte das leise Kritzeln seines Stiftes im Hörsaal, atmete die schmutzige Luft, die sie geatmet hatten, als sie sich in der Stadt trafen. Er fühlte sich nackt und er fühlte sich eingeengt im Studentenbett. Er küsste alle Küsse noch einmal und zählte sie nicht, weil er sie mit ihrem Mund küsste und ihn das Kratzen des Schnurrbartes beschäftigte. Er sah das Feuer und den Schnee und sein ängstliches Tauchmaskengesicht. Als er die Augen öffnete, war alles wie zuvor. Die Uhr tickte wieder jede Sekunde. Der Bildschirmschoner zeigte das Markenzeichen der Versicherung. Er sprang auf und ging zu den Toiletten, wo er sich kaltes Wasser ins Gesicht klatschte. Dann schaute er in das Spiegelbild, an dem sich Leonie verschluckt hatte, und überlegte, ob er sie noch einholen konnte.

 

Lieber Markus,

das ist eine ROMANTISCHE! Geschichte. Ich mein, was kann es romantischeres geben als den Liebestod? Da schießen einem ja auch immer gleich x Referenzen durch den Kopf, von jahrhundertealter Weltliteratur zu "Alles aus Liebe" von den Toten Hosen. Und mit dieser polaren Besetzung, dem Mathematiker und der Künstlerin, bist Du ja auch sehr klassisch geblieben, um den von Fried thematisierten ewigen Konflikt auszutragen. Im Einzelnen bietest Du dann aber so viel Neues, Schönes und Eigenes, dass ich die Geschichte trotzdem sehr gerne gelesen und auch nicht als kitschig empfunden habe, auch wenn ich die ganze Zeit das Gefühl hatte, da in letzterer Hinsicht ganz nahe am Abgrund entlangzuspazieren.
Mich hat der Text jetzt auch ziemlich gut abgeholt, weil ich selbst, ohne jetzt ausgeprägtes irrationales Künstlertum für mich in Anspruch nehmen zu wollen, auch meine Erfahrungen mit diversen Mathematikern gesammelt habe :D. Außerdem schreib ich grad in ne ähnliche Richtung, zumindest über einen Konflikt zwischen Instinkt und Ratio, der auch bei mir auf zwei Pole einer Beziehung aufgeteilt sein wird. Und das resultiert auch in Schwindel, weil solche Konfrontationen mit ganz anderen Logiken einem ja schnell mal Orientierung und damit Gleichgewicht rauben. Da passiert auch schon mal sowas:

Der Logik und den Gesetzmäßigkeiten traute er immer weniger, manchmal misstraute er ihnen sogar. Statt eine Formel einfach anzuwenden, leitete er sie aufwendig her, damit er sich sicher sein konnte, dass sie stimmte.
Vielleicht nenn ich den Mann in meiner Geschichte Leo, weil es bei mir die Frau ist, der schwindelig wird.
Also eigentlich müsste ich ja auch zur Kunst noch was sagen, zu diesem Disput, wie man nun richtig malt, was das Wesen der Dinge ist, mit oder ohne Schnurrbart oder Feuer, die Oberfläche oder das Dahinter. Aber ich muss jetzt gleich weg.

Deine Sprache hat mir sehr gut gefallen. Die ist zwar ein bisschen schwurbelig, aber hier passt es ja und wenn man sich das Schwurbeln so verbietet, geht einem halt auch viel Schönes durch die Lappen. Für mich hat das gepasst. Wo es extra gut passte und wo es mir eine Drehung zu schwurbelig wurde folgt jetzt:

Er schaute in den Spiegel und fragte sich, wer zurückschaute, oder hinein. Wer das war, „Theo?“
Das ist aber schon ziemlich philosophisch, diese Ich-Suche. Müsste er für sich nicht einfach nur Oberfläche sein? Auch dass er später versucht, unter Leonies Oberfläche zu gucken ist mir so ein bisschen atypisch. Das hätte ich eher von ihr, bzw. ihrem Prinzip erwartet

ie mochte den Schnurrbart nicht, der ihm ins Hirn zu wachsen schien
richtig gut

Wenn man ihm alles nähme, wenn man ihn häuten würde, wenn nichts übrig bliebe als sein entwringtes Ich.
Dann? "entwringt" ist auch ein seltsames Wort. Ich mein, das müsste "entwrungen" heißen, wenn überhaupt. Aber "ausgewrungen" fänd ich noch besser, gerade wegen dem handgreiflich-pragmatischen Klang.

Die ersten Tropfen dieses Ichs hatten ihr schon vor einem Jahr die Sicht vernebelt.
Das war mir zu viel. Müssen ja auch sehr kleine und viele Tropfen sein, um einen Nebel zu bilden.

Seltsam entstellt hatte er seinen Körper über die Arbeit geschoben, wie ein Sichtschutz aus Fleisch hockte er eingekeilt zwischen den Sitzreihen.
Diese Kennenlernszene war eine meiner liebsten (daneben auch die Szene vor dem Haus). Dass ihm da wirklich die Logik aus dem Kopf fällt bei ihrem Anblick. "Sichtschutz aus Fleisch" find ich auch prima, nur das "seltsam entstellt" flutscht nicht so richtig.

Erahnte er einen Blick von der Seite, warf er mit bösen Blicken um sich.
zu viele Blicke

Er schrieb immerfort, blind auch, seine Tinte fraß sich in den Zellstoff, der fast feierlich verdickt auf dem viel zu kleinen Pult vor ihm lag.
inwiefern ist das Papier hier "verdickt" und warum "feierlich"?

Es war vollends pragmatisch eingerichtet, bis in die Messerspitze, das sich im einzigen Küchenschub befand, nützlich, dazu besonders preiswert und aufgrund der neuen Dämmung auch ökologisch durchaus vertretbar.
Da hüpfen Dir die Bezüge durcheinander, oder die Genera, oder irgendwie alles.

Er betrachtete das Bett und ihm kam der Gedanke, dass er es nie vermisst hatte, dass jemand bei ihm schlief, weil es gar nicht für zwei gemacht war, weil dieses Bett das Bett eines Einsamen war.
Das Bett eines Einsamen ist für mich ein Bett, das auf Besuch hofft. Das Bett eines Menschen, der an Besuch überhaupt nicht denkt, ist doch eher das Bett eines Alleinstehenden.

Es war kein allzu großer Zufall, denn die beiden waren schon dutzende Male aneinander vorbeigelaufen, doch war für Theo Leonies Gesicht nur irgendein Gesicht, und umgekehrt.
beim letzten Nebensatz müsste eigentlich PQP hin. Ich würd auch umstellen: doch war Leonies Gesicht für Theo etc. Sonst wirds zu viel der Kunstsprache

pflückte die Faltennarbe, die sein unfeiner Griff auf dem Stoff hinterlassen hatte, aus dem Trenchcoat.
alle Achtung!

Unzählige Menschen drängten an dem Gegenüber, dem Gegeneinander oder Aneinander der beiden vorbei.
auch sehr schön

Ein kleiner Junge schrie mit einer Mädchenstimme nach seiner Mutter, die mit zwei Bauarbeitern sprach, die nicht arbeiteten
ich kenn mich, ich hätte mir das nicht verkneifen können, die Bauarbeiter bauarbeiten, oder zumindest am Bau arbeiten zu lassen. ;)

Wie zwei Fragezeichen, denen man den Punkt weggezogen hatte.
Doch, Du haust da ein paar ziemlich schöne Dinger raus

Theo saß zuvor in seinem Zimmerchen und bastelte an Algorithmen
Mit "zuvor" an der Spitze klänge es mir geschmeidiger

bis auf einen kaputten Taschenrechner unbekleidet
sexy :D

und sein schüchtern, verschrumpeltes Geschlecht
Komma weg

Sie versteckte sich hinter dem Aktbild von Theo, weil sie nicht wollte, dass er ihr beim Anziehen zuguckte.
Das ist auch ne hübsche Inversion, dass sie sich nicht fürs Ausziehen, sondern fürs Anziehen schämt. Aber das passt zum Bild der Statue, deren natürlicher Zustand ja scham-lose Nacktheit sein sollte

Beim Glückssprung auf dem Nachhauseweg hätte er sich beinah den Fuß verstaucht.
Hübsch. Und schön, dass er so eindeutig aus Glück springt.

Du bist sogar ein doofer Kunde, weil du nicht weißt, was du willst.
Vielleicht besser "ein schwieriger Kunde"?

Ein Junge stellte ein Papierboot in den kleinen Bach, der das Grün zerschnitt und sich unter zahlreichen Brückchen hindurch schlang
hindurchschlingen? Nicht eher "hindurchschlängeln"?

Sie hielten nie Händchen und solange sich ihre Münder nicht berührten, wäre niemand auf die Idee gekommen, dass die beiden ein Pärchen waren.
Paar? Händchen und Pärchen ist selbst mir etwas viel der Diminutivchen

„Du hast ein Nacktbild von mir an deine Oma verkauft?“, fragte Theo.
:D Aber gut, für tausend Euro

weil der Schnurrbart an ihrer Brust kratzte, als eine Art Nebenwirkung seiner Liebkosung,
das würd ich streichen. Der Satz ist eh schon lang, auf gute Weise lang, aber dieses, ja was ist das, ein modales "als"?, beißt sich doch mit den temporalen "als"

als er ihre Schamlippen berührte, nicht mit dem Mund oder den Fingern
;) auch niedlich

Leonie setzte sich auf Theo und sie hatten kurzen, aber intensiven Sex.
Böh, also das ist der prosaischste Satz im ganzen Text.

wei Gedichte gefielen Leonie sogar. „Bin auf Sehnsucht nach dir“ und „Zusammenfallen“. Als ihm eine Versicherung zusagte, ließ er vom Programm ab und berechnete von nun an
Da müsste aber jetzt wenigstens eins der beiden hin, zur Anschauung.

„Das ist Wahnsinn!“, sagte Theo.
„Es ist, was es ist“, sagte die Liebe.
Hier bin ich skeptisch.

Die Schmetterlinge im Bauch puppten sich ein. Gefühle wachsen nicht, sie verändern sich, schlagen tiefe Wurzeln, graben sich in einen Charakter, bis das Gefühl zu einem dazugehört.
Erster Satz gut, zweiter nicht. So einen Erklärerzähler hatten wir bisher nicht, sondern einen Bildererzähler, der mit viel besser gefällt.

„Das ist doch kindisch“, sagte Mira
Mira verdirbt immer jede Romantik ;)

rammte ihn das Messer in die Schulter
ihm

Sie umklammerte das Messer so, als wäre es eine Fortsetzung ihrer Finger.
Ich habs versucht, hab es sogar nachgestellt, aber ich kann es mir nicht vorstellen

und hatte eine fast rostige Farbe
"fast" ist nicht mein Lieblingswort

tauchte seine Nase in den dunkelbunten Stoff
"dunkelbunt" ist gut, weiß ich genau was das ist. Ich wasch das auch einzeln.

spuckte Kaffee in ihren Becher und reichte ihn mir.
„Nein, Danke!“
„Du musst!“, sagte sie. „Sonst fallen wir auf.“ „Leonie?“
„Psst!“
Ich nahm den Becher und trank.
Hier kommt plötzlich ein "ich" rein

Eine sehr sehr schöne Geschichte.

lg,
fiz

 
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Servus markus,

deine Geschichte hat in vielerlei Hinsicht eine beinahe klassische Anmutung.
Da gibt‘s zwar immer wieder aktuelle Begriffe wie Solar-Taschenrechner, Feinstaub, usw. zu lesen, aber sobald ich fünf Zeilen weiter war, befand ich mich gleich wieder in einer anderen Zeit.
In welcher eigentlich? Ich weiß gar nicht so recht, an welche Art von Lektüre mich dein Text erinnerte. Aber von der Figurenkonstellation über die ganze Atmosphäre und die Stimmung, die von der Geschichte transportiert werden bis zur ungemein stilsicheren – und auf eine sehr charmante Art "modern antiquiert" klingende (eben klassische) – Sprache, atmet deine Geschichte für mich den Hauch von … äh, also ich weiß gar nicht, was mir da alles durch den Kopf gegangen ist, mein assoziativer Bogen spannte sich von Stefan Zweig über Franz Werfel bis zu Alfred Andersch und Böll.
Überhaupt wirkt diese Liebesbeziehung auf eine bezaubernde Art seltsam unzeitgemäß, ich mein, wo gibt’s denn heutzutage noch jungfräuliche siebenundzwanzigjährige Männer? Und trotz all seiner Verschrobenheit kommt dieser Theo - ein Name übrigens, der seine Hochblüte vermutlich zum Ende des neunzehnten Jahrhunderts hatte - ungemein sympathisch und liebenswert rüber. (Über einen eventuellen hintergründigen Bezug zum realen Theodor Liebknecht hab ich ehrlich gesagt nicht weiter nachgedacht. Genausowenig wie über die Namen auf den Klingelschildern, obwohl ich persönlich so eine Chance, subtile, doppelbödige Querverweise im Text zu verstecken, sicherlich nicht ungenützt gelassen hätte. Aber vielleicht werde ich da noch ein wenig nachforschen und kann das entdecken, was dich momentan vielleicht gerade ins Fäustchen lachen lässt.)

Der rationale, pragmatische und gleichzeitig etwas weltfremde Verstandesmensch und die impulsive (durchgeknallte?) Künstlerin, eine beinahe klischeehafte und schon sehr oft literarisch bearbeitete Konstellation eigentlich, aber von dir wirklich spannend und nachvollziehbar in Szene gesetzt. (Kann es sein, markus, dass du kürzlich Steppenwolf gelesen hast? Genau, an Hesse musste ich nämlich auch denken, und rümpfe bitte nicht die Nase, wenn du das jetzt liest. In meiner Jugend gehörte es quasi zum guten Ton, diesen alten Schöngeist zu lesen)
Und dann noch Leonies Vision, ja eigentlich Beschwörung der über den Tod hinausgehenden, ewigen Liebe. Diese Idee hat trotz ihrer offensichtlichen Plemplemheit überhaupt nichts Albernes an sich, sondern wirkt ausgesprochen plausibel und so gesehen hat dann auch Leonies Wahnsinnstat etwas beinahe Folgerichtiges, und als Leser denkt man da natürlich sofort an das dialektische Gegensatzpaar Eros und Thanatos. Gibt es etwas Endgültigeres als den Tod? Und kann man eine Liebe nicht wahrlich unsterblich machen, wenn man sie in das "Jenseits" transformiert?

Eine meiner (vielen) Lieblingsstellen war die Dialogszene, in der die beiden Theos Auftrag an Leonie, ein Bild für ihn zu malen, verhandeln. Die ist wirklich hinreißend geschrieben. Und damit komme ich zum einzigen Vorwurf, den ich dir zur Geschichte machen kann: Du baust im Leser eine unheimliche Neugier auf das geheimnisvolle Bild auf, das Leonie für Theo malt, und je näher ich zum Ende kam, umso öfter fragte ich mich: verdammt, was ist jetzt mit diesem Bild? Und tatsächlich taucht es im letzten Absatz noch einmal auf. Aber was darf ich davon sehen? Nichts. Absolut nichts. Mit diesem Rätsel lässt du mich dann allein. Aargh!

Also dir ist da eine wirklich schöne, sehr starke und für meinen Geschmack stilistisch großartige Geschichte gelungen, markus.

offshore

 

Hallo,
ich bin etwas unschlüssig, was ich von der Geschichte halten soll. Irgendwie hatte ich einige Schwierigkeiten deinen Schreibstil zu greifen. Der ist schon sehr eigenwillig und interessant, mich haben einige Sätze überrascht, viele Wendungen waren originell und man merkt sofort deinen besonderen Zugang zur Sprache. Ja, ich habe auch dein "Eigentlich auch egal", so hieß glaube ich der Text, gelesen, und war genau von dieser Eigenwilligkeit in den Konstruktionen ziemlich angetan. Gleichzeitig, und so ging es mir besonders bei dieser Geschichte, verwirrt mich diese Art zu schreiben. Irgendwie fehlt mir da der Zugang, aber es liegt wohl nur an mir.
Komisch, nachdem ich den letzten Satz geschrieben habe, wollte ich nochmal durch den Text gehen und etwas als Beispiel herausgreifen, habe aber dann seltsamerweise nichts gefunden. Wahrscheinlich ergab sich der Eindruck aus dem Gesamtbild, wie gesagt, ich kann das irgendwie nicht greifen. Aber egal.
Abgesehen davon, finde ich es sprachlich schon sehr ansprechend. Der Text hat Anspruch, er hat Tiefe und du holst aus einem klassischen Sujet eine Menge raus. Ich mochte die Reflektionen, ich mochte die Bilder, auch viele Vergleiche fand ich sehr stimmungsvoll.
Inhaltlich, ja, da war ich nicht so begeistert. Der Plot hat mich weniger überrascht, als dein Zugang zu ihm. Du hast das schon alles klasse gezeichnet, aber das war dann für mich ein wenig wie Landschaftsmalerei, es mag halt noch so wunderschön sein, aber man hat das schon irgendwo alles gesehen. Hier mag es natürlich auch an mir liegen, ich mag halt romantische Geschichten nicht besonders gerne. Vor allem fand ich das mit dem gänzlich irrationalen Liebestod etwas konstruiert. Das war mir dann wirklich zu "künstlerisch".
Trotzdem will ich betonen, dass ich die Figuren und die Atmosphäre sehr gelungen fand, keine Frage.
Noch was, vielleicht bin ich gerade auch einfach ein wenig müde, aber für mich hatte der Text so in der Mitte rum einige Längen. Ich hätte es besser gefunden, wenn die Geschichte um etwa ein Fünftel kürzer wäre. Ich kann das natürlich auch verstehen. Wenn man an seinem Text sitzt, dann steigert man sich auch leicht rein, es blüht dann alles in den Händen und du hast ja eine Menge toller Einfälle, die irgendwo untergebracht werden müssen, aber für mich hatte das schon irgendwo die Dynamik abgewürgt und der Geschichte ein stückweit den Atem genommen.
Na ja, so als Fazit würde ich sagen, dass mir der Text trotz des klassischen Plots literarisch einiges geboten hat, ich werde hier sicher auch etwas für mich mitnehmen. Du bist ohne Zweifel sehr talentiert und ich bin gespannt auf deine Texte.
lg, randundband

 

Sie konnte seine Gedanken nicht lesen, aber sie wusste, dass er beim Küssen darüber nachdachte, wie viel Prozent seiner Lippen Kontakt mit ihrer Zunge hatten, und sie mochte nicht, dass er solche Gedanken dachte, sie mochte den Schnurrbart nicht, der ihm ins Hirn zu wachsen schien, auch nicht, wenn es juckte oder kratzte oder er zu lange dort unten blieb, sie mochte nicht, wenn er im Restaurant „Variabilitäten“ bestellte, sie mochte so vieles nicht an ihm, einiges hasste sie, abgründig sogar. Aber es war nicht die Summe von Eigenschaften, die sie liebte, sondern das, was Theo war. Wenn man ihm alles nähme, wenn man ihn häuten würde, wenn nichts übrig bliebe als sein entwringtes Ich.
Den Anfang des Abschnittes finde ich großartig, die Überleitung auch, aber mich stört das Häuten und das Entwringen. Häuten ist viel zu brutal, da hat man blutige Bilder im Kopf und "entwringtes" sieht für mich furchtbar aus als Wort. Irgendwie klingt es auch falsch. Also der Weg, den du mit diesem kurzen Absatz gehst, ist wirklich sehr gekonnt, aber ich würde versuchen, das Ende besser zu setzen. Eigenntlich wäre das schon perfekt, wenn du einfach den letzten Satz in die Tonne kloppen würdest, den würde ich nicht vermissen.
Aber es war nicht die Summe von Eigenschaften, die sie liebte, sondern das, was Theo war.
ist viel besser für mich. Was danach kommt schwächt eher die Aussage.
Die ersten Tropfen dieses Ichs hatten ihr schon vor einem Jahr die Sicht vernebelt
Okay, ich sehe, du brauchst das entwrungene "ICH".
Musst du wissen. Es gäbe auch simplere Möglichkeiten. Außerdem ist in einem entwrungenem Ich nichts mehr drin, oder? Sie liebt also die Flüssigkeit, die da rauskommt. Dann stimmt das Bild aber nicht mit dem entwrungenem Ich, das sie liebt.

Zur Wiederholung hatte er sich abgemeldet und auf das Unverständnis des Professors hin erwiderte er nur: „Ich bin beschäftigt.“ „Mit was denn?“ „Es hat, glaube ich, mit Gefühlen zu tun.“ „Gefühle? Ich erkenne Sie gar nicht wieder, Herr Liebknecht! Gefühle sind unberechenbar, da tasten Sie im Dunklen.“
Toller Dialog, aber ich bevorzuge die übersichtlichere Variante.
Ihm war, als hätte jemand einen Fremdkörper in das Zahnrädchenwerk seiner Gedanken geschoben.
klasse!

Es war kein allzu großer Zufall, denn die beiden sind schon dutzende Male aneinander vorbeigelaufen, doch war für Theo Leonies Gesicht nur irgendein Gesicht, und umgekehrt.
waren

Er packte sie am Arm, etwas zu grob vielleicht, denn er spürte, wie der Muskel seinen Fingern wich. „Du bist schuld an allem“, sagte Theo. Er lockerte seinen Griff, ließ ganz von ihr ab und wäre am liebsten in die vorbeifahrende Bahn gesprungen, weg von ihr. „Du auch“, sagte Leonie und pflückte die Faltennarbe, die sein unfeiner Griff auf dem Stoff hinterlassen hatte, aus dem Trenchcoat.
großartig! Ich würde nach "Du auch" den Satz enden lassen. Es gelingt dir hier, so ein bisschen das Böse der Liebe in eine ganz kleine Szene zu packen. Das ist genial, finde ich.

Also ganz ehrlich, Markus: Ich schreibe mit, während ich lese und bisher muss ich sagen, bin ich schwer beeindruckt! Ich hoffe, dass das Ende hält, was dieser tolle Anfang verspricht. Ist wirklich ausgezeichnet bisher.

„Du musst!“, sagte sie. „Sonst fallen wir auf.“ „Leonie?“

Die Schmetterlinge im Bauch puppten sich ein. Gefühle wachsen nicht, sie verändern sich, schlagen tiefe Wurzeln, graben sich in einen Charakter, bis das Gefühl zu einem dazugehört. So gehörte die Liebe zu Leonie genauso zu Theo wie sein Schnurrbart, den er immer noch trug. Als letztes, leises Nein gegenüber Leonie. Sie zogen nicht zusammen, aber er verkaufte sein kleines Bett und schlief immer bei ihr.
Erst toll, dass sein Schnurrbart das letzte kleine Nein ist, aber dann kommt gleich, dass sie nicht zusammen zogen. Ist doch auch ein kleines Nein, oder?

Aber ein Gedanke machte ihn verrückt. Während er in der Arbeit saß und mit seinem Vorgesetzten über eine Erhöhung der Beiträge stritt oder mit einem Mathematikfreund ein Bierchen trank oder einen Pornofilm guckte, während er irgendetwas tat, so, als wäre nichts Sonderbares geschehen, konnte Leonie tot sein. Er könnte über einen schlechten Witz seines Kollegen lachen und Leonie wäre tot. Leonie wäre tot und er würde weiterleben, als wäre alles normal. Als würde sie in ein paar Tagen zurückkehren. Dabei wäre sie weg. Unerreichbar.
JA!

mmhhh ..... Bis kurz vor Schluss war ich der Überzeugung, es sei eine der besten Geschichten, die ich je gelesen habe. Da ist so viel tolles Zeug drin, dass ich mir schon den Empfehlungstext ausgedacht hatte. Aber dann geht alles zu schnell für mich, dann überrumpelt mich das Ende einfach und ich verstehe es nicht ganz. Ich denke, da solltest du nochmal an den Motivationsschrauben der Figuren drehen, um den Text zu dem zu machen, was er sein sollte. Wirklich großartige Figuren, finde ich, tolle Sprache, klasse Vergleiche. Absolut überragend. Nur das Ende ist einfach nicht gut genug für die Geschichte. Die Idee mit dem zusammen sterben und so ist natürlich auch nicht gerade neu. Sie wäre aber mit deinen Fähigkeiten absolut umsetzbar. Aber ich kann hier nicht nachvollziehen, warum Leonie überhaupt jetzt sterben will. Hab ich was übersehen? Man könnte doch zuerst noch bisschen zusammen leben, bevor man zusammen stirbt ... Sie wollte unbedingt zusammen sterben, ja, aber doch irgendwann, dachte ich.


Bitte steck noch bisschen Zeit in das Ende! Ansonsten: Hut ab.

Lollek

 
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Liebe (m.) fiz,

du schreibst mir viele schöne Dinge, aber bemerkst auch ganz viel mit deinem scharfsinnigen Blick, dieses Herauspicken „Wo es extra gut passte und wo es mir eine Drehung zu schwurbelig war“ das hat mir sehr geholfen. Eine romantische Geschichte ist’s, da würde ich dir vollkommen zustimmen und irgendwie komme ich auch schwer weg von dieser Romantik, diesem Vorbeibalancieren am Kitschigen. Das hat mich übrigens sehr beruhigt, bei einer Gradwanderung, wie dieser, muss man schon Angst haben, dass es zu kitschig wird. Aber Thomas Glavinic sagte zu einem Kritiker: „Richtige Liebe ist auch kitschig!“ Als ich vor drei Wochen diesen Gedanken hatte und gesehen habe, dass auf der ersten Seite von Romantik/ Erotik nichts mehr von mir steht, musste ich handeln. Und ich habe mich in dieses klassische Setting hineingeschrieben, und da hat mir der folgende Satz deines Kommentars die Mundwinkel nach oben gezogen:

Im Einzelnen bietest Du dann aber so viel Neues, Schönes und Eigenes, dass ich die Geschichte trotzdem sehr gerne gelesen und auch nicht als kitschig empfunden habe, auch wenn ich die ganze Zeit das Gefühl hatte, da in letzterer Hinsicht ganz nahe am Abgrund entlangzuspazieren.

Dass du „Erfahrungen“ mit Mathematikern gesammelt hast, finde ich interessant, und dass dich der Text dann zusätzlich anspricht, ist keine Selbstverständlichkeit, wie ich finde, weil gerade wenn man etwas liest, über das man Bescheid weiß, kann der Autor wenig tricksen und fliegt auf, wenn er schummelt oder faul ist bei der Recherche. Ich habe den Mathematiker schon bisschen klischeehaft angelegt, aber er ist doch in einem Maße „normal“ und in einem Maße wieder „zu unnormal“, dass man es als Allgemeinplatz benennen könnte. Theo ist nicht nur irgendein Mathematiker, er ist Theo, der Mathematiker ist. (Hast du auch Nacktbilder?)

Außerdem schreib ich grad in ne ähnliche Richtung, zumindest über einen Konflikt zwischen Instinkt und Ratio, der auch bei mir auf zwei Pole einer Beziehung aufgeteilt sein wird.
Das Hinundhergerissene dieser tiefmenschlichen Ambivalenz macht unser Leben erst so interessant. Und meist bleibt es ein rückwärtsgedachtes, hätte ich lieber machen sollen, hätte ich lieber nicht machen sollen. Bin gespannt, was da von dir kommt!

Also eigentlich müsste ich ja auch zur Kunst noch was sagen, zu diesem Disput, wie man nun richtig malt, was das Wesen der Dinge ist, mit oder ohne Schnurrbart oder Feuer, die Oberfläche oder das Dahinter.
Das wäre sicherlich interessant gewesen, aber ich fürchte fast, dass da kritische Töne gekommen wären, bin ich sowohl in Kunst als auch Mathematik ein Laie.

Deine Sprache hat mir sehr gut gefallen.
I LOVE THAT! Wenn Leser das so empfinden, ist mir das ein großes Glück!

Das ist aber schon ziemlich philosophisch, diese Ich-Suche. Müsste er für sich nicht einfach nur Oberfläche sein? Auch dass er später versucht, unter Leonies Oberfläche zu gucken ist mir so ein bisschen atypisch. Das hätte ich eher von ihr, bzw. ihrem Prinzip erwartet
Ich kann deine Kritik hier verstehen, aber berücksichtigt man, dass es ja ein Vorgriff in der Chronologie ist und sein Prinzip Logik durch Leonie bzw. seine Liebe zu Leonie erschüttert wurde, ist das schon nachvollziehbar, er versucht auch erst hinter ihre Oberfläche zu gucken, als sie ihm das mit Andy Warhol erzählt.

Dann? "entwringt" ist auch ein seltsames Wort. Ich mein, das müsste "entwrungen" heißen, wenn überhaupt. Aber "ausgewrungen" fänd ich noch besser, gerade wegen dem handgreiflich-pragmatischen Klang.
Ja, ein Wenn-Dann-Satz ohne Dann, kann man das nicht so machen, dass das DANN vorher steht, also im Satz davor, so wie es hier ist? Und dann bist du eine Königin der seltsamen Worte, du gehst mit den Seltsamkeiten um, als hättest du sie ins Wörterbuch gekritzelt, so zwischen die „Normalgebräuchlichen“ – ich weiß nicht, ob entwringt falsch ist. Es steht nicht im Duden, ich muss mir das überlegen, ob ich es in „ausgewrungen“ verwandle, ich denke schon, mir gefällt der Klang sehr!

Das war mir zu viel. Müssen ja auch sehr kleine und viele Tropfen sein, um einen Nebel zu bilden.
Physik … Ja, das kann nicht stimmen, und übertrieben ist es auch. Ich fand es auch interessant, wie du diese „schwurbelige“ Sprache für mich verteidigst, weil ihre Meidung schnell dazu führen kann, dass man andere, schöne Formulierungen verpasst. Ich schwäche es ab zu: Erste Tropfen dieses Ichs hatte sie schon vor einem Jahr gesehen. – Auch, weil „tropfen“ später im Text noch einmal eine sehr wichtige Rolle spielt, einen Bogen schließt zwischen Anfang der beiden und Ende der beiden, sind mir die Tropfen, auch wenn es nur Tropfen sind, sehr wichtig.

Diese Kennenlernszene war eine meiner liebsten (daneben auch die Szene vor dem Haus). Dass ihm da wirklich die Logik aus dem Kopf fällt bei ihrem Anblick. "Sichtschutz aus Fleisch" find ich auch prima, nur das "seltsam entstellt" flutscht nicht so richtig.
Es freut mich, dass du von Lieblingsstellen sprichst, und auch, dass es die beiden sind, die waren im meinem Kopf am schönsten, wenn man sich das so vorstellt, wie das passiert, diese Reihe von Missverständnissen in beiden Szenen. Ich ändere den Satz!

zu viele Blicke
Die Wiederholung, ja, hab ich mir schon gedacht, aber ich ändere auch das! Heißt jetzt: Nicht etwa, weil er versucht hatte, abzuschreiben, sondern weil er den anderen jegliche Möglichkeit, seine Lösungen einzusehen, nahm. Wie ein Sichtschutz aus Fleisch hockte er eingekeilt zwischen den Sitzreihen. Erahnte er einen Blick von der Seite, schaute er böse um sich.

inwiefern ist das Papier hier "verdickt" und warum "feierlich"?
Nunja, manche Klausuren haben ein etwas dickeres Papier und solch ein Papier haben auch Urkunden oder Zeugnisse, aber das ist eigentlich ein Gedanke, der der Geschichte überhaupt nichts bringt, ich streiche das.

Da hüpfen Dir die Bezüge durcheinander, oder die Genera, oder irgendwie alles.
Hab mich durch drei neue Punkte gerettet. War echt wild der Satz!

Das Bett eines Einsamen ist für mich ein Bett, das auf Besuch hofft. Das Bett eines Menschen, der an Besuch überhaupt nicht denkt, ist doch eher das Bett eines Alleinstehenden.
Gut, das ist dann eine Sache, wie man die Begriffe deutet. „Einsam“ impliziert doch nicht automatisch den Wunsch, nicht mehr einsam zu sein, oder?

beim letzten Nebensatz müsste eigentlich PQP hin. Ich würd auch umstellen: doch war Leonies Gesicht für Theo etc. Sonst wirds zu viel der Kunstsprache
Ja, du hast so recht, fiz, ändere ich sofort!

alle Achtung!
Danke! Ich war auch ganz stolz auf meine Faltennarbe. Aber mir kommt das nie wie eine persönliche Leistung vor, weil es mir solche Formulierungen aus dem Unterbewusstsein aufs Papier sprudelt. Juli Zeh sagte einmal: Ein Schriftsteller, weiß nie, was er tut, er weiß höchstens, was er getan hat.

auch sehr schön
Bei dem Gegenüber, Gegeneinander oder Aneinander habe ich lange überlegt, ob man das als Leser hassen oder mögen wird. Schön, dass es eher letzteres zutrifft.

ich kenn mich, ich hätte mir das nicht verkneifen können, die Bauarbeiter bauarbeiten, oder zumindest am Bau arbeiten zu lassen.
Ja, seit vier Monaten versperrt mir eine Baustelle den unmittelbarsten Weg zum Marktplatz und auf der kurzen Strecke stehen so viele Bauarbeiter und irgendwie arbeitet jeweils einer, und die anderen gucken zu, meistens rauchend. Mit Müttern sprechen die nicht, aber die bot sich gerade als Gesprächspartnerin an.

Doch, Du haust da ein paar ziemlich schöne Dinger raus
=)

Mit "zuvor" an der Spitze klänge es mir geschmeidiger
Wird so gemacht!

Taschenrechnererinnerungen!

Komma weg
Ist verschwunden!

Das ist auch ne hübsche Inversion, dass sie sich nicht fürs Ausziehen, sondern fürs Anziehen schämt. Aber das passt zum Bild der Statue, deren natürlicher Zustand ja scham-lose Nacktheit sein sollte
Schön, dass du das erkannt und angesprochen hast. Aber ich beobachte das oft, dass es Frauen unangenehmer ist, sich anzuziehen, als auszuziehen. Die Logik der Frau, diese verdrehte, auch, dass man eine Frau in Unterwäsche nicht sehen darf, aber mit diesen Stofflinien im Schwimmbad und den ganzen Unterwasserblicken haben sie kein Problem. Am reizvollsten ist die Unlogik des weiblichen Geschlechts!

Hübsch. Und schön, dass er so eindeutig aus Glück springt.
Ja, hier könnte man mir auch Kitsch vorwerfen, aber es gibt die ja tatsächlich, die Glückssprünge, und ich wollte schon einen Knicks ins Glück einbauen, im kurzen Fall.

Vielleicht besser "ein schwieriger Kunde"?
Jap!

Paar? Händchen und Pärchen ist selbst mir etwas viel der Diminutivchen
Wäre es möglich, würde ich hinter jedes Wort ein „chen“ setzen. Ändere es aber trotzdem!

das würd ich streichen. Der Satz ist eh schon lang, auf gute Weise lang, aber dieses, ja was ist das, ein modales "als"?, beißt sich doch mit den temporalen "als"
„Auf gute Weise lang“, hat mich gefreut, da kann ich auf die „Nebenwirkung der Liebkosung“ verzichten, auch wenn ich den Begriff mag, weil er so falsch analytisch klingt.

Böh, also das ist der prosaischste Satz im ganzen Text.
Hehe, ja, da musste halt Sex stehen.

Da müsste aber jetzt wenigstens eins der beiden hin, zur Anschauung.
Du verlangst ernsthaft ein metrisch einwandfreies Gedicht von mir? Ich finde, das verhält sich wie mit dem Bild, das ernst gerne gesehen hätte, man klaut den Dingen ihre Mystik, wenn man sie gänzlich zeigt. Wenn ich jetzt ein echt Gutes schreiben würde, wäre es nur folgerichtig, es zumindest in Auszügen hinzuschreiben. Aber wenn mir jetzt nur ein mittelmäßiges gelingt, steht im Kopf des Lesers eine schöneres Phantasiegedicht und damit habe ich mehr gewonnen.

Hier bin ich skeptisch.
Es ist, was es ist, sagt die Liebe. Dass das von Erich Fried stammt, weißt du sicherlich, ist ja bekannt genug, und ich muss gestehen, dass ich seine Gedichte liebe, zumindest jene, die sich nicht politisch verirren. Ich glaube, ich lass es stehen.

Erster Satz gut, zweiter nicht. So einen Erklärerzähler hatten wir bisher nicht, sondern einen Bildererzähler, der mit viel besser gefällt.
Schmetterlinge puppen sich ein, und dann kommen die Wurzlen, die ja auch ein Bild sind, aber allein, dass ich hier ins Präsens wechsle, das sogar allgemeingültig zu erklären versuche, lässt es vielleicht rausstolpern, aber ich brauche den Satz irgendwie.

Ich habs versucht, hab es sogar nachgestellt, aber ich kann es mir nicht vorstellen
Hahaha! Okay, bei so viel Mühe muss ich nachgeben. Ich ändere Edward mit den Messerhänden!

"fast" ist nicht mein Lieblingswort
Hm, meines leider schon. Verwende ich das zu oft? Man macht es sich halt leicht als Autor. Ich werde da in Zukunft auf jeden Fall kritischer rangehen. An die FASTS.

"dunkelbunt" ist gut, weiß ich genau was das ist. Ich wasch das auch einzeln.
Genau deswegen!

Hier kommt plötzlich ein "ich" rein
Das war tatsächlich kein Versehen. Ernst offshore hat mich auch schon darauf aufmerksam gemacht und war ganz ungläubig, dass mir das da zufällig hingerutscht ist. Ich habe mir eingebildet, so ein Perspektivenspiel wie bei „Eigentlich egal“ reinbauen zu können, aber hier verwirrt es mehr, als es nützt, es nützt nämlich gar nichts. Habe ich gleich geändert.

Eine sehr sehr schöne Geschichte.
DANKE, liebe fiz, für deine ebenso schönen Zeilen, dein Lob und deine präzise Kritik, die meinen Text in jedem Fall geholfen hat.

Beste Grüße
markus.

***
Hallo Ernst,

du schreibst, dass meine Erzählung in vielerlei Hinsicht eine klassische Anordnung hat, und begründest das auch schön und anschaulich. Dass dich allein die Sprache eine unbestimmte Zeit zurückwirft, fand ich sehr interessant, auch das Prädikat "modern antiquiert" hat mich sehr gefreut, weil ich genau diese Sprache liebe. Ich mag es, wenn man statt Videothek Filmkunstverleih sagt oder statt Psychologe Seelsorger. Du spannst deinen Bogen von Stefan Zweig über Franz Werfel bis zu Alfred Andersch und Böll, bis auf Werfel hab ich alle Genannten gelesen und von daher könnte es schon sein, dass der Ton in meine Zeilen fließt, doch im Moment ist es Süskind, der mich so zurückschreiben lässt, also sprachlich. Es ist mir jedenfalls ein riesiges Kompliment, was du über meine Sprache schreibst!

Überhaupt wirkt diese Liebesbeziehung auf eine bezaubernde Art seltsam unzeitgemäß, ich mein, wo gibt’s denn heutzutage noch jungfräuliche siebenundzwanzigjährige Männer?
Also siebenundzwanzigjährige jungfräuliche Männer gibt es schon. (Hab ich gehört!) Aber das, was du über diese Liebesbeziehung sagst, freut mich. „Auf eine bezaubernde Art seltsam unzeitgemäße Liebesbeziehung“. Sehr schön!

Und trotz all seiner Verschrobenheit kommt dieser Theo - ein Name übrigens, der seine Hochblüte vermutlich zum Ende des neunzehnten Jahrhunderts hatte - ungemein sympathisch und liebenswert rüber.
Das freut mich, ich glaube, die Sympathie erlangt er auch ein bisschen über den Mitleidsweg.

(Über einen eventuellen hintergründigen Bezug zum realen Theodor Liebknecht hab ich ehrlich gesagt nicht weiter nachgedacht. Genausowenig wie über die Namen auf den Klingelschildern, obwohl ich persönlich so eine Chance, subtile, doppelbödige Querverweise im Text zu verstecken, sicherlich nicht ungenützt gelassen hätte. Aber vielleicht werde ich da noch ein wenig nachforschen und kann das entdecken, was dich momentan vielleicht gerade ins Fäustchen lachen lässt.)
Über den Bezug zum Politiker brauchst du keinen Gedanken verschwenden, ich finde einfach den Namen schön, und unzeitgemäß. Ich finde lustig, dass bisher niemand bemängelt hat, wie Leonie eigentlich mit Nachnamen heißt. Und die Namen an dem Klingelbrett haben einen hammerharten Querverweis, leider außerhalb des Textes, und eigentlich nur für wenige Menschen, die ich kenne.

Der rationale, pragmatische und gleichzeitig etwas weltfremde Verstandesmensch und die impulsive (durchgeknallte?) Künstlerin, eine beinahe klischeehafte und schon sehr oft literarisch bearbeitete Konstellation eigentlich, aber von dir wirklich spannend und nachvollziehbar in Szene gesetzt.
Das bedeutet mir wirklich viel. Fiz hat das ja so ähnlich formuliert und dass ihr das beide ähnlich seht, kann nur etwas Gutes bedeuten.

(Kann es sein, markus, dass du kürzlich Steppenwolf gelesen hast? Genau, an Hesse musste ich nämlich auch denken, und rümpfe bitte nicht die Nase, wenn du das jetzt liest. In meiner Jugend gehörte es quasi zum guten Ton, diesen alten Schöngeist zu lesen)
Den Hermann habe ich zuletzt im Leistungskurs gelesen, und ich rümpfe mir nicht die Nase, ich lese, was mir gefällt, und was andere darüber denken, interessiert mich nicht, okay, im demonstrativen Bücherregal stehen schon die Bücher, die ich „präsentieren“ will, aber auf dem Nachtkätschen liegen unter anderem Stephen King (Oh, flach, Mainstream! - immerhin auf Englisch) und Alice Munro (Oh, bloß weil sie diesen komischen Preis gewonnen hat!) Solange du nicht schreibst, dass dich mein Geschreibe an Roche oder Shades of Grey erinnert, ist alles im grünen Bereich.

Und dann noch Leonies Vision, ja eigentlich Beschwörung der über den Tod hinausgehenden, ewigen Liebe. Diese Idee hat trotz ihrer offensichtlichen Plemplemheit überhaupt nichts Albernes an sich, sondern wirkt ausgesprochen plausibel und so gesehen hat dann auch Leonies Wahnsinnstat etwas beinahe Folgerichtiges, und als Leser denkt man da natürlich sofort an das dialektische Gegensatzpaar Eros und Thanatos. Gibt es etwas Endgültigeres als den Tod? Und kann man eine Liebe nicht wahrlich unsterblich machen, wenn man sie in das "Jenseits" transformiert?
Hier hast du ganz schön die Ursprungs- vielleicht Kernidee meines Textes zusammengefasst. Ich hatte den Satz noch drin: „Sie dachten darüber nach, zu heiraten, aber eine Ehe war ihnen zu endlich, sie endete mit dem Tod.“ Aber das wäre wahrlich albern gewesen. Ich bin sehr beruhigt, dass du es als „fast folgerichtig“ empfindest, weil randundband ja das Gegenteil kritisiert.

Eine meiner (vielen) Lieblingsstellen war die Dialogszene, in der die beiden Theos Auftrag an Leonie, ein Bild für ihn zu malen, verhandeln. Die ist wirklich hinreißend geschrieben.
Danke!

Du baust im Leser eine unheimliche Neugier auf das geheimnisvolle Bild auf, das Leonie für Theo malt, und je näher ich zum Ende kam, umso öfter fragte ich mich: verdammt, was ist jetzt mit diesem Bild? Und tatsächlich taucht es im letzten Absatz noch einmal auf. Aber was darf ich davon sehen? Nichts. Absolut nichts. Mit diesem Rätsel lässt du mich dann allein. Aargh!
Dieses Rätsel wird ungelöst bleiben, aber ich finde es toll, dass es dich schon ab der ersten Erwähnung beschäftigt hat, und dass du ihm am Ende noch einmal begegnet bist. Aber ich nehme an, du hast sehr kreative und phantasievolle Gedanken zu diesem Bild!

Also dir ist da eine wirklich schöne, sehr starke und für meinen Geschmack stilistisch großartige Geschichte gelungen, markus.
Hammer! Vielen lieben Dank, für deine Zeit, deine Zeilen, das Lob, trotz meiner zuletzt harschen Kritik an deinem Text, und dieses bilderrahmenwürdige Fazit!

Beste Grüße
markus.

***

Hallo randundband,

unschlüssig bist du – mal gucken, ob wir das ein bisschen entschlüsseln oder schlüssiger machen können. Unschlüssigkeit am Ende meiner Erzählungen ist aber kein selten zu beobachtendes Phänomen, fürchte ich. Deine Ambivalenz bezüglich meiner Sprache ähnelt der Skepsis von maria. Auch sie findet keinen wirklichen Zugang zu meinen Worten, sie stört sich an irgendetwas, aber benennen kann sie es kaum, und das erklärt auch deine „Unfähigkeit“ ein Zitat herauszusuchen. (Unfähigkeit hier bitte nicht im negativen Sinne verstehen!) Dass dich meine Wendungen überraschen konnten und du mir einen besonderen Zugang zur Sprache zusprichst, freut mich sehr!

Der Text hat Anspruch, er hat Tiefe und du holst aus einem klassischen Sujet eine Menge raus. Ich mochte die Reflektionen, ich mochte die Bilder, auch viele Vergleiche fand ich sehr stimmungsvoll.
Vielen Dank für diese Einschätzung!

Nun zum Inhalt: Ich fasse deinen Eindruck mit einigen Worten zusammen: vorhersehbar (ausgehend von „weniger überrascht), zu konstruiert, nicht nachvollziehbar. Ich denke, dass es hier keine Frage des Geschmacks ist, ob man romantische Geschichten mag oder nicht, oder dass dir die Augenlider zufallen, es geht darum, etwas vollkommen Irrationales, etwas absolut Unlogisches als natürlich und logisch anzusehen. Liebe ist unlogisch und das soll der Text auch zeigen, dass Liebe sogar schädlich sein kann, ab einem gewissen Punkt. Es verwundert mich bloß, dass du – obwohl du Figurenzeichnung und Atmosphäre gut fandest – nicht mitgerissen werden konntest, in diese tödliche Unlogik. Als Autor fragt man sich freilich, woran das liegen könnte, man findet es schade. Vielleicht liegt es aber an der Länge im Mittelteil, dem Fünftel, das dir zu viel, zu viel Malerei, wenn das Bild schon fertig ist und man immer noch daran herumkritzelt, ich fand da deine Vergleiche auch sehr gut! Dass ich die Ideen unbedingt im Text haben will, schreibst du ja selbst. Dementsprechend schwer fällt es mir, hier zu kürzen. Aber ich denke, deine Unschlüssigkeit ist in dem Ende begründet, das spricht auch Herr Lollek an. Mich selbst fehlt da ein vorbereitender Teil, der die Motive noch gründlicher zeigt, oder überhaupt zeigt.

Na ja, so als Fazit würde ich sagen, dass mir der Text trotz des klassischen Plots literarisch einiges geboten hat, ich werde hier sicher auch etwas für mich mitnehmen. Du bist ohne Zweifel sehr talentiert und ich bin gespannt auf deine Texte.
Vielen lieben Dank auch dir, randundband, für deinen Kommentar, die Zeit dafür und deine Gegenmeinung auch, dieses Fazit, und dass ich dich trotz vieler Trotzs ein bisschen unterhalten konnte. Auch dass du mir Talent zusprichst, freut mich natürlich sehr!

Beste Grüße
markus.

***

Herrn Lollek habe ich erst gerade entdeckt, ich antworte dir bald!

 

„Hemmungen sind etwas ganz Wundebares – etwas wie Bremsen:
Sie hindern uns daran, allzu rasch allzu weit zu gehen.“
Johann Peter Uz (+ 1796)​

…, der seine Erregung in den Klamotten versteckte, die er vom Boden gesammelt hatte

Sie wollte etwas anderes, etwas Verbindendes. Etwas, das sie zusammen verwirrte.

Lieber Markus,

fassungslos stelle ich fest, dass die Fassung, die ich gestern mit nach Haus nahm, überholt ist (oder doch zumindest teilweise). allet, wat getz kütt, is also jestrig. Aba wat sollt? Verwirrt stelle ich fest, dass hier „Tage des abnehmenden Glücks“ im (unebenen, verzerrenden) Spiegel des „Mehr von Dir“ - wobei’s bei mir im klanggleichen englischen dear eigentlich besser getroffen würde – aber das konnte man ja seinerzeit nicht ahnen, dass eine Serie von besonderen Liebschaften entstünde, dass eine Art Gegenstück zu Leonce und Lena geschaffen würde. Gleichwohl ein Grund, die beiden älteren Geschichten noch einmal anzuschau’n.

Schon das Titelwort, der Plural des substantivierten ahd. (far)werran (= (ver)wickeln, durcheinanderbringen, aber auch: stören, entzweien, „in Aufruhr bringen“ [Köbler, Wörterbuch des Althochdeutschen]), lässt einiges Ahnen. Der etym. Duden mutmaßt gar, dass der Wurm darin stecke, weil die nhd. Verwirrung übers alte werran seine indoeuropäischen Wurzel im „Wurm“ finde, dass ich, bevors uns wurmt, gar nicht erst das DWB (Grimmsche Wörterbuch) anrühre. Aber verführte nicht schon in der frühmenschlichen Geschichte ein Wurm die Verführerin? Und teilen sich Liebende nicht alles, sei’s den Apfel der Erkenntnis oder den wiedergekäuten Kaffee

…, hatte aus ihrer Tasse getrunken, auch diesen bitteren Kräutertee, den er sonst mied oder ausspuckte
Spucken ist nun anders besetzt als die Liebe, ist aber bei allem Auswurf (Sputum) mit dem lebenswichtigen Speichel (verbal: speien) verwandt, komme er noch so schleimend daher, denn der Trank der Götter
„Was träumst du auch von Pfirsichnektar! So etwas gibt es in meiner Welt nicht. Auch nicht im Traum“
ist es auch, was ich für ein Kompliment an Leif (Nachtland) nehme. Noch nicht mal richtig angefangen – schon verwirrende drei (und eher mehr) Spuren (die Vorläufer eingeschlossen), selbst wenn der Spiegel oben blind wäre … Das macht den Felsbrocken, der da wächst, in der literarischen Ebene aus, denn wir Zwerge stehen allemal auf dem Rücken von Riesen (so funktionierte auch die Sozialversicherung wieder korrekt, OT lässt sich nirgendwo vermeiden). Und bevor ich mich itzo überheb (wer zweifelt daran, dass ich jetzt immer einen oder zwei Tage hinbter den Fassungen herhechel, bissken Kleinkram auf dem vorletzten Stand, wenn es etwa heißt
…, wenn nichts übrig bliebe als sein entwringtes Ich.
Entwringtes? Klingt gut, aber klangvoller und somit besser „entwrungen“!

Nicht etwa, weil er versucht hatte, abzuschreiben, sondern weil er den anderen jegliche Möglichkeit, seine Lösungen einzusehen, nahm.
Konjunktiv (nervich?, sollt aba nich)
…, weil er versucht h[ä]tte, abzuschreiben,
nebst Klammer
…, sondern weil er den anderen jegliche Möglichkeit [nahm], seine Lösungen einzusehen[…].

…, fast unterbewusst.
Ja, im Freudschen Wortschatz taucht’s Unterbewusstsein auf. Aber ist das ein minderes Unbewusstes? Nee, es ist nur ein unnötiges Synonym fürs Unbewusste.

ähnlich hier der Klammergriff

… zurück auf die Nase schieben, weil sie drohte, herunterzufallen.
ein Möbel wird verrückt (schon wieder zweideutig) und ein Komma in die Sparbüchse
…, weil sie [herunterzufallen] drohte […].

… anschaute, vielleichte dachte auch …
vielleicht

Sie versuchte[,] einzutauchen in die Logik, in die Choreographie aus Formeln und Zahlen, aber ihre Gedanken stolperten vorbei.

Irgendjemandem
Genügte nicht ein „jemand“, wenn irgendwo gleich nirgendwo ist?

Einmal schnappt die Fälle-Falle zu:

…, das Geburtstag hatte und wegen den Geschenken früher aufgestanden war als sonst.
Genitiv, wegen der Geschenke

„Es ist, was es ist“, sagte die Liebe.
„Die Liebe ist ein seltsames Spiel“, antwortete der Schlager.

Genug für heute, meint der

Friedel,
der schon mal neben dem Wortspiel mit Pronomen (Er+ich = Erich) auch eines mit einem seiner altehrwürdigen Vornamen treibt: Fried(E)rich, der noch ein schönes Wochenende wünscht!

 
Zuletzt bearbeitet:

Lieber markus,

wie immer sprachlich einfach nur gut und inhaltlich bis zu einem gewissen Punkt zum Mit(er)leben, deine Geschichte. Der erste Part hat mir seeehr gefallen, da waren auch so schöne Formulierungen drin, die man sich in Schönschrift irgendwohin pinnen könnte:

"Sie waren; aber was, sagten sie nicht."

zum Beispiel, oder

"Leonie wischte sich das Lächeln aus dem Gesicht, trat sich die Füße blutig in den Scherben, weil sich Theo seit kurzem ständig den Kopf zerbrach."

Aber nach dieser Stelle wird es für mich schwieriger, mitzugehen mit den Beiden.

Und gerade weil ich 'Was es ist' so mag, für mein Gefühl ist hier irgendwann gar nicht mehr von Liebe die Rede. Ja, am Anfang schon, und den liebe ich auch, das zarte Sich-Nähern, die Begeisterung, die Unkonzentriertheit im Studium ... aber dann, was ist das? Wie könnte eine wirklich Liebende sich in so einen Wahn steigern?
Wer liebt, will sein/ihr Glück, sonst eigentlich nichts. Und sie verletzt ihn? Will ihn mitnehmen ins ... ja, wohin eigentlich? Wenn es hier aus irgendwelchen Gründen keine gemeinsamen Perspektiven gäbe, vielleicht (aber selbst dann ist der Tod die schlechteste aller Möglichkeiten). Aber noch nicht mal solche Probleme bekommen eine Gestalt in der Story. So bleibt in meinem Kopf ein riesiges Warum stehen.
Und schon vorher, ein Versprechen wie ein Grab, da komme ich nicht mit, auch nicht, dass er zuletzt tatsächlich bei dem Gedanken mitgeht.
Nein, leider, von Liebe ist im zweiten Teil keine Rede, nur von einer verirrenden verwirrenden Krankheit, die schließlich auch ihn ansteckt, gewissermaßen.
Trotzdem, ich habe sie gerne gelesen, deine Nicht-Liebesgeschichte.

Viele Grüße,

Eva

P.S. Na ja, so politisch verirrt finde ich ihn eigentlich nicht ...

 

Lieber Markus,

ich kann meinen Vorkritikern eigentlich nur beipflichten, wenn sie sagen, die Geschichte besteht aus zwei Teilen: Einen, der runter geht wie Öl, einen Teil, der mir fast Tränen in die Augen treibt, der wahrhaft romantisch ist, aber dennoch alles andere als klischiert.

Beispiel:

Es gelang ihm, sowohl das Ausrufezeichen als auch das Fragezeichen zusammen mit dem Schrei durch ihr Fenster zu werfen.
– Sehr, sehr schön.

Und einen Teil, bei dem ich mich frage, ob du da nicht versucht hast, zwei Geschichten in einer unterzubringen. Ich muss dir bescheinigen, das ist dir nicht gelungen. Ich behaupte nicht, dass das in der Realität nicht genauso ablaufen könnte. Aber sie kann so, davon bin ich überzeugt, nicht glaubwürdig in der von dir gewählten auktorialen, allwissenden Perspektive erzählt werden. Am ehesten hättest du damit Erfolg, wenn du von Anfang an Hinweise auf ihren Wahn gibst. Beziehungsweise, gibt es diese Hinweise bereits (außer dem gemeinsamen Traum, in dem sie aus dem Fenster springt, den zähle ich nicht, kann dir nicht genau sagen, warum), so habe ich sie mehrheitlich einfach nicht als solche wahrgenommen, das Problem liegt dann wohl eher bei mir als Leser. Wenn nicht: Spontan fiel mir ein, das sie ihn während ihrer Orgasmen gewohnheitsmäßig leicht würgen könnte, nur als Beispiel. Dann wäre der Text aber auch eher in Horror anzusiedeln und der erstere, romantische Teil entschieden zu kürzen.

Soll der romantische Teil dagegen Bestand haben, bzw. der sein, an den ich Leser mich vorrangig erinnere, wenn ich an die Geschichte denke, so müssen – so wahr mein Weltbild UNESCO-Weltkulturerbe ist ;) – zum Schluss beide noch leben. Und sie soll sich in psychologische Behandlung begeben, sag ihr das :D.


Viele Grüße,
-- floritiv

 

Hej M. Glass,

der erste Teil hat mir gut gefallen. Dafür haben vor allem die Figuren gesorgt, ich mochte, wie sie Dinge unausgesprochen gelassen und hilflos und komisch und menschlich gewirkt haben.
Und ich mochte diese beinahe künstliche Stimmung in die Du beide setzt, der Anfang hat für mich etwas von einem Versuchsaufbau, das fand ich passend, und ich hab mich gefragt, wie Du da wieder rauskommst.

Spannend fand ich, als Leonie sagt, sie sollten etwas suchen, was sie zusammen verwirrt. Da hattest Du meine volle Aufmerksamkeit. Und danach passiert, was ich erwartet habe, alles wird irgendwie auf den Boden der Tatsachen gebracht, das muss ja so, denke ich, aber gefühlsmäßig bleibe ich da komplett auf der Strecke. Für mich driftet die Handlung ab, in diese Träume, die mir nichts sagen und letztendlich in den "Wahnsinn", wie Theo es nennt, der für mich so wenig fühlbar war, dass ich zuerst angenommen hab, es würde sich dabei um einen weiteren Traum handeln.
Ich finde trotzdem, Du hast das ziemlich gut verpackt. Dieses Tod-Seele-wir-müssen-einander-folgen-Dings würd mich anders aufgezogen (wenn ich sowas z.B. selber versuchen würde) anöden.
Letztendlich find ich's unbefriedigend. Weil sie nichts Wirkliches versuchen.

TExtkram:

sein entwringtes Ich
entwrungenes?

seine Tinte fraß sich in den Zellstoff, der fast feierlich verdickt auf dem viel zu kleinen Pult vor ihm lag.
Da liegt ein Taschentuch o.ä. und ein vergessener offener Füller? Verdickt? Meinst Du mit Zellstoff das Papier? Ich versteh das ehrlich nicht.

bis in die Messerspitze, das sich im einzigen Küchenschub befand
bis in die Messerspitze, die sich im einzigen Küchenschub befand

„Du bist schuld an allem“, sagte Theo. Er lockerte seinen Griff, ließ ganz von ihr ab und wäre am liebsten in die vorbeifahrende Bahn gesprungen, weg von ihr. „Du auch“, sagte Leonie
:)

Rosentreter
Grüblich
Mai the Huy
Hedderoth
Sokolowski
Kindermann
Sternthal
Eine der Stellen, die mir zu ausgebreitet daherkam. Irgendwie hab ich kein Gefühl zu der ganzen Szene.

denn irgendwie hatte Leonie keinen Mund, sondern ein Lächeln
Ich mochte das.

Einmal hatte ihr Theo von „Primzahlzwillingen“ erzählt. Primzahlen, mit einem Abstand von 2. 11 und 13 waren solch ein Pärchen. Aber je größer die Zahlenwerte wurden, desto seltener wurden Primzahlen. Umso überraschender war das Phänomen, dass auch bei wirklich großen Zahlen, immer wieder solche Primzahlzwillinge vorkamen. 1.000.037 und 1.000.039, beispielsweise. Leonie mochte diesen Gedanken, aber mehr aus einer romantischen Sicht, weniger aus einer mathematischen.
Sieht sie sich und Theo als große Zahlenwerte, die sich trotzdem gefunden haben?

Der Tod ist unlogisch, Theo. Genau wie die Liebe.
Wenn sie so auf der Unlogik herumreitet, bleibt sie irgendwie an der Logik kleben.
Es ist ebenso unsinnig, den Tod "unlogisch" zu nennen wie Füße, Männerhemden oder Pudding ... man würde wohl eher sagen: "... hat mit Logik nichts zu tun."

Noch mal zum Ende ... auf mich wirkt es irgendwie trotz aller Dramatik so handlungsarm. Du beschreibst, was Leonie tut, aber eigentlich steht das ja gar nicht im Vordergrund, es geht eigentlich nicht um Gewalt, um töten wollen, sondern zumindest scheinbar um Gemeinsamkeit, um ein Beieinander-sein, aber wenn man will auch um Kontrollwahn, Ängste usw. Dein Focus liegt aber ganz auf dem Akt des Tötens, bzw dem Versuch. Und da find ich für mich nichts, kaum ein Häppchen.

Vielleicht kannst Du ja was anfangen, mit meinen Gedanken.

Gerne gelesen hab ich's auf jeden Fall.

LG
Ane

 

Hallo,

Morgens brauchte er exakt zweiundzwanzig Minuten im Bad, obwohl er sich nicht duschte oder zumindest den Schnurrbart schnitt oder stutzte.
Das geht sprachlich so nicht. Mit Negationen im Deutschen als Aufzählung ist es schwierig, elegant zu formulieren. Das Deutsche hat dafür „weder/noch“ vorgesehen. Obwohl er sich weder duschte, noch den Schnurrbart schnitt oder stutzte. Wenn man das anders machen will, geht auch mit so einem sprachlichen Trick, einer Wiederholung: obwohl er sich nicht duschte, sich nicht einmal den Schnurrbart schnitt oder stutze. (Da hat man dann auch diese Wertung drin – die du hier mit dem „zumindest“ hast, das man sich eher rasieren als duschen sollte). Das Problem mit Negationen im Deutschen ist es, dass man das negierende Hilfswort immer mitschleppen muss – das ist in der Stilistik immer eine kleine Hürde. Wenn man so Hürden umgehen will, wie hier, muss man halt schauen, wie man es macht.

Wenn man ihm alles nähme, wenn man ihn häuten würde, wenn nichts übrig bliebe als sein ausgewrungenes Ich.
So wie es da steht, ist das „ausgewrungene Ich“ das Resultat der ersten zwei Handlungen, ich denke es soll aber als Steigerung gemeint sein, und da würde ich vorschlagen: „Wenn nichts anderes von ihm übrig bliebe als ein ausgewrungenes Ich.“
Ich glaube das „sein“ macht hier irgendwas in dem Satz, was es nicht machen dürfte – irgendeine sprachlich stehende Wendung, deshalb les ich den 3. Teil als Folge der ersten zwei, und der Text meint es nicht als Folge, sondern als dritten Schritt, aber weil hier dieses Schema: „wenn man, wenn man, wenn nichts übrig bliebe als“ - irgendwas ist da komisch. Und mich stört, dass „ausgewrungen“ weder als Resultat von „gehäutet“ noch von „alles weggenommen“ zurückbleibt.
Das sind so Fälle – ich frag mich, warum ich das dritte Glied hier als Folge wahrnehme und der Text es nicht so verstanden haben will – und ob das irgendwie objektivierbar ist. Ich denke es liegt an dem „sein“, oder an dem Dreiklang. Hm oder an den Ibuprofen , die ich die letzten Tage genommen habe.

sondern weil er den anderen jegliche Möglichkeit, seine Lösungen einzusehen, nahm.
Das „nahm“ kann man ruhig vorziehen, oder? Findest du das so wirklich schöner?

als hätte jemand einen Fremdkörper in das Zahnrädchenwerk seiner Gedanken geschoben.
Ich finde, das ginge besser als „Zahnrädchenwerk“. Warum muss das in ein Wort gepresst werden? Ich weiß ja, dass du außergewöhnlich schreiben willst, und ich finde das auch gut, ich will dir hier eine Anregung geben, wäre es nicht toll, wenn sich der Vorgang der hier beschrieben wird, sich auch in der Satzmelodie widerspiegeln würde. Wenn man in dem Satz merkt, dass etwas in Räderwerk gefallen wäre. Das fände ich eine sehr feine Richtung, in die du Energien lenken könntest. Ich hab z.b. gelesen, dass Cormac McCarthy seinen Killer in „No Country for old Men“ nur Chigurh genannt hat, weil er fand, dass der Name wie ein Fremdkörper aus jedem Satz herausragt.
Ich möchte dir überhaupt nicht in die Auswahl deiner gestalterischen Mittel hineinreden, im Gegensatz zu anderen Leuten im Forum, die arme Autoren, die nur über Vampire schreiben wollen, furchtbar mit so was aufziehen, bin ich durchaus der Ansicht, dass ein Text sprachliche Gestaltungsmittel (auch etwas gewagte und exaltierte) brauch und benutzen darf und soll. Man sollte als Autor aber vorsichtig sein, nicht zu bequem zu werden.

„Wohin gehen wir?“, fragte er.
„Ist das so wichtig?“, fragte sie.
„Nein“, log Theo.
Bisschen runterdrehen mal. Ich hab nix gegen süße Romanzen, aber das wär mir jetzt schon zu dick. Ich hab mal einen Film gesehen, da trifft ein irischer Straßenmusiker, der auf einen Durchbruch hofft, eine junge Migrantin – und es ist alles ziemlich traumhaft und schön. Und dann nervt sie ihn 5Minuten lang wie ein Kleinkind, dass er sie unbedingt mit seinem Roller fahren lassen muss. Das war so unperfekt und so ungekünstelt nervig an ihr, dass mir das gefallen hat – das brauchte ich unbedingt in dem Film. Das dann mal nach so einer Passage, in der sich die Leute verhalten wie literarisch konzipierte Figuren, sie auch mal einen anderen Moment haben. Nicht nur „süße Hundewelpen“. Und auch nicht „scheinbar herbe Momente, die trotzdem zuckersüß sind“, sondern – wart mal, ich such mal den Film raus: Der Film heißt „Once“ - und ich mein nur die Szene mit dem Motorrad. Die ist wirklich fantastisch nervig. Da quengelt dieses herbe Traumgeschöpf, das natürlich einen tragischen Hintergrund hat und alles, da quengelt sie rum, wie eine Fünfjährige an der Supermarktkasse, dass man jetzt unbedingt noch ein Maoam kaufen muss.
So Gegensteuern tut Texten richtig gut, finde ich immer.

Ohne zu wissen, was sie waren, waren sie es. Sie trafen sich in Museen, sprachen über Kunst, über Andy Warhol, und was er gesagt hat über sich, dass jemand, der alles wissen will über ihn, nur die Oberfläche anzusehen braucht, die seiner Bilder und Filme und von sich - das sei er. Da wäre nichts dahinter.
Ich fänd ja für so eine Geschichte es mal einen erfrischenden Weg, wenn nicht der Mathe-Nerd sich verändern würde, sondern die Künstlerin. Wenn sie sich irgendwo treffen und über Kopernikus reden. Aber so ist das halt: Der Mathematiker wird aus seiner Bahn geworfen. Dass er dann in der ersten Hälfte des Textes soundso beschrieben wird: Er ist Mathematiker durch und durch. Und zwei Minuten später, möchte er gerne, dass sie „Sternthal“ heißt und kennt sich mit Warhol aus – hast du mal so völlig unromantische Menschen getroffen, die wirklich so sind, wie du den Mathematiker am Anfang beschrieben hast? Das ist nicht so, dass man da mal mit dem Finger anstuppt und die werden zu komplett anderen Persönlichkeiten. Das ist auch der Unterschied zwischen solchen literarisch „neurotischen“Figuren, die immer noch selbstreflektiert sind und süß, und „echten“ Neurotikern und Menschen mit einer eingeschränkten Wahrnehmung. Der Typ, den du in den ersten Zeilen da beschrieben hast: Ich find's naiv, anzunehmen, dass dann „Liebe“ einfach alles wegbürstet.

„Wunderbar! Jetzt hänge ich nackt im Wohnzimmer deiner Oma und all deine Verwandten betrachten mich, während sie aus einer Tasse Tee schlürfen und Kekse mampfen.“
„Ich hatte nicht mehr genügend Grün für deine Augen. Hab stattdessen blau genommen. Die würden dich nie wiedererkennen“, lächelte Leonie.
„Dafür bekomme ich mein Bild umsonst“, sagte Theo.
Hmpf, also ich hab ein Problem mit dem Text, dass in manchen Passagen so eine Traumlogik greift: Sie schweben da durch die Straßen und bennnen nicht, was sie sind. Das sollen andere tun. Und sie küssen sich „surrealistisch“ und das alles. Und sie sind sich selbst genug und schweben so und leben da ganz als sie selbst – und dann hier ist aber: Jetzt hängt da die Omma.
Was kümmert es die Figur? Was ist da los? Ist die in einer Szene so, und in der anderen so? Oder kannst du als Autor keinem schönen Satz widerstehen. Ich hab so das Gefühl: Jetzt schreibt M. Glass über das verliebtsein und dann sind die Figuren gefälligst verliebt, ob's passt oder nicht. Aber das muss dann doch auch immer Konsequenzen haben. Wo ist der Mathematiker, den du in den ersten Zeilen beschrieben hast? Wo ist das völlig schwebende Liebespaar?

Freunde von Theo meinten: „Sobald du deinen Schwanz in sie steckst, sind die Gefühle weg.“
Ich frag mich immer, wo es in der Realität Menschen gibt, die so was sagen. Dass irgendwie dann immer im Umfeld solcher Figuren so total desillusionierte, zynische Prolls sind. „Freunde“ - auch noch Plural. Das wird gesagt und dann bleibt es unwidersprochen im Raum, ich stell mir das vor. Da erzählt einer, er ist jetzt total verliebt, und dann sagt der Gegenüber: Ja, und schon mal gepoppt? Und er sagt: Nein. Und dann sagt: „Also sobald du deinen Schwanz in sie steckst, dann sind die Gefühle weg.“ Und der Rest am Tisch nickt und sagt: Ja, so war's bei mir auch. Wer sagt so was? Warum gibt’s davon mehrere? Wenn einer sagt: Wenn du mit ihr zusammenziehst und sieben Jahre zusammenlebst, ihr 3 Kinder habt und 2 Hypotheken – dann wirst du andere Gefühle für sie haben als jetzt und die Leidenschaft wird nicht mehr im Vordergrund stehen. Das könnte ich mir vorstellen, dass dann ein Tisch von Freunden sagt: Könnte was dran sein. Aber: Wenn du einmal mit ihr schläfst, dann sind die Gefühle weg: Wer denkt denn so? Ein Schulhofplayboy, oder was? Wenn einer sagen würde: Für dich ist das jetzt alles neu und die erste Liebe, das ändert sich mit der Zeit.
Ich mein, mir ist klar, dass du das für deine Geschichte brauchst, so eine Aussage: Aber „Freunde von Theo meinte“ - das ist so ein nebulöses Plot-Element von außen, das ohne jede Lust hier eingeführt wird, ob's plausibel ist oder nicht. Warum hat der überhaupt Freunde? Der wirkte doch in der ersten Szene wie der totale Außenseiter, wenn der sich da gegen böse Blicke abschottet? Konsequenzen: Jeder Satz, den man schreibt, muss man als Autor auch für sich respektieren, dass der eben Konsequenzen hat.
Warum hat ein Typ wie Theo einen Freundeskreis, der prolligen Machos besteht?

Sie wollte nicht, dass er ihnen ein Namensschild umhängte, eine Erklärung; wie er alles betitelte und untertitelte, um manchmal das Dahinter oder Darüber zu übersehen. Sie wollte etwas anderes, etwas Verbindendes. Etwas, das sie zusammen verwirrte.
Boah … ich krieg Diabetes. Also mir ist das zuuuu süßlich. Ich mag das nicht. Du hattest doch mal einen Text, da war der Erzähler so ein romantischer Softie, und die Frau hat da richtig Leben und Wirbel reingebracht. Aber hier: Boah. Die verhält sich doch wie 15. Identität und „Kein Etikett“ und „anders sein“, und „das musst du doch fühlen“ und Hermann Hesse – ich find das ist so ein Verhalten, das ich mit dem Alter in Zusammenhang bring, wenn ein Haufen Wissen da ist und noch mehr Gefühle, aber noch überhaupt keine Erfahrungen.

oder mit einem Mathematikfreund ein Bierchen trank oder einen Pornofilm guckte,
Andersrum, oder bei Pornofilm ein „alleine“ ergänzen. Sonst steht da, dass die erst zusammen ein Bierchen trinken und sich dann zusammen einen Porno reinziehen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er so einer ist.

Die Traum-Szene … die hätte ich toll gefunden, wenn ich sie vor x Jahren gelesen hätte. Aber jetzt hab ich beim ersten Satz schon gedacht: „Wie bei Being John Malkovich“ und dann ist die Wirkung ziemlich verpufft.

Nee, also für mich war's diesmal nix. Was Lollek schreibt über das Ende – ja. Die letzten 3 Absätze sind dann zu wenig, um die Geschichte in eine fast gänzlich neue Richtung zu lenken, diese Todessehnsucht als höchster Ausdruck der Liebe, das finde ich auch vorher im Text nicht ausreichend verankert. Und das kommt dann extrem brachial.

Ansonsten: Mir ist das zu süß, ich hab da nicht die Ader für, mich erwischt der Text nicht, ich finde dere Mathematiker löst sich zu schnell auf. Ich verliebe mich nicht in die Künstlerin, ich sehe nicht, was an der so toll sein soll. Dann finde ich, nimmt der Text seine Aussagen nicht ernst. Wenn der Mathematiker sich so sein Leben eingerichtet hat, dass der Komet Leonie jetzt alles durcheinander bringt. Und das steht ja so da. Warum schafft er dann sein Studium doch noch, wenn auch mit paar Abstrichen? Warum hat er dann Freunde, warum sieht man die nie, warum heißt es erst so und dann heißt es so? Fühlt sich der Mathematiker gut, wenn er alles, was er vorher war, komplett wegwirft. Der löst sich ja auf, wie Süßstoff im Kaffee. Wo ist der Widerstand? Normal bei so einer Fisch trifft Fahrrad-Geschichte, da entsteht ja der Reiz daraus, dass die sich gegeneinander wehren: Dass es eben nicht okay ist für einen Mathematiker auf einmal im Museum abzuhängen und sich da Kunst reinzupfeifen, sondern das sind Kompromisse, die man eingeht.
Das ist auch diese Erzählperspektive hier, am Anfang meint man, es wär der Mathematiker als Erzähler, und dann geht er ins Museum und kann da Künstler bennnen, die ich noch nie gehört hab. Andererseits sagt er aber, er kennt nur Goethe und Schiller.
Ich finde der Mathematiker ist eine extrem schwache Figur in dem Text, der ist handwerklich nicht gut gestaltet, sondern der ist in jeder Szene dann so, wie der Text ihn grade braucht. Und die gewaltigen Veränderungen, die er im Laufe des Textes durchmacht, die sind so radikal und schnell. Nach 2 Minuten ist der komplett anders als beschrieben. Und dann ist für den Rest des Textes halt aus dem Gleichgewicht. Ich hab nicht das Gefühl, du kriegst die Figur wirklich zu fassen. Sondern die ist für den Anfang ein Mathematiker, den du schilderst, und dann ist deinen anderen Erzählern sehr ähnlich.
Und das Mädchen, die Frau da … also ich glaub schon, dass es so Frauen auch gibt. Aber ich glaub, die haben massive dunkle Phasen, die haben Selbstzweifel, Schwierigkeiten, ihr Leben zu organisieren, die haben Stimmungsschwankungen, sind unstet, neigen zur Melancholie, sind egozentrisch, nehmen unheimlich viel Platz ein usw. usf. Und die hier, die ist ja wie so ein Lifestyle-Traum: Freie Künstlerin. Völlig selbstbestimmtes Leben, ausgeglichen, unkompliziert und pflegeleicht, abenteuerlustig, verbringt ihre Zeit in Museen, schläft da mal und da mal, und ist allgemein ein wunderbarer Schatz, bis sie im dritten Akt beschließt, eine irre Todessehnsucht zu entwickeln. Also ich bräuchte für eine Romanze, der ich folgen kann, dann auch mal die dunkle Seiten.
Kennst du so „Künstlerinnen“? Das ist nicht alles rosarot, die sind keine sanfte Brise, die man so im Leben hat und alles ist wunderbar und schön. So sind Beziehungen doch nie. Es gehört halt auch dazu, sich mit den Probleme des anderen auseinander zu setzen und sich auch mit den anderen Seiten zu konfrontieren, Kompromisse eingehen, sich zu bemühen ... Das ist hier so in Ansätzen drin, aber offenbar ist das höchste, was die Frau von ihm verlangt, die Träume abzugleichen. Normal: Wenn 2 so unterschiedliche Personen zueinander finden und dann wird versucht, so Interessen abzugleichen – das ist nicht so locker. Ich bin mal mit einer ins Kino gehen und hab mir dann eine Teenager-Cheerleader-Komödie angesehen und hätte mir am liebsten während der Vorstellung die Augen ausgekratzt (und bevor dumme Sprüche kommen – sie war 25 oder so). Mal abgesehen davon, dass man dann die „Freundinnen“ kennenlernen soll und lauter so Zeug.


Okay, das klingt jetzt so nach: Der Quinn will, dass die Welt so ist, wie er sich das vorstellt und schließt von seinen paar Erfahrungen auf alles andere, dann formuliere ich das anders: Ich fände die Frau hier wesentlich stärker, wenn sie andere Ansätze noch in der Figur hätte, die deutlich negativer konnotiert sind. Es bringt auch nix, hier zu meckern. Ich mochte die Geschichte nicht, mir ist das einfach zu süß, zu künstlich und auch zu naiv geschildert.
Ich hab gesehen, du hast ja auch sehr positive Kritik bekommen – das ist halt auch ein Stück weit eine reine Geschmacksfrage. Wenn einen der Text erwischt, erwischt er einen; und wenn nicht, dann nicht. Und bei mir hat er offenbar ganz falsche Knöpfe gedrückt.

Gruß
Quinn

 

Vielen lieben Dank für eure Worte. Verzeiht mir bitte, wenn ihr ein bisschen auf meine Antwort warten musstet oder müsst. Ich kann schon jetzt sagen, dass der Text eine umfangreiche Überarbeitung erfahren wird.

Lieber Herr Lollek,

es tut mir leid, dass ich dich enttäuschen musste. Dass dich der Anfang so mitriss und dich das Ende alleine stehen ließ. Schon als ich den letzten Satz geschrieben habe, wusste ich, dass das mein Ende war, aber nicht das der Geschichte.

Ich danke dir für deine Texthinweise. Das entwrungene/ entwringte, tropfend, triefende Ich habe ich gestrichen. Und jeder Dialogfetzen bekommt seine eigene Zeile.

Erst toll, dass sein Schnurrbart das letzte kleine Nein ist, aber dann kommt gleich, dass sie nicht zusammen zogen. Ist doch auch ein kleines Nein, oder?
Hier wird ja nicht gesagt, dass er will, dass sie zusammen ziehen. Vielleicht hat sie gefordert, dass sie bei ihm schläft, aber seine alte Wohnung behält, der Freiheit wegen. Sie wohnen ja praktisch zusammen. Ich beobachte oft, dass Menschen unsinnige Dinge tun. Aus Gründen der Freiheit.

Dass du deinen Hut kurz abnimmst, hat mich sehr gefreut, dass dir meine Sprache gefallen hat und du die beiden gerne beobachtet hast, du überhaupt sehr begeistert warst von einem Teil der Geschichte. Du schreibst, das Ende ist nicht gut genug, du stehst da ja auch nicht alleine, randundband, Eva, floritiv und auch Quinn, der das Problem nicht am Ende sieht, sondern im Kern der Geschichte, eigentlich der ganzen Systematik, der ganzen Logik des Textes, weil am Ende nicht meine Figuren, sondern ich verwirrt bin, und der Leser vielleicht auch. Am wenigstens hat mir selbst nicht das Ende gefallen, sondern der Teil davor, die Vorbereitung auf das Finale und schlussendlich wirkt das dann künstlich und nicht nachvollziehbar, zumindest nur nachvollziehbar bei sehr willigen Lesern. Wie schon erwähnt, werde ich die Geschichte total überarbeiten und ich weiß nicht, welche Rolle dieses Ende in der Geschichte dann spielt, aber ich kann verstehen, dass du es nicht verstehst, dass du den Empfehlungstext aus deinem Kopf streichst, weil es am Ende keine logische Verwirrung ist.

Aber ich kann hier nicht nachvollziehen, warum Leonie überhaupt jetzt sterben will. Hab ich was übersehen? Man könnte doch zuerst noch bisschen zusammen leben, bevor man zusammen stirbt ... Sie wollte unbedingt zusammen sterben, ja, aber doch irgendwann, dachte ich.
Ja, warum sie das so plötzlich macht, steht nicht im Text. Die Gründe jetzt hier aufzuführen, hätte keinen Sinn, die müssen weiter oben stehen. Aber das ist eine gerechtfertigte Kritik!

Wirklich großartige Figuren, finde ich, tolle Sprache, klasse Vergleiche. Absolut überragend. Nur das Ende ist einfach nicht gut genug für die Geschichte.
Für dieses Fazit danke ich dir und deine Gedanken fließen auf jeden Fall mit in die neue Geschichte, vielleicht auch als Farbe in dem Bild, auf das Theo guckt, vielleicht tut er das gar nicht mehr am Ende, vielleicht endet es auch gar nicht mehr damit.

Ich danke dir für deine Zeit und deine Mühe, das Lob, das richtig gut tat, aber auch die unverschönte Wahrheit, dass da der Wurm drin ist, am Ende.

Beste Grüße
markus.

Lieber Friedl,

ja, die kleinen, lästigen Fehler habe ich sofort ausgebessert, so dass möglichst wenige davon genervt werden. Großartig hat sich noch nichts verändert, wir sprechen noch über dieselbe Geschichte.

Verwirrt stelle ich fest, dass hier „Tage des abnehmenden Glücks“ im (unebenen, verzerrenden) Spiegel des „Mehr von Dir“ - wobei’s bei mir im klanggleichen englischen dear eigentlich besser getroffen würde – aber das konnte man ja seinerzeit nicht ahnen, dass eine Serie von besonderen Liebschaften entstünde, dass eine Art Gegenstück zu Leonce und Lena geschaffen würde. Gleichwohl ein Grund, die beiden älteren Geschichten noch einmal anzuschau’n.
Gewiss knüpfe ich gedanklich immer wieder an meine alten Werke an, „Tage des abnehmenden Glücks“ – jetzt „Sonntag riecht kein Glück“ – dürfte ja nur in deinem Kopf aufgetaucht sein, wegen diesem dramatischen Ende, dieser Klingentat, nicht aus Mordgelüsten, sondern aus Liebe (zum Duft), zu Theo. Ansonsten würde ich den beiden Texten doch eine Ähnlichkeit absprechen. Zumindest dem Knutsch- und Kuschelteil.

Aber verführte nicht schon in der frühmenschlichen Geschichte ein Wurm die Verführerin? Und teilen sich Liebende nicht alles, sei’s den Apfel der Erkenntnis oder den wiedergekäuten Kaffee
Den Gedanken mochte ich.

Ich danke dir für deine Texthinweise, die Klammer- und Fallfälle, auch das unachtsam stehen gelassene „e“ hab ich gestrichen. Das Unterbewusstsein lass ich stehen, weil „unbewusst“ ja bedeutet, dass in keinem Falle eine Wahrnehmung stattfindet. D

Ich danke dir für deine Zeilen, auch für deine – wie gewohnt – interessanten Wortgeschichten hinter dem Wörtchen „Verwirrungen“, zu der ich aber gar nicht viel sagen kann, außer dass ein Bild nicht stimmt, denn wenn irgendwo ein Wurm drin ist, ist das keine bloße Verwirrung, sondern eine progressive Zerstörung des Irgendwos oder Irgendwems. Bei den beiden ist kein Wurm. Der steckt schon in meiner Geschichte.

und noch einen … ah, ich denke, es wird spät, ehe der Text das Forum erreicht, und noch später, ehe er dich erreicht, deswegen schreibe ich: ich hoffe, du hattest ein ebenso schönes Wochenende!

Beste Grüße
markus.

Liebe Eva,

vielen lieben Dank für deine Zeilen, dass dir meine Sprache wieder gefallen hat, freut mich sehr, auch, dass dir der Inhalt größtenteils zugesagt hat, aber an diesem Kritikpunkt, diesem Hauptpunkt der Auseinandersetzung wird sich noch einiges ändern, hoffe ich.

"Leonie wischte sich das Lächeln aus dem Gesicht, trat sich die Füße blutig in den Scherben, weil sich Theo seit kurzem ständig den Kopf zerbrach."
Es freut mich, dass dir einige Formulierungen besonders gut gefallen haben, und dass du mir die nennst, weil es ja immer wichtig ist, zu sehen, was funktioniert, und was nicht.

Und gerade weil ich 'Was es ist' so mag, für mein Gefühl ist hier irgendwann gar nicht mehr von Liebe die Rede.
Schön, dass du ein Fan von diesem Gedicht bist. Und interessant, dass du genau zu wissen scheinst, was Liebe ist. Also, das meine ich jetzt nicht böse, obwohl ich es so spitz formuliert habe. Aber darum geht es doch auch immer. Um die Frage: Was ist Liebe? Und er antwortet schlicht (und dumm vielleicht): Es ist, was es ist. Punkt. Und wenn die Liebe unlogisch wird und man sich aus Liebe tötet, nicht weil sie aufgehört hat, sondern weil sie zu stark ist, dann ist das für mich schon Liebe. Liebe ist ja das Hauptmotiv des versuchten Mordes. Warum sonst sollte sie versuchen, ihn zu töten?

am Anfang schon, und den liebe ich auch, das zarte Sich-Nähern, die Begeisterung, die Unkonzentriertheit im Studium ... aber dann, was ist das? Wie könnte eine wirklich Liebende sich in so einen Wahn steigern?
Ich denke schon, dass das geht. „Es war nicht das Gesicht einer Mörderin. Es war das Gesicht einer Verliebten, einer Verwirrten.“ Liebe hat die beiden verwirrt und freilich ist das ein romantisch, naiver Gedanke, aber das war mein Gedanke.

So bleibt in meinem Kopf ein riesiges Warum stehen.
Und schon vorher, ein Versprechen wie ein Grab, da komme ich nicht mit, auch nicht, dass er zuletzt tatsächlich bei dem Gedanken mitgeht.
Ja, es stimmt, ich lasse da den Leser mit einem hässlichen Fragezeichen zurück. Aber ich werde das auf jeden Fall überarbeiten. Die dick markierte Stelle in der Antwort auf lolleks‘ Kommentar bezieht sich teilweise auch auf deine Kritik.

Nein, leider, von Liebe ist im zweiten Teil keine Rede, nur von einer verirrenden verwirrenden Krankheit, die schließlich auch ihn ansteckt, gewissermaßen.
Das ist auch eine sehr interessante Feststellung: Genau das, was für dich eine „verirrende, verwirrende Krankheit“ ist, ist für mich das Idealbild der Liebe. Nein, nicht das Idealbild, ein idealistisches Bild einer Liebe, nicht der Liebe, eine Möglichkeit, wie eine Liebesgeschichte enden könnte.

Dass du es trotzdem gerne gelesen hast und es nicht als Zeitverschwendung empfunden hast, freut mich! Danke auch dir für die Zeit und die Zeilen, die du mir da gelassen hast!

Beste Grüße
markus.

Lieber floritiv,

du schreibst den anderen hinterher, benennst es teilweise ein bisschen anders, aber das ist auch wichtig, weil ich dann sehe, wo es hapert, auch wenn man dann nicht sofort weiß, warum.

Die Geschichte besteht aus zwei Teilen: Einen, der runter geht wie Öl, einen Teil, der mir fast Tränen in die Augen treibt, der wahrhaft romantisch ist, aber dennoch alles andere als klischiert.
Ja, da verknotest du Kritik mit Lob, und das gefällt mir, auch, weil es ja hilft. Obwohl das „Wort“ Öl in meinem Text wohl zu positiv assoziiert ist, als es hier gemeint war.
Du schreibst, ich hätte vergeblich versucht, zwei Geschichten in eine zu packen, und dass es mit der auktorialen, allwissenden Perspektive nicht geht. Also: Mit dem ersten Teil deiner Aussage hast du total recht, wobei es nicht zwei Geschichten sind, sondern eine Geschichte, an die ich ein Ende gesteckt habe, das nicht passt. Und ich denke schon, dass der auktoriale Erzähler das hinbekommt, vielleicht schaffe ich das nicht, als Autor, aber ich bezweifle, dass mein Versagen an der Erzähltechnik liegt.

Am ehesten hättest du damit Erfolg, wenn du von Anfang an Hinweise auf ihren Wahn gibst. Beziehungsweise, gibt es diese Hinweise bereits (außer dem gemeinsamen Traum, in dem sie aus dem Fenster springt, den zähle ich nicht, kann dir nicht genau sagen, warum), so habe ich sie mehrheitlich einfach nicht als solche wahrgenommen, das Problem liegt dann wohl eher bei mir als Leser.
Dass du den entscheidenden Abschnitt nicht gelten lässt, ist irgendwie interessant, aber vermutlich das Ergebnis davon, dass ich an anderer Stelle mit dem vorwahnsinnigen Zustand von Leonie spare.

Ja, dein Problem mit der Geschichte liegt auch am Ende. Ich danke dir für deine Zeit und Mühe, auch, dass du zeigst, dass es zwei grobe Richtungen gibt, für die ich mich entscheiden muss, obwohl es ja immer Millionen gibt. Freilich werde ich mich hier für die romantische entscheiden, auch wenn ich nicht versprechen kann, dass am Ende beide noch Leben.

Beste Grüße
markus.


Euch zwei, Ane und Quinn, muss ich leider noch vertrösten. Bis bald!

 

Lieber Markus,

kurzer Nachtrag:

M.Glass schrieb:
Dass du den entscheidenden Abschnitt nicht gelten lässt, ist irgendwie interessant, aber vermutlich das Ergebnis davon, dass ich an anderer Stelle mit dem vorwahnsinnigen Zustand von Leonie spare.
Ein Traum, so erkläre ich mir das, ist für mich als Hinweis allein zu vage. Wenn du dich mit Traumdeutung beschäftigst, erkennst du vielleicht, wie beliebig das alles wirkt, das hat schon einen recht esoterischen Drall. Am Ende kann ein Traum alles bedeuten, bzw. hängt die Deutung ab von dem, der ihn träumt, von seinem Unterbewusstsein und jüngsten Erlebnissen. Von daher habe ich die Traumstelle offenbar einfach nicht hoch genug gewertet.

 

Lieber floritiv,

vielen Dank für deine Rückmeldung! Ich kann dich ja verstehen, auch, dass ein Traum manchmal bloß ein Traum ist. Das zeige ich ja selbst mit dem Kaffeespucken, aber dieser Sprung ist nicht bloß ein Traum. Es ist ja auch ein Traum, den sie zusammen träumen. Sie sehen beide im Traum, dass sie springt, und das wertet das doch auf in seiner Bedeutung. Nichtsdestotrotz bleibt der Wahnsinn gegen Ende zu wenig vorbereitet.

Beste Grüße
markus.

 
Zuletzt bearbeitet:

Hi M. Glass,

ist meine zweite Story von dir, die erste war Mehr von dir, wo sich das Mädel in ein häßliches Geschöpf verwandelt; und da dachte ich mir auch schon, ja, sehr klassischer Schreibstil, auch klassische Thematik irgendwie, die Handlung und so erinnerte mich irgendwie an Kafkas Verwandlung.
Der Text hier ist wieder so ein klassisches Thema - hast du ja jetzt schon von Dutzenden anderen gelesen, ich weiß, aber mir kam es halt auch so vor, und das soll nichts Schlechtes heißen: Die Geschichte, zwei verlieben sich und bringen sich dann mehr oder weniger zusammen um hat man ja schon öfters in Literatur verarbeitet; aber ich empfand das jetzt nicht als unangenehm, du bringst mit deinen Figuren und unzähligen kleinen Beobachtungen echt angenehm frischen Wind mit. Vom Schreibstil her auch sehr angenehm zu lesen, deine Schreibe trägt da schon viel und auch gut durch die Story.

Ich muss sagen, ich bin eher schwierig in deinen Text reingekommen; die ersten Sätze sind gut, da weiß man sofort, um was für einen Typen es sich handelt, aber dann bin ich darüber gestolpert:

Er schaute in den Spiegel und fragte sich, wer zurückschaute, oder hinein. Wer das war, „Theo?“ – Leonie hätte am liebsten sein Spiegelbild verschluckt und gesagt: „Theo, du bist ein Geist!“
Da fehlte mir im ersten Satz irgendwie das Verb nach hinein, ich musste da echt dreimal drüberlesen, um die Message zu kriegen. Weiß nicht, ob das anderen auch so geht.
Und das Bild mit dem Spiegelbild verschlucken ist mir auch nicht so eingängig; wieso verschlucken, was will sie damit?

Danach nimmt deine Story aber richtig schön Fahrt auf, der Teil mit der Prüfung und so fand ich gut, da kommt richtig schön rüber, wie sehr sie die beiden gegenseitig verwirren; im Allgemeinen ist das natürlich eine extrem romantische Story, bin da jetzt eher nicht so die totale Zielgruppe, würde ich mal sagen, aber irgendwie war ich dann doch zu neugierig, als dass ich hätte aufhören können weiterzulesen.

Unzählige Menschen drängten an dem Gegenüber, dem Gegeneinander oder Aneinander der beiden vorbei.
Da musste ich auch zweimal drüber Lesen; Gegenüber, Gegeneinander oder Aneinander, da hatte ich nicht sofort ein klares Bild vor Augen; weiß nicht, kann auch unter Geschmackssache fallen, und andere mögen das anders sehen, für mich persönlich war das bisschen umständlich formuliert.

Ein kleiner Junge schrie mit einer Mädchenstimme nach seiner Mutter
Keine Ahnung, ein kleiner Junge mit einer Mädchenstimme? :D Klar, die Stimmen sind hoch, aber weiß auch nicht was ich davon halten soll

Sie kritzelte seine breiten Schultern und das bisschen Bauch, den aus dem Bauch fallenden Bauchnabel,
Da ist schon viel Bauch in dem Satz! Weiß nicht, ob dich das stört.

Der Absatz mit der Aktmalerei fand ich sehr gut; das sind ja beide echt Freaks, auf ihre eigene Art und Weise, und irgendwie passen sie schon zueinander, sie gleichen sich wunderbar aus.

In Gedanken ergänzte er jeden Namen mit Leonie. Leonie Rosentreter. Leonie Grüblich. Leonie May the Huy. Das klang sehr falsch.
Mann, bei der Stelle musste ich echt laut lachen, sauwitzig!

Dann kommt die Stelle, wo sie in den Stadtpark gehen; mhm. Wie gesagt, vielleicht bin ich nicht die perfekte Zielgruppe für die Romantikrubrik, aber da wurde es schon sehr sehr süß, da schreibst du dann auch von Händchen und Brückchen; irgendwie musste ich mir diese zwei Worte aus dem Absatz merken, weil das fand ich dann einen Touch too much. Aber nur meine Meinung.
Also ich fand den ersten Teil der Geschichte echt gut, dieses Kennenlernen und dieses fast schon roboterartige Verhalten von Theo (bei dem ich übrigens die ganze Zeit über an den Typen aus A beautiful mind denken musste), und beide wissen gar nicht, wie sie miteinander überhaupt umgehen sollen; gefiel mir. Dann wird es schon etwas skurril: Sie sind so besessen voneinander, dass sie auch in ihren Träumen zusammen sein wollen; gut, das nahm ich den Protagonisten noch ab, und dieser Schwur, sich umzubringen, wenn einer geht, das ging auch noch, aber wieso kommt seine Freundin dann dazu, ihn umzubringen? Irgendwie fehlte mir da der Knackpunkt der sie dazu bringt, schon jetzt gehen zu wollen. Da solltest du noch mal nachlegen - ich weiß auch nicht, anderen ging das ähnlich habe ich gelesen, also hoffe ich, dass ich nicht der einzige bin, der da was überlesen hat oder so. Mir fehlte da einfach eine gute zündende Idee, die nach der Traumszene kommt, wo seine Freundin aus dem Fenster springt, und es praktisch schon ein dunkles Vorzeichen gibt, dass beide sterben werden.

Theo griff nach ihrem Lieblingsschal, den sie selten, aber schon seit er sie kannte, umhatte, und tauchte seine Nase in den dunkelbunten Stoff.
Da dachte ich mir: Lieblingsschal? Zieh man seine Lieblingssachen denn nicht oft an?

Ja, im Allgemeinen hat mir deine Story echt gut gefallen, so sprachlich und stilistisch ist das echt ziemlich ausgefeilt und auch echt gut, fand ich. Und die Story der beiden ist auch gut, an manchen Stellen für mich persönlich etwas zu kitschig, aber gut, es steht in Romantik, das ist das schon okay. Weiß auch nicht - ich habe das echt sehr gerne gelesen, versteh mich nicht falsch, aber wie der Tod der beiden dann zustande kommt, das hat mich zum Schluss irgendwie bisschen rausgehauen. Vielleicht würde das Ende aufgehen, wenn du mehr Fokus auf das Mädchen und auf ihr Innenleben legst, und man als Leser nachvollziehen kann, wieso sie Theo und sich umbringen will, vielleicht, weil sie Angst hat, von ihm verlassen zu werden, nachdem sie ihm so verfallen ist? Dann lieber doch für immer mit ihm im Tod vereinigt, egal, ob er will, oder nicht. Und dann versucht sie ihn umzubringen, und kommt dabei selbst um - und Theo ist zwar traurig und so, aber er bringt sich am Ende nicht um. Das hätte mir gefallen als Ende. So als Stilbruch zu den ganzen anderen wir-sind-verliebt-und-sterben-zusammen-Geschichten. Aber ist deine Story, nur so als Anregung vielleicht.
Aber ansonsten echt gut geschrieben, das ist schon meckern auf hohem Niveau, wie man so schön sagt. Hut ab, sowas runterzuschreiben, echt. So, das war alles, was mir so beim Lesen aufgefallen ist. Hoffe du kannst was mit meinen Anmerkungen anfangen.

Schönen Abend!

 

Liebe Ane,

es freut mich, dass auch dir der erste Teil sehr zusagt, dass es die Figuren sind, die in ihrer künstlichen Andersartigkeit schweben, aber mir ist mit der Geschichte etwas mehr gelungen, was mir sonst nahezu gar nicht gelingt, ich habe den Figuren Gesichtern gegeben, mich aus der Allgemeingültigkeit gewagt, das Problem ist, das sie eben zu künstlich sind, das dort zu wenig natürliche Eigenschaften sind und schlussendlich Handlungen kommen, die nicht nachvollziehbar sind. Dir hat das klassische Setting ja gefallen, und wohin das geht, liebe Ane, das habe ich mich auf gefragt, und frage mich jetzt – da ich zunächst an einem neuen Ende schreibe – wieder.

Spannend fand ich, als Leonie sagt, sie sollten etwas suchen, was sie zusammen verwirrt. Da hattest Du meine volle Aufmerksamkeit. Und danach passiert, was ich erwartet habe, alles wird irgendwie auf den Boden der Tatsachen gebracht, das muss ja so, denke ich, aber gefühlsmäßig bleibe ich da komplett auf der Strecke. Für mich driftet die Handlung ab, in diese Träume, die mir nichts sagen und letztendlich in den "Wahnsinn", wie Theo es nennt, der für mich so wenig fühlbar war, dass ich zuerst angenommen hab, es würde sich dabei um einen weiteren Traum handeln.
Jetzt komme ich mir wie jemand vor, der laut auf den Tisch haut, um dann nichts zu sagen, oder Unsinn zu reden, da geht es dir ähnlich wie Herr Lollek, der ja auch fasziniert vom Anfang in ein Loch gefallen ist, das er da nicht sehen wollte. Gefühlsmäßig bleibst du auf der Strecke, schreibst du, und ich fürchte, es hängt einfach damit zusammen, dass es zwei Gefühle sind, die sich nicht aneinander reihen, sondern irgendwie aufeinander stecken, zusammenhangslos auch. Da muss ich unbedingt was ändern! Den „Wahnsinn“ kann ich allerdings nicht ganz rausnehmen, im Gegenteil, ich werde ihn eben schon von Anfang an einpflanzen.

Ich finde trotzdem, Du hast das ziemlich gut verpackt. Dieses Tod-Seele-wir-müssen-einander-folgen-Dings würd mich anders aufgezogen (wenn ich sowas z.B. selber versuchen würde) anöden.
Das freut mich natürlich, aber du sagst auch, dass sie nichts Wirkliches versuchen. Sie versucht aber etwas Wirkliches, sie will, dass er will, aber es mündet schon wohin, die Idee, es ist nicht so, dass sie rumüberlegen, und dann nichts passiert.

Danke für deine Texthinweise, ich habe alle still übernommen, auch, weil sie von anderen schon bemängelt wurden, teilweise zumindest.

Eine der Stellen, die mir zu ausgebreitet daherkam. Irgendwie hab ich kein Gefühl zu der ganzen Szene.
Die Klingelbrettszene – das ist schade. Ich mag die Szene eigentlich, er hat ja ihren Namen, zumindest einen Teil, und er braucht immer Namen, Titel, Nummern, damit er Ordnung hat, hätte er ihren gesamten Namen, wäre das alles kein Problem. Er geht hin und klingelt, sie macht auf. Aber weil er seine alten Gewohnheiten ablegt, auf ihren Nachnamen verzichtet, wird es umständlich. Das war so der Gedanke.

denn irgendwie hatte Leonie keinen Mund, sondern ein Lächeln
Ich mochte das.

Sieht sie sich und Theo als große Zahlenwerte, die sich trotzdem gefunden haben?
Nein, nicht ganz. Sie versucht, ihm Kunst nahe zu bringen, das gelingt ihr, aber auch bei der Szene, als er ihr hinter die Oberfläche zu gucken versucht, scheitert er, ihm wird schlecht. Sie sitzt in den Vorlesungen und kann nichts daraus mitnehmen, die Primzahlzwillinge sind einfach ne romantische Idee, ein mathematisches Pärchen, das eigentlich viel seltener vorkommen sollte, als es tatsächlich tut. Und sie sieht das nicht mathematisch, sondern romantsich, so wie er Gedichte mathematisch sieht und berechnen will, alles Verwirrungen.

Noch mal zum Ende ... auf mich wirkt es irgendwie trotz aller Dramatik so handlungsarm. Du beschreibst, was Leonie tut, aber eigentlich steht das ja gar nicht im Vordergrund, es geht eigentlich nicht um Gewalt, um töten wollen, sondern zumindest scheinbar um Gemeinsamkeit, um ein Beieinander-sein, aber wenn man will auch um Kontrollwahn, Ängste usw. Dein Focus liegt aber ganz auf dem Akt des Tötens, bzw dem Versuch. Und da find ich für mich nichts, kaum ein Häppchen.
Das stimmt alles. Handlungsarm ist es vielleicht nicht, aber es steht eine Handlung im Vordergrund, dessen Hintergrund eigentlich ein Beweggrund sein sollte.

Vielleicht kannst Du ja was anfangen, mit meinen Gedanken.
Auf jeden Fall! Vielen Dank für deine Gedanken und das sie hier unter meiner Geschichte stehen!

Beste Grüße
markus.

***

Lieber Quinn,

das ist schon ein heftiger Kommentar. Nicht, weil er mich kränkt oder beflügelt, sondern weil er präzise, fast trocken ist, und mir das Öl von dem gekünstelten Bild wischt, das ich mit „Verwirrungen“ gemalt habe. Du bekommst Diabetes und ich hätte eigentlich die Spritzen, auch ein paar Tabletten, aber am Ende ist es zu süß, ich schreibe nicht dagegen an, und es ist kein „Oh, das ist ein Baby, das ist süß“, sondern „Oh, ich habe keine Ahnung vom Leben, deswegen ist es süß“, und vielleicht mag man meinen, dass ich tatsächlich keine Ahnung vom Leben habe, dass ich nicht weiß, wie die Menschen ticken, aber das stimmt nicht. Ich schweife nur gerne in das Märchenhafte ab und dann vergesse ich den Schnurrbart, der alle stört.

An dieser Stelle möchte ich dir für deine Texthinweise danken. Ich kommentiere sie hier nicht so ausführlich, weil ich dir größtenteils zustimme, und bloß dagegen reden könnte, was hier keinen Sinn ergibt.

Mit Negationen im Deutschen als Aufzählung ist es schwierig, elegant zu formulieren.
Das ist sehr interessant, muss das aber erst verstehen, weil es so richtig klingt in meinem Kopf.

Das sind so Fälle – ich frag mich, warum ich das dritte Glied hier als Folge wahrnehme und der Text es nicht so verstanden haben will – und ob das irgendwie objektivierbar ist. Ich denke es liegt an dem „sein“, oder an dem Dreiklang. Hm oder an den Ibuprofen , die ich die letzten Tage genommen habe.
Hehe, nein, das liegt einfach an der Logik, mit der wir unser Leben meistern, die Logik, die wir dem Leben zuschreiben, und deswegen geht es uns ja so beschissen, wenn etwas unlogisches passiert, außer es ist etwas Gutes, etwas unlogisch Gutes, wenn dich auf der Straße ein Mädchen anspricht, ob sie ein Nacktbild von dir malen will, dann ist das unlogisch und man kann sich daran stören oder Tabletten nehmen. Das mit den drei Stufen, das ist ja ein klassisches Stilmittel, und wenn es nicht ganz offensichtlich eine Aufzählung ist, dann geht man von einer Steigerungstreppe aus, und man nimmt dann zurecht an, dass die dritte Stufe höher oder niedriger ist, und nicht ganz woanders hinführt. Der Satz ist jedenfalls weg.

Das „nahm“ kann man ruhig vorziehen, oder? Findest du das so wirklich schöner?
Nein, ich finde es eigentlich hässlich, hab den Satz auch immer wieder gelesen und gedacht, irgendetwas passt da nicht. Komisch solche Momente, aber manchmal ist die Nase so nah dran, dass sie zu ist, und man gar nicht mehr riechen kann.

Ich finde, das ginge besser als „Zahnrädchenwerk“. Warum muss das in ein Wort gepresst werden?
Ich verstehe, was du meinst. Und ich finde deine Anregung gut. Das Problem, wie so oft, ich liebe diesen Satz, und vielleicht kann er trotzdem stehen bleiben, aber die Vorstellung, dass er logische Gedanken denkt, da aber irgendwie ein Haken drin ist und ein Wort an dem man sich stößt, dass tatsächlich etwas falsch läuft in seinem Gedankenwerk, der gefällt mir sehr. Ich versuche mich mal daran, scheitern kostet nichts (meistens alles), vielleicht klappt es ja, jedenfalls werde ich bei meinen nächsten Geschichten fragen, ob man eine Behauptung weglassen kann, einfach indem man die Sprache selbst sprechen lässt, ganz ohne Worte. Es freut mich ja, dass du mir das zutraust, aber das ist schon sophisticated. Aber genau solche Anregungen treiben mich weiter, Danke!

Man sollte als Autor aber vorsichtig sein, nicht zu bequem zu werden.
Das stimmt! Ein kluger Mensch, auch im Forum zitiert, hat ja gesagt, „Das Lesen ist dann ein Vergnügen, wenn das Schreiben eine Qual ist.“ Spaß kann es natürlich trotzdem machen, wenn man Masochist ist, beispielsweise. Nein, ich strenge mich schon an beim Schreiben, aber vielleicht nicht so sehr, wie ich könnte. Vor allem die Überarbeitung fällt mir immer schwer, dabei müsste ich das fördern, um damit meine Geschichten die Möglichkeit zu geben, besser zu werden. In der gleichen Generation sozusagen. Hier will ich es ernsthaft versuchen.

Bisschen runterdrehen mal. Ich hab nix gegen süße Romanzen, aber das wär mir jetzt schon zu dick.
Dass du gerade den Dialog mit „Wohin gehen wir?“ raus gepickt hast, um das zu zeigen, finde ich etwas schade, weil es doch schon eine Frage ist, wohin das alles führt, und dass es nicht egal ist, wohin das alles führt, und da sagt Theo, „Klar ist das egal“, und er ahnt schon, vielleicht unterbewusst, dass das irgendwo hinführt, wo es ihm nicht gefällt.

So Gegensteuern tut Texten richtig gut, finde ich immer.
Erst bei „Randgeschehen“ hab ich jimmy das allergleiche vorgeworfen, wobei es bei dir ja kein Vorwurf ist. Er hat in seinem Text nur dunkle Farben, nur Mord und Vergewaltigung, in den Busch scheißen und Drogen, alles trist und pessimistisch, den Figuren geht es beschissen und die können, ja, überhaupt nichts kann etwas daran ändern. So ist es bei mir, nur umgekehrt. Alles ist schön und perfekt und egal, was sie Figuren anstellen, was ihnen widerfährt, sie bleiben glücklich und verliebt, usw. Danke, dass du das mit dem Film gesagt hast, ich werde mir den sogar anschauen, und ich will auf jeden Fall Gegensteuern, das ist nicht die Notwendigkeit, in eine andere Richtung zu steuern, sondern einfach etwas, was einer Geschichte gut tut, da hast du schon recht. Ansonsten wird es einseitig und wenn der Kontrast fehlt, auch blass.

Ich fänd ja für so eine Geschichte es mal einen erfrischenden Weg, wenn nicht der Mathe-Nerd sich verändern würde, sondern die Künstlerin. Wenn sie sich irgendwo treffen und über Kopernikus reden. Aber so ist das halt: Der Mathematiker wird aus seiner Bahn geworfen. Dass er dann in der ersten Hälfte des Textes soundso beschrieben wird: Er ist Mathematiker durch und durch. Und zwei Minuten später, möchte er gerne, dass sie „Sternthal“ heißt und kennt sich mit Warhol aus – hast du mal so völlig unromantische Menschen getroffen, die wirklich so sind, wie du den Mathematiker am Anfang beschrieben hast? Das ist nicht so, dass man da mal mit dem Finger anstuppt und die werden zu komplett anderen Persönlichkeiten.
Da tust du mir – zugegeben ein bisschen nur – unrecht. Tatsächlich folgt Theo willig in die Verwirrung, weg von der Logik, als letztes leises Nein bleibt nur sein Bart, das stimmt schon, dass das zu wenig Sich-wehren ist. Was du mit dem ersten Satz sagst, gefällt mir wunderbar, das ist eigentlich die genialste Idee in deinem an guten Ideen nicht verarmten Kommentar. Diese Inversion gefällt mir so gut, dass ich das probieren will, dass sie dann logisch denkt, gar nicht mehr malen kann, weil der Strich, der gut aussehen würde, nicht logisch ist, dass sie den Tod logisch herleitet und nicht als schöne Unlogik preist, das würde der Geschichte eine wunderbare Andersartigkeit geben.
Aber noch ein bisschen Gegenwind, einfach um das dünne Zuckerröhrchen namens „Verwirrungen“ in diesem Punkt zu verteidigen: es ist nicht ganz starr getrennt, KUNST GEGEN MATHEMATIK, sie versuchen sich zu verwirren, und da sind Primzahlzwillinge, die künstlich interpretiert werden, und es gibt Poesie, die berechnet wird, es vermischt sich da vieles, und auch er versucht, sie zu bekehren, in den Vorlesungen, aber das funktioniert nicht und sie versucht, ihn für Kunst zu begeistern, und nur, dass sie darüber sprechen, heißt ja nicht, dass er das alles versteht. Ihm wird sogar schlecht, als er über die Bedeutung des Warholzitates nachdenkt, dass da gar nichts weiter ist, er kommt nicht klar und er kann die surrealistischen Künstler nicht nennen, er sitzt einfach vor ihnen, und obwohl sie tief sind, fällt er nicht, er versteht nichts von Kunst, und du selbst sagst dann ja auch, dass er nur Goethe und Schiller kennt. Ich finde, dass das nicht alles Allgemeinplätze sind, wie sie ihn abmalt und er mit dem Taschenrechner hilflos dasteht, beispielsweise. Er wehrt sich schon immer wieder, er lässt den unlogischen Liebestod nicht zu, er lässt sich nicht vom Studium abbringen, usw. Ich schreibe das, nicht, weil ich denke, dass deine Kritik diesbezüglich nicht gerechtfertigt ist, ich schreibe, weil dein Kommentar so klang, als wäre das wirklich total Eindimensionales Kuscheln. Aber ich finde, dass sind sehr wichtige und entscheidende Anregungen, die du mir da lieferst. Die werden bei der Überarbeitung eine wesentliche Rolle spielen.

Ich hab so das Gefühl: Jetzt schreibt M. Glass über das verliebtsein und dann sind die Figuren gefälligst verliebt, ob's passt oder nicht.
Darüber musste ich schmunzeln, auch wenn es todtraurig ist, dass man nicht nur sieht, von wem die Zeilen stammen, sondern auch noch den Prozess, wie dieser Jemand das schreibt. Und ich kann dieses Gefühl gar nicht leugnen, ich setze mich tatsächlich hin und schreibe über das Verliebtsein, das ist keine Lüge und ich sehe auch keinen Grund, das Gegenteil zu behaupten, aber mehr Platz muss ich den Figuren schon gönnen, da hast du recht, auch wenn ich die Kritik des Omabildes nicht ganz verstehe, sie sind nicht so inkonsequent, finde ich, die Charaktere. Man kann doch beziehungstechnisch eher liberal sein, nicht so viel über Gefühle nachdenken, vor allem, wenn sie kompliziert sind, aber der eigene Penis über dem Sofa von der Oma der Freundin – sich daran zu stören, ist doch etwas Natürliches, oder sehe ich das falsch?

Ich frag mich immer, wo es in der Realität Menschen gibt, die so was sagen. Dass irgendwie dann immer im Umfeld solcher Figuren so total desillusionierte, zynische Prolls sind. „Freunde“ - auch noch Plural. Das wird gesagt und dann bleibt es unwidersprochen im Raum, ich stell mir das vor. Da erzählt einer, er ist jetzt total verliebt, und dann sagt der Gegenüber: Ja, und schon mal gepoppt? Und er sagt: Nein. Und dann sagt: „Also sobald du deinen Schwanz in sie steckst, dann sind die Gefühle weg.“ Und der Rest am Tisch nickt und sagt: Ja, so war's bei mir auch. Wer sagt so was? Warum gibt’s davon mehrere?
Oh man, wie recht du hast, ich schäme mich. Dieser Einwand ist total gerechtfertigt, in meinem Kopf waren es zwar keine Prolls, sondern Nerds, die noch nie etwas mit einer Frau hatten oder in eine verliebt waren, aber das muss alles anders sein. So etwas würde Leonie nicht malen, weil es so nicht wirklich ist, das ist einfach ein unschöner Griff, weil er sein musste. Weil es bequem war. "Ein nebulöses Plot-Element von außen, das ohne jede Lust hier eingeführt wird, ob's plausibel ist oder nicht.“

Andersrum, oder bei Pornofilm ein „alleine“ ergänzen. Sonst steht da, dass die erst zusammen ein Bierchen trinken und sich dann zusammen einen Porno reinziehen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er so einer ist.
Ich wollte den Lesern ernsthaft beides andrehen.

Nee, also für mich war's diesmal nix. Was Lollek schreibt über das Ende – ja. Die letzten 3 Absätze sind dann zu wenig, um die Geschichte in eine fast gänzlich neue Richtung zu lenken, diese Todessehnsucht als höchster Ausdruck der Liebe, das finde ich auch vorher im Text nicht ausreichend verankert. Und das kommt dann extrem brachial.
Das habe ich jetzt auch eingesehen und der Teil war auch jener, der mich am meisten an meiner Geschichte gestört hat. Es wird ein neues Ende kommen, vielleicht sogar erst ein vorläufiges, dann eine neue Geschichte, irgendwie so. Ich weiß jetzt, dass das Ende nicht gut ist.

Okay, das klingt jetzt so nach: Der Quinn will, dass die Welt so ist, wie er sich das vorstellt und schließt von seinen paar Erfahrungen auf alles andere,
Das tut es nicht! Ich habe deinen Kommentar sehr aufmerksam gelesen und ich werde ihn noch mehrmals lesen, denn da sind so viele Fragezeichen und du lieferst auch Antworten, wie ich es machen könnte, ohne zu direkt zu werden, das zeigt mir, dass ich dieses Mal in eine falsche Richtung geschrieben habe – oder in zu wenige. Vor allem der letzte große Absatz hat es in sich, ich könnte dir jetzt ausführlich darauf antworten, jeden Gedanken kommentieren, aber ich denke, wir haben beide mehr gewonnen, wenn ich das in die Geschichte oder die anderen, die kommen, fließen lasse. Ich hoffe, du hast dann nicht das Gefühl, oh, da hat er gar nichts dazu geschrieben, vermutlich ist ihm das scheißegal. Das Gegenteil ist der Fall!

Danke für deinen erhellenden Kommentar. Er hat mich auf viele Dinge aufmerksam gemacht, ich hätte mir eigentlich mit der Hand auf den Kopf klatschen müssen, nachdem ich das, was ich geschrieben habe, gelesen habe, aber dieses Klatschen hat dein Kommentar übernommen. Die vorherigen Kritiker, vor allem auch lollek, habe das Ende stark kritisiert, und das will ich auch unbedingt ändern, aber du hast mir gezeigt, woran die ganze Geschichte leidet, ich meine, dir hätte die Geschichte auch nicht gefallen, wenn das Ende perfekt zur Geschichte gepasst hätte und ich will nicht so naiv und rosarot in die Welt schauen, das tue ich auch nicht, ich schreibe auch Beobachtungstexte für mich, Erlebnisse und Eindrücke aus meinem Leben, und die sind ganz anders, wie das hier, das muss ich mehr abstimmen, Realität und Kunst, ich will nämlich schon etwas abbilden und nichts Gekünstelstes bilden.

Vielen Dank noch einmal für deine Auseinandersetzung mit dem Text! Und das Wachrütteln!

Beste Grüße
markus.

PS: Als ich den Pfirsichnektar-Satz geschrieben habe, habe ich an dich gedacht. Dass du den gut finden könntest. (So als unnützes Wissen.)


Lieber zigga, ich habe mich sehr über deinen Kommentar gefreut, ich antworte dir bald!

 

Hallo markus

In Deiner neuen Geschichte holst Du weit aus, wie ich beim Scrollen der Länge bemerkte. Ob ich diese in einem Lesevorgang bewältigen kann, ist offen. Jedenfalls werde ich allfällige Notizen parallel festhalten, da ein Nachträgliches heraussuchen einzelner Passagen zu aufwendig würde.

Sie konnte seine Gedanken nicht lesen, aber sie wusste, dass er beim Küssen darüber nachdachte, wie viel Prozent seiner Lippen Kontakt mit ihrer Zunge hatten, und sie mochte nicht, dass er solche Gedanken dachte, sie mochte den Schnurrbart nicht, der ihm ins Hirn zu wachsen schien, vor allem nicht, wenn es juckte oder kratzte oder er zu lange dort unten blieb, sie mochte nicht, wenn er im Restaurant „Variabilitäten“ bestellte, sie mochte so vieles nicht an ihm, einiges hasste sie, abgründig sogar.

An diesem Satz wurde mir die Gesamtlänge verständlich. :D Er wäre zu dominant in einer Kurzen.
Dass er in seiner Dehnung dennoch lesbar blieb, spricht für Dich. Doch eine Duplizität war mir fremd: … dass er solche Gedanken dachte, … Da du mathematische Logik vorab stelltest, überlegte ich mir im Rahmen der Logik, ob sich darin ein bestimmter Sinn verbirgt. Das Sinnieren geriet ins Uferlose und ich gab es auf.

Mit annähernd kafkaesken Zügen lässt Du die beiden Figuren agieren, den Leser ihre Widersprüchlichkeit spüren, um sie kurzum in sinnliche Szenarien zu stürzen.

„Jeder Pinselstrich wäre eine Beleidigung“, sagte Theo, der seine Erregung in den Klamotten versteckte, die er vom Boden gesammelt hatte.

Dies ist ein Fakt, der ihn mit in den Klamotten als verschämt wieder bekleidet darstellt. Doch alsbald stutzte ich:

Sie versteckte sich hinter dem Aktbild von Theo, weil sie nicht wollte, dass er ihr beim Anziehen zuguckte. Hastig flüchtete auch er zurück in seine Kleidung, die nach Kreide und frischem Asphalt roch.

War er nun doch nicht bekleidet gewesen? War seine Scham nur durch die Klamotten verdeckt, da er sie vor sich hielt?

Auch wenn das eine Milchmädchenrechnung war, fand er Sternthal am schönsten.

Darauf hatte ich subjektiv auch getippt, als ich die Namenliste las. :)

„Wunderbar! Jetzt hänge ich nackt im Wohnzimmer deiner Oma und all deine Verwandten betrachten mich, während sie aus einer Tasse Tee schlürfen und Kekse mampfen.“

:lol:

Sie malte Bilder, wie sie ihn tötete. Ganz viele Bilder malte sie und immer waren es andere Bilder, aber eines gefiel ihr besonders.

Ungewöhnlich wirkt mir die Fantasie von Leonie nicht, da Sexualität und Tod in Variablen bei den verschiedenen Kulturen auftraten. Wobei das Bild, welches Leonie hinterlässt, hier ein trauriges ist.

Als er es sah, wusste er, dass er sie so schnell wie möglich einholen musste.

Ich ahnte es, doch mit dem Theo aufgekommenen Gedanken beim Anblick des Gemäldes, erwies es sich als unumkehrbar.

Wäre die Geschichte mir unterkommen, ohne dass ein Autorennamen sie ziert, ich hätte sie als das Werk eines Adoleszenten klassiert. Es spiegelt sich darin eine Verwunderung über das Leben, das mystisch verklärte, wie sie in diesem Alter die Liebe wahrnehmen. Auf Anhieb fallen mir durchaus ein paar Namen von Romanautoren ein, denen ich solche Attribute bei einzelnen Werken zurechnete, doch jedes steht für sich allein. Die Individualität Deiner Geschichte weist sich in ihrer mehrschichtigen Ausgestaltung, den Charakterzeichnungen und den Elementen einer Amour fou.

Eine ungewöhnliche, nicht perfekte aber faszinierende Geschichte, die Du da erzählt hast. Die Entwicklung hielt mich fest, sodass ich sie nun doch in einem Stück gelesen hatte.

Schöne Grüsse

Anakreon

 

Lieber zigga,

ich glaube, du meintest „Eigentlich egal“, in der sich Schönheit in etwas verwandelt, was den Nicht-Ich-Erzähler herausfordert. So oder so schreit dir die klassische Anordnung entgegen und im Grunde ist es ein Kompliment, was du mir schreibst, wenn du sagst, dass ich da „echt angenehmen frischen Wind“ mitbringe in meiner Erzählung. Das hat mich sehr gefreut!

Und das Bild mit dem Spiegelbild verschlucken ist mir auch nicht so eingängig; wieso verschlucken, was will sie damit?
Dein Einwand zum Beginn der Geschichte habe ich beachtet in der Überarbeitung. (Die neue Fassung, nicht die komplett neue, aber eine neue, wird bald kommen.) Seine Spiegelphilosophie passt nicht zu ihm und stört nur jeden. Aber das Bild des Spiegelbildverschluckens ist schon zentral, stell dir das mal vor, jemand verschluckt dein Spiegelbild, und das ist auch, was Leonie den ganzen Text über tut, sie verschluckt Theos Spiegelbild. Schade, wenn dir das Bild und das dahinter nicht gefallen hat.

Danach nimmt deine Story aber richtig schön Fahrt auf, der Teil mit der Prüfung und so fand ich gut, da kommt richtig schön rüber, wie sehr sie die beiden gegenseitig verwirren; im Allgemeinen ist das natürlich eine extrem romantische Story, bin da jetzt eher nicht so die totale Zielgruppe, würde ich mal sagen, aber irgendwie war ich dann doch zu neugierig, als dass ich hätte aufhören können weiterzulesen.
Das freut mich sehr, vor allem, weil du schreibst, dass du eigentlich kein großer Romantiker bist. Wenn ich so eine Geschichte schreibe, frage ich mich oft, ob das jetzt schön ist, oder einfach nur belanglos. Ich kann das absolut nicht einschätzen, ob das, was ich schreibe, für jemand anderen interessant sein könnte. Umso mehr freut es mich, dass du es spannend fandest, auch wenn Spannung hier vielleicht nicht das richtige Wort ist.

Da musste ich auch zweimal drüber Lesen; Gegenüber, Gegeneinander oder Aneinander, da hatte ich nicht sofort ein klares Bild vor Augen; weiß nicht, kann auch unter Geschmackssache fallen, und andere mögen das anders sehen, für mich persönlich war das bisschen umständlich formuliert.
Ich habe das geschrieben und mir schon gedacht, dass sich daran jemand stören könnte. Bisher fanden es zwei schön, du findest es nicht so gut, aber ich mag halt solche Spielerein, und es ist schon wahr dieser Dreisatz, Gegenüber ist das neutrale, Gegeneinander das Negativ, Aneinander das Positiv, und der Erzähler weiß in diesem Moment nicht, was sie sind, wie das alles wird, das ist ja die erste Begegnung, wenn man so will, das erste Mal, dass sie miteinander sprechen, und sie sind etwas Fremdes in diesem Moment, tatsächlich etwas, an dem man vorbei gehen muss.

Klar, die Stimmen sind hoch, aber weiß auch nicht was ich davon halten soll
Hm, schwierig, weiß nicht, ob ich dem Jungen eine Jungenstimme gebe, aber danke für den Hinweis, ich denke darüber nach.

Da ist schon viel Bauch in dem Satz! Weiß nicht, ob dich das stört.
Hab ein Bauch rausgenommen.

Der Absatz mit der Aktmalerei fand ich sehr gut; das sind ja beide echt Freaks, auf ihre eigene Art und Weise, und irgendwie passen sie schon zueinander, sie gleichen sich wunderbar aus.
Ach, das finde ich schön, dass du das schreibst.
Mann, bei der Stelle musste ich echt laut lachen, sauwitzig!
Echt immer interessant, welche Stelle jemand toll findet oder unnötig. Einer deiner Vorredner hätte die Klingelbrettszene stark gekürzt, dann hätte er dich um diesen Lacher gebracht.

Dann kommt die Stelle, wo sie in den Stadtpark gehen; mhm. Wie gesagt, vielleicht bin ich nicht die perfekte Zielgruppe für die Romantikrubrik, aber da wurde es schon sehr sehr süß, da schreibst du dann auch von Händchen und Brückchen; irgendwie musste ich mir diese zwei Worte aus dem Absatz merken, weil das fand ich dann einen Touch too much. Aber nur meine Meinung.
Ja, ich kann dich da schon verstehen, ist ohne Kontrast, Quinn bekommt Diabetes davon!

Also ich fand den ersten Teil der Geschichte echt gut, dieses Kennenlernen und dieses fast schon roboterartige Verhalten von Theo (bei dem ich übrigens die ganze Zeit über an den Typen aus A beautiful mind denken musste), und beide wissen gar nicht, wie sie miteinander überhaupt umgehen sollen; gefiel mir.
A beautiful mind ist ein wundervoller Film, und Crowe ist ein genialer Schauspieler, und eine sehr interessante Figur in diesem Streifen. Es freut mich, wenn dir meine Zeilen sein Bild im Kopf tänzeln ließen.

Ja, und wo es einen ersten Teil gibt, da gibt es auch einen zweiten Teil:

aber wieso kommt seine Freundin dann dazu, ihn umzubringen?
Das ist ja der große Kritikpunkt, den alle nennen. Ich sitze auch gerade davor und will das unbedingt ändern, klarer machen, nachvollziehbarer. Inzwischen finde ich es ja selbst unlogisch das Ganze, also, die Tat war für mich schon eine logische Folge, aber es fehlt einfach ein Bindeglied, ein verständliches. Das will ich auf jeden Fall nach nachliefern und die Tat, ich weiß nicht, was bei dem neuen Ende passiert, mehr vorbereiten.

Da dachte ich mir: Lieblingsschal? Zieh man seine Lieblingssachen denn nicht oft an?
Ganz klar: Nein. Nicht unbedingt zumindest. Klar mag man seinen Lieblingsschal jeden Tag um seinen Hals hängen haben, aber das ist wie mit Lieblingsessen, wenn man jeden Tag Pizza isst, hängt einem das irgendwann zum Hals raus. Und damit ihr der liebste Schal nicht zum Hals raushängt, hängt sie ihn nicht immer darum.

Ja, im Allgemeinen hat mir deine Story echt gut gefallen, so sprachlich und stilistisch ist das echt ziemlich ausgefeilt und auch echt gut, fand ich.
Das ist doch ein Fazit, das man gerne liest, und dass dir das Ende nicht gefällt, ist keine Geschmackfrage, das ist nicht gut.

Vielleicht würde das Ende aufgehen, wenn du mehr Fokus auf das Mädchen und auf ihr Innenleben legst, und man als Leser nachvollziehen kann, wieso sie Theo und sich umbringen will, vielleicht, weil sie Angst hat, von ihm verlassen zu werden, nachdem sie ihm so verfallen ist? Dann lieber doch für immer mit ihm im Tod vereinigt, egal, ob er will, oder nicht. Und dann versucht sie ihn umzubringen, und kommt dabei selbst um - und Theo ist zwar traurig und so, aber er bringt sich am Ende nicht um.
So war es eigentlich gedacht, und ich danke dir für diese Anregung, ich denke, das neue Ende wird ziemlich in diese Richtung gehen.

Aber ansonsten echt gut geschrieben, das ist schon meckern auf hohem Niveau, wie man so schön sagt. Hut ab, sowas runterzuschreiben, echt.
:)
Ich danke dir für deinen Kommentar, lieber zigga, wie du mir auf der einen Seite zeigst, was du gut fandest, und auf der anderen Seite ganz genau, was dich gestört hat. Das hilft mir auf jeden Fall weiter und wie gesagt, deine Anregungen wirst du in dem neuen Ende bestimmt wieder erkennen.

Vielen Dank!

Beste Grüße
markus.

***

Lieber Anakreon,

es stimmt. Meine Geschichten werden immer länger und obwohl ich diese Entwicklung mag, finde ich es schade, weil ich euch so viel Text zumuten muss, und irgendwann sind meine Geschichten vielleicht zu lang, um sie hier einzustellen. Wo sind dann die kritischen Augen? Aber die Länge dieser Geschichte hat dich nicht davon abgehalten, sie ganz zu lesen, und ganz ehrlich: Ich bin euch schon sehr dankbar, wenn ihr das lest, wenn ihr dann noch etwas dazu schreibt, ist das echt genial.

dass er solche Gedanken dachte
Ich habe das schon bewusst so gewählt und das wiederholt sich auch in Träume träumten, usw.

Mit annähernd kafkaesken Zügen lässt Du die beiden Figuren agieren, den Leser ihre Widersprüchlichkeit spüren, um sie kurzum in sinnliche Szenarien zu stürzen.
Das hast du sehr schön formuliert!

War er nun doch nicht bekleidet gewesen? War seine Scham nur durch die Klamotten verdeckt, da er sie vor sich hielt?
Nein, uhhh, das kann man echt falsch verstehen, das ist nicht eindeutig genug. Ich meinte, er hält sich die Klamotten einfach vor seine Erektion, also er ist da noch nicht angezogen, er schützt sich einfach mit der Kleidung. Erst danach zieht er sich an.

Darauf hatte ich subjektiv auch getippt, als ich die Namenliste las.
Wie gut, dass niemand weiß …
Sie heißt ja ganz anders eigentlich. Doch das erfährt man nicht.

„Wunderbar! Jetzt hänge ich nackt im Wohnzimmer deiner Oma und all deine Verwandten betrachten mich, während sie aus einer Tasse Tee schlürfen und Kekse mampfen.“
Freut mich, dass dich das lachen ließ. Ist ja wirklich skurril.

Wäre die Geschichte mir unterkommen, ohne dass ein Autorennamen sie ziert, ich hätte sie als das Werk eines Adoleszenten klassiert.
Naja, das bin ich ja noch: ein dummes Kind. :)

Die Individualität Deiner Geschichte weist sich in ihrer mehrschichtigen Ausgestaltung, den Charakterzeichnungen und den Elementen einer Amour fou.

Eine ungewöhnliche, nicht perfekte aber faszinierende Geschichte, die Du da erzählt hast. Die Entwicklung hielt mich fest, sodass ich sie nun doch in einem Stück gelesen hatte.

Das hat mich wirklich sehr gefreut! Vielen Dank für deine lobenden Worte, deine Texthinweise und dieses schmeichelnde Fazit, obwohl ich weiß, dass ich an diesem „nicht perfekt“ noch arbeiten muss, nicht, um „perfekt“ zu werden, aber zumindest so, dass einen nach der ganzen Leserei das Ende nicht enttäuscht.

Vielen Dank, Anakreon!

Beste Grüße
markus.

 

„Ein Käfig ging einen Vogel suchen.“
Kafka: Betrachtungen über Sünde, Leid, Hoffnung und den wahren Weg

Zigga wurde an die Verwandlung des Herrn Samsa erinnert, wenn er auch nicht den Titel der vorweg von Dir,

lieber markus,

Franz Kafka, Er
zitierten „Erzählung“, die ja mehr eine aphoristische Sammlung ist, eben da hab ich dann auch auf die moderne Form des Sündenfalls geschlossen, wenn ein Rationalist (heiße er Adam [wie im zerbrochenen Krug] oder Theodor Liebknecht [Adam wie Theo werden ihrer Gefühlswelt nicht Herr]) und gut gemischt sieht Kafka dann etwa so aus:

Verwirrung stifte eine unterschiedliche Anschauung der Frucht vom Baum der Erkenntnis: Alles was sei, im Prinzip Theo (mathematische Welt der Formel, des Formalen sozusagen) oder im Prinzip Leonie (kunst-handwerkliches Formen der Dinge) - den Mittelweg lassen wir mal außen vor. Franz K stellt die verschiedenen Anschauungsweisen am Apfel dar - der kommt übrigens auch in der Verwandlung zweckentfremdet vor, wenn der Vater Gregor S damit bombardiert und eine dieser Bomben in Gregors Rücken verfault.

Für Franz K - kann's bei dem anders sein - führt der wahre Weg über ein Seil, das knapp überm Boden gespannt, keineswegs zum Balanceakt, sondern eher zum Stolpern bestimmt ist. Fehler geschähen dabei durch Ungeduld und seien ein Abbruch des wahren Weges (des „Methodischen“ bei K). Zugleich sei „Ungeduld“ eine der beiden Hauptsünden. Die zwote wäre das Gegenteil der Ungeduld: „Lässigkeit“. Eben wegen der Ungeduld werde das Paar aus dem Paradies vertrieben. Gerade noch will K behaupten, wegen der Lässigkeit finde das Paar nicht zurück, als er Ungeduld zur Hauptsünde schlechthin erklärt: „Wegen der Ungeduld sind sie vertrieben worden, wegen der Ungeduld kehren sie nicht zurück.“

Eines der wirksamsten Verführungsmittel des Bösen sei die Aufforderung zum Kampf. „Er ist wie der Kampf mit Frauen, der im Bett endet.“ Dabei bedarf es zum Glück nur einer kleinen Fläche, bedeckt von zwo Paar Füßen (K nennt nur ein Paar Füße, was auch nicht falsch ist, insofern der, der sich selbst nicht mag, auch den Nächsten erst recht nicht lieben kann). Problematisch sei, dass das Paar bisher nicht vom Baum des Lebens genossen habe. Erstes Anzeichen dieser kafkaesken Erkenntnis ist der Wunsch zu sterben. „Dieses Leben scheint unerträglich, ein anderes unerreichbar.“ Viele Schatten der Abgeschiedenen beschäftigten sich nur damit, aus den salzigen Fluten des Styx zu trinken und die Pfoten des Charon zu lecken, weil er wie einer von uns wirke und noch den salzigen Geschmack unserer Meere trage. Angeekelt sträube sich der Fluss, nehme eine rückläufige Strömung und schwemme die Toten ins Leben zurück.

Sie aber sind glücklich, singen Danklieder und streicheln den Empörten, denn das unscheinbare Wörtchen sein ist zweideutig: „Dasein und Jemand gehören.“ Die Wahrheit ist dagegen eindeutig und unteilbar, kann sich also selbst nicht erkennen (oder anders ausgedrückt: Wie kann das Objekt der Erkenntnis sich selbst erkennen?). Will einer Wahrheit erkennen, so muss er lügen. Wie jede ordentliche Dichtung.

Nehmen wir die Schöpfungsgeschichte, so ist das Weib (Leonie) die Sünde im Fleische des Mannes (Lieb-Knecht, ich würd eher sagen: Opfer der Liebe): Sie verstößt gegen das Bild-/Namensverbot des Dekalogs (aber das geschieht ja auch schon, wenn da einer ein anderes nach seinem Bilde formt) und weil sie sich nicht mehret und vorzieht, Charon die Füße zu küssen … Zur Erinnerung aus der Genesis nach Martin Buber: "Die Erde aber war Irrsal und Wirrsal. / […] / Machen wir den Menschen in unserem Bild nach unserem Gleichnis! / […] /Gott schuf den Menschen in seinem Bilde, / männlich, weiblich schuf er sie. / … / Fruchtet euch und mehret euch und füllet die Erde / und bemächtigt euch ihrer! / …“

So viel oder wenig bis zur Neufassung vom

Friedel

 
Zuletzt bearbeitet:

Liebe Leser und Kommentatoren,

ich habe eine neue Fassung von "Verwirrungen" eingestellt, ich kann es euch nicht verübeln, wenn ihr die Erzählung nicht noch einmal lest, weil sich die Geschichte in der Folge der Überarbeitung noch weiter in die Länge gestreckt hat. Vor allem das Ende habe ich bearbeitet. Gewiss sind manche Motive gleich geblieben, aber statt dem plötzlichen Mordversuch von Leonie, der wenig nachvollziehbar aus den Zeilen schießt, habe ich eine leise Entwicklung eingesetzt, die weniger aufgesteckt wirken soll.

Einen herzlichen Dank, dass ich meine Zeilen unter eure Blicke schieben darf!

 

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