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Eine sprachliche Kostbarkeit der Schweizer Literatur

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29.01.2010
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Eine sprachliche Kostbarkeit der Schweizer Literatur

Sprache in der Literatur darf sich entfalten, Variationen zulassen. Entgegen vorherrschender Norm zu schreiben, ist für Autoren jedoch meist nicht opportun, da ihr Einkommen davon abhängt. So mancher Literat, der es wagte, aus diesem Zwang auszubrechen, Werke vorlegte, die den sprachlichen Zeitgeist nicht widerspiegelten, fanden, wenn überhaupt, erst sehr spät (breite) Anerkennung. Die Liste ist lang, ihre Namen bekannt. Es gibt sie auch heute, solche Autoren, die nicht in Bestsellerlisten aufscheinen, deren Schriften wohl in Literaturkreisen diskutiert und in Zeitungen rezensiert werden, ihre Verbreitung aber in sachten Kreisen verläuft. Aus Neugierde und Interesse lese ich gerne nebst reiner Unterhaltungsliteratur auch Werke von Autoren, die ihre eigene Sprache durchsetzen.

Eine Begegnung besonderer Art war mir ein kleines Buch des Schweizer Autors Arno Camenisch, der sein Studium am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel abschloss. Werke von ihm wurden mehrfach ausgezeichnet und in mehrere Sprachen übersetzt. Das mir Vorliegende ist:
Arno Camenisch, „Hinter dem Bahnhof“

Darin verbinden sich in lockerer Form und kurzen Episoden über knapp ein Jahr die Handlungen, Gedanken und Gespräche von zwei Jugendlichen mit den Dorfbewohnern. Nicht Weltbewegendes passiert in diesem kleinen Dorf zwischen hohen Bergen eingekeilt, da wo der junge Rhein noch als wildes Bergwasser fliesst. Doch die alltäglichen Verhaltensweisen der Leute, ihre heiteren, ärgerlichen und traurigen Erlebnisse sind in sich erfüllend. Die Kurzweil welche die Erzählung ausstrahlt hat für Leser auch eine herausfordernde Seite, nämlich eine sprachlich poetische Vielfalt, die dennoch nicht zu viel wird, da es Spannung schafft und neugierig macht.
In der deutschschweizer Alltagssprache sind einzelne französische oder italienische Ausdrücke nicht ungewöhnlich und integriert und fanden auch im Hochdeutschen Zugang. Die vierte Landessprache, das Rätoromanisch, ist jedoch wenig präsent. Hier schafft Camenisch in seinen Werken eine Brücke. Ihm gelingt eine Verschmelzung, eine wahre Sprachakrobatik, deren Worte immer präzis treffend eingesetzt sind. In das Hochdeutsche verwebt sich der lokale bündnerdeutsche Dialekt, der sich aus dem Rätoromanischen bildete, und das der Gegend eigene Idiom von Rätoromanisch, dem Sursilvan. Eine ausgewählte Stelle aus dem Buch zitiert, in der sich dies verdichtet zeigt, liest sich wie folgt:

„Die Mena sitzt hinter der Glasschiba und liest die Neueposcht. Hinter ihr hängt Jesus am Kreuz. Seine rechte Hand ist abgebrochen. Sie nimmt die Brille ab und macht die Glasschiba auf. Tgei levas, fragt sie. Rösslis pil Luis da Schlans ed ina Rayon.“

Es mag auf Leser, mit diesen Sprachformen nicht vertraut, erst etwas verwirrend wirken. Doch ist es stets gut im hochdeutschen Text eingebettet, sodass es im Rahmen der Handlungen verständlich bleibt und seine Poesie durchgehend nie verliert. Na ja, dass mit Rössli hier eine Marke für Stumpen, kurze Zigarren, gemeint ist, braucht etwas Spürsinn, wenn dies einem nicht bekannt ist. Bei der Rayon war der Leser aus dem Vorgehenden vorbereitet, dass dies eine seit Jahrzehnten bekannte Schokoladensorte ist. Also nicht ganz einfach zu lesen, doch sehr humorvoll, wie sich die Sprache mit den Streichen der beiden Jungs verquickt.

Sprachlich ist das kleine Werk durchaus eine Abweichung von der Norm, doch mir als Leser vertiefte es die Handlungen dadurch noch, da es zum sorgfältigen Lesen animierte.
Für Leser die eine fixierte Vorstellung reiner deutscher Sprache pflegen, erscheint es mir weniger geeignet. Wer jedoch gerne über kulturelle und sprachlich enge Grenzen hinaus seiner Neugierde folgt, kann hier eine anregende und unterhaltsame Kostbarkeit vorfinden.

 

Hallo Anakreon,

ich bedanke mich für Deinen Artikel, fand ihn so interessant, dass ich meine Gedanken hierzu mitteilen muss.

Es ist sicher schwierig, sein Geld mit dem Schreiben zu verdienen und gleichzeitig im selben Bereich dem sprachlichen Zeitgeistzwang zu widersprechen. So wird Berufung im Beruf zum Hobby im Beruf und hier liegt die Widersprüchlichkeit und Herausforderung.
Wohl dem, dessen Schreiben nicht vom Erwerb gedrückt wird.
Er ist zwar Knecht seines Berufes, aber im Schreiben frei, sofern ihn der Ehrgeiz nicht zerfrisst.

Die Sprachakrobatik im von Dir benannten Zitat bewirkt bei mir ein intensives Lesen. Der Text fließt nur langsam, dringt dadurch tiefer ein. Er fordert mich, ich muss denken, verstehen, ein Bild entsteht. Das ist Kunst und die entzieht sich meist der Vergütung.

Einen frohen 3. Advent, Svenson

 

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