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Bennos Geheimnis

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19.02.2014
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Bennos Geheimnis

Es war seltsam, der Bruder einer Schlampe zu sein. Als er auf das Gymnasium kam, machte ihn ein Schüler aus der Dritten darauf aufmerksam. Benno holte zum Schlag aus, dabei verknüpfte er mit dem Begriff noch gar keine bestimmte Bedeutung. Der Tonfall des Mitschülers machte ihm klar, dass er das Wort nicht auf sich und seiner Schwester sitzen lassen durfte. „Immer mit der Ruhe“ zischte der Kerl und drehte ihm den Arm auf den Rücken. „Oder glaubst du, du bist etwas besonderes, bloß weil sie deine Schwester ist?”

„Hallo, Benno. Alles klar?”
Tommy lehnte sein Fahrrad gegen die Thujenhecke und winkte ihm zu. Er trug seine Haare in einem Netz, das unter der Dienstkappe an allen Seiten hervorquoll. Er hatte das Revers seiner Uniform nach oben geschlagen und zitterte vor Kälte. Benno begegnete ihm mit der gleichen Missbilligung, die seine Mutter gegenüber den trinkfesten Hilfsarbeitern an den Tag legte, die seit Wochen daran scheiterten, das Dach der Garage zu reparieren, doch Tommy schien sich nicht daran zu stören, wenn er auf seine Fragen keine Antwort bekam. Sein schüchternes Lächeln war ihm ins Gesicht graviert, und nichts und niemand kam dagegen an.
„Wie geht’s eigentlich Caro?“
„Keine Ahnung. Muss ihr Zigaretten holen.“
Es waren immer dieselben Dinge, die Tommy interessierten. Welche Bands sie hört, welche Sänger sie gerade anhimmelt. Dann nahm er ihr nach Feierabend im Wohnheim Kompaktkassetten auf, die er mit winzigen Blockbuchstaben beschriftete und wie Weihnachtsgeschenke verpackte. Unruhig wurde er nur, wenn Benno auf die Wochenenden zu sprechen kam. Wann wurde sie von wem und in welchem Auto abgeholt? Benno beantwortete auch diese Fragen so gut er konnte. Über seinen Rücken rieselte ein wohliger Schauder, wenn Tommy zusammenzuckte oder die Faust auf den gepolsterten Sitz des Postfahrrads niedersausen ließ. Tommy war zwanzig Jahre alt und bereit, den üblichen Preis dafür zu bezahlen.
Tatsächlich war er zwei oder drei Mal mit Caro ausgegangen. Aber wer nicht? Für Caro war er ungefähr so interessant wie eine Kassette mit den größten Hits des letzten Jahres. Die Hartnäckigkeit, mit der er die Augen vor der Wirklichkeit verschloss, verwirrte Benno. Mit größter Seelenruhe nahm Tommy in Kauf, dass seine Würde auf die Größe einer Briefmarke zusammengeschrumpfte. Alle wussten, dass Caro ihre abgelegten Verehrer so lange wie möglich hinhielt. Wenn sie ihr lästig wurden, täuschte sie Kopfschmerzen vor oder verwies auf ihre Hausaufgaben. So galt sie bei einigen Leuten als tüchtige Schülerin.
Soweit Benno es überblickte, hatte sie Tommy nie rangelassen, auch wenn ein paar Leute aus der Schule das anders sahen. Auf ihre Art hatte Caro Prinzipien, davon war er überzeugt, aber schon als Kind hatte sie sich schwer getan, ihr ausgemustertes Spielzeug anderen Kindern zu überlassen.

Wenn er dennoch in diesem bedauernswerten Briefträgerhirn ab und zu kleine Hoffnungen weckte, dann lag es daran, dass man seine Nebeneinkommensquellen nicht versiegen lassen durfte. Als Tommy zerstreut die Zeitung in den Postkartenschlitz stopfte und dabei zu Caros Fenster hinaufblickte, war es wieder einmal so weit – einer dieser Momente, in denen man an das Geschäft denken musste.
„Sie hat erst gestern von dir geredet.“
„Echt? Warum antwortet sie dann nicht auf meine Nachrichten?“
„Weißt du, sie hat momentan viel Stress in der Schule.”
Tommy nickte zerknirscht, als hätte er das vermutet. „Schule, Schule, Schule.” Er trat mit seinen Doc Martens gegen die Mülltonne. „Ich kann das Wort nicht mehr hören.”
Benno zog in Erwägung, ihn zurechtzuweisen, schließlich handelte es sich um das Eigentum seiner Familie, aber Tommy war sogar unfähig, eine Plastiktonne zu beschädigen.
„Soll ich dir was sagen? Sie hat den ganzen Tag deine Kassetten im Walkman.“
„Echt?“ Die Vorstellung zauberte ein Lächeln auf Tommys Gesicht. „Und was läuft sonst so bei ihr?“
Benno zuckte mit den Achseln. Hatte der Fisch erst angebissen, kam man mit Geduld am weitesten.
Tommy griff in seine Tasche. „Ist nicht gerade ein neuer Disneyfilm rausgekommen? Vielleicht willst du mal ins Kino.”
Mürrisch stopfte Benno den Geldschein in die Hose. Er könnte die Geschichte vom letzten Samstag erzählen. Zwar glichen sich Caros Wochenenden wie ein Haar dem anderen, aber Tommy konnte nie genug davon kriegen. Er war wie ein Kleinkind, das immer wieder mit Begeisterung die gleichen Bilderbücher durchblättert. Benno setzte sich auf die Stiege und und spielte eine Weile mit seinem Kaugummi. Er baute seine Berichte sehr sorgfältig auf – wie Klötze, die man aufeinander schichtet. Mit jedem Klotz stieg die Spannung, bis am Ende die Hoffnung in sich zusammenfiel. Er schilderte Caros Vorarbeiten, und wie sie eine Stunde lang das Bad blockiert. Er hört, wie die Mutter durch die geschlossene Tür ein paar Sätze mit ihr wechselt, dann knallen Türen, Caro gibt das Badezimmer auf und macht in ihrem Zimmer weiter. Jetzt wummern die Bässe ihrer Anlage durch die Wände, bis die Oberfläche seines Limonadenglases leicht blubbert. Benno kann nicht durch die Wand sehen, aber vermutlich raucht sie bei der Schminkarbeit eine Zigarette, so kann sie sich am besten konzentrieren. Die Musik zerrt an seinen Nerven, aber es hat keinen Sinn, sich zu beschweren, nicht solange sie vor dem Spiegel sitzt. In solchen Momenten kann sie so grob werden wie ein Raubtier. Benno hält sich die Ohren zu, es hört sich an, als wäre er unter Wasser. Gegen acht nimmt eine Monsterhupe hinter der Hecke das Haus in Beschuss, und die Bässe verstummen.
„Welches Auto?“, flehte Tommy, doch Benno überhörte die Frage und wickelte einen neuen Kaugummistreifen aus dem Silberpapier. Nun beginnt das Wartespiel, der aufwühlendste Teil des Abends. Sie muss Zeit gewinnen, es ist unter ihrer Würde, sofort aufzuspringen und ihrem Verehrer entgegenzuschweben wie ein Mauerblümchen. Stattdessen steckt sie sich eine zweite Zigarette an und kontrolliert in Ruhe den Lack ihrer Fingernägel. Der Nervenkrieg ist eröffnet. Wieder klopft die Mutter an die Tür. Sie erinnert Caro daran, dass Besuch auf sie wartet. Sie appeliert an Caro, sich endlich einen Freund mit normaler Autohupe zu suchen. Keine Reaktion. Caro bleibt stumm hinter der Tür, bis die Mutter verschwindet. Jetzt dreht der Mann im Auto die Regler seiner Anlage hinauf, auch er ist wie im Fieber. Nachbarn schauen aus dem Fenster und schütteln die Köpfe.
„Und dann geht sie hinunter?“
„Nein, dann kommt sie auf einen Sprung in mein Zimmer, um noch ein wenig Zeit zu vertrödeln. Ich stoppe sicherheitshalber die Playstation, um meinen Score nicht zu gefährden.“
„Was will sie in deinem Zimmer?”, unterbrach ihn Tommy, der immer wieder einen Blick hinauf zum Fenster warf und an seinem Haarnetz herumnestelte.
„Nichts. Mädchenzeug. Sie kramt in meinen Sachen, sucht nach Süßigkeiten und dreht sich vor dem Spiegel herum. Meiner lässt sich aufklappen.“
„Hätte ich gerne gesehen. Ich wette sie sieht dabei aus wie eine Eiskunstläuferin!”
„Eher wie eine Torte in der Konditorei.”
„Was hat sie an?”
„Nichts Besonderes. Eine Jeans. Irgendwas mit Rosa und Glitzer.”
„Unterhaltet ihr euch?”
„Hör mir einfach zu, ok!?”
Benno sprang auf, hüpfte bibbernd von einem Fuß auf den anderen. Es war arschkalt, aber er musste Tommy die Pointe noch verabreichen, er hatte sie verdient. Da steht sie in seinem Zimmer, summt ein Lied und macht auf Schlagerstar. Auf dem Parkett bleiben zwei schwarze Flecken zurück, der Abrieb ihrer Stilettos.
„Und? Wie sehe ich aus?”, fragt sie, als er den Joystick aus der Hand legt und seinen Stuhl herumdreht.
„Gut.”
„Verdammt gut!”, korrigiert sie und krault ihm mit ihren Raubtiernägeln die Kopfhaut, als wäre er ein Chihuahua. Sie lässt ihn gerne spüren, dass er fast sechs Jahre jünger ist. Er schiebt ihre Hand aus seinen Haaren, sie lacht.
„Du bist so süß!”
„Verpiss dich.”
Caro gähnt und schnappt sich ihre Lederjacke. Nein, sie gibt sich keine Mühe, zu verbergen, wie sehr er sie langweilt. Unten quäkt die Monsterhupe ein drittes Mal.
„Ich glaub, ich muss dann bald los. Hab einen schönen Abend, Kleiner.”
„Du auch.”
Sie haucht ihm einen ekelhaften Kuss hinüber, er nimmt ihn nur aus den Augenwinkeln wahr, denn im gleichen Moment erwacht das Spiel auf dem Monitor zu neuem Leben.
„Bring alle Schurken um, ok? Und vergiss nicht, dir nachher die Zähne zu putzen.”
Benno nickt.
Draußen vor der Hecke ertönt die Hupe ein letztes Mal, diesmal doppelt so lang, und plötzlich erinnert Benno das Geräusch an das Jaulen eines Wals. Mit der Klasse war er in Free Willi – Ruf der Freiheit. Caro stelzt in aller Ruhe die Treppe hinunter. Als die Haustür ins Schloss fällt, springt Benno zum Fenster und sieht, wie sie sich in den Beifahrersitz fallen lässt. Hinter dem Lenkrad sitzt ein blonder Kerl mit Lederjacke. Ob sie ihr Styling abgesprochen haben? Der Wagen fährt mit Vollgas die zwanzig Meter bis zur Kreuzung, bremst sich dort quietschend ein und biegt nach rechts ab.
„Nach rechts. Cabrio Bar“, folgerte Tommy.
„Ich glaube es war ein 3er BMW, eventuell sogar 4er.“
Benno wusste, dass Tommy mit solchen Typen nicht mithalten konnte. Er vergaß nicht, den Heckspoiler zu erwähnen und die imposanten Felgen.
„Originallackierung?”, fragte er deprimiert.
Benno zuckte mit den Achseln. Tommy schielte auf die Mülltonne, als könnte er ein wenig Trost vertragen.
„Mach dir nichts draus. Sie hasst BMW.“
„Toll. Dann haben wir ja doch etwas gemeinsam.“
Hast du überhaupt ein Auto?”
„Ein Auto? Viel besser.“
„Ein Flugzeug?“
Tommy schüttelte amüsiert den Kopf. Ein paar Locken fielen aus seinem Haarnetz. „Einen VW-Bus!“
Benno nickte.
„Und zwar schon nächste Woche, wenn alles klappt.”
„Dann viel Glück!“
„Danke dir. Kann ich brauchen.“ Mit diesen Worten packte Tommy seine Tasche, um endlich seine Runde zu Ende zu fahren.


Der Briefträger war nicht der einzige, der an Caros Haken hing. Es waren die Schüchternen, die nicht den Mut fanden, sie auf der Straße oder dem Schulhof anzusprechen. Lieber schrieben sie ganze Collegeblöcke voll und gestanden ihre Liebe auf diese altmodische Art. Meistens ließ er sich für die Botendienste bezahlen, so gesehen war er selbst eine Art Briefträger. Einige schrieben jede Woche, ohne dass Caro ihnen je antwortete. Immerhin las sie die Briefe, und manchmal durfte er im Zimmer bleiben, wenn sie die eng bekritzelten Zettel mit einer Mischung aus Gleichgültigkeit und Neugier entfaltete und überflog. An manchen Stellen kicherte sie oder sagte „Idiot”. Dann seufzte sie, griff zum Telefon und schwatzte stundenlang mit ihrer beste Freundin.
In solchen Momenten hatte Benno keine Lust, älter zu werden. Das Machtgleichgewicht schien sich durch das Wachstum der weiblichen Brüste deutlich zugunsten der Mädchen zu verschieben. Und niemand konnte etwas daran ändern. Es musste furchtbar sein, sich in ein Mädchen zu verlieben und ihren Launen völlig ausgeliefert zu sein! Er versuchte es sich auszumalen, aber es war ähnlich schwierig wie die Vorstellung, selber als Mädchen geboren zu sein. Noch hatte er nicht herausgefunden, welche Vorteile die Jugend brachte, wenn man vom Mofafahren und einer Taschengelderhöhung absah. Aus seinen Mitschülern würden Affen werden und aus den Mädchen unerreichbare Göttinnen, die jeden um sie herum wie Dreck behandelten. Es war eine Art Zauberei, die keinen Teenager verschonte.

Sobald sich die Rücklichter des BMWs im dichten Verkehr der Hauptstraße auflösen, geht er in ihr Zimmer hinüber. Er stellt sich vor, ein berühmter Detektiv zu sein und schließt messerscharf, dass der Raum eben erst verlassen wurde. Auf dem Schminktisch steht ihr winziger Aschenbecher, aus einem zerdrückten Stummel steigt ein feiner Rauchfaden. Das andere Ende ist mit einer dünnen Schicht Lippenstift überzogen. Er hebt den Stummel aus der Asche und tut, als nähme er einen Zug. Dann geht er hinüber zu ihrer Kommode, ein Minilabor aus zahllosen Fläschchen und Dosen, die nach Größe geordnet sind. Er vergleicht den Abrieb auf dem Filter mit ihren Lippenstiften. Immer noch ist er ein Detektiv, der seiner Arbeit nachgeht. Als er den richtigen findet, schraubt er ihn hoch und fährt sich mit dem fetten Stift über den Mund. Es schmeckt ganz leicht nach Zuckerwatte. Er öffnet eine Lade nach der anderen. Das Seltsame an seiner Schwester ist, dass sie abgesehen von ihrer Schönheit aus Nichts bestand. Sie führte kein Tagebuch, sogar ihr Bücherregal war mit Schminksachen vollgeräumt. In der untersten Lade ihres Schreibtischs liegen zwischen den Schulheften einige der kleingefalteten Zettel, die er zugestellt hat, sowie ein Päckchen Gauloises und eine Packung Tampons. Er nimmt ein Tampon aus der Schachtel und legt es auf die Tischplatte, um es später mitzunehmen. Gewissenhaft inspiziert er den Rest des Zimmers. Es gibt eine Nostalgieecke mit Festivaltickets, Schnappschüssen, einem Champagneretikett und einem selbstgebastelten Orden, weiters eine Papierschärpe mit der Aufschrift „Miss hundert Prozent“, was immer damit gemeint war. An den Wänden hängen viele Spiegel und ein paar Mädchenposter. Er wechselt zu ihrem Kleiderschrank und findet eine Lade voller Höschen und BHs. Manche sind innen gefüttert und elastisch wie Fußballknieschützer. Die Höschen schimmern in allen Farben und sind so leicht, als würden sie nur aus Luft bestehen. Jeder Lade entweicht eine Duftwolke, die sich leicht von dem allgemeinen Mädchengeruch unterscheidet, der über dem Raum liegt. Benno prägt sich die Gerüche ein. Im Papierkorb findet Benno ein verschrumpeltes Kondom, zwei leere Zigarettenschachteln, ein zerrissenes Foto und eine Illustrierte. Er nimmt nicht nur das Tampon, sondern auch eines der Höschen mit in sein Zimmer. Das ist das richtige Ende der Geschichte, die er Tommy erzählt hat.

Als Benno die Zigarettenschachtel nach oben brachte, fand er Caros Tür verschlossen. Er musste dreimal klopfen, bis sie öffnete und den nackten Arm durch den Türspalt schob. Im Hintergrund hörte er das Lachen eines Mannes.
„Schlampe“, zischte Benno in die knallende Tür.
Am nächsten Morgen war er krank und musste nicht zur Schule. Seine Mutter klemmte ihm ein Fieberthermometer unter die Achsel, das rasch auf 39,4° stieg. Er trank Lindenblütentee mit Honig und dachte zwei Tage lang, seine Arme und Beine wären aus Blei. Seine Wangen leuchteten rot, als hätte er Rouge aufgetragen. Am dritten Tag fühlte er sich etwas besser, und nachdem seine Mutter das Tablett mit dem Zwieback abgeholt hatte, griff er in sein Nachtkästchen und zog den Slip seiner Schwester hervor. Der Bund des Höschens war weich und elastisch, und während man es trug, fühlte man sich auf wunderbare Weise, als wäre man nackt. Bloß der Penis fand keinen Platz in dem engen Dreieck und schob sich beim Gehen immer wieder über das Gummiband, so dass man ständig daran denken musste. Gegen Abend kam das Fieber zurück. Er ging früh zu Bett und gab sich den kräftigen Farben seiner Träume hin, die durch ihn hindurch rollten wie schwere Wellen.
Über dem Hinterhof lag noch die Dämmerung, als er im wirren Gesang einer balzenden Amsel hochschreckte. Er fasste sich zwischen die Beine und erschrak, als eine schleimige Substanz an seinen Fingern klebte, abstoßend und kalt wie eine überfahrene Schnecke. Die Laken um ihn waren noch nass vom Schweiß, aber seine Stirn war kühl. Seine Mutter schlief am anderen Ende des Flurs. Um ins Badezimmer zu gelangen, musste er an ihrem Zimmer vorbei. Unter dem Türspalt war es noch dunkel. Er öffnete das Badezimmer, so leise er konnte. Es roch sauber. Seine Fußsohlen klebten an den Fliesen. Er ließ das kalte Wasser so lange über den Kopf rinnen, bis sich die Lungen verkrampften. Sein Herz schlug heftig, aber er nahm es als ein gutes Zeichen. Bevor er in sein Bett zurückschlich, vergrub er den Slip im Schmutzwäschekorb.
Beim Frühstück hörte er die Klingel des Briefträgers. Die Mutter warf die Post ohne Neugier auf den Frühstückstisch und nestelte sich die erste Zigarette des Tages aus der Packung.
„Kann es sein, dass Tommy dir noch was sagen will?“
Als er vor das Haus trat, saß der Briefträger bereits im Sattel. Er wirkte verändert, irgendwie erwachsener, bloß die Dienstkappe wackelte auf dem Haarnetz wie immer.
„Sag deiner Schwester, morgen bekomme ich meinen VW-Bus.“
Trotz der guten Nachricht lächelte er nicht.
„Warum siehst du mich so an?“
„Keine Ahnung“, sagte Benno.
Gerne hätte er ihm die Kappe gerade gerückt. Sie sah aus, als wäre sie Teil eines Karnevalskostüms.
„Na dann.“
Er verabschiedete sich mit dem Finger an der Schläfe, doch dann besann er sich anders und ließ sich langsam zurückrollen, bis er Benno fast gegenüberstand.
„Ich habe dann noch von deiner Schwester geträumt, letzte Woche. Bin mit dem Bus vorgefahren, habe gehupt und dann noch einmal gehupt, genau wie in deiner Geschichte. Sie ist nicht heruntergekommen.“
„Vielleicht ist es besser so. Weißt du, manche sagen, sie ist –“
„Sag es nicht!”, sagte Tommy und blickt hoch zum Fenster. „Sag es nicht.“

 

Hallo baronsamedi,

herzlich willkommen bei den Wortkriegern!

Dein Einstand hat mir gut gefallen.
Deine Geschichte war flüssig zu lesen und die drei Charaktere fand ich plastisch.

Was mir ein wenig gefehlt hat, war so etwas wie Spannung. Auf der anderen Seite war der Plot auch nicht gerade so angelegt, dass daraus eine spannende Geschichte hätte werden können.
Ich glaube trotzdem, dass es Schriftsteller gibt, die es einfach schaffen, auch aus solchen Themen noch ein Mehr an Spannung rauszuholen.

Der Anfang schleppte sich ein wenig und im Laufe des Weiterlesens ist mir ein Absatz aufgefallen, der vielleicht an den Anfang, also vor deinem 1. Satz gesetzt werden könnte, ohne, dass dort, wo er grad steht er groß fehlen würde. Mit diesem Absatz würdest du etwas mehr Neugierde beim Leser erzeugen und ihn von daher besser in deine Geschichte reinziehen.
Versuch es einfach mal dir so vorzulesen, ob es dir so etwas zügiger am Anfang erscheint.
Dies ist der Absatz:


Es war seltsam, der kleine Bruder einer Schlampe zu sein. Als er auf das Gymnasium kam, machte ihn ein Schüler aus der Dritten darauf aufmerksam. Benno holte reflexartig zum Schlag aus, dabei wusste er noch nicht einmal, wodurch er beleidigt wurde, denn er verknüpfte mit dem Wort keine bestimmte Bedeutung. Aber der Tonfall des Mitschülers machte unmissverständlich klar, dass er die Behauptung nicht auf sich und seiner Schwester sitzen lassen durfte. Der Andere packte sofort seinen Arm und drehte ihn nach hinten, er lachte und schrie seinem Kumpel zu: „Keine Frage, der Kleine hat das Temperament von seiner Schwester geerbt.”

Am Ende finde ich, dass du etwas zu breit angelegt hast. Die Tatsache, dass Benno sich die Unterhöschen seiner Schwester anzieht, bedarf keiner Erläuterung durch den Autoren. Da kannst du ruhig Raum für eigene Interpretationen des Lesers lassen.

Ich meine exakt diese Stelle, die demnach ersatzlos gestrichen werden könnte.

Auch wenn er für seine Familie der gleiche geblieben war, sah er sie von diesem Tag an mit anderen Augen. Er war ihnen überlegen, denn er wusste etwas über sich, was sie nicht einmal ahnten, und er gewöhnte sich daran, Caros Slip als eine Art Amulett zu betrachten, das ihm eine besondere Kraft verlieh. Plötzlich fühlte er sich wie ein Indianer unter lauter Weißen.

Dann haben sich noch zwei Fehler eingeschlichen:

bist die Oberfläche seines Limonadenglases
bis

Er erwog, noch einmal die Treppe hochzulaufen und seinen Mantel holen
zu holen.

Die Stellen, wo du etwas in Klammern setzt, finde ich nicht gut. Entweder, es ist so wichtig, dass man es im Text ganz normal mit unterbringt oder es ist eben unwichtig. Dann weg damit.


Ich habe deine Geschichte gern gelesen und freue mich, noch mehr von dir hier entdecken zu dürfen.


Lieben Gruß

lakita

 

Hallo Lakita,

danke für deine Willkommensgrüße und für deine Tipps!

„Die Spannung fehlt.“
Ich habe diesen Hinweis zum Anlass genommen, ein wenig über den Begriff „Spannung“ nachzudenken, und würde mich freuen, dazu auch von dir und anderen Lesern Feed back zu bekommen.
Wir lesen alle gerne spannende Geschichte, aber manchmal haben uns auch schon Geschichten, Filmen, Romane gefallen, die nicht sehr spannend waren. Was heißt „spannend“ eigentlich?
Wenn wir über den Stellenwert von Spannung in einer Geschichte reden, scheint das mit den beiden Polen Handlungsorientiertheit vs. Figurenorientiertheit zusammenzuhängen. Ich meine, dass handlungsorientierte Geschichten einen Fokus auf Konflikte legen (und auf Figuren, die gewillt sind, innere Widersprüche konflikthaft nach Außen zu tragen!) und deswegen spannender sind – andere Geschichten hingegen gerade daraus ihre Kraft beziehen, dass solche Konflikte ausbleiben, unterbunden werden, also zurückgequetscht werden in das Innere der Person und dort zu irgendwelchen persönlichen (Fehl)entwicklungen führen. Benno und der Briefträger sind solche Personen. Ich bin kein Psychologe, aber es ist vielleicht nicht ganz abwegig zu sagen: Dass Benno den Konflikt mit seiner Schwester nicht offen austragen kann/will, macht den Weg frei für seinen seltsamen Umgang mit ihrer Unterwäsche. Vielleicht ist das ja schon Schwachsinn.
Es geht mir jedenfalls nicht darum, die Geschichte vor deiner Kritik zu retten, ich möchte nur nachfragen, ob Spannung immer und überall die Lösung ist, um zu befriedigenden Ergebnissen zu kommen. Ich glaube zum Beispiel, dein Hinweis, den von dir zitierten Absatz (mit der Auseinandersetzung im Gymnasium) an den Anfang zu setzten, wäre durchaus effektvoll im im Sinne einer solchen „Shortstoryfizierung“, also einer Erhöhung der Spannung. Aber bringt das nicht einen anderen Ton in die Geschichte? Ich erzeuge durch das harte Wort „Schlampe“ im ersten Satz ja sofort eine sensationsheischende Wirkung und die entsprechenden Erwartungen. Die ich später ja doch nicht einlöse.

„Am Ende finde ich, dass du etwas zu breit angelegt hast.“

Ich finde auch, dass die Geschichte am Ende Mankos hat, kann aber immer noch nicht den Finger drauf legen. Was meinst du mit zu breit angelegt? Genügt es den Absatz mit der Erläuterung zu streichen und alles ist in Ordnung? Schön wäre es.

Die Klammern: Ich gebe dir prinzipiell recht. Komischerweise kann ich mich aber in kaum einer Geschichte zurückhalten, Klammern zu setzen. Ich glaube das Hauptproblem bei den Klammern ist, dass sie immer etwas Auktoriales ausstrahlen, weil sie ja dem Leser eine Gewichtung der Inhalte aufoktroyeren. Wahrscheinlich sehne ich mich unbewusst danach, eine auktorialere, besserwisserischere Erzählstimme einzunehmen. : )

Ich möchte an dieser Stelle noch anfügen, dass ich meine Geschichte hier auf wortkrieger.de gepostet habe, da ich extrem beeindruckt war von der Qualität eurer Geschichten. Bin bereits ein echter Fan einiger Poster.

liebe Grüße

Baronsamedi

 

Lieber Baronsamedi

mir wollte deine Geschichte beim ersten Mal lesen nicht so wirklich gefallen.
Es kommt keine Spannung auf, und ich fand keine der Figuren sympathisch genug, um mich in sie hineinversetzen zu können (Ausnahme ist vielleicht der Briefträger, der aber nur von aussen beschrieben wird und kaum einen wirklichen Charakter zeigt).
Mein Eindruck ist, dass hier viel zu wenig Textarbeit investiert wurde - es scheint, als hättest du drauflos geschrieben und, bevor du ihn hier hineingestellt hast, kaum mehr einen Blick auf die Gesamtheit der Geschichte verschwendet...

Der Anfangsabschnitt beispielsweise ist ziemlich anders als der ganze Rest. Er ist beschreibend, es geht um das Datum, das Wetter... Was hat das mit dem Rest der Geschichte zu tun? Ich finde zudem den Anfang viel zu umständlich, besonders den zweiten Satz:

Sah man durch das Halbrund des Kinderzimmerfensters in den Garten hinab, hätte man einen warmen Frühlingstag erwartet, den Geruch feuchter Baumrinde, Spatzengezwitscher und alles was dazugehört, aber als Benno mit der vereinten Kraft seiner beiden Arme die Haustür aufstieß, blies ihm der Ostwind entgegen.
Auch die Formulierung "er erwog" passt irgendwie überhaupt nicht zur Figur des Benno...

Du verwendest auch viele Ausdrücke, die so nicht funktionieren, bzw. beim näheren Hinsehen eigentlich "falsch" sind, so z.B.

Es waren immer die gleichen Fragen, die ihn interessierten:

hier sollte es entweder heissen: Es waren immer dieselben Fragen, die er stellte. Oder: Es waren immer dieselben Dinge/Alltäglichkeiten/Belanglosigkeiten, die ihn interessierten.

Auch verwendest du oft viel zu komplizierte, umständliche oder "hochgestochene" Formulierungen, die zu der Art Geschichte bzw. zum Charakter Benno, der ja erzählt, nicht so recht passen wollen:

Beides trug nichts dazu bei, sein Ansehen bei Benno zu vergrößern.

?? was genau soll damit ausgesagt werden?

Auf diese Art galt sie bei einigen Leuten als tüchtige Schülerin.

--> besser: Deswegengalt sie bei einigen Leuten als tüchtige Schülerin.

Die Kälte machte ihn unduldsam, aber ...

Inkonsequenz auch bei den Namen: Wer zum Beispiel ist Mario??
Soweit Benno es überblickte, hatte sie ihn nie rangelassen, auch wenn Mario das anders sah, und er hätte mit jedem gewettet, dass es nie dazu kommen würde.

Und einmal schreibst du "der Briefträger", was sehr unpersönlich und distanziert wirkt (und auch Absicht ist, wie Benno am Anfang erwähnt), doch dann im selben Atemzug wird er "Tommy" und "Tommi" genannt....

In meinen Augen funktionieren auch die "Rückblenden" nicht, wo Benno erzählt, was sich im Haus seiner Familie abgespielt hat, während er eigentlich draussen mit dem Briefträger in der Kälte steht.

Alles in allem war die Geschichte für mich persönlich ziemlich zäh zu lesen, und auch nicht besonders unterhaltsam... Positiv aufgefallen ist mir einzig der Schluss: Dort ergibt vieles endlich einen Sinn, bleibt aber auch einiges an Raum offen für eigene Interpretationen! Auch dort gibt es aber handwerklich viele Schwächen...Wie gesagt: Ich denke, es fehlt an gründlicher Textüberarbeitung.
Tut mir leid. Andere sehen das vielleicht auch anders...

Viele Grüsse
Aprilsky

 

Hallo baronsamedi,

ich möchte nur kurz anmerken, dass ich mich gerne mit dir über die Frage, was erzeugt Spannung, was ist überhaupt Spannung etc. austauschen möchte. ABER momentan bin ich beruflich unter Druck und kann daher erst auf deine Erwiderung Mitte nächster Woche, also ab 26.2. eingehen.

Lieben Gruß

lakita

 

Hallo baronsamedi,

und Willkommen bei uns workriegern.

Ich muss Dir ganz ehrlich sagen, ich bin nach dem ersten Absatz ausgestiegen. Jetzt kannst Du mir vorwerfen, ich werde damit der Geschichte nicht gerecht, mag sein, aber Du hast es nicht geschafft, mich auf den weiteren Text neugierig zu machen. Und die Konkurrenz ist hier zu groß, der Klick mit der Maustatse zu einer weiteren Geschichte zu einfach. Will sagen, der Text muss mit dieser Konkurrenz klarkommen und sie bestenfalls aushalten.

Lakita antwortest Du:

– andere Geschichten hingegen gerade daraus ihre Kraft beziehen, dass solche Konflikte ausbleiben, unterbunden werden, also zurückgequetscht werden in das Innere der Person und dort zu irgendwelchen persönlichen (Fehl)entwicklungen führen.

Das nennt man dann einen inneren Konflikt und schon sind wir wieder bei dem Thema Konflikt. Und jetzt habe ich ewig viel Text am Anfang und sehe bei deinem Protagonisten keinen Konflikt. Er unterhält sich mit dem Briefträger und verarscht ihn, weil da ein bisschen Kohle für ihn rüberspringt. Das ist jetzt nicht wirklich eine spannende Figur. Er erzählt viel über seine Schwester, sie dominiert den ersten Absatz, aber sie ist nicht die Hauptfigur. Wenn mir wer, den ich (noch) nicht kenne, etwas über irgendwen erzählt, den ich auch nicht kenne, dann interessiert mich das nicht.
Wenn Dich ein völlig Unbekannter in einer Kneipe anspricht und Dir eine Geschichte über seine Schwester erzählt, "Ey Du, ich kenne Dich zwar nicht, aber ich erzähle Dir mal wie meine Schwester tickt ..." Hä? Was soll ich mit dem Wissen? Wenn ich den Typen aber erst mal kennengelernt habe und er irgendwie interessant ist, also, dann kann er mir im Laufe des Abends auch was über seine Schwester erzählen und ich werde ihm zuhören.
Ich denke, der Text täte gut daran, mir am Anfang etwas über den Protagonisten zu erzählen, mich mit ihm vertraut zu machen, mich in seinen! Konflikt (innerer oder äußerer egal) einzuführen, aber das passiert hier null. Und weil er es nicht tut, verlierst Du dann eben die Leser. Ich habe gar nichts gegen die leisen Dramen, bei mir muss es nicht immer rumpsen und knallen, meine Texte sind davon selbst weit entfernt, d.h. eigentlich bin ich total deine Zielgruppe, aber ...

Soviel erst Mal von mir. Einen Text abzubrechen, ist eine harte Kritik, aber auch eine der ehrlichsten. Ich hoffe, ich konnte irgendwie klar machen, warum es dazu kam.

Beste Grüße, Fliege

 

Hallo, Lakita, Aprilsky, Fliege,

danke für eure Zeit und die ehrlichen Worte. Die Kritik zeigt mit natürlich auch, dass das alles noch nicht so gut ankommt, wie man das möchte. Ein paar Anregungen von Aprilsky habe ich gleich in den Text integriert, aber das sind eher kosmetische Feinheiten, der Wurm sitzt wahrscheinlich tiefer.

Lakita: Natürlich freue ich mich, wenn du die Gedanken zum Thema Spannung noch vertiefen kannst, Zeit spielt keine Rolle.

Baronsamedi

PS: Ich glaube, ich schreibe jetzt mal eine andere Geschichte fertig und kehre später wieder an den Ort dieses Verbrechens zurück.

 

Hallo baronsamedi,

obwohl erst Morgen dein Tag ist, ;) möchte ich dir heute, am Freitag, wenigstens versuchen, auf die Frage nach der Spannung zu antworten.

Du schriebst:

Die Spannung fehlt.“
Ich habe diesen Hinweis zum Anlass genommen, ein wenig über den Begriff „Spannung“ nachzudenken, und würde mich freuen, dazu auch von dir und anderen Lesern Feed back zu bekommen.
Wir lesen alle gerne spannende Geschichte, aber manchmal haben uns auch schon Geschichten, Filmen, Romane gefallen, die nicht sehr spannend waren. Was heißt „spannend“ eigentlich?
Wenn wir über den Stellenwert von Spannung in einer Geschichte reden, scheint das mit den beiden Polen Handlungsorientiertheit vs. Figurenorientiertheit zusammenzuhängen. Ich meine, dass handlungsorientierte Geschichten einen Fokus auf Konflikte legen (und auf Figuren, die gewillt sind, innere Widersprüche konflikthaft nach Außen zu tragen!) und deswegen spannender sind – andere Geschichten hingegen gerade daraus ihre Kraft beziehen, dass solche Konflikte ausbleiben, unterbunden werden, also zurückgequetscht werden in das Innere der Person und dort zu irgendwelchen persönlichen (Fehl)entwicklungen führen.

Wie Spannung entsteht ist sehr vielschichtig. Zunächst entsteht Spannung aus dem Gefesseltsein vom Stoff. Aber welcher Stoff fesselt? Was genau ist es, was Spannung erzeugt?
Wenn du zurückblickend alle von dir gelesenen Bücher betrachtest, welche bleiben dann als die spannenden in Erinnerung?
Doch immer diejenigen Bücher, in denen ein Protagonist oder auch mehrere, was aber eher nicht so oft vorkommt, um etwas ringt und du als Leser lange Zeit mitfieberst bis du erfährst, ob es nun zu einem guten oder schlechten Ende gekommen ist.

Das Ringen um etwas ist nur mein Begriff, den ich heute verwende, sicherlich gibt es viele andere, ebenso zutreffende Begriffe, wie z.B, dass die Figur etwas ergriffen, gepackt hat, dass sie etwas erreichen möchte, ein Ziel hat, das für den aussenstehenden Leser nachvollziehbar wichtig ist, vielleicht sogar lebenswichtig, lebensentscheidend.


Das Ringen kann praktisch gesehen, einfach nur der Kampf mit einem Alligator sein und wir als Leser fiebern mit, ob der Held da lebendig raus kommt aus der Nummer.
Es kann aber auch das Nichtentdecktwerden sein, um das ein Protagonist ringt, weil er eine Straftat begangen hat und nun um die Strafe herum kommen möchte.
Oder ein Opfer jemand ringt darum, nicht entdeckt zu werden, weil es sonst angegriffen werden könnte. Oder jemand ringt um Erfolg, Ruhm, die Liebe, Erkenntnisse, Wissen, Erfahrungen.
Oder und das zielt auf deine Geschichte hin, es brodelt im Innern eines Menschen und man ahnt als Leser, dass da etwas passieren könnte. Man weiß noch nicht, was es ist, aber dass etwas passiert ist gewiss. Auch hier kann es ein Ringen im Inneren sein, sozusagen, das Mitsichringen.

Das zweite unerlässliche Element, welches zur Spannungserzeugung hinzutreten muss, ist die Schwebe.
Nur wenn ich mitfiebere, den Atem mit anhalte, wenn etwas, was gleich passieren könnte, noch nicht passiert ist, ich also noch nicht erfahre, ob der Alligator zugebissen hat oder der Täter enttarnt wurde oder das Opfer entdeckt wurde, kann Spannung entstehen. Das gilt auch für die Frage, wie sich der Protagonist nun bei seinem Kampf im Innern eintscheiden wird.
Solange ich die Information nicht bekomme, bleibe ich am Ball, will meine Neugierde befriedigt wissen und fühle Spannung.

Aber nur, wenn auch das dritte Element, welches die beiden ersten verbindet, gegeben ist, nämlich, dass das Ringen und das in der Schwebe halten, für mich als Leser von Interesse ist.
Wenn du mir eine Seite lang berichtest, wie sich ein Regenwurm mühsam aus der Erde kämpft, bin ich gewiss nicht sehr für das Thema entflammt. Ich laufe hohe Gefahr, mich zu langweilen. Wenn es dir nicht gelingt, mir die Wichtigkeit genau dieser Handlung des Regenwurms klarzumachen. Wenn dieser Regenwurm einfach nur ein Regenwurm ist, dann liegt darin keine Spannung. Wenn er aber der letzte seiner Spezies ist und ich erfahren habe, dass dieser Wurm dringend am Leben bleiben muss, weil sonst auch meine Spezies gefährdet ist, dann lese ich weiter und will garantiert wissen, wie es ausgeht. Und bis zu diesem Ziel ist dann Spannung vorhanden.

Wenn du also deiner Geschichte Spannung geben möchtest, muss ich erfahren, was Benno antreibt, welche Ziele, Sehnsüchte, Begierden hat er. Vielleicht ringt er einfach nur um Klarheit in seinem Kopf. Diese Wünsche müssen mir wichtig vorkommen, nicht mir persönlich, denn ich habe ja ganz andere Lebenswünsche, nein, ich muss begreifen, dass sie für Benno lebenswichtig sind und ich muss mich entweder für ihn entschieden haben, also für ihn mitfiebern oder gegen ihn und mir wünschen, dass es schief geht mit ihm. Und dann muss ich erfahren, wie er sich daran macht, diese Begierde zu stillen und ich sollte solange, wie es nur geht, mit dem Ergebnis, also dem Ziel hingehalten werden.

Ich bin mir sicher, dass es immer der Mensch ist, der diese Spannung erzeugen kann. Reagiere ich nicht auf die vom Autor erschaffene Person, dann entsteht auch keine Spannung, denn ich kann nur mitfiebern, wenn ich eine emotionale Beziehung zum Protagonisten entwickeln konnte.

Vielleicht kennst du den Film, der Titel ist mir leider entfallen, in welchem ein normaler PKW-Fahrer von einem LKW-Fahrer tyrannisiert wird. Man erlebt den PKW-Fahrer, während der LKW-Fahrer nicht zu sehen ist, der sitzt quasi hinter seinem LKW-Fenster, in welches keiner hineinsehen kann. Man fiebert automatisch mit dem PKW-Fahrer mit, weil man seine Verunsicherung nachvollziehen kann, später seine Panik und seine Wut. Nun stelle dir vor, man würde auch diesen PKW-Fahrer nicht erkennen können. Man würde also nur sehen, dass der eine den anderen mit seinem Fahrzeug bedrängt.
Das Mitfiebern wäre auf der Stelle eingefroren. Oder stelle dir vor, tut mir leid, dass ich immer auf diese alten Filme verfalle, der Film "Lohn der Angst" hätte anstelle der beiden LKW-Fahrer zwei identische Roboter, die den Wagen fahren. Es würde sich keiner mehr an diesen Film erinnern, der geradezu vor Spannung zu bersten scheint. Weil genau die Punkte vorhanden sind, die ich oben genannt habe. Es wird um etwas gerungen, nämlich darum, das Dynamit zu einem Ort, wo es dringend gebraucht wird, zu bringen. Zweitens es wird bis zum Ende alles in der Schwebe gehalten, ich erfahre erst am Ende, ob die Fahrer heil ankommen. Drittens ich möchte nicht, dass die beiden Fahrer in die Luft fliegen, ich halte das zusammen mit ihnen für absolut lebenswichtig. Der LKW dagegen wäre mir piepegal. Spannung erzeugt sich also durch den agierenden Menschen zusammen mit den obigen Zutaten.
So stelle ich mir Spannung vor.

Natürlich ist es schwieriger eine innere, nur gedankliche Entwicklung eines Protagonisten so gut zu schildern, dass es spannend wirkt. Dieser innere Kampf, das innere Ringen ist deutlich komplexer und somit umfangreicher als eine sofort von aussen erkennbare Handlung, wie z.B. das Ringen mit einem Alligator. Aber unmöglich ist es nicht.

Lieben Gruß

lakita

 

Liebe Lakita,

das war ein sehr hilfreicher Text für mich. Vielen Dank! Ich werde versuchen, die beiden Begriffe "Ringen" und "Schwebe" in mir wach zu halten, und sie in meinem Schreiben in Zukunft berücksichtigen. Ringen ist für mich viel plastischer als Konflikt, obwohl es eigentlich etwas Ähnliches aussagt. Aber durch deine Erläuterung wird das Gemeinte endlich für mich nachvollziehbar.

"Schwebe" trifft wahrscheinlich das, was die Amerikaner "Suspense" nennen, während Spannung eher "Tension" ist.

"Vielleicht kennst du den Film, der Titel ist mir leider entfallen, in welchem ein normaler PKW-Fahrer von einem LKW-Fahrer tyrannisiert wird. Man erlebt den PKW-Fahrer, während der LKW-Fahrer nicht zu sehen ist, der sitzt quasi hinter seinem LKW-Fenster, in welches keiner hineinsehen kann."

Du meinst "Duell" von Steven Spielberg!

Danke noch mal – und ein schönes Wochenende!

baronsamedi

 

Ich habe meine allererste Geschichte, für die ich im Februar schon einmal Prügel bezogen habe, jetzt noch einmal neu geschrieben. Würde mich freuen, wenn sich ein paar Leser fänden, die freimütig berichten, wie die neue Variante auf sie wirkt.

merci,
baronsamedi

 

Hallo baronsamedi,

irgendwie fühle ich mich verpflichtet, dir nochmals ein Feedback zu deiner Neufassung zu geben, obgleich ich eher jemand bin, der nicht so arg gerne doppelte Dinge liest. Aber das soll jetzt keine Beschwerde sein.

Um es gleich vorneweg zu sagen: Ich habe entweder ein sehr schlechtes Erinnerungsvermögen oder aber du überschätzt das Neue deiner Überarbeitung, denn ich kann nicht feststellen, was an dieser Variante nun verändert wurde.
Die Stimmung und Ausarbeitung deiner Protagonisten ist aus meiner Erinnerung gleich geblieben und das Thema Spannung hat sich auch nicht verändert.

Mich stört nach wie vor, dass du nicht in medias res gehst, du also erst das Wetter beschreibst und Benno nach einigen Gedankengängen erst aktiv zeigst.

Früher und damit meine ich die Zeit, in der es weder Radio, noch Fernsehen gab, es für Menschen nicht so einfach war, große Reisestrecken zurück zu legen, war es zu Beginn einer jeden Geschichte oder Romans wichtig, eine Art Bild der Landschaft zu erschaffen, in welchem die Handlung spielt. Man begann quasi damit, den Rahmen der Handlung auszumalen und ihn mit dem vorliegenden Wetter auszustaffieren, sowie Geräuschen und Düften. Manche Texte von damals wirken so, als könne eine Handlung erst dann beginnen, wenn diese quasi Bühne geschaffen ist.

Heute werden wir durch derartig viele visuelle, akustische und sonstige Eindrücke überladen, dass die Vorstellungskraft nicht erst aktiviert werden muss durch ausführliche Beschreibungen, wie sie unsere Altvorderen erwarteten. Aber und das ist noch viel wichtiger, es gibt uns auch keinen Erlebnisgewinn, wenn wir so etwas lesen. Der heutige Leser reist nicht zusammen mit dem Autor an einen unbekannten Ort, sondern der möchte erleben, wie extreme Charaktere leben, was sie tun und wie sie es tun. Das Erlebnis ist der Unbekannte, der Fremde, der Exentriker, der Gefährliche, nicht die Landschaft, das Wetter und das Rauschen des Meeres.

Wenn ich jetzt diese Vorgaben mit denen abgleiche, die du in deiner Geschichte erbringst, fällt das Urteil nicht so gut aus.
Der erste Absatz ist fehl am Platz. Mich interessiert nicht, ob Spatzen trällern könnten, ob ein Ostwind weht und ob deswegen der Mantel angezogen werden muss. Mich interessiert die Schwester und das, was der Bruder von ihr hält oder der Postbote.

Ich bleibe daher dabei, dass dein Text einfach gewinnen würde, wenn du den 1. Absatz streichst und zwar ersatzlos. Die Kälte, die dazu führt, dass dein Protagonist später erkältet ist, hast du ja schon genügend eingebaut.

Auch er hatte das Revers seiner Uniform nach oben geschlagen und zitterte vor Kälte.
Den Satz kannst du sehr einfach anpassen. "Er hatte das Revers seiner Uniformjacke nach oben geschlagen und zitterte vor Kälte."

Sodann würde ich diesen Absatz weiter hinten rausnehmen und ihn an die 1. Stelle platzieren.

Es war seltsam, der Bruder einer Schlampe zu sein. Als er auf das Gymnasium kam, machte ihn ein Schüler aus der Dritten darauf aufmerksam. Benno holte zum Schlag aus, dabei verknüpfte er mit dem Begriff noch gar keine bestimmte Bedeutung. Der Tonfall des Mitschülers machte ihm unmissverständlich klar, dass er das Wort nicht auf sich und seiner Schwester sitzen lassen durfte. Der Andere packte sofort seinen Arm, drehte ihn nach hinten und schrie seinem Kumpel zu: „Sieh mal, der Kleine hat das Temperament seiner Schwester.”

Den Übergang, dort wo du den Absatz rausgenommen hast, kann du sehr einfach schaffen, indem du diesen Satz:
Später erkannte er, dass es auch Vorteile mit sich brachte, Caros Bruder zu sein.

Zu: Es hatte seine Vorteile, Caros Bruder zu sein.

Ein Punkt misshagt mir allerdings noch und da würde ich einen treffenderen Satz versuchen zu finden:

„Sieh mal, der Kleine hat das Temperament seiner Schwester.”
Nee, das Temperament hat er ja eben nicht. Ich finde, hier muss eine Antwort stehen, die erstens die Spannung weiter erzeugt und zweitens beeindruckend gelungen klingt.

Noch ein bisschen Textkram:

Tommy schleuderte sein Fahrrad gegen die Thujenhecke und winkte ihm zu.
Hier fühle ich mich mit der Formulierung schleuderte unwohl. Ein Postbote wird sein Fahrrad für gewöhnlich sauber abstellen, weil er ja die ganze Post auf dem Fahrrad in den Körben hat. Wenn das Ding umfällt, kann er den ganzen Kram nochmals durchsortieren. Es klingt zwar dynamischer, wenn du "schleudern" schreibst, aber es bleibt unlogisch.


Was immer er sagt, es steht außerhalb seiner Macht, sie zu beleidigen, so sehr er sich auch anstrengt.
Brauchst du nicht, diesen Satz. Lass den Leser selbst entdecken, wie diese Caro gestrickt ist.


Meistens lies er sich für die Botendienste bezahlen
Müsste das nicht ließ heißen?

Lieben Gruß

lakita

 

Hallo Lakita,

ich habe mir diese Geschichte jetzt endlich noch mal vorgenommen und sie unter Berücksichtigung deiner Vorschläge (DANKE! DANKE! DANKE!) noch einmal umgebaut.

Und weißt du was? Mir gefällt sie jetzt auch selber besser.

Hallo Maria,

das mit der Textbotschaft war sehr hirnlos von mir. Natürlich durfte der Walkman nicht sterben, also habe ich das Handy aus der Geschichte verbannt, jetzt spielt alles wieder in den späten Achzigern, wie es sich gehört.

Das mit der Zeit ist schon gewollt. Was aber nicht heißt, dass es deswegen auch gut ist.
Ich lasse ihn die Sachen vom Samstag in der Gegenwart referieren. Sonst müsste ich für diesen Teil in das Plusquamperfekt ausweichen und ersticke dann in einem Haufen Hatte.
Ich nehme sehr selten Zuflucht zu solchen experimentellen Zeitspielen und fühle mich damit auch nicht ganz wohl. Aber die Alternative waren auch nicht prickelnd.

Mir geht es irgendwie wie dir, ich mag den Protagonisten, und bin dann fast von ihm enttäuscht, dass er sich mit einer so introvertierten Form von Devianz zufrieden gibt. Kann sein, dass ich in der nächsten Version die Variante mit dem Erwischtwerden probiere. Die Schwester kommt noch mal hoch etc.

Vorerst ist und bleibt das vermutlich meine zweitunbeliebteste Geschichte hier. (Siehe Kommentare von Fliege oder Aprilsky)

Danke für eure Kommentare

baronsamedi

 

Vorerst ist und bleibt das vermutlich meine zweitunbeliebteste Geschichte hier.

Und trotzdem hast du dich nochmals an eine Überarbeitung rangemacht. Sich auf seine Lieblinge zu stürzen und die noch weiter auf Hochglanz zu polieren, das ist die leichte Seite des Autorendaseins, aber sich um die hässlichen Entlein zu kümmern und sie ebenso lieb zu haben, das ist die andere eindeutig schwierigere Seite. Offensichtlich verfügst du über beide Seiten. Und das finde ich beeindruckend, denn ich weiß, wovon ich spreche. Habe ich doch selbst auch noch so ein paar hässliche Entlein hier liegen, die ihrer Beachtung harren. ;)

Lieben Gruß
lakita

 

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