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Der Durst des Mädchens mit der Wasserflasche
"Eltern haften für ihre Kinder", las Günther vor, als wir vor dem Gleis am alten Bahnhof standen, auf dem wie vergessen eine Wagonkette vor sich hinrostete. Niemand wusste, was dieser Satz exakt bedeutete, aber Günther, dessen Vater wegen eines Verkehrsunfalls ein halbes Jahr gesessen hatte, kannte das Wort Haft, und uns gruselte es bei der Vorstellung, dass sich eines Abends ein vergitterter Kastenwagen quietschend vor der Siedlung einbremste, um unsere Mütter und Väter abzuholen.
Jemand machte den Scherz, dass eine solche Haftung der Eltern nicht nur Nachteile brächte. Ich stellte mir vor, wie ein Tag begann, an dem meine Mutter nicht im Minutentakt die Zimmertür aufreißen und den Fortschritt meiner Schulvorbereitungen kommentierte. An den Abenden würde ich mit eiserner Faust die Fernbedienung vor meiner Schwester schützen, Cola trinken und solange fernsehen wie nötig. Dem standen ein paar Nachteile gegenüber, die wir allerdings nicht an die große Glocke hingen. Niemand wollte als Muttersöhnchen dastehen. Jedenfalls sahen wir in dem Verbotsschild kein unüberwindbares Hindernis, unseren Spaß zu haben, falls man bei solchen Belanglosigkeiten überhaupt von Spaß sprechen konnte. Leider waren wir auf die Wagons mehr oder weniger angewiesen, denn die Mülldeponie hatte man unter einer dicken Schicht Erde begraben und mit langweiligem Flieder bepflanzt (den meine Schwester nicht pflückte, weil sie ihn für verseucht hielt). Dabei hatten diese rostigen Kolosse abgesehen von der angedrohten Haftung nicht mal sehr viel zu bieten. Die meisten waren verriegelt, und die, die sich öffnen ließen, waren ausrangierte Güterwagen für Vieh oder Futtermittel und rochen auch jetzt noch, Jahre nachdem man sie eingemottet hatte, nach einer Mischung aus beidem. In den morschen Brettern konnte man die Hufabdrücke der Tiere erkennen, und es gruselte mich bei der Vorstellung, dass es ihre letzte Fahrt gewesen war.
Interessanter war ein riesiger Kesselwagen am Ende der Wagonkette. Wenn man zu zweit oder dritt den Deckel des Saugstutzens aufschraubte und den Kopf durch die Öffnung hinunterhielt, roch es angenehm nach Tankstelle, und der Boden glitzerte im Schein der Taschenlampe, als wäre er noch feucht vom Benzin. Jedes Wort, das man in die Leere hinab schrie, hallte in den Ohren kraftvoll nach, als hätte man den Stimmbruch längst hinter sich. Immer wieder mal wurde beschlossen, sich in den schwarzen Bauch des Tanks abzuseilen, um dort irgendeinem Geheimnis auf die Spur zu kommen. Ich hatte zu dem Zweck eine Art Strickleiter angefertigt, aber keiner der anderen hatte genug Mumm für die Aktion. Helmuts Vater behauptete, dass wir in den Dämpfen da unten erst ohnmächtig werden und dann sterben würden. Es war nicht so, dass wir ihm das glaubten, aber das Gegenteil konnte niemand beweisen, ohne selbst hinabzusteigen, und hier biss sich die Katze in den Schwanz. Dabei waren diese Warnungen bei Licht betrachtet geradezu lächerlich, ganz offensichtlich wollten unsere Eltern einfach nicht, dass wir uns durch eine Öffnung zwängten, für die sie selbst viel zu dick gewesen wären.
Alles in allem waren die Wagons nie ganz das, was ich mir von ihnen versprach, und das war auch der Grund, warum ich sie in diesen Sommerferien seltener besuchte als früher. Ich war nicht der einzige. Als Helmuts Bruder zu seinem vierzehnten Geburtstag ein altes Moped geschenkt bekam, wandten sich die meisten der lohnenderen Beschäftigung zu, sich bei ihm einzuschleimen, um hin und wieder eine Runde drehen zu dürfen. So geriet der alte Bahnhof bei der Clique fast in Vergessenheit. Leider erreichte ich mit der Fußspitze noch nicht das verdammte Schaltpedal und war daher wie die Jüngeren zum Radfahren und zur Langeweile verdammt. Gewöhnlich fuhr ich von der Siedlung zum Wald und zurück, und versuchte möglichst ungerührt den blauen Auspuffwolken nachzublicken, wenn Helmut oder einer meiner Kumpel mit der KTM an mir vorbeiknatterte. An diesen Nachmittagen bekam ich immerhin ein erstes Gespür für die Bedeutung des Wortes Einsamkeit, und so verstrich der Sommer.
Im September kam ein neues Mädchen in die Schule. Sie hieß Flavia, und dieser Name hatte in unseren Ohren einen unangenehmen Klang. Sie hatte keine Eltern, sondern bloß eine Mutter, die sich seltsam anzog und jedes Mal eine dünne Zigarette rollte, wenn sie Flavia zur Bushaltestelle brachte oder am Nachmittag dort abholte. Der Busfahrer meinte, bei der Frau müsse man aufpassen, aber er ließ sich auf keine näheren Erklärungen ein. Wir nickten und passten auf. Schon wegen ihrer Unfähigkeit, allein zur Bushaltestelle zu gehen, wäre Flavia sofort eine Abreibung zugestanden, doch vorerst schonten wir sie. Sie galt als affektiert. Im Unterricht redete sie wie eines dieser Arschlöcher aus dem Kinderfernsehen, die glaubten, die Weisheit mit dem Löffel gefressen zu haben. Schlaumeier, die andauernd tollpatschige Verbrecher mit aufgeklebten Bärten überführten und dann der Polizei übergaben. Stadtkinder! Besonders nervte uns die Plastikwasserflasche, die sie ständig bei sich trug. Lebten wir denn in der Wüste Sahara? Musste sie hier jeden Moment mit dem Verdursten rechnen? Wahrscheinlich war es unter ihrer Würde, Cola oder Eistee mit Pfirsichgeschmack aus dem Schulautomaten zu ziehen, wie alle anderen. Kurz gesagt: Wenn man bislang noch nichts gegen sie unternommen hatten, dann nur, weil niemandem etwas Passendes eingefallen war. In der Zwischenzeit ignorierten wir sie, so gut es ging, und vielleicht war das ja wirkungsvoller als ein schlecht geplanter Streich. So lebten wir also eine Zeitlang ziemlich schweigsam nebeneinander her, bis sie am Ende der dritten Woche weich wurde.
Es war noch einmal ein richtiger Sommertag geworden. Nach der letzten Schulstunde waren wir sofort ins Freie gestürmt, alle waren scharf darauf, so rasch wie möglich das Schulgelände zu verlassen. Doch der Bus ließ auf sich warten, und wir begannen wieder mal damit, uns gegenseitig mit Eddingstiften die Schultaschen zu beschmieren. In diesem Durcheinander stand sie plötzlich neben mir und fragte mich tatsächlich – die Hand um ihre dämliche Wasserflasche gekrampft –, ob sie nicht am Nachmittag gemeinsam mit uns etwas unternehmen könnte. Ich war so erschrocken, dass mir keine passende Antwort einfiel. Ich sah, wie die Mädchen triumphierten und die Jungen verächtlich grinsten, aber niemand brachte den Mund auf, bis Helmut eine Glanznummer ablieferte: „Habt ihr etwas gehört?“
Wir schüttelten zugleich die Köpfe.
„Ich auch nicht.“
Dann drehten wir uns um und ließen sie stehen.
Am nächsten Morgen stand sie alleine vor dem Schulbushäuschen, obwohl es regnete. Hatte sie es wirklich geschafft, ohne ihre Mutter den richtigen Weg zur Bushaltestelle zu finden? Wir konnten es nicht glauben. Sie setzte sich wie üblich auf den unbeliebtesten Sitz, direkt hinter dem Busfahrer, denn hier konnte man keinen Spaß haben, ohne dass dieser Kinderfeind sofort eingeschritten wäre. Manchmal belauschte er uns in aller Ruhe – was noch niederträchtiger war – und hatte dann immer Gesprächsstoff, wenn ihm Eltern über den Weg liefen. Irgendwann hatte Flavia kapiert, dass dieser Platz wie für sie geschaffen war, außerdem waren alle anderen besetzt. Nach der Schule saß ich an diesem Tag zufällig schräg hinter ihr und beobachtete sie von der Seite. Warum hatte sie ausgerechnet mich gefragt? Sie starrte auf den kleinen Spiegel am Kopfteil des Fahrersitzes und ignorierte mich während der ganzen Fahrt. Der Bus hielt in den Dörfern der Umgebung und leerte sich langsam, während ich Zeit hatte, über alles mögliche nachzudenken. Als sie dran kam, und Helmut ihrer Schultasche zum Abschied einen Stoß versetzte, stand plötzlich ein Bild aus dem Sommer vor mir: der Blick in den qualmenden Mopedauspuff und der bittere Geschmack der Einsamkeit, der seither irgendwie dazu gehörte. Sie tat, als wäre nichts passiert. Ihre Schultasche sah aus wie eben erst gekauft. Niemand hatte sich die Mühe gemacht, sie mit einem Edding zu verschönern. Als Flavia vom Trittbrett sprang, und sich die Hydrauliktür zischend hinter ihr schloss, blickte ich ihr lange nach und dann ratlos zu Helmut hinüber, doch der drückte schon wieder auf seinem Computerspiel herum. Irgendetwas hatte sich verändert, und das war sehr beunruhigend. Ich ahnte, dass diese Neuerung mich über kurz oder lang aus der Welt meiner Freunde hinauskatapultieren würde, wenn ich nicht verdammt aufpasste.
Nach dem Mittagessen drehte ich mit dem Rad wieder meine Runden, diesmal aber nicht in der Siedlung, sondern in der Gegend hinter dem alten Bahnhof, wo die alten Einfamilienhäuser standen. Einige waren groß und lagen versteckt hinter hohen Pappeln inmitten riesiger Gärten, andere waren klein und fast verfallen, wie das Bahnhofsgebäude selbst. In einem solchen Haus wohnte Flavia mit ihrer Mutter. Ich fuhr ungefähr tausend Mal über einen mickrigen Sandhaufen, die Überreste einer gescheiterten Renovierung. Ich gaukelte mir vor, es wäre eine spannende Geschicklichkeitsübung, von der ich nicht genug bekommen konnte, und wahrscheinlich wäre ich noch eine ganze Stunde im Kreis gefahren, doch irgendwann knarrte eine Tür, und Flavia trat an den Gartenzaun. Natürlich tat ich, als würde ich sie nicht bemerken. Als ich konzentriert den Sandhaufen hinauffuhr, grinste sie verächtlich.
„Das ist sicher unglaublich schwierig, über so einen Sandhaufen zu fahren.“
Wieder hörte sie sich an wie eines dieser Fernsehkinder. „Wie schaffst du das bloß? Der ist doch mindestens einen Meter hoch. Und sicher auch sehr ... sandig.“
Logischerweise missfiel mir ihr höhnische Unterton. Jetzt wo ich allein war, glaubte sie, frech werden zu dürfen. Ich stoppte mitten auf dem Hügel und sah auf sie hinunter.
„Das ist noch gar nichts. Ich schaffe es mit dem Rad sogar alleine bis zur Bushaltestelle und wieder zurück. Ganz ohne meine liebe Mama.“
„Und ich etwa nicht? Hätte dir heute eigentlich auffallen können.“
„Mir ist nicht einmal aufgefallen, dass du in der Schule warst, wenn ich ehrlich bin.“
„Komisch. Warum hast du dann immer zu mir herüber geglotzt?“
Ich sagte nichts, denn ich hatte keine Ahnung, was unter solchen Umständen zu tun war. Warum fuhr ich überhaupt in dieser öden Gegend herum? Gerne wäre ich woanders gewesen, aber meine Beine waren offenbar gelähmt. Hätte ich mich auf den Sattel gesetzt, ich wäre zweifellos umgefallen und den Sandhaufen hinuntergerollt wie ein Stein. Also hielt ich mich am Lenker fest und wartete, bis dieser Zustand vorüber war. Sie gaffte mich an wie eine missglückte Zirkusattraktion, und zum Glück konnte uns in diesem Moment niemand sehen.
„Hast du … für heute Nachmittag … schon Pläne?“
„Oh!“ Sie tat überrascht. „Ich habe schon geglaubt, du bist auf deinem Fahrrad eingeschlafen.“
Sie war noch zickiger, als ich vermutet hatte.
„Gut, dann zieh dir alte Turnschuhe an. Ich bin in einer halben Stunde wieder hier, ok?“
Ich versuchte meine Stimme so tief und unbeteiligt klingen zu lassen wie möglich.
„Und was machen wir, wenn ich fragen darf?“
„Ich dachte, vielleicht möchtest du unsere Highlights kennenlernen.“
„Highlights, in diesem Kaff? Da hast du dir aber viel vorgenommen.“
Der Abgang war mir geglückt, immerhin. Die ganze Fahrt über klopfte mir das Herz bis zum Hals. Ich schleuderte zuhause das Rad in den Hof und lief, ohne auf die Fragen meiner Mutter zu achten, in mein Zimmer hinauf, um systematisch meine Sachen zu durchwühlen. In einer der Sportkisten lag die Strickleiter.
***
„Das ist er!“
Unsere Schritte knirschten im Schotterbett der Geleise. Flavia blieb vor dem Tank stehen und strich mit der Hand über seinen Bauch, als wäre er ein riesiges Haustier. Lack blätterte ab, und als sie mir ihre Handfläche zeigte, war sie so rot wie aus einem Winnetou-Film.
„Schau, wir könnten Cowboy und Indianerin spielen!“, sagte sie.
„Könnten wir“, entgegnete ich. „Aber wir sind nur zu zweit, und Indianer jagen in Rudeln.“
Sie kam nahe an mich heran. Es beunruhigte mich, dass wir gleich groß waren.
„Hast du eine bessere Idee, Herr Indianerexperte?“
Unter ihrem Pulli zeichneten sich zwei kleine Hügel ab. Alles in allem sah sie aus wie ein richtiger Kinderstar, nur irgendwie besser. Fast hätte ich sie gefragt, ob sie schon mal in einer Serie war oder so einen Schwachsinn, aber zum Glück hielt ich den Mund. Stattdessen griff ich in meinen Rucksack und holte die Leiter heraus. Ich zog sie auf die Anhängerkupplung, und wir robbten über die Wölbung des Tanks bis zur Öffnung. Auch wenn man nur ein paar Meter über dem Boden war, hatte man von hier einen tollen Ausblick über das ganze Bahnhofsgelände. Wie aufregend es wäre, einmal bei voller Fahrt auf dem Dach eines Wagons zu liegen! Sie stand auf und breitete beide Arme aus, als würde sie den Fahrtwind spüren. Dann schraubten wir die Kappe ab und ich leuchtete mit der Taschenlampe hinunter.
„Was wollen wir da unten eigentlich?“
„Es ist einfach ein geiles Gefühl. Jeder von uns war schon mal unten. Das gehört hier einfach dazu.“
„Ich verstehe. Eine Art Aufnahmeprüfung.“
„Wenn du es so nennen willst.“
Sie blickte in das glänzende Rund der Höhle.
„Und so verbringt ihr eure Zeit?“
„Manchmal“, sagte ich. „Noch sind unsere Schultern schmal genug. In einem Jahr geht das sowieso nicht mehr, ich bin nämlich gerade mitten in einem Wachstumsschub.“
„Ok, meinetwegen“, seufzte sie. „Lass es uns tun. Wer geht zuerst?“
„Du!“
Dann hakte ich die zwei Nägel, die ich in die letzte Sprosse der Leiter genagelt hatte, am Rand fest. Schneller, als erwartet, war sie bis zu den Schultern im Loch verschwunden.
„Komm!“, sagte sie und streckte die Hand nach oben.
„Warte noch. Die Strickleiter trägt nur einen von uns.“
Natürlich würde sie nicht ohnmächtig werden. Und falls doch, könnte ich sie sofort rausholen und ihr Leben retten. Dann müsste sie mir ewig dankbar sein. Und ich bekäme am Jahresende vom Direktor eine Medaille – wie der Junge, der sich vor der Sparkasse die Nummer des Fluchtautos notiert hatte. Überhaupt gab es in dieser Situation einige interessante Möglichkeiten. Leider schwirrten sie alle zugleich durch meinen Kopf, sodass mir richtig schwindlig wurde. Zum Beispiel konnte ich noch immer, falls unvermutet jemand aus der Clique auftauchte, behaupten, ich hätte ihr einen Streich gespielt. Aber war es das, was ich wollte? Ein lautes Getöse, das an einen chinesischen Gong erinnerte, riss mich aus den Gedanken. Ein Nagel hatte sich aus der obersten Sprosse gelöst, und Flavia war auf den Boden des Tanks geknallt.
„Flavia? Ist dir etwas passiert?“
„Nein. Aber deine geniale Leiter ist mir auf den Kopf gefallen.“
„Das tut mir leid. Wirf sie wieder hoch!“
Sie versuchte es mehrere Male, aber das hintere Ende der Leiter zog die Sprossen zurück, und das Holz fiel jedes Mal hallend zu Boden.
„Ich fürchte, man kann eine Strickleiter nicht gut werfen.“
Ich gab mir beim Fangen keine besondere Mühe, aber es war schwierig, Kopf und Arme gleichzeitig durch das Loch zu zwängen, und ich behaupte, es wäre auch bei gutem Willen nicht ganz einfach gewesen. Vielleicht wollte ich diesen Moment irgendwie festhalten, so wie meine Mutter jedes Jahr die Geburtstagstorte fotografierte, bevor ich die Kerzen ausblies. Nach zehn Versuchen gaben wir auf.
„So wird das nichts. Ich muss Hilfe holen. Warte hier!“
„Ok, ich warte. Versprochen.“
Sie lachte, wenn auch nicht besonders ausgelassen. Es war das erste Mal, dass ich ihr Lachen hörte, deshalb war es für mich etwas besonderes. Wir würden das gemeinsam durchstehen. Ich begann sie zu mögen, auch wenn sie glaubte, etwas Besseres zu sein. Dann fuhr ich los; nicht sehr bekümmert und – wie ich zugeben muss – ohne jede Hektik. Ich brauchte ohnehin Zeit zum Nachdenken. Warum war sie auch vorher so frech gewesen? Jetzt wurde ihr eben die Rechnung präsentiert. Ein wenig Zeit zum Nachdenken konnte auch ihr nicht schaden. Ich hatte keine Lust mehr, sie sofort aus ihrer Lage zu befreien. Stattdessen machte ich einen Abstecher zur Konditorei und genehmigte mir zur Feier des Tages eine Flasche Cola. Die Bedienung brachte das Getränk in einer Glasflasche und stellte ein Glas mit Eiswürfel und Zitronenscheibe daneben. Ich trank es in langsamen Schlucken und genoss die knisternde Kohlensäure. Warum schmeckte es hier viel besser als zuhause aus dem Kühlschrank? Vielleicht wurde in die kleinen Glasflaschen das richtige Cola abgefüllt, während man im Supermarkt nur eine billige Imitation zu kaufen bekam. Später fuhr Helmut mit dem Moped seines Bruders vorbei. Er machte sich nicht einmal die Mühe, mit dem Finger an den Helm zu tippen. Hochmut kommt vor dem Fall, sagte meine Mutter in solchen Fällen. Früher oder später würde ihn die Gendarmerie aufhalten und er würde Probleme bekommen. Es war nicht so, dass ich mich auf diesen Tag freute, aber so war es nun einmal, jeder musste irgendwann für seine Fehler büßen. Danach machte ich mich auf den Heimweg.
Meine Mutter, die sich durch einen Berg Wäsche bügelte, blickte nicht einmal auf, als ich hinter ihr an den Kühlschrank trat und eine Flasche Fanta herausnahm. Zusammen mit einer Packung Kekse aus meinem Zimmer wickelte ich sie in eine Decke und fuhr damit zum Bahnhof zurück. Als ich Flavia die Sachen hinunterwarf, wirkte sie enttäuscht.
„Soll ich hier ein Picknick machen?“
„Mein Vater ist gerade heimgekommen, als ich das Seil aus dem Hobbykeller holen wollte“, log ich. Damit wollte ich die Leiter nach oben ziehen, verstehst du?“
„Und warum hast du es nicht mitgenommen?“
Ich schüttelte belustigt den Kopf. „Du kennst meinen Vater nicht. Wenn er anfängt Fragen zu stellen, bekommen wir nur unnötige Probleme.“
Sie trat mit dem Fuß gegen das Metall und schwieg. Dann raschelte die Verpackung der Kekse.
„Gib mir noch etwas Zeit, Flavia.“ Ich sah, wie sie die Decke am Boden ausbreitete. „Vielleicht können wir uns in der Zwischenzeit besser kennenlernen“, schlug ich vor. „Ich weiß doch kaum etwas von dir.“
„Gerne, aber ich muss um sechs Uhr zu Hause sein, Ingo.“ Zum ersten Mal sprach sie meinen Namen aus – es war als würde eine Hand über meinen Rücken streicheln. „Meine Mutter macht sich sonst Sorgen.“
„Keine Panik, ich werde es noch einmal versuchen. Um fünf muss er zur Nachtschicht.“
Ich glaube, meine Worte flößten ihr Vertrauen ein. Mein Gott, wir steckten mitten in einem wunderbaren Abenteuer. Ich weiß schon, dass viele das anders sehen würden, aber man muss auch bedenken, dass ich viel mehr riskierte als sie. Mein Ruf in der Klasse stand auf dem Spiel. Es war nur fair, wenn auch sie ein kleines Opfer brachte. Und was war schon dabei, es war letztlich eine sehr angenehme Stunde und die Sonne stand immer noch hoch am Himmel. Und wir unterhielten uns prächtig: Ich erfuhr, dass ihr Vater Schauspieler war und immer wieder mal Premierenkarten schickte. Momentan spielte er in einer Stadt, deren Namen ich noch nie gehört hatte. Über ihre Mutter redete sie nicht so gerne, aber Flavia gestand mir, wie sehr sie unseren Ort hasste, und dass sie gerne einen Hund hätte, aber allergisch war. Um fünf riss ich mich los und stieg auf mein Rad. Während ich durch die verlassenen Bahnhofsruine strampelte, und die zerbrochenen Fensterscheiben im Licht der Dämmerung unheimlich glitzerten, sank meine Zuversicht. Gleichzeitig wuchs die Unzufriedenheit über mich selbst: Mein Vater hatte weder Nachtschichten noch einen Hobbykeller – und vermutlich nicht einmal ein brauchbares Seil. Ich hatte überhaupt keine Lust nachhause zu fahren, alles in allem. Lieber wäre ich bei Flavia geblieben. Ja, am liebsten hätte ich die ganze Nacht bei ihr am Tank ausgeharrt und versucht, sie zu trösten.
Kurz vor sieben setzte ich mich an den Esstisch. Wir waren zu dritt, denn meine Schwester blieb über Nacht bei einer Freundin. Meine Eltern aßen schweigend, wie immer, wenn sie gestritten hatten, und ich dachte an Flavia und die Zukunft. Irgendwann sammelte meine Mutter die leeren Teller ein und mein Vater ging hinüber ins Wohnzimmer. Ich wartete, bis sie es sich vor dem Fernseher gemütlich gemacht hatten, dann schlich ich hinaus zu meinem Fahrrad. Als ich wieder am Bahnhof eintraf, hatte sich die Abendstimmung komplett verändert. Noch nie war ich um diese Zeit bei den Wagons gewesen. Alles war still und dunkel, nur die nervösen Blätter der Pappeln raschelten im Wind, ein Geräusch, das man untertags wegen der nahen Schnellstraße nie wahrnahm. Ich hatte zwei Säckchen Gummibären dabei, die ich aus dem Vorrat meiner Schwester abgezweigt hatte, sowie Ersatzbatterien für die Taschenlampe. Ich legte ein Ohr an den Tank, als könnte ich durch den dicken Stahl ihren Atem hören, doch natürlich hörte man gar nichts. Hatte sie sich befreit? Schlief sie? An eine dritte Möglichkeit dachte ich nicht.
„Flavia?“
Ich lag auf dem Tank, und sie schaute zu mir hoch, ohne ein Wort zu sagen.
„Entschuldige, es ist etwas später geworden. Ich konnte nicht weg, meine Eltern haben Verdacht geschöpft.“
Sie schwieg.
„Bist du jetzt sauer auf mich?“
„Sauer? Du Irrer!“, schrie sie in einer Lautstärke, die mich zurückprallen ließ. „Bist du völlig durchgeknallt? Du bist ein Fall für die Kinderpsychiatrie!“
Natürlich konnte ich ihren Unmut verstehen. Sie schien überhaupt zur Ungeduld zu neigen. Ihr Ausbruch zeigte mir aber auch, wie weit sie davon entfernt war, die Bedeutung, die sie in meinem Leben bereits hatte, richtig einzuschätzen.
„Schau, ich habe Gummibären mitgebracht“, sagte ich, um sie auf andere Gedanken zu bringen.
„Du kannst sie behalten. Ich habe Durst.“
„Du hast doch noch die Flasche Fanta“, erinnerte ich sie und deutete auf ihre Vorräte.
„Fanta macht durstig. Hat dir das nie jemand gesagt? Das Zeug besteht zu neunundneunzig Prozent aus Zucker!“
Ich hielt das für übertrieben, wollte mich aber auf keine Diskussion einlassen. Ich versprach, ihr am Wasserhahn auf dem Betriebsgelände eine leere Flasche mit Wasser aufzufüllen, und als ich zurück kam, hatte sie sich beruhigt.
„Ich weiß nicht genau, was du vorhast, aber wenn du glaubst, dass du dich auf diese Art bei mir beliebt machst, bist du auf dem Holzweg.“
Im Dunklen konnte sie nicht erkennen, ob ich rot wurde, dennoch legte ich Protest ein. „Wer sagt, dass ich mich beliebt machen will?“
„Du hast dich vorher beim Fangen ziemlich ungeschickt angestellt. Du wolltest, dass ich hier unten bleibe. Und dann kommst du zurück mit Gummibären? Wahrscheinlich bist du psychisch krank.“ Sie lachte so verzweifelt, dass ich sie am liebsten umarmt hätte. „Aber das geht mich zum Glück nichts an. Zieh einfach die dämliche Leiter nach oben und hol mich hier heraus, sonst wird dein Leben noch unerfreulicher, als es schon ist.“
„Was heißt hier dämlich? Zum Hinuntersteigen war sie gut genug.“
Wieder schwieg sie.
„Willst du ein Eis als Wiedergutmachung? In der Nähe gibt es einen Eissalon.“
„Nein. Ich bin ab jetzt im Hungerstreik. Ich habe keine Lust mehr, dein Haustier zu spielen. Entweder du kommst mit einem verdammten Seil, oder du brauchst gar nicht mehr zu kommen.“
Den ganzen Tag hatte mich der Gedanke erregt, mich um sie zu kümmern – an diesem geheimen Zufluchtsort, wo sich niemand aus der Klasse über unsere Freundschaft lustig machen konnte. Auch wäre es schön gewesen, noch mehr aus ihrem Leben zu erfahren. Manchmal musste man den Dingen Zeit lassen, sich zu entwickeln. Es gab so viel, was ich nicht wusste. Aber irgendetwas war schief gelaufen. Oder hatte ich mich in ihr getäuscht? Als klar war, dass sie sich nicht mehr mit mir unterhalten wollte, stieg ich vom Tank, filzte widerwillig das stinkende Wärterhäuschen und die Remise, durchstöberte die Schutthaufen hinter dem Bahnhof, und irgendwo im Müll lag eine Schnur, die lang genug war, um eine Strickleiter daran festzuknoten.
„Hast du einen Plan, wie du aus dieser Scheiße herauskommst, Indianerexperte?“, höhnte sie, als ich wieder zur Öffnung robbte. „Dir muss klar sein, dass meine Mutter inzwischen die Polizei eingeschaltet hat.“
Ich zuckte mit den Achseln.
„Hätte mich auch gewundert. Also hör mir gut zu. Weil du so ein harmloser Irrer bist, werde ich eventuell darauf verzichten, dein Leben zu zerstören.“
„Das ist nett von dir“, sagte ich traurig, „aber ehrlich gesagt, wie willst du das anstellen?“
„Ich gehe nachhause und sage meine Mutter, ich bin abgehauen, weil ich wegen der Klasse so verzweifelt bin. Danach schickt sie mich zum Therapeuten, und ich muss wieder ein paar Tabletten schlucken.“
„Und ich?“
„Für dich ist die Sache erledigt.“
War es das, was ich wollte? Es klang nicht sehr verlockend. Außerdem missfiel mir ihr Blick. „Wer sagt, dass du mir nicht in den Rücken fällst? Wer sagt, dass du nicht als erstes zu deiner Mutter läufst und ihr erzählst, ich hätte dich hier den ganzen Tag festgehalten?“
„Weil ich es nicht tun werde. Ich habe dir vertraut, als ich hier runtergestiegen bin, und jetzt bist du dran. Jetzt musst du mir vertrauen.“
Ich seufzte, griff nach der Schnur und wägte noch einmal alle Vor- und Nachteile ab.
„Du glaubst also, dass ich mich bei dir beliebt machen will. Angenommen es wäre so. Nur angenommen! Weißt du, ich habe noch nie einem Mädchen gesagt, dass ich sie gern habe. Schon gar nicht einer Außenseiterin wie dir.“
Sie sagte nichts, aber sie sah mich die ganze Zeit an, als wüsste sie Bescheid, und das setzte mich unter Druck.
Ich zeigte ihr das Ende der Schnur.
„Ich lasse sie jetzt runter. Aber ich mache es nur, wenn –“
„– wenn was?“
„Wenn das weitergeht mit uns.“
„Warum sollte es nicht weitergehen? Warum, glaubst du, bin ich überhaupt hier? Interessiere ich mich für rostige Wagons? Nein, ich wollte mit dir zusammen sein.“
„Und wenn das hier vorbei ist –“
„– dann wird meine Mutter nichts dagegen haben, wenn wir beide uns öfter sehen; und vielleicht irgendwann einmal gemeinsam auf dieser verdammten Decke liegen“, sagte sie mit ihrem Kinderstarlächeln. „Aber nicht hier unten, sondern in deinem Zimmer … oder in meinem.“
Ich musste nun auch lächeln, denn ich konnte mir sehr gut vorstellen, mit ihr auf einer Decke zu liegen, während draußen in der Küche ihre Mutter dünne Zigaretten drehte oder Brötchen für uns vorbereitete, und meinetwegen Helmut und die anderen um das Haus fuhren und höhnisch „Ingo und Flavia“ riefen. Dann ließ ich wortlos die Schnur hinunter und ebenso wortlos band sie deren Ende an der Strickleiter fest. Ich zog die erste Sprosse nach oben und befestigte sie wieder an der Öffnung des Tanks. Am Ende umwickelte ich sie mehrere Male mit der Schnur und prüfte noch einmal ihren Halt. Die Leiter hielt bombenfest.
Wahrscheinlich hatte ich damit gerechnet, dass Flavia so schnell nach oben käme, wie sie acht Stunden zuvor hinabgestiegen war. Aber als ich den Kopf durch das Loch steckte, saß sie noch immer auf der Decke und nuckelte an ihrer Wasserflasche.
„Was ist los?“, fragte ich. „Wolltest du nicht nach oben kommen?“
„Nein. Ich habe es mir anders überlegt. Komm du erst mal herunter.“
Jeder Tritt auf die Sprosse hallte an den Wänden nach. So also fühlte sich der Tank von innen an! Es war kühler, als ich angenommen hatte. Ihr Gesicht war grau, und zwischen Wangen und Nasenflügel glänzte eine feuchte Tränenspur.
„Wenn du willst, dass ich jemals wieder mit dir spreche, bleibst du so lange hier unten, wie ich es für richtig halte.“
Ich nickte und tauschte meine Leiter gegen ihre Wasserflasche.
„Hier, nimm die Gummibären als Andenken.“
Dann stieg sie durch die blaue Öffnung nach draußen, und als sie die Strickleiter hoch zog, rief sie etwas, das sich wie armer Irrer anhörte, aber die Stahlwand schluckte jeden Laut, und es konnte auch etwas anderes gewesen sein.
„Ich warte auf dich!“, schrie ich ihr nach. Dann nahm ich einen Schluck aus der Wasserflasche und setzte mich auf die Decke, die jetzt nach ihrem Pulli roch. Hier saß ich, und über mir leuchtete eine dunkelblaue Nachtsonne am schwarzen Tankhimmel. Ich hatte ein gutes Gefühl.