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Turmsprung-Therapie
Lisa nahm Anlauf, zwei, drei Schritte und das Sprungbrett schleuderte sie in den Himmel hinaus. Ihr Körper beschrieb eine perfekte Parabel und tauchte ins Wasser, das ohne Spritzen verheilte. Die drahtige Figur betont vom schwarzen Badeanzug, eilte sie erneut die Leitern des Sprungturms hinauf. Sebastian, der sie von den steinernen Sonnenbänken aus beobachtete, zündete sich die nächste Zigarette an.
Er kannte Lisa aus der Schule. Im Religionsunterricht spielte sie mit ihrem Smartphone unter der Bank, in den Pausen stand sie bei den Kerlen aus der Oberstufe, küsste ihre Wangen zur Begrüßung, rauchte ihre Zigaretten. In manchen seiner Träume schlief Sebastian mit ihr.
Nach dem nächsten Sprung schlenderte Lisa zu Sebastian. Wasser troff aus ihrer Kurzhaarfrisur und tupfte Muster auf den Stein. In ihrem Rücken blendete die Sonne.
„Du bist dran.“
„Was?“
„Du hast mir zugeschaut, jetzt will ich dich springen sehen.“
Sebastian sah den Turm hinauf, aus dem die Sprungbretter wie Zungen ragten. Von hier unten wirkte er gar nicht so hoch. Er stieß die Zigarette in einen Spalt zwischen zwei Steinplatten und zog sein T-Shirt aus. Prüfend legte Lisa den Kopf zur Seite.
„Du siehst echt besser aus als deine Klamotten“, sagte sie.
Die Leitersprossen schnitten ihm in die Fußsohlen, der Geruch von feuchtem Eisen füllte seine Nase. Mit jedem Stockwerk, das er unter sich ließ, wurde der Wind kräftiger. Dann lag das Schwimmbad unter ihm. Ohne Zögern ging Sebastian über das Ende des Sprungbretts hinaus. Das Wasser schoss in seine Nase, spülte das Gehirn aus seinem Kopf. Er trudelte zum Beckenboden, berührte mit den Füßen die glatten Fliesen. Er öffnete die Augen. Millionen Luftbläschen stiegen zur Oberfläche, hinein ins wabernde Sonnenlicht.
„Was machst du jetzt?“, fragte Lisa, während er sich Wasser aus dem Ohr schüttelte.
„Nach Hause gehen, Essen kochen.“
„Du kannst kochen?“
Also erzählte er von seinem Vater, der häufig für die Arbeit verreiste, von seiner Mutter, die nach Frankreich verschwunden war, erzählte vom ekligen Geschmack, den Fast-Food und Fertiggerichte nach einigen Wochen ohne frische Mahlzeit annahmen.
„Hört sich cool an.“, sagte Lisa. „Du bist echt reifer als die andern Jungs in deinem Alter.“ Sie sagte das, als wäre sie um Jahre älter.
„Naja, es kann auch ziemlich langweilig sein“, sagte Sebastian, während er unterm Handtuch Badehose gegen Boxershorts und Jeans tauschte.
„Trotzdem, ich wüsste gern, wie du kochst?“
„Willst du mitkommen?“
Lisa zog sich in den Umkleiden an, aber sie ließ die Tür ihrer Kabine offen und streckte Sebastian die Zunge raus, als er nach ihren Brüsten schielte, eher kindliche Rundungen als die prallen Titten, die er aus Pornos kannte. „Spanner.“
Nach der Busfahrt legte Lisa den Kopf in den Nacken und ließ den Blick über die 20 Stockwerke des Wohnsilos schweifen – Balkone, auf denen Männer in Unterhemden standen, Balkone, vor denen Wäsche flatterte, Balkone verdeckt von Sonnenschirmen.
„In welchem Stockwerk wohnst du?“
„Im vierten.“
„Dann hast du ja nicht mal Aussicht.“ Sie klang enttäuscht.
„Aber ich muss weniger Treppen laufen, wenn der Fahrstuhl kaputt ist.“
Zum ersten Mal fühlte es sich gut an, dass die Wohnung leer war, als er die Tür aufschloss. In seinem Zimmer musterte Lisa das Bett, über dessen Kopfende das Poster einer Bikini-Schönheit hing, und zog die Vorhänge vors Fenster.
„Zieh dich aus“, sagte sie. Und als er zögert: „Also gut, fang ich wieder an.“
Nackt wirkte Lisa fast zu sportlich. Mit angedeutetem Six-Pack und drahtigen Armen, erinnerte sie an die Amazonen, die nur diejenigen Männer freiten, welche sie zuvor in der Schlacht besiegten.
„Und, gefall ich dir?“
„Sehr.“
Sie stieß ihn aufs Bett und zog ihm die Klamotten aus. Ihre Zunge öffnete seine Lippen.
„Hast du Gummis da?“, fragte sie. Sebastian schüttelte den Kopf. „Gott, das ist eure Aufgabe.“ Genervt kramte sie in ihrem Rucksack und hielt Sebastian ein rotes, ein gelbes und ein schwarzes Kondom vors Gesicht. „Welche Farbe willst du?“
Der Sex war anstrengend wie Leistungssport und beim Orgasmus wurde Sebastian schwarz vor Augen. Benommen rang er nach Luft, während Lisa von ihm herunterrollte. Ihre Haut glänzte ölig.
Als sich sein Herzschlag beruhigt hatte, zog Sebastian die Vorhänge beiseite und öffnete das Fenster. Der Wind trocknete den Schweiß und ließ ihn frösteln. Auf dem Rasen vor der Straße spielten Kinder Fußball. Ihre Schreie echoten zwischen den Häuserwänden.
„Stört es dich nicht, dass dich jeder sieht?“, fragte Lisa.
„Wieso? Hier weiß eh niemand, welches Fenster zu welcher Wohnung gehört.“ Er warf sich einen Bademantel über „Ist Fisch zum Essen okay?“
„Ne, kein Fisch. Da find ich die Augen super ekelig.“
„Ich hab eh nur Filet da.“
„Trotzdem, kein Fisch.“
Also briet er Pilze zum Reis, während Lisa duschen ging. Als das Essen auf dem Tisch stand, kam sie mit rosigem Gesicht und gegelten Haaren in die Küche. Sebastian fühlte sich glücklich. Aber sie aß schweigend und schnell und verließ mit knappem Winken die Wohnung.
Die nächsten Tage versuchte Sebastian Lisa abzufangen. Aber sie hielt sich bei ihren Freundinnen, geschminkte Party-Girls, die vom letzten Wochenende erzählten, von heißen Jungs in der Disco und von Martin, der wieder in die Badewanne gekotzt hatte. Schließlich sah er Lisa auf dem Rückweg vom Klo und lief ihr nach.
„Hey, wollen wir mal wieder eine Runde Turmspringen?“
„Keine Chance, ich mach das nur, wenn es mir schlecht geht.“
„Dann muss es dir ziemlich oft schlecht gehen.“ Ihr Gesicht verriet Verärgerung und Sebastian bekam das Gefühl, sich verrannt zu haben. „Naja, ich meine, du springst ziemlich gut. Aber wir können ja auch was anderes machen.“
„Hör mal“, sagte Lisa. „Das Ganze war einmalig. Ich hab nen Freund, also lauf mir nicht ständig nach.“
„Warum hast du dann mit mir geschlafen?“, rief er ihr nach und eine Gruppe Siebtklässler lachte ihm dreckig ins Gesicht, während sie vorübereilten.
„Weil Sex Spaß macht.“
„Das ist doch Scheiße.“
„Tut mir leid, wenn’s dir nicht gefallen hat. Ich fand dich eigentlich ziemlich gut.“
Der Gong beendete die Pause und sie lief eine Treppe hinauf zu ihrem Klassenzimmer. Auf Sebastian wartete eine Stunde Deutsch, aber er fuhr mit dem Bus in die Innenstadt und blätterte durch die Comicabteilung der Buchläden, um Lisa zu vergessen.
Während ihm Lisas Körper genau vor Augen stand – samt Muttermal überm Bauchnabel und teilrasiertem Venushügel – konnte sich Sebastian an ihre Stimme nicht erinnern. Weder hörte er den herrischen Tonfall, mit dem sie ihn den Sprungturm hinaufjagte, noch ihre kleinen Schreie beim Sex, als sie die Augen schloss, sich die Unterlippe zerbiss. Und gerade weil er nur um ihre Wirkung wusste, ließ ihn ihre Stimme nicht los. Er lag auf dem Bett und rauchte Zigaretten bei offenem Fenster, bis er sich eingestand, dass er Lisa vermisste.
Als er die Einsamkeit der Wohnung nicht mehr ertrug, fuhr zum Schwimmbad und schwamm zwanzig Bahnen auf Zeit. Mit müden Gliedern sonnte er sich auf den Betonstufen am Beckenrand und hielt Ausschau nach Lisa. Aber nur eine Gruppe Jungs in Neoprenanzügen kletterte unermüdlich den Sprungturm hinauf. Sebastian musste an Ameisen denken. Zurück in der Wohnung kochte er Reis mit Spinat und schmiss alles weg, weil er nichts essen konnte. Am nächsten Tag brannte die Milchsäure beim Schwimmen wie Feuer in den Armen.
Erst nach zwei Wochen sah er Lisa wieder im Schwimmbad. Ohne sein Winken zu beachten, ging sie an ihm vorbei. Die Wut trieb Sebastian den Sprungturm hinauf. Bevor Lisa das Ende des Bretts erreichte, packte er sie an der Schulter.
„Hör auf mich zu ignorieren.“
„Zwischen uns läuft nichts.“ Sie riss sich los. „Ich muss mich nicht um dich kümmern.“
„Dass ich nicht dein Freund bin, hab ich kapiert. Was soll’s, bin ich eben dein Taschentuch.“
„Normalerweise benutze ich meine Taschentücher aber nur einmal“, sagte sie und ließ sich rückwärts vom Sprungbrett fallen. Sebastian sprang ihr nach. Als er wieder auftauchte, wartete Lisa mit verschränkten Armen am Beckenrand.
„Hast du inzwischen Gummis zu Hause?“
Sie gingen in den Supermarkt um die Ecke und Sebastian fühlte sich wie ein Gewinner, als der Verkäufer die Kondome mit neidischem Blick über den Scanner zog. Auf der Busfahrt saß ihnen ein Skinhead mit Kampfhund gegenüber und Lisa zog ängstlich die Beine an. Sebastian legte ihr den Arm um die Schulter, als wäre sie seine Freundin.
Nach dem Sex lag er mit dem Kopf auf Lisas Bauch und lauschte auf das Gluckern ihres Magens. „Besteht vielleicht doch die Möglichkeit, dass du dich in mich verliebst?“
Sie schüttelte den Kopf. „Tut mir leid, ich steh auf Männer, nicht auf Jungs.“
„Ich dachte ich wäre reifer als die anderen Jungs.“
„Ja, aber erwachsen bist du trotzdem nicht.“
Sebastian ging weiterhin jeden Tag schwimmen und lag anschließend mit Kopfhörern in den Ohren auf der Sonnenbank. Abends trank er Bier mit den Jungs in Neoprenanzügen oder er rauchte in seinem Zimmer bei offenem Fenster und lauschte den Familien der umliegenden Wohnungen, lauschte dem Plappern der Fernseher, dem Klirren von Geschirr in der Spüle, lauschte lauten Stimme und Musik, dem rhythmische Knarren der Bettfedern. Seine Haut wurde braun, seine Schultern wuchsen in die Breite.
Wenn Lisa ins Schwimmbad kam, sprangen die Jungs in Neoprenanzügen mit ihr um die Wette. Anschließend küsste sie Sebastian auf den Mund und sie gingen Einkaufen, Kondome oder Zutaten fürs Abendessen; der Verkäufer erkannte sie bereits wieder. Sie hatten Sex und dösten ohne Worte in den Abend hinein. Oder Sebastian untersuchte Lisas Körper mit der Hingabe eines Archäologen, tastete ihre Rippenbögen ab, den Schwung ihrer Hüften, wanderte über ihre Schenkel hinab zu den Füßen.
„Hast du eigentlich nen Fuß-Fetisch“, fragte sie, während er ihre Zehen einzeln zwischen den Fingern rieb.
„Nee, es fasziniert mich nur, dass deine Füße eigentlich gar nicht zu dir passen. Die sind viel zu maskulin.“
„Oho, ein tolles Kompliment.“
„Warum? Es wäre doch langweilig, wenn alles an dir perfekt wäre.“ Er küsste ihre Zehenballen und sie zog kichernd die Füße weg.
„Ich bin also nur interessant, weil ich Männerfüße habe?“
„Immerhin wachsen keine Haare drauf.“
Manchmal erzählte Lisa auch von ihrem Freund, der zwanzig war und Auto fuhr und Gitarre spielte in einer Band. Aus ihren Beschreibungen malte sich Sebastian einen Riesen mit der Brustbehaarung eines Bären und die Vorstellung, dass dieser Kerl mit ihr schlief, war weniger schmerzhaft als vielmehr irreal, wie die Idee aus einem Porno. Lisa fragte gereizt, was er so doof grinse.
Sebastian gewöhnte sich an den Ablauf der Tage, die Wochen glitten ihm wie Sand durch die Finger. Doch dann stand Lisa nachts vor seiner Tür. Tränen schmierten ihr Make-Up über das Gesicht, ihr Atem roch nach Alkohol und Kippen. Sebastian wusste nicht, was er machen sollte, also setzte er sie in die Küche und kochte Tee. Zum Glück war sein Vater in Stockholm. Während sie die dampfende Tasse umklammerte, als sei ihr kalt, fragte er, was eigentlich los sei.
„Lass uns ficken“, sagte sie.
„Nein.“
„Warum?“ Sie hängte sich an seinen Hals, küsste ihm Gesicht und Hals und nestelte an seiner Hose.
„Weil es dir schlecht geht, verdammt.“
„Na und? Ich bin eh nur hier, wenn es mir scheiße geht.“
Das tat weh, aber er nahm sie trotzdem in den Arm und hielt ihre Haare zurück, als sie sich ins Klo erbrach, bis nur noch Galle kam. Er brachte ihr Wasser zum Mundausspülen und wusch ihr das Gesicht mit einem Schwamm.
„Siehst du, deshalb wollte ich keinen Sex mit dir“, sagte er. „Wäre doch ziemlich eklig geworden.“
Lisa rang sich ein trauriges Lächeln ab. Sie lagen im Dunkel auf dem Bett und lauschten auf die Musik zwei Wohnungen weiter, bis die Polizei kam und Stimmen laut wurden, bevor schließlich Stille einkehrte. Sebastian streichelte ihr Haar und spürte den Plusschlag ihres Ohres auf seiner Brust.
„Er ist so ein Arsch“, sagte Lisa.
„Wer?“
„Mein Freund. Wir waren auf dieser Party. Eigentlich ganz cool, mit lauter Studenten. Aber dann hat er angefangen, mit diesem Mädchen rumzumachen. Hab ihn also weggestoßen und gesagt, wie scheiße das ist. Er meinte nur, ich soll mich nicht so kindisch benehmen.“
„Hallo? Du bist seine Freundin.“
„Bin ich nicht. Er nimmt mich auf seine Partys und Konzerte mit und schläft mit mir, wenn es ihm passt. Eine Beziehung will er nicht, findet er viel zu altmodisch, zu spießig. Und wenn doch, dann nur mit einer richtigen Frau.“
Obwohl Lisa Tränen übers Gesicht liefen und sie den Rotz mit dem Handrücken wegwischte, freute sich Sebastian – seine Chancen waren gestiegen.
„Es tut so weh“, wimmerte Lisa und er nahm sie in den Arm, bis sie eingeschlafen war.
Am Morgen, als sie frisch geschminkt und mit Lächeln im Gesicht vor der Wohnungstür stand, gab sie ihm zum ersten Mal einen Abschiedskuss. „Danke, dass ich kommen konnte.“
„Wo willst du hin?“, fragte Sebastian.
„Zu meinem Freund.“
„Geh nicht. Ich mein, er behandelt dich wie Dreck.“
„Überlass das mal mir.“
Seit der Nacht erzählte Lisa nicht mehr von ihrem Freund. Dafür sprach sie von Reisen nach Stockholm und Helsinki, einem Studium der Meeresbiologie in Hamburg oder Bremen, von Auslandssemstern und einem Haus an der See. Dabei klang sie begeistert wie ein kleines Mädchen, das Märchen erzählte und Sebastian fühlte sich ausgeschlossen – in dieser Zukunft gab es keinen Platz für ihn.
„Warum willst du eigentlich unbedingt von hier weg?“, fragte er.
„Nicht von hier, von meiner Familie.“ Sie lutschte grünes Wassereis und wischte sich die klebrigen Tropfen vom Kinn. Von draußen wehte das Geschrei der Kinder herein. „Die nerven voll. Ständig muss ich alles mit ihnen absprechen. Ich will endlich selbst meine Entscheidungen treffen, ich will frei sein.“
„Manchmal bist du echt naiv.“
Sie warf ihm einen giftigen Blick zu und fragte: „Was willst du denn machen?“
„Keine Ahnung. Irgendwas wird sich schon ergeben.“
„Der Plan klingt ja soviel besser. Du kannst nicht immer alles auf dich zukommen lassen. Man muss die Dinge selbst entscheiden.“
„Okay. Dann werde ich Hausmeister.“
„Klar.“
„Warum nicht? Ich kann gleich hier wohnen bleiben. Habe praktisch keinen Weg zur Arbeit und kann endlich diesen nervigen Kindern in den Arsch treten.“
Sie lachte und legte ihm ihre eiskalten Finger in den Nacken.
Wieder stand Lisa weinend vor der Wohnung und diesmal war sein Vater da und stand anklagend im Flur, bis Sebastian ihn stumm ins Schlafzimmer zurückscheuchte. Er legte Lisa ins Bett, brachte ihr Tee und Kekse.
„Ich bin ihm völlig egal. Ich mein, ich liege halb nackt auf seinem Bett und er sitzt am PC und sieht irgendwelche Serien. Er hört mich nicht mal, weil er Kopfhörer aufhat. Also stell mich also hinter ihn und küsse seinen Nacken. Da sagt er, ich soll ihn nicht nerven. So ganz nebenbei. Wie zu seiner Katze, die er einfach runterschmeißt, wenn sie sich auf die Tastatur legt. Ich tauge gerademal zum Haustier.“
Sebastian hielt sie im Arm und flüsterte ihr Liebkosungen ins Ohr, sagte ihr, wie wichtig sie war und wie einmalig und schön. Sie schliefen miteinander, ihre Augen waren schwarze Löcher in der Dunkelheit, ihr Stöhnen klinkte sein Denken aus.
Zum Frühstück briet Sebastian Spiegeleier und kochte Berglandkaffee. Sein Vater kam für zwei Scheiben Toast aus seinem Schlafzimmer. Lisa verschwand sofort im Bad und setzte sich erst wieder an den Küchentisch, als er die Wohnung verlassen hatte. Sebastian freute sich über das wiedergekehrte Lächeln in ihren Augen.
„Was willst du heute machen?“, fragte er.
„Ich weiß noch nicht. Vermutlich geh ich zu meinem Freund.“
„Er ist nicht dein Freund.“
„Das spielt keine Rolle.“
„Doch, tut es. Weil er dich nicht wie seine Freundin behandelt.“
„Es ist meine Entscheidung.“ Sie sammelte ihre Habseligkeiten und stopfte sie in die Handtasche. Sebastian hielt sie fest, bevor sie die Wohnung verlassen konnte.
„Lass uns Turmspringen.“
„Wieso? Mir geht es nicht mehr schlecht.“
„Mir aber.“
Überraschung weitete ihre Augen, vielleicht auch die verspätete Einsicht, dass Sebastian mehr war, als ein Taschentuch. „Aber …“
„Nur einen Sprung. Den schuldest du mir. Danach kannst du zu diesem Mistkerl gehen.“
Das Schwimmbad war ungewohnt leer, nur ein paar Rentner zogen ihre Bahnen, ihre Köpfe wie Treibholz auf dem chlorblauen Wasser. Vereinzelt zwitscherten noch Vögel in den Bäumen und der Sprungturm warf seinen Schatten bis zu den Umkleiden. Diesmal schloss Lisa die Tür ihrer Kabine und Sebastian wartete ungeduldig auf ihre Rückkehr. Schön wie eine Nymphe trat sie ins Sonnenlicht. Sebastian, dessen Bauch kribbelte wie beim freien Fall, nahm ihre Hand und gemeinsam stiegen sie den Sprungturm hinauf. Morgenfaul lag die Stadt unter ihnen, mit verschlafenen Straßen und dösenden Autos, mit einer Tram, die melancholisch vorrüberfuhr.
„Ich möchte, dass du bei mir bleibst“, sagte Sebastian.
Lisa zögerte mit abgewandtem Gesicht und er spürte das Zittern in ihrer Hand. Dann nickte sie. Sebastian ließ sich fallen und fühlte zwei Herzschläge lang die Sorglosigkeit der Götter, für die es kein Morgen gab, weil ihnen die Unendlichkeit gehörte. Er schloss die Augen, dachte an Lisa, dachte an ihr Lachen, das fröhlich klang wie prasselndes Popcorn. Das Wasser verschlang ihn und Millionen Luftblasen stiegen aus der Tiefe ins Sonnenlicht.