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Der Tänzer

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13.04.2014
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Der Tänzer

Bevor ich die Treppen nach Hause nahm, aß und trank ich noch eine Kleinigkeit in einem Café, dessen Fenster und Türen weit offen standen, obwohl niemand zugegen war. Es war recht kühl, drum schloss ich sie, als ich ging. Danach nahm ich meinen Weg wieder auf. Die verwinkelten Gassen wirkten nun viel breiter und freundlicher als in der Nacht, gedämpfte Kinderstimmen drangen aus den Häusern. »Hey, Sie«, ein kleines Mädchen winkte mir vom Fenster aus zu, »haben Sie unsere Eltern gesehen?« »Leider nein«, antwortete ich mit aufdringlichem Grinsen, weil mir die Sonne seitlich ins Gesicht schien. Daraufhin zuckte das Mädchen stark übertrieben mit den Schultern und brüllte in den Innenraum, dass auf ihre Frage eine ergebnislose Antwort folgte. Ich wollte schon gehen, da hielt mich das Kind auf. »Sie sehen komisch aus«, sagte es mit gesenktem Kopf. Ich schaute selbst an mir runter. »Ich fühle mich auch so.« Das Mädchen lachte laut, auch hinter ihr kicherte es aus dem Zimmer. »Warten Sie«, sie verschwand kurz im Dunklen. Ich wollte einen Blick ins Haus riskieren, aber die Sonne stand zu tief, sodass ich nichts sah. »Hier«, sie hielt einen Hut aus dem Fenster, »Ihre Haare sind doch so furchtbar nass, Sie sollten ihn aufsetzen.« Wie immer, wenn man mir etwas schenkte, schaute ich skeptisch drein. »Dein Vater würde da sicher etwas dagegen haben.« Das Mädchen wedelte weiter mit dem Hut auf und ab, als wäre ich dazu verpflichtet gewesen, ihn an mich zu nehmen. »Meine Eltern sind tot, man hat mir den Hut hinterlassen«, sagte sie dann, ohne den Anschein einer Gefühlsregung zu erwecken. Verwirrt von der Situation, verschränkte ich die Arme. »Du hattest dich doch aber gerade nach deinen Eltern erkundigt!« Erneut drang ein Kichern von Innen nach Außen. »Nein«, sagte sie. »Doch«, erwiderte ich... und schnappte mir den Hut. Das Mädchen lachte lauter als je zuvor. Als ich mir die Kopfbedeckung aufsetzte, versicherte sie mir, dass sie mir gut stehe. Eine Lüge, wie sich herausstellte, als ich mich daheim im Spiegel betrachtete. Ich bedankte mich also schließlich bei dem Mädchen, indem ich ihr ein Handschlag anbot, sie aber ein Handkuss verlangte, welchen sie dann auch bekam, und mit einem leichten Knicks belohnte. Ich hatte mich schon mit dem Rücken zu ihr gewendet, da sagte sie mir, ich könne gut tanzen. »Ihre Beine sollten Sie allerdings noch etwas besser in den Griff bekommen.« Schnurstracks drehte ich mich um und riss die Augen auf, doch das Fenster war schon weg. Ich fand es auch nicht mehr, da waren nur noch Ziegelsteine.

Den ganzen Weg nach Hause dachte ich an die Begegnung zurück und an die Geradlinigkeit meiner Existenz, die mir meine Mutter legte, als ich noch ein kleiner Junge war.
Immer wieder banalisierte sie mein Dasein durch Zahlen, die sie erfand, und die sie mir in endlosen Nachtgedichten wiedergab. Dann nickte ich und meinte >nein<, doch bejahte den Kodex durch meine Taten. Manchmal schlief ich, ohne zu fühlen, und das auch am Tag, mir wurde dann immer ganz schwindelig, und ich rauchte heimlich am Schuppen. Seltsamerweise malte Mutter verworrener, als ich älter wurde. Das verstand ich nie. Sie schrieb dann Worte statt Zahlen und fing an zu stricken und zu häkeln: lustige Tiere auf bunten Pullovern. Aus dem Beton reifte plötzlich ein Zimmer, und Tischdeckchen bedeckten den Raum. Auf ihnen Bücher, die ich nie las.
Weit später war Heiligabend, drum saß die Familie um den Kamin – Mutter und ich. Sensibel schauten wir aus Fenstern, es donnerte, in den Fernen fiel Schnee. Wir hockten in Decken und tranken Wein auf die Schweigsamkeit. Danach las sie Familientragödien aus Büchern vor, und ich sagte ihr, sie müsse das nicht, wenn sie doch vor einer sitze. Dann schaute sie nur, doch nie richtig, später überreichten wir uns Geschenke. Ich bekam einen Pullover, sie meinte: »Bitteschön.« Ich heuchelte: »Danke.« Mir war es fremd, die gestrickte Ausflucht an mir zu sehen, aber Mutter wollte es dafür umso mehr, und drum tat ich es und warf sie drüber. Sie starb später in tiefer Nacht – mit Mutter. In der Kommode hinterließ mir die tote Frau ihre Weisheit in Holz geritzt: >Der Sinn liegt nicht darin, den Zweck zu verleumden.< Darunter in schweren Zahlen ein leichtes >Tut mir leid, lieber Sohn<. Ich verbrannte die Schublade im Kamin und streute sie mit der Morgensonne in den Wind.

Das Leben war auch künftig nicht auf meiner Seite, das wusste ich, als ich dich mitternachts sah und mit braunen Sandalen über den Innenhof rannte. Im trockengelegten Ballsaal kam ich an, es war duster, und die Geiger hielten noch immer mit den Tänzern schritt. In Tanzformationen voranschreitend, schlängelten sich die Frauen um die Glieder ihrer Männer, welche sie durch den Rhythmus der Musik zogen. Es war wie ein Meer aus tausend Beinen, das am Ende der Welt den Abgrund gemeinschaftlich hinunterlief. Ich aber war allein und saß rückwärts auf dem Geländer der Bühne. Leise wippte ich mit der Menge hin und her, verstehend, nicht zu ihr zu gehören. Ich glaubte zu wissen, dass du kommen wolltest, aber sicherlich nicht zu mir. Ich verließ den Saal durch die Hintertür. Draußen zündete ich mir eine Zigarette an und setzte mich auf die kalten Steine des Marktbrunnens, die mich kurzerhand mich selbst vergessen ließen. Dann sah ich dich aus dem Dunklen treten. Durch den Mondschein sah es aus, als habe man deinem Gesicht die Unschuld aufgezeichnet. Dein Antlitz war noch bezaubernder als sonst. Plötzlich blicktest du auch zu mir. Ich schaute eilig weg und tat so, als würde ich es genießen, wie die Zigarettenasche im lauen Wind von dannen zieht. Doch du kamst immer näher, und ich konnte es nun nicht mehr abwenden. »Schöne Nacht, nicht wahr?«, fragtest du mich lächelnd vor dem Brunnen stehend. »Ich weiß nicht«, wie sonst auch fehlte mir der Einfall, »ich denke schon.« Wie ein unreifes Kind zog ich mit meinen Füßen Kreise in den Sand und schien dir ferner, als die Sterne zu sein. Dir kam das bestimmt recht befremdlich vor, als sei ich woanders, weit weg, obwohl ich dir eigentlich nicht näher hätte sein können. Du sprachst weiter. »Hören Sie«, nervös senkte ich den Blick Richtung Boden, »ich sehe, Sie rauchen. Es ist vielleicht unüblich, wenn ich Sie das jetzt hier frage, aber hätten Sie noch eine übrig?« Deine Stimme klang etwas beschämt, aber auch erheitert über die Skurrilität der Situation. Denn wann fragt man einen völlig fremden Mann in finstrer Einsamkeit schon mal nach einer Zigarette? Ich kramte in der Jackentasche. »Meine letzte«, erwiderte ich. Du knicktest leicht aus Höflichkeit mit den Beinen und setztest dich zu mir. »Das weiß ich sehr zu schätzen, mein Herr.« Danach gab ich dir noch Feuer. »Also«, fragtest du nach dem ersten Zug, »was macht ein Mann hier draußen so alleine, wenn doch die ganze Stadt tanzt?« »Ich könnte Sie das Gleiche fragen«, antwortete ich stotternd in den Staub. »Halten Sie mich also für einen Mann?« Ich schämte mich für das Missverständnis. »Nein, nein«, angespannt klopfte ich die letzte graue Asche des Zigarettenstängels in den Wind, »ich meinte…« »Keine Sorge«, du lachtest, »ich habe Sie schon verstanden.« Lächelnd und erleichtert löschte ich die Zigarettenglut am Brunnenstein. »Um ehrlich zu sein«, du schautest etwas verträumt in die Wolken, »ich bin keine besonders gute Tänzerin, ich konnte das noch nie gut.« »Ich auch nicht.« Ein kleines Wolkenzelt schob sich vor den Mond.
»Wissen Sie was«, voller Eifer erhobst du dich vom kalten Stein und warfst deinen halb gerauchten Glimmstängel in den Brunnen, »lassen Sie uns beide tanzen!« Ich war überrascht. »Jetzt?«, fragte ich zweifelnd mit der Streichholzschachtel spielend. »Ja, jetzt und hier!« »Ich weiß nicht.« »Ach, kommen Sie schon!« Wie wild zerrtest du mich nach oben. »Ich kann nicht tanzen«, sagte ich wiederholend. »Ich doch auch nicht!« Dann legtest du dir meine Arme um Schulter und Rücken. Es sah kläglich aus, doch der Mond, der jetzt wieder aus den Wolken trat, wusch dir jegliche Unbeholfenheit aus dem Gesicht. Ich tanzte auf der Schattenseite. »Irgendwie so wird es schon gehen!«, riefst du in die Leere des Raumes und legtest deinen Kopf in meinen Brustbereich. Ich weiß noch, du warst mir so nah, doch die Gewissheit des Augenblicks stach mir Nägel in die Beine, und alles fing in Schwärze an zu wanken.
Ich konnte es nicht, drum stieß ich dich von mir ab und stolperte seitwärts in den Brunnen. Als mein Körper unter Wasser lag, schimmerten deine Konturen wie seidene Fäden durchs Wasserkleid, und ich war mir sicher, sie würden nun zerschnitten. Ich tauchte auf. Mit verschränkten Armen schriest du mir fragend entgegen, was mit mir bloß nicht stimme. Es schien so, als wäre dir kalt von all dem Irrsinn. Ich sagte nichts, klatschte mir nur mit den Händen gegen die nassen Kleider wie ein ratloses Kind. Irgendwann warst du es leid, drehtest dich um und gingst. Deine erloschene Zigarette schwamm verloren im Wasser.
Ich wartete, bis du um die Häuserecke mit den drei Laternen bogst, danach stieg meine Tristesse aus dem Brunnen und setzte sich erneut auf die Steine. Dort warteten noch die Zündhölzer. Ich legte meine Jacke neben mich und windete die anderen Kleidungsstücke notgedrungen an mir aus. Anschließend zündete ich das vorletzte Streichholz an. Zarte Wärme erklomm mein Wesen. Es zitterte in der Einsamkeit. Für einen vergänglichen Moment schloss ich die Augen und nahm nichts wahr, außer einen kleinen Nachtfalter, der mir bald sanft auf den Lippen einschlief, sodass ich mich kaum getraute zu atmen. Langsam wurde mein Herz. Dann dachte ich an Mutter und fühlte, ja, fühlte so vor mir her, ehe die Morgensonne allmählich über die Schwellen der Häuser trat und die Vögel aus den Nestern rief. Auf dem Markt läutete die Kirche zum letzten Tanz.

 
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Hallo L von P,
herzlich Willkommen auf der Seite.
Ich hatte schon gestern deine Geschichte gelesen, aber zu einem feedback fehlte mir die Zeit, heute ist das nicht viel anders, daher wirklich nur kurz.

Ich bin sehr zwiegespalten von deiner Geschichte. Du kannst auf jeden Fall schreiben, denn mir fallen tw. wirklich schöne Formulierungen, Bilder und Zusammenstellungen auf.
Sowas hier zum Beispiel:

Wir hockten in Decken und tranken Wein auf die Schweigsamkeit. Danach las sie Familientragödien aus Büchern vor, und ich sagte ihr, sie müsse das nicht, wenn sie doch vor einer sitze.
Das gefiel mir richtig gut.
Leider leitest du diese Sätze so ein:
Sensibel schauten wir aus Fenstern, es donnerte, in den Fernen fiel Schnee.
Das klingt unfreiwillig komisch. Wie soll man sich das denn vorstellen? Dass die dabei Tränen in den Augen haben? Wer schaut denn sensibel aus dem Fenster? Ich schau heute mal ganz sensibel beim Rewe vorbei. Dann geben dir mir einen Brokkoli fürs Gemüt? Also diese Kombi taugt echt nichts, weil es die Stimmung 1. nur behauptet, statt sie zu zeigen. Und weil das Wort in solche einem Zus. eher nicht gebraucht wird.

Daneben weitere furchtbar bedeutungsschwangere Kombinationen, hier zum Beispiel:

Ich wartete, bis du um die Häuserecke mit den drei Laternen bogst, danach stieg meine Tristesse aus dem Brunnen und setzte sich erneut auf die Steine.
Da arbeitest du mit so plötzlichen, wie aus dem Nichts kommenden Personifikationen, das wirkt dann unvermittelt und dadurch fast schon aufdringlich gewollt literarisch.
Ja, ich würd auch an deiner Stelle jetzt schimpfen, wer hört schon so einen Spruch gerne, aber ich finde halt, du verdirbst dir die guten Sachen mit solchen Übertreibungen.

Ich könnte solchen Verschwurbelungen noch eher wegstecken, wenn ich die Geschichte wirklich verstehen würde. Aber: Die Geschichte liest sich wie ein Traum, sehr verworren und verwirrend. Man gewinnt nur wenig Zugang zu deinem Protagonisten, der so seltsam passiv durchs Leben und die Geschichte stolpert.
Hier zum Beispiel der Rekurs auf seine Kinheit.

Den ganzen Weg nach Hause dachte ich an die Begegnung zurück und an die Geradlinigkeit meiner Existenz, die mir meine Mutter legte, als ich noch ein kleiner Junge war.
Immer wieder banalisierte sie mein Dasein durch Zahlen, die sie erfand, und die sie mir in endlosen Nachtgedichten wiedergab. Dann nickte ich und meinte >nein<, doch bejahte den Kodex durch meine Taten. Manchmal schlief ich, ohne zu fühlen, und das auch am Tag, mir wurde dann immer ganz schwindelig, und ich rauchte heimlich am Schuppen. Seltsamerweise malte Mutter verworrener, als ich älter wurde.
Hier auch wieder, schöne Ideen drin, die aber gleichzeitig durch die abrupten und behauptenden Kombinationen und Wechsel aus meiner Sicht nicht wirken können. Die Geradlinigkeit meiner Existenz zum Beispiel, was soll damit gemeint sein? Es ist eine schöne Idee, dass die Mutter ihn mit den Zahlen, die sie ihm jeden Abend vorbetet (aber welche genau meinst du damit) in eine Art wandelndes Lineal verwandelt, das nun unfähig zu normaler zwischenmenschlicher Kommunikation ist, aber ist es überhaupt das, was du meinst?
Dann bejaht er den Kodex. Aber welchen überhaupt? Und er schläft, ohne zu fühlen, naja, was soll da jetzt besonders eigenartig dran sein, wenn du schläfst, fühlst du nicht in der Gegend rum. Klar, man hat einen Traum, da spielen Gefühle eine Rolle. Willst du sagen, er schläft traumlos? Oder wie ein Stein?

Dann malt die Mutter plötzlich und schreibt später und dann strickt sie bunte Pullover. Auch schöne Idee, diese Pullover als Ausflüchte zu bezeichnen. Aber alles in allem, wird da nichts wirklich ausgesprochen oder fertig beschrieben, so dass man als Leser damit was anfangen könnte. Und dann wird das so kryptisch ausgedrückt, dass man nicht weiß, denkst du dir wahnsinnig viel dabei, oder ist das nur ulkig ausgedrückt.

Mir war es fremd, die gestrickte Ausflucht an mir zu sehen, aber Mutter wollte es dafür umso mehr, und drum tat ich es und warf sie drüber.
Mein Credo ist, nicht jedes seltsame Bild nehmen, sondern eine Idee auch einmal ein bisschen wirken zu lassen. Einer Figur ein bisschen Raum zu geben, damit sie Leben bekommt.
Im Moment empfinde ich deinen Text noch als sehr sprachverliebt mit seltsamen und skurrilen Einfällen, die aber bei weitem noch nicht immer passgerecht sind.

Szenen wie die mit dem Mädchen am Anfang stehen eigenartig zusammenhanglos neben dem Restgeschehen. Also das ist alles schon ein sehr unverständlicher Bilderbogen.
Vielleicht wolltest du das alles gerade, wenn man in der entsprechenden Stimmung ist, kann man dem assoziativ wirkenden Seltsamkeiten ja vielleicht auch folgen und sie genießen, aber da müssten dann für mich wirklich alle Übertreibungen und überladenen, aufgebauschten und unverständlichen Sprachbilder raus.

Ja klingt jetzt total schlimm,was ich schrieb, es ist aber gar nicht so gemeint, sondern eher so, dass ich furchtbar gerne mal eine Geschichte von dir lesen würde, die nicht so sprach- und ideenassoziativ daherkommt. Mir kommt es so vor, als müsstest du deine kleinen Sprachgäule einfach ein bisschen mehr zügeln, dann kommt da was Gutes.
Also mein Eindruck. Jemand anderes sagt vielleicht was anderes.

Viele Grüße von hier
Novak

 
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Hallo Novak,

vorerst bedanke ich mich herzlich, für deine Worte & Empfindungen zu dieser kleinen Geschichte. Das hat mich sehr gefreut.
Nun eine kleine Abhandlung meinerseits, leider habe ich momentan ebenfalls wenig Zeit.

Das klingt unfreiwillig komisch. Wie soll man sich das denn vorstellen? Dass die dabei Tränen in den Augen haben? Wer schaut denn sensibel aus dem Fenster? Ich schau heute mal ganz sensibel beim Rewe vorbei. Dann geben dir mir einen Brokkoli fürs Gemüt? Also diese Kombi taugt echt nichts, weil es die Stimmung 1. nur behauptet, statt sie zu zeigen. Und weil das Wort in solche einem Zus. eher nicht gebraucht wird.

Du hast recht. Obwohl ich nicht unbedingt glaube, dass Brokkoli eine "sensible" Gemütslage ins Positive verbessert...? Kleiner, schlechter Scherz. Tatsächlich sollte das Wörtchen "sensibel" die Verletzlichkeit beider Figuren stärken, ich sehe jedoch ein, dass die hier zusammengestellte Kombination nicht gelungen ist. Ich erachte es nachgehend, als viel zu überempfindliche Schilderung der Situation. Dieser Fehler ist mir noch einige weitere Male unterlaufen; Gefühle "ordnungsgemäß" zu bündeln, fiel mir seit jeher schwer.

Wenn ich schreibe, verliere ich mich sehr oft in metaphorischen Sprachbildern und laufe damit Gefahr, und genau das bestätigt sich auch hier, dass kaum jemand außer mir dieses Labyrinth entwirren kann. Da gehen meine Gefühle mit mir durch, wenn man so will.

Hier auch wieder, schöne Ideen drin, die aber gleichzeitig durch die abrupten und behauptenden Kombinationen und Wechsel aus meiner Sicht nicht wirken können. Die Geradlinigkeit meiner Existenz zum Beispiel, was soll damit gemeint sein? Es ist eine schöne Idee, dass die Mutter ihn mit den Zahlen, die sie ihm jeden Abend vorbetet (aber welche genau meinst du damit) in eine Art wandelndes Lineal verwandelt, das nun unfähig zu normaler zwischenmenschlicher Kommunikation ist, aber ist es überhaupt das, was du meinst?

Die Geradlinigkeit der Existenz sollte durch die Zahlen, die die Mutter wiedergab, erklärt werden. Zahlen sind etwas Festgesetztes, sie entbehren sich hier keiner "Vielfältigkeit". Die Gedichte waren als Aufgaben gedacht, auf die es nur eine Lösung gibt, somit glaubte der Sohn, er habe nicht die Möglichkeit in dieses "System" einzugreifen - und somit glaubt er auch nicht, mit dem späteren Mädchen eine Zukunft zu besitzen. Er traut sich nicht ins Geschehen einzugreifen. Sein Sinn liegt in der Passivität, denkt er. Das ist ein kurzer Abriss.

Dann bejaht er den Kodex. Aber welchen überhaupt? Und er schläft, ohne zu fühlen, naja, was soll da jetzt besonders eigenartig dran sein, wenn du schläfst, fühlst du nicht in der Gegend rum. Klar, man hat einen Traum, da spielen Gefühle eine Rolle.

Es waren die Zahlen. Denn diese Zahlen ergeben in den Gedichten einen Kodex, der Passivität u. Wirkungslosigkeit voraussagt, weil alles von Beginn an feststeht. In früheren Jahren dachte er, es müsse möglich sein, dass es mehrere Wege im Leben gäbe. Letztlich wurde er aber immer wieder von der Mutter "blockiert", da sie für ihn das einzige Überbleibsel der "Familie" war, und er sich an ihr orientierte.

Willst du sagen, er schläft traumlos? Oder wie ein Stein?

Exakt. Er verliert diese Eigenschaft überwiegend, unterdrückt sie, da es ihn nur noch weiter schmerzen würde. Es ist ein Leben ohne Fantasie, ohne das Gefühl, überhaupt gelebt zu haben. Es ist ein karger, bedeutungsloser Weg, für den fehlende Emotionalität viel besser ist. Damit möchte er Enttäuschungen vermeiden. Bspw. muss man in der Liebe (sei sie freundschaftlich oder partnerschaftlich) zwangsweise irgendwann aktiv handeln; daran glaubt er allerdings nicht. Seine Mutter hat es ihn nie beigebracht, ihn mit ihrer Erziehung isoliert.

Dann malt die Mutter plötzlich und schreibt später und dann strickt sie bunte Pullover. Auch schöne Idee, diese Pullover als Ausflüchte zu bezeichnen. Aber alles in allem, wird da nichts wirklich ausgesprochen oder fertig beschrieben, so dass man als Leser damit was anfangen könnte. Und dann wird das so kryptisch ausgedrückt, dass man nicht weiß, denkst du dir wahnsinnig viel dabei, oder ist das nur ulkig ausgedrückt.

Um mal kurz auf die Pullover einzugehen: Sie sollen das "erfüllte" Leben symbolisieren. Die Mutter erkannte, dass man sein Leben selbst in die Hand nehmen kann/muss. Vielleicht hat sie es ehemals selbst nicht anders beigebracht bekommen und die Passivität deshalb an ihren Sohn weitervermittelt. Vielleicht war sie damals auch in einer niedergeschlagenen Lebensphase, hatte keine Ansporn mehr - und vermittelte dies auch ihrem Sohn, der es dann auf sein Dasein übertrug. Jedenfalls will die Mutter durchaus mit ihrem Sohn ins Reine kommen, sie schenkt ihm einen von den oben genannten Pullovern. Sie will, dass er - wie sie - aufwacht, erkennt, dass es keinesfalls nur ein bedeutungsloses Leben ist, was er zwangsweise führen muss, sondern dass er die Vielfalt (bunte Farben) des Lebens genießen sollte. Der Sohn erkennt dies aber nicht und sieht es nur als sinnloses Geschenk an, bei dem er zwar durchaus versteht, dass sich seine Mutter für ihre Erziehung entschuldigen will, aber er deutet das nur als heuchlerisches Verhalten ihrerseits. Die Mutter, und da liegt der Fehler, traut sich nicht, sich direkt bei ihrem Sohn zu entschuldigen, sie erklärt sich auch nicht vor ihm. Sie weiß, dass sie in der Vergangenheit Fehler gemacht hat, gibt sie aber nicht zu. Der Pullover ist somit nur eine indirekte Entschuldigung - und eine Ausflucht vor der direkten.
Persönliche Erlebnisse fließen auch mit ein. Beispielsweise habe ich schon immer mehr für die Kreativität der Worte übrig gehabt als für die festgesetzten Lösungen der Mathematik. Worte stehen hier für die Handlungsfreiheit, die die Mutter erkannte.

Mir ist bewusst, es ist sehr schwer verständlich, teilweise war es beabsichtigt, teilweise auch nicht. Aber wie gesagt: hab' vielen Dank.
Mal sehen, ob ich irgendwann nochmal eine weniger bedeutungsschwere Kurzgeschichte schreibe.

Man liest sich, viele Grüße

L. v. P

 

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