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Die Seiltänzerin Vol.1

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16.04.2014
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Die Seiltänzerin Vol.1

Eine Schneeflocke, eine unter vielen, findet im Schneegestöber des Bollwerks der Angepassten ein Bewusstsein und verlässt die fremdbestimmte Choreographie des allgemeinen Tanzes. Sie widersetzt sich dem lenkenden Sturm der Gleichschaltung und bewegt sich gen Himmel. Als sie durch die letzte Schicht devoter Brüder und Schwestern bricht, sieht sie sich einem blauen Himmel gegenüber. Besäße sie visuelle Sinnesorgane, wäre sie geblendet vom Sonnenschein über ihr, dessen Strahlen auf die Oberfläche des weißen, brodelnden Sumpfes unter ihr aufschlagen und reflektiert werden.
In Inneren der Schneeflocke trifft so etwas wie das frostige Äquivalent zum freien Willen eine Entscheidung. Sie schwebt der Sonne entgegen. Ihre molekulare Struktur verändert sich durch den Temperaturwechsel. SIE, die Schneeflocke, transformiert zu einem ER. Einem Wassertropfen. Doch anstatt zurück in die Tiefe zu fallen, schwebt er wie schwerelos, vor dem blauen Hintergrund. Solange bis er auf eine schimmernde, glatte hautähnliche Struktur prallt, dort kurz hängen bleibt und schließlich verdampft.
Die hautähnliche Struktur nimmt die Form von Füßen an. Kleine, filigrane trotzdem kräftig wirkende Zehen, umklammern eine Art metallisch schimmernde Nabelschnur, die von einem Ende der Welt ans andere gespannt zu sein scheint. In eleganter, tänzelnder Bewegung setzt sich ein Fuß vor den anderen. Die Zehen greifen und lösen sich, greifen und lösen sich. In welche Richtung die tanzenden Schritte führen sollen scheint unerheblich. Das Vorne und Hinten verschwindet im tiefen Blau des Himmels.
Trotzdem lächelt die Seiltänzerin ein wissendes Lächeln.
Während sie ihren scheinbar richtungslosen Tanz fortsetzt passiert Folgendes: der Tropfen, der ihre süße Haut kurz küssen durfte ehe er verdampfte, vereint sich nun mit Seinesgleichen und morpht zu einem WIR. Dick und schwer und weiß wechselt es langsam seine Farbe zu stahlgrau. Wie Stahl ist nun auch die Schwere, die sich im WIR breit macht. Um sich zu erleichtern löst es sich auf. Schwere Tropfen ergießen sich über die Seiltänzerin, deren nasse Zehen nun kaum noch Halt an der rutschig gewordenen Nabelschnur finden. Der Tanz wird behäbig, langsam. Die Bewegungen schwerer. Ob es sich bei den Tropfen, die über die Wangen der Seiltänzerin laufen, um Tränen oder Regen handelt, ist nicht zu unterscheiden.
Plötzlich durchfährt ein Grollen die Szenerie. Ein Grollen, das die Fasern des Stahlseiles, der Nabelschnur, zum Schwingen bringt. Von Entsetzen gepackt blickt die Seiltänzerin mit weit aufgerissen Augen nach oben: In eine schwarze Masse aus sich verschlingenden Formen, wie Schlangen in einem Sack. Ein kurzes Aufblitzen, dicht gefolgt von einem weiteren Grollen, beendet ihren sinnlosen Tanz und zerreißt die Nabelschnur. Die Seiltänzerin fällt. Das weiße Treiben unter ihr verschlingt sie. Ihr Tanz ist endgültig vorbei.
Langsam wird das Grau wieder zu einem Blau. Die Sonne kehrt zurück und schickt weiter unaufhörlich und zwecklos ihre Strahlen gegen den endlosen weißen Tanz in der Tiefe. Ein letzter Tropfen fällt und entpuppt sich als eine übrige salzige Träne der Seiltänzerin. Ihrer Berufung entsprechend schickt die Schwerkraft die Träne in die vorgegebene Richtung. Von ihren tanzenden, erstarrten Geschwistern freudig aufgenommen erstarrt auch sie, willenlos, dem Fluss des Schicksals ausgesetzt, ist sie nun Eine unter Vielen und fügt sich widerstandslos in das Schneegestöber des Bollwerks der Angepassten ein.

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Phaeton, herzlich Willkommen hier.

Dein Text hat in mir leider nichts Gutes ausgelöst.

Klar muss man das Spiel aus Widerstand und Anpassung nicht unbedingt an dem Schicksal eines Menschen darstellen, sondern kann es versinnbildlichen, in eine Fabel oder Parabel bringen. Ich bin da sehr offen für. Nur frage ich mich, ob da ausgerechnet eine Schneeflocke ein gut gewähltes Symbol ist.
Insgesamt wirkt dein Text durch diese für mich überhaupt nicht zusammenpassende Symbolik und das sehr künstliche bedeutungsvolle Aufladen all der Vorgänge, die es um Schneeflocken so geben mag, sehr übertrieben und künstlich.
Du kannst bestimmt mit Sprache umgehen, das sieht man ja, aber der Inhalt deiner Geschichte kann mich als Leserin nicht berühren. Was soll ich mir auch sagen, aha, jedes Ausbrechen aus einer Anpassung endet letztendlich doch wieder in der Anpassung? Das ist eine sehr konservative Lehre, die mich achselzuckend zurücklässt.
Und für lediglich diesen (übrigens ziemlich faden) Gedanken lese ich jetzt lauter artifiziell Verworrenes über Flocken, die Tropfen küssen und Füße kriegen und dann doch ihren Tanz beenden?
Eine sehr angepasste Lehre hat deine Parabel, die nur von der Idee der Verwandlung der Schneeflocke lebt. Das finde ich einfach schade. Mit deiner Sprache könntest du mehr aus einer derartigen Thematik machen.

Während sie ihren scheinbar richtungslosen Tanz fortsetzt passiert Folgendes: der Tropfen, der ihre süße Haut kurz küssen durfte ehe er verdampfte, vereint sich nun mit Seinesgleichen und morpht zu einem WIR.
Also ich find das manchmal auch unfreiwillig komisch.
Ja, leider ein negatives Feedback, ist halt einfach nicht mein Ding gewesen, vielleicht nützt dir ja aber auch eine solche Rückmeldung etwas.

Viele Grüße und viel Spaß noch hier im Forum.
Novak

 

Hallo Novak,
klar hilft mir auch negatives Feedback (ist ja trotzdem konstruktiv). Vielen Dank erstmal dafür. Ja, mit dem interpretieren ist es so eine Sache. Ich finde du hast auf jeden Fall den Kern der Sache erfasst (zumindest den, der für mich dahinter steckte). Für sich gesehen ist es vielleicht eine konservative Lehre, aber im Zusammenhang mit dem Entstehungsprozess vielleicht nachvollziehbarer: Bei dem Text handelt es sich um eine assoziative Arbeit mit "Das Schloss" von Franz Kafka als Grundlage. In dem Roman hat Schnee an sich eine wichtige Bedeutung von wegen Kälte etc. deshalb diese Schneeflockensache. Eine weitere Ebene, die der Roman für mich eröffnet hat war die Thematik des Scheiterns.Also tatsächlich so wie du das verstanden hast: egal wie sehr man sich bemüht - keine chance was zu reissen. Also ziemlich "kafkaesk" eben auch.
Scheint Geschmackssache zu sein, was ja völlig legitim ist. (es gibt auch noch einen zweiten Teil, der etwas anders wirkt, stelle ich demnächst auch mal rein).
Nochmal vielen Dank für deinen Beitrag!
Liebe Grüße
Phaeton

 

In Inneren der Schneeflocke trifft so etwas wie das frostige Äquivalent zum freien Willen eine Entscheidung.

Bis dahin habe ich es geschafft. Schneeflocken. Seiltänzer. Nun gut. Die Sprache möchte gerne hermetisch daherkommen, mysteriös und auch poetisch. Das wirkt aber, da gebe ich Novak völlig Recht, unfassbar gestelzt. Auf einen Text, der sich nicht auf den Leser einlassen will - nein, er muss nicht einfach sein, sondern nur klar - da kann ich gar keine Meinung zu haben. Warum auch?
Ich meine: Was möchtest du uns denn sagen?

Gruss, Jimmy

 

Hallo Phaeton,

Ihre molekulare Struktur verändert sich durch den Temperaturwechsel. SIE, die Schneeflocke, transformiert sich zu einem ER. Einem Wassertropfen.

Die Großschreibung der Personalpronomina erscheint mir hier und im folgenden überflüssig. (siehe mein Komm unter Deiner anderen Geschichte) Man kann da anderer Meinung sein, gewiss.

Als sie durch die letzte Schicht devoter Brüder und Schwestern bricht ...

Las ich recht, so strebte die bewußtseinsgedopte Schneeflocke (weiblichen Geschlechts) gen Himmel und 'morphte', gestaltete sich also hernach um, nicht wahr, zum (männlichen) Tropfen. Was verbirgt sich dann hinter den Brüdern, männlich wie sie sind?

Jetzt schwebt unsere ehemalige Flocke, nun als ein Tropfen, kraft freier Willensentscheidung vor dem blauen Himmel der Stratosphäre herum ...

Solange bis er auf eine schimmernde, glatte hautähnliche Struktur prallt, dort kurz hängen bleibt und schließlich verdampft.

Die 'glatte hautähnliche Struktur' ist der sich eben materialisierende Fuß der Seiltänzerin; der Vorgang wird von Dir im folgenden poetisch als 'Kuss' verklärt.
Die Seiltänzerin ihrerseits balanciert richtungslos, aber wissend lächelnd (noch), auf, meine Güte, einer "metallisch schimmernden Nabelschnur",

die von einem Ende der Welt zum anderen gespannt zu sein scheint.

Wenn der Schein nicht trügt, so ist es also tatsächlich einerlei, welche Richtung sie einschlägt. Dann passiert folgendes:

der Tropfen, der ihre süße Haut kurz küssen durfte ehe er verdampfte, vereint sich nun mit Seinesgleichen und morpht zu einem WIR. Dick und schwer und weiß wechselt es langsam seine Farbe zu stahlgrau. Wie Stahl ist nun auch die Schwere, die sich im WIR breit macht. Um sich zu erleichtern löst es sich auf. Schwere Tropfen ergießen sich über die Seiltänzerin, deren nasse Zehen nun kaum noch Halt an der rutschig gewordenen Nabelschnur finden.

(Hier, wie auch im übrigen Teil, sind ein paar Fehler drin / nur so zur Info.)
Sehe ich recht, lassen sich die nun den dramatischen Teil des Wetterberichts einleitenden Abläufe als Wolkenbildung bezeichnen? Gar Gewitterwolkenbildung? Jedenfalls trübt es sich ein, auch die Seiltänzerin auf dem Stahlseil, das eine Nabelschnur ist, scheint ob des Wetterumschwungs emotional an der Tropfenbildung mitzuwirken und wird so panisch, dass sie fällt. Die von ihr abgesonderte scheinbare Träne entpuppt sich wahrhaftige, fällt und reiht sich zur Flocke morphend ein in das herdentriebige Schneegestöber, womit der Anfang erreicht wäre.

Es ist nicht zu leugnen, dass der Himmel seine Rätsel birgt. Da wird ein sich physikalisch korrekt verhaltender Partikel unvermittelt qua Bewusstseinsfund (wo der nun wieder herkam) zum unangepassten Individuum, das gegen die Fallrichtung flockt, im Verlaufe auch noch das Geschlecht wechselt und eine wissend lächelnde Nabelschnur-Seiltänzerin vermittels Fußkuss und so ausgelöster anschliessender Tropfenmassenpanik blitz und donner vom Seil schubst, woraufhin diese eine Träne lässt, welche den harmonischen Vorzustand wieder herstellt.
Heisst das, guter Phaeton, wir müssen uns keine Sorgen bereiten, alles wird wieder gut?
Nehme ich das von Dir zu Beginn Geschilderte als harmonischen Urzustand des Universums, so passt deine Begrifflichkeit vom "Bollwerk der Angepassten" nicht recht zu einem solchen Interpretationsansatz; sie klingt nicht nach Harmonie, sondern nach Zwang (fremdbestimmt kommt ja auch noch vor) und Unfreiheit. Der Flocke Trip, ihr Auffinden des "Bewusstseins" wird von Dir als Ausbruch, als Befreiung erzählt. Die Folgen sind aber katastrophal, führen sie doch zu Krieg (Wir/Gewitter) und somit zur Zerstörung der Harmonie (Balance) des Gefüges, welches sich aber am Ende selbstregulierend wieder herstellt.

willenlos, dem Fluss des Schicksals ausgesesetzt,

Dieser Satz stülpt sich wie eine Glaskuppel über dein Werk. Noch mal schütteln, und du hast Vol.2.

Was nun Kafka anlangt, nun, ich erinnere mich an Schnee und an die Vergeblichkeit der Annäherung, komme jedoch nicht wirklich darauf, wo es sich hier berürhte, trotz Erwähnung des Schlosses und der mittelalterlichen Situation.
Genauso gut hättest du ja nun auch Nietzsches Zarathustra ins Rennen um die literarische Anlehnung schicken können, odrr? Jedenfalls ist es sehr kalt bei dir, seelenabgründig und leer ...

Interessante Kost, ich gebe mal ahnend die Aufgabe der Deutung dieser Parabel an kommende Kommentatoren weiter Komma Gruß
7miles

 

Hi, noch mal ich, ich find das immer schön, wenn Leute so angenehm sachlich reagieren, wenn sie was Negatives zu ihrem Text hören. Und gut, dass du ein bisschen die Hintergründe erklärt hast. Jetzt versteh ich es besser.

aber im Zusammenhang mit dem Entstehungsprozess vielleicht nachvollziehbarer: Bei dem Text handelt es sich um eine assoziative Arbeit mit "Das Schloss" von Franz Kafka als Grundlage. In dem Roman hat Schnee an sich eine wichtige Bedeutung von wegen Kälte etc. deshalb diese Schneeflockensache. Eine weitere Ebene, die der Roman für mich eröffnet hat war die Thematik des Scheiterns.Also tatsächlich so wie du das verstanden hast: egal wie sehr man sich bemüht - keine chance was zu reissen. Also ziemlich "kafkaesk" eben auch.
Jetzt kapier ich deine wirkliche Intention überhaupt erst viel besser. Bei mir war nur angekommen, dass Ausbrechen vergeblich ist. Aber wenn du Scheitern sagst, hast du doch mehr im Sinn gehabt, als in deinen Text mMn eingeflossen ist und als dann auch bei mir angekommen ist. Nee, Texte über das Scheitern mag ich schon gerne. Und Kafka mochte und mag ich immer noch furchtbar gern. Aber eher die kürzeren Sachen. Das Schloss und der Prozess habe ich auch gelesen, aber da zog es dich dann zu sehr für mich hin.
Ich mein, es kann natürlich keiner jetzt wie Kafka schreiben oder wie Thomas Mann oder wie Bukowski, aber man hat halt seine Lieblingsautoren und von denen wird man inspiriert. Und so hat man vielleicht auch eine Zeitlang ein Hauptthema, das einen bewegt. Und Scheitern, naja, also wenn das kein großes Thema ist.

Was aus meiner Sicht nicht genügend eingeflossen ist in deine Geschichte ist die subjektive Seite des Scheiterns. Und ich denk jetzt noch mehr als zuvor, dass eine Schneeflocke da die falsche Wahl ist. Ich finde, du merkst das irgendwie auch selbst, denn ein Teil deines Textes beschäftigt sich ja ausschließlich mit der Ichwerdung der Flocke. Du musst sie erst mal zu etwas Subjektivem machen, damit sie überhaupt scheitern kann.

Mit der subjektiven Seite meine ich dann das sich Abstrampeln des Individuums, seine Gegenwehr, seine Versuche, die kalte, unbegreifliche und erbarmungslose Welt um es herum, zu begreifen.
Sowas kommt bei dir rudimentär vor

Ob es sich bei den Tropfen, die über die Wangen der Seiltänzerin laufen, um Tränen oder Regen handelt, ist nicht zu unterscheiden.

Von Entsetzen gepackt blickt die Seiltänzerin mit weit aufgerissen Augen nach oben: In eine schwarze Masse aus sich verschlingenden Formen, wie Schlangen in einem Sack.

Aber es bleibt sehr fern vom Leser, sehr außenbetrachtend.

Dass das auch mit einem Tier geht, hat Kafka ja gezeigt, aber immerhin ist das ein zum Ungeziefer verwandelter Mensch. Man fühlt als Leser mit dem Gregor Samsa mit, ist abgestoßen vielleicht sogar von ihm, hat aber trotzdem Mitgefühl, aber man kann miterleben, was ihm widerfährt. Eine echt großartige Geschichte finde ich immer noch.
Also ich find das mit der Schneeflocke da echt schwierig.

Machs gut.
Viele Grüße von Novak

 

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