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Roter Punkt im weißen Fleck
Mein Papa ist ohne Vater aufgewachsen. Als seine Mutter starb, war er vierzig. Das ist nicht mehr jung. Aber auch nicht alt. Mein Papa hatte da schon zwei Kinder. Und, ich glaube, er hatte das Leben durchschaut. Er hat es früh begriffen. Hat verstanden, dass es absurd ist. Das Leben. Ich meine, erst überlebt sein Vater den Krieg, dann stirbt er kurz darauf an einer Lungenentzündung. Überhaupt, es stirbt alles um ihn herum ab. Das ist normal, besonders im Krieg. Aber auch danach hat das nicht aufgehört. Die sind dann halt nicht von Handgranaten zerfetzt worden, sondern haben sich zu Tode gesoffen. Oder sich vor einen Zug geschmissen. Ich weiß nicht, was mein Papa sich dabei gedacht hat, regelmäßig am Friedhof zu stehen. Und am Schluss sagt der Pfarrer: „ ...und wir beten besonders für den unter uns, der als nächstes dem Verstorbenen vor das Angesicht Gottes folgen wird." Und alle schauen verstohlen auf den Friedhofskies und jeder hat so seine Vermutung, wer das sein wird.
Mein Papa war lange Zeit nicht derjenige. Und weil er so lange am Leben blieb, musste dieses Leben irgendwie mit Inhalt gefüllt werden. Klar, am Anfang denkst du nicht darüber nach, das Leben passiert einfach, du bist verknallt, die Mutter hat was dagegen und so Sachen. Aber auf einmal bist du dreißig und hast dein halbes Leben als Schlosser verbracht und dir zwei Fingernägel weggefeilt und der eine Kollege von der Werkbank ist auf einmal Profimusiker, der andere massiert Profisportler. Da denkst du schon nach. Mein Papa, der das Leben durchschaut hat, schmeißt auf einmal hin. Wenn das Alles sowieso absurd ist, kann ich ja, statt den ganzen Tag zu feilen, auch was anderes absurd Sinnloses tun. Zum Bund gehen, zum Beispiel. Und danach zur Polizei.
Als Kind ist man stolz, wenn der Papa Uniform trägt. Und aufgeregt, wenn er spät am Abend vom Dienst heimkommt. Erst spät habe ich begriffen: Der ist gar kein Polizist. Der tut nur so. Uniformiert sich jeden Tag, weil es das geringere Übel ist. Weil ,man irgendetwas tun muss, um Geld für die Familie zu verdienen. Weil man ein wenig mehr verdient und ein wenig weniger Fingernägel verliert, als beim Feilen.
Die meiste Zeit seines Lebens ist mein Papa Rad gefahren. Zum Feilen, zum Bund, zur Wache. Meist alleine, später mit uns Kindern hinten drauf. Er ist unterm Strich wohl länger auf dem Fahrrad gesessen, als er in der Uniform gesteckt ist. Ich bin mir inzwischen gar nicht mehr sicher, ob das Leben von meinem Papa wirklich absurd war. Ich werde ihn nicht mehr fragen können.
Am 12. Februar 2012 ist der Google Earth Satellit, oder ein Satellit, der die Bilder an Google Earth verkauft, über unsere Gegend geflogen. Die Bilder sind weiß und scharf.
Das Haus ist klar zu erkennen. Das Auto steht nicht in der Einfahrt, das Rad ist ebenfalls weg, vermutlich im Auto. Mit meinem Papa unterwegs. Es war der letzte Ausflug meines Vaters. Am nächsten Tag war er tot.
Die tagelange Eiseskälte hat seine Gefäße spröde gemacht, die Aorta ist gerissen. Man soll halt nicht bei jedem Wetter Radfahren. Das auslaufende Herz hat er einen Tag lang überlebt. Vielleicht ist er auch an einem Riss im Herzen gestorben, weil er nach dem Tod von Mama und seinen drei Brüdern die Trauer auch beim Radfahren nicht mehr in den Griff gekriegt hat.
Ich konnte mich von ihm nicht verabschieden, geschweige denn fragen, wohin er eigentlich gefahren ist.
Seitdem ich von dem Google Earth Foto weiß, suche ich nach ihm. Wenn ich in der Arbeit sitze, suche ich stundenlang die Straßen des Dorfes, des Landkreises, des gesamten Rupertiwinkels nach einer Spur meines Vaters ab. Ich suchte lange nach Papas rotem Renault, der irgendwo am Straßenrand abgestellt war. Irgendwo dort, wo er seine Fahrradtouren startete. Er konnte überall sein. Ich suche nach einem Radfahrer im Schnee, von oben leicht zu erkennen an seiner roten Kappe, er trug sie immer, sogar im Krankenhaus, als ihm das Herz versiegte.
Ich habe panische Angst, dass das Foto gelöscht wird, ausgetauscht durch ein aktuelleres, grüneres, sommerlicheres Satellitenbild.
Google hat keine meiner Emails beantwortet. Ich suche weiter, werde weitersuchen, solange es den weißen Fleck auf Google Earth noch gibt.
Das Auto habe ich Wochen später gefunden. Es stand gar nicht weit weg von dem Haus, in dem ich wohne. Seitdem frage ich mich, warum dort. Wollte er mit dem Rad zu mir fahren?
Seitdem ich das Auto gefunden habe, suche ich noch mehr. Ich mache Überstunden. Wenn ich nicht krank bin. Das Herz, sagt der Arzt.
Ich suche nach dem Radfahrer mit der roten Mütze, weit kann er nicht sein.
Ich weiß, das Leben ist absurd. Ich weiß, dass mein Papa es wusste. Aber solange man noch einen Sinn in seinem Leben hat, ist es dann wirklich absurd? Ich suche weiter.