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Roter Punkt im weißen Fleck

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20.04.2014
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Roter Punkt im weißen Fleck

Mein Papa ist ohne Vater aufgewachsen. Als seine Mutter starb, war er vierzig. Das ist nicht mehr jung. Aber auch nicht alt. Mein Papa hatte da schon zwei Kinder. Und, ich glaube, er hatte das Leben durchschaut. Er hat es früh begriffen. Hat verstanden, dass es absurd ist. Das Leben. Ich meine, erst überlebt sein Vater den Krieg, dann stirbt er kurz darauf an einer Lungenentzündung. Überhaupt, es stirbt alles um ihn herum ab. Das ist normal, besonders im Krieg. Aber auch danach hat das nicht aufgehört. Die sind dann halt nicht von Handgranaten zerfetzt worden, sondern haben sich zu Tode gesoffen. Oder sich vor einen Zug geschmissen. Ich weiß nicht, was mein Papa sich dabei gedacht hat, regelmäßig am Friedhof zu stehen. Und am Schluss sagt der Pfarrer: „ ...und wir beten besonders für den unter uns, der als nächstes dem Verstorbenen vor das Angesicht Gottes folgen wird." Und alle schauen verstohlen auf den Friedhofskies und jeder hat so seine Vermutung, wer das sein wird.
Mein Papa war lange Zeit nicht derjenige. Und weil er so lange am Leben blieb, musste dieses Leben irgendwie mit Inhalt gefüllt werden. Klar, am Anfang denkst du nicht darüber nach, das Leben passiert einfach, du bist verknallt, die Mutter hat was dagegen und so Sachen. Aber auf einmal bist du dreißig und hast dein halbes Leben als Schlosser verbracht und dir zwei Fingernägel weggefeilt und der eine Kollege von der Werkbank ist auf einmal Profimusiker, der andere massiert Profisportler. Da denkst du schon nach. Mein Papa, der das Leben durchschaut hat, schmeißt auf einmal hin. Wenn das Alles sowieso absurd ist, kann ich ja, statt den ganzen Tag zu feilen, auch was anderes absurd Sinnloses tun. Zum Bund gehen, zum Beispiel. Und danach zur Polizei.
Als Kind ist man stolz, wenn der Papa Uniform trägt. Und aufgeregt, wenn er spät am Abend vom Dienst heimkommt. Erst spät habe ich begriffen: Der ist gar kein Polizist. Der tut nur so. Uniformiert sich jeden Tag, weil es das geringere Übel ist. Weil ,man irgendetwas tun muss, um Geld für die Familie zu verdienen. Weil man ein wenig mehr verdient und ein wenig weniger Fingernägel verliert, als beim Feilen.
Die meiste Zeit seines Lebens ist mein Papa Rad gefahren. Zum Feilen, zum Bund, zur Wache. Meist alleine, später mit uns Kindern hinten drauf. Er ist unterm Strich wohl länger auf dem Fahrrad gesessen, als er in der Uniform gesteckt ist. Ich bin mir inzwischen gar nicht mehr sicher, ob das Leben von meinem Papa wirklich absurd war. Ich werde ihn nicht mehr fragen können.
Am 12. Februar 2012 ist der Google Earth Satellit, oder ein Satellit, der die Bilder an Google Earth verkauft, über unsere Gegend geflogen. Die Bilder sind weiß und scharf.
Das Haus ist klar zu erkennen. Das Auto steht nicht in der Einfahrt, das Rad ist ebenfalls weg, vermutlich im Auto. Mit meinem Papa unterwegs. Es war der letzte Ausflug meines Vaters. Am nächsten Tag war er tot.
Die tagelange Eiseskälte hat seine Gefäße spröde gemacht, die Aorta ist gerissen. Man soll halt nicht bei jedem Wetter Radfahren. Das auslaufende Herz hat er einen Tag lang überlebt. Vielleicht ist er auch an einem Riss im Herzen gestorben, weil er nach dem Tod von Mama und seinen drei Brüdern die Trauer auch beim Radfahren nicht mehr in den Griff gekriegt hat.
Ich konnte mich von ihm nicht verabschieden, geschweige denn fragen, wohin er eigentlich gefahren ist.
Seitdem ich von dem Google Earth Foto weiß, suche ich nach ihm. Wenn ich in der Arbeit sitze, suche ich stundenlang die Straßen des Dorfes, des Landkreises, des gesamten Rupertiwinkels nach einer Spur meines Vaters ab. Ich suchte lange nach Papas rotem Renault, der irgendwo am Straßenrand abgestellt war. Irgendwo dort, wo er seine Fahrradtouren startete. Er konnte überall sein. Ich suche nach einem Radfahrer im Schnee, von oben leicht zu erkennen an seiner roten Kappe, er trug sie immer, sogar im Krankenhaus, als ihm das Herz versiegte.
Ich habe panische Angst, dass das Foto gelöscht wird, ausgetauscht durch ein aktuelleres, grüneres, sommerlicheres Satellitenbild.
Google hat keine meiner Emails beantwortet. Ich suche weiter, werde weitersuchen, solange es den weißen Fleck auf Google Earth noch gibt.
Das Auto habe ich Wochen später gefunden. Es stand gar nicht weit weg von dem Haus, in dem ich wohne. Seitdem frage ich mich, warum dort. Wollte er mit dem Rad zu mir fahren?
Seitdem ich das Auto gefunden habe, suche ich noch mehr. Ich mache Überstunden. Wenn ich nicht krank bin. Das Herz, sagt der Arzt.
Ich suche nach dem Radfahrer mit der roten Mütze, weit kann er nicht sein.
Ich weiß, das Leben ist absurd. Ich weiß, dass mein Papa es wusste. Aber solange man noch einen Sinn in seinem Leben hat, ist es dann wirklich absurd? Ich suche weiter.

 
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Hey bpstrasser,

und herzlich Willkommen bei den wortkriegern!

Ich hab grad nicht so viel Zeit, hab aber in den Text reingelesen und fand den echt gut. Das wollte ich auf jeden Fall sagen, nicht dass ich in den nächsten Tagen wieder keine Zeit hab und dann wird es nichts und so.
Mir gefällt die Erzählstimme und zwischendrin hab ich ja gedacht, Papa hat Selbstmord gemacht und ich habe überlegt, ob es einer von den ganz wenigen Selbstmordtexten sein wird, der mir gefallen könnte, aber es ist ja nun keiner, was natürlich noch viel besser ist.
Ein sehr berührender Text über den Tod, da steckt wirklich viel Liebe auch drin, zum Thema und auch zur Sprache. Tolle Erzählstimme, schöne Details. Eigentlich besteht der Text fast nur aus Details und es funktioniert ganz irre gut hier, dass die Puzzleteile ein großes Ganzes ergeben und auch Gefühle überträgt. Der rote Punkt nach dem er da sucht, das ist so traurig und gleichzeitig so schön, das ist die Person und auch das, was er hinterlassen hat, die Sehnsucht, die Leerstelle und die Erinnerung ... mein Gott, wieviel man so einem roten Punkt unterstellen kann. Und das bemerkenswerteste, wenn man auch nur einen Satz wegnehmen würde, wäre alles kaputt. Das nenne ich mal dicht geschrieben.
Von mir nur lobende Worte statt Kritik, sorry, aber geht nicht ...

Sehr gern gelesen und in Vorfreude auf weitere Texte, Fliege

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo bpstrasser,
auch von mir ein herzliches Willkommen. Ich bin eigentlich nur durch Flieges begeisterte Anfangssätze drauf gekommen, mal in deine Geschichte reinzulesen. Wenn man allzu oft erlebt hat, dass Newcomer einem noch nicht mal auf einen Kommentar kurz antworten, dann liest und kommentiert man irgendwann verstärkt nur noch die Geschichten von bekannten Mitgliedern. Wegen Flieges Eindruck hab ich dann doch wieder eine Ausnahme gemacht.
Und siehe da, es ging mir genauso. Du hast eine wirklich anrührende Geschichte geschrieben über Väter, die von der Absurdität des Schicksals verfolgt werden. Das beginnt bei dem Großvater, der den Krieg überlebt, um dann von einer Lungenentzündung dahingerafft zu werden. Enden lässt du deine Geschichte mit dem Sohn, der den Staffelstab von seinem Rad fahrenden Vater nun in die Hand genommmen hat. Seine Weise, dem Absurden zu trotzen, ist die Suche.
Da passiert gar nicht viel an äußerer Handlung, und dennoch entfächert sich ein Lebensreigen. Ich glaube das kriegst du durch die sehr sprechenden Bilder und Szenen hin, wie zum Beispiel das Googe Bild oder die Szene am Grab, wenn alle den Worten des Pfarrers lauschen und heimlich schon an den nächsten Todesfall denken.
Und dann natürlich die Suche selbst nach dem roten Punkt im Weiß. Der verkörpert dann wirklich viel. Trauer, Erinnerung, aber auch Hoffnung.

Stellen, die ich sehr mochte:

Ich weiß nicht, was mein Papa sich dabei gedacht hat, regelmäßig am Friedhof zu stehen.

Vielleicht ist er auch an einem Riss im Herzen gestorben, weil er nach dem Tod von Mama und seinen drei Brüdern die Trauer auch beim Radfahren nicht mehr in den Griff gekriegt hat.

Das Auto habe ich Wochen später gefunden. Es stand gar nicht weit weg von dem Haus, in dem ich wohne. Seitdem frage ich mich, warum dort. Wollte er mit dem Rad zu mir fahren?

Aber das sind wirklich nur herausgerissene Beispiele, ich glaube, dein Text wirkt hauptsächlich durch den Zusammenhang.

Ich kenne das auch, dass man die Googlebilder seines Heimatortes mit besonderem Interesse durchsichtet, man schaut, ob man selbst da gerade zum Einkaufen gegangen ist, oder ob der Nachbar aus dem Fenster schaut wie ungefähr zehnmal am Tag. Man sucht einfach nach Spuren des eigenen Lebens. Ich kenn also die normale Faszination, die solche Bilder am Anfang auf einen ausgeübt haben. Von daher finde ich es eine unglaublich gute Idee, so ein Googlebild mit dem Tod des Vaters zu verbinden.
Jeder, der schon mal einen nahen Menschen verloren hat, beschäftigt sich ja mit dem Gedanken, was war da in den letzten Stunden. Man spürt ja immer nach, will etwas begreifen, was gar nicht begreifbar ist. Wie soll man denn auch begreifen, wenn plötzlich ein Bild in einer Diashow auftaucht mit dem Menschen, den es nun nicht mehr gibt, der einfach weg ist.
Mit der Suche nach dem Punkt gibst du diesem Gefühl ein ganz neues Bild.

Du schreibst in deinem Profil, du wolltest den Austausch mit anderen Autoren. Nun ja, konstruktive Kritik kann ich dir hier nicht geben. Eher die Bestätigung, dass das gut ist, was du da machst. Anrührend, traurig, herzzerreißend und unglaublich schön. Hat mir sehr gut gefallen.

Viel Spaß noch hier.
Viele Grüße von Novak

 

Hallo bpstrasser

Ein durchaus sinnlicher Text, den Du da verfasst hast, rührend zu lesen. Nur, eine „Geschichte“ verdichtet es mir nicht, da entsprechende Indikationen dazu fehlen. Wahrscheinlich machtest Du Dir zur Struktur keine Gedanken, es lag Dir daran den Inhalt offenzulegen und die Atmosphäre zu fassen, was Dir auch gelungen ist. Wenn ich es klassieren müsste, die Erzählsprache dabei in die Waage legend, scheint mir eine Meditation passend. Ein Aspekt von Philosophischem sehe ich da auch einzig annähernd in dem selbstspiegelnden Alltag, der Reflexionen in welchen sich Dein Protagonist verfangen hat. Allerdings wieweit seine Suche sinnstiftend verlaufen kann, das wage ich, anzuzweifeln. ;)

Noch zwei Kleinigkeiten, die mich beim Lesen zögern liessen:

Und am Schluss sagt der Pfarrer: „ ...[Leerschlag]und wir beten besonders für den unter uns, der als nächstes dem Verstorbenen vor das Angesicht Gottes folgen wird."

Eigenwillige Aussage, die Du in diesem Kontext dem Pfarrer in den Mund gelegt hast. Nicht, dass ich bei einem Theologen eine solche Denkweise für unmöglich hielte, doch beim gegebenen Anlass klingt es wie ein Affront gegenüber den gläubigen Schäfchen: Du bist der Nächste?

Mein Papa, der das Leben durchschaut hat, schmeißt auf einmal hin.

Da fehlt mir etwas, lässt mich fragen, was er den hinschmiss? Das Leben? Den Beruf? …

Als Lesestück, wenn auch nicht unkritisch, gerne aufgenommen.

Schöne Grüsse

Anakreon

 

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