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Welke Blumen

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23.04.2014
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Welke Blumen

I. Illy

Der Frühling war definitiv ein heißer, doch ob dies auf einen noch heißeren Sommer hoffen ließ, das wusste Illy nicht. Sie wünschte jedoch, dass es so sein würde, denn verregnete Nachmittage und wolkenverhangene Himmel mochte sie nicht besonders gerne. Illy entschied sich jedoch dazu, einfach das Hier und Jetzt zu genießen, die wärmere Jahreszeit, die sich in so grellen Farben und süßem Vogelgesang ankündigte, und zog ihren Pullover aus, bevor sie ihn vor sich auf den Boden warf. Sie umklammerte fest die Eisenketten der Schaukel und stieß sich ab, holte Schwung und flog höher, höher, höher. Früher, als sie noch kleiner waren, war Illys größerer Schwester Rebecca immer die Aufgabe zugefallen, sie von zu hohem Schaukeln abzuhalten. „Denn wenn du zu hoch schaukelst, dann überschlägst du dich, und das willst du doch nicht, oder? Oder??“ Es war wahrlich kein leichtes Los, das Rebecca mit ihrer kleinen Schwester gezogen hatte. Das sah diese jetzt ein, und jetzt wo sie älter war, verbrachte sie ihre Zeit sowieso lieber alleine, frei von allen Ablenkungen, ohne Gespräche in denen sie erklären musste, was sie soeben doch schon gedacht hatte, alleine in der ruhigen Stille mit sich selbst.

Wenn Illy nur lange genug auf ihrer Schaukel saß, dann vergaß sie ebendiese Tatsache, nämlich dass sie auf einer Schaukel saß. Sie sah nur auf die wild wuchernden Gräser unter ihr und die Pappeln in der Ferne, und natürlich in den Himmel. Illy liebte den Himmel, denn er konnte so unendlich strahlend blau sein, und ein bisschen war er auch wie sie selbst. Alleine, höchstens umgeben von ein paar zuckerigen Wolken oder hübschen Schmetterlingen mit malerischen Flügeln.

Illys Schaukel befand sich im Nichts. Es war natürlich nicht wirklich Nichts, aber es war ein alter Bolzplatz, auf dem schon längst eine Siedlung von Einfamilienhäusern hätte errichtet werden sollen. Dieses Unternehmen war jedoch aus Illy unbekannten Gründen, die ihr aber sehr willkommen waren, in der Planungsphase steckengeblieben. Einzig und allein ein blau-weißes Schild einer örtlichen Immobilienfirma auf der nördlichen Seite des Zauns erinnerte noch daran. Illys Nichts wurde von Illy täglich zwischen 13 und 15 Uhr nachmittags besucht, was den einfachen Grund hatte, dass diese zwei Stunden in Illys Schule der Mittagspause gewidmet waren, und Illys Schule sich genau 3 Gehminuten vom Nichts entfernt befand. Verließ man das Schulgebäude bei den Basketballplätzen, galt es lediglich den Pausenhof auf Seiten der Holztische zu überqueren, ehe man zu einem Drahtzaun gelangte, der den Hof vom rot asphaltieren Laufplatz trennte, den sich die Schule mit dem heimischen Laufverein teilte. Dieser Drahtzaun hatte, seit Illy denken konnte, ein kleines Loch auf der Höhe des dreiundzwanzigsten Meters der 50-Meter-Bahn, und war man nicht allzu ungeschickt und groß, konnte man dieses Loch überwinden. Auf der gegenüberliegenden Seite wurden die Rennbahnen von einem Holzlattenzaun begrenzt, welche auf der Höhe des achtzehnten Meters eine lockere Latte aufwies. War man nun noch immer nicht allzu ungeschickt und groß, konnte man auch diese Lücke überwinden. Von dort aus konnte man nun schon die alte Holzschaukel sehen, die etwas weiter rechts ungefähr eine halbe Gehminute entfernt jeden Tag unter der großen Linde auf Illy wartete.

Illy schaukelte nicht jede Minute jeder Mittagspause, aber jede Mittagspause mindestens einmal. Manchmal zeichnete sie auch den Lindenbaum über der Schaukel und klebte diese Zeichnung zu Hause auf die Wand über ihrem Bett, die inzwischen schon von über fünfzehn Lindenbildern gesäumt wurde, die sich alle durch ein Detail oder mehrere unterschieden, und Titel trugen wie „Linde am Tag des schwierigsten Mathetests“, „Lind' mein Kind, das du wehst im Wind“ oder „Linde, 42 Jahre, Single“. An manchen Tagen schlug Illy auch Räder, bis sie nicht mehr konnte, schrieb in Gedanken an einer ihrer sieben Fortsetzungsgeschichten weiter oder lag einfach nur im Gras und beobachtete die Pfauenaugen, die sich langsam und mit der Eleganz einer feinen Dame auf den Lindenzweigen niederließen. Manchmal konnte Illy bis ins Nichts die Gespräche ihrer Schwester und deren Freundinnen hören, die seit letztem Jahr den Tisch direkt am Drahtzaun neben dem Laufplatz belegten. An jedem Schultag ging sie an ihnen vorbei, bevor sie den, zugegeben ein bisschen abenteuerlichen, Weg ins Nichts antrat. Sie versuchte nicht zu verstecken, wohin sie ging, wozu auch. Ihre Schwester wusste sowieso Bescheid und lächelte oder zwinkerte Illy verschwörerisch zu, wenn sie an ihr vorbeiging. Rebeccas Freundinnen waren auch ziemlich okay, obwohl die ein oder andere Illy noch immer mit weit aufgerissenen Augen nachsah oder tuschelnd mit dem Finger auf sie zeigte. In Gedanken daran schüttelte Illy den Kopf. Warum normalen Menschen ihr Hobby, sich den Kopf über andere zu zerbrechen, nicht schon längst sterbenslangweilig geworden war, hatte sie bis heute nicht verstanden.

Der Regen peitschte gegen die Fensterscheiben und die Kälte draußen hatte diese innen beschlagen lassen. Illys Kopf lag auf der Tischplatte, während sie mit dem Zeigefinger ihrer linken Hand ein Bild ihrer geliebten Linde auf das Fenster malte. Da jedoch Wärme als Stift und Wassertröpfchen auf Glas als Zeichenblatt nicht sehr geeignet sind, war Illy nicht zufrieden mit ihrem Werk und wischte mit der flachen Hand darüber, bevor sie sich aufsetzte. Sie sah im Klassenraum herum und runzelte gleichzeitig die Stirn über den Lärm, den ihre Klassenkollegen machten. Ein paar der Jungs stritten sich vorne am Lehrerpult um einen Papierflieger und kreischten. Ein paar der Mädchen saßen im Schneidersitz auf ihren Tischen und blätterten eine Zeitschrift durch, während sie sich lauthals darüber stritten, wie ihr Traummann auszusehen hätte. Am ehesten verbunden fühlte Illy sich da noch mit denjenigen ihrer Klassenkameraden, die die Freistunde dazu nützten, ein kleines Schläfchen abzuhalten. Illy seufzte laut auf und sah auf ihre Armbanduhr. 11.45. Erst eine Viertelstunde war vergangen, und schon jetzt hielt es Illy nicht mehr aus in diesem stickigen, lauten Raum. Es war bereits das zweite Mal in einer Woche, dass Frau Pflaume nicht zum Unterricht erschienen war. Illy verstand das, war sie doch im fünften Monat schwanger. Sie verstand jedoch nicht, wieso die Direktion keinen Ersatzlehrer besorgen konnte, sie hätte gerne weiterdiskutiert über Der geheime Garten. Kurzentschlossen stand Illy von ihrem Stuhl auf, wobei dieser nach hinten kippte, und lief aus dem Klassenzimmer, bevor sie die Tür hinter sich schloss. Sie fing wieder an zu laufen und blieb nicht stehen, bis sie mit Schwung die Hoftür aufstieß und ins Freie stolperte. Es hatte aufgehört zu regnen und die Sonne bahnte sich ihren Weg durch die heller werdenden Wolken hinter dem Basketballkorb, von dem langsam einzelne Regentropfen auf den Betonboden fielen.


II. Elena

Lächelnd fing Illy wieder an zu rennen, Pausenhof, Holztische, Drahtzaun, Laufplatz, Holzlattenzaun, nasses Gras, auf zur Linde mit der Schau- Illy hatte sich so schnell abgebremst, dass ihr rechter Fuß abrutschte und sie rücklings ins nasse Gras fiel. Für einen Moment blieb sie so liegen und sah in den aufhellenden Himmel, wobei sie spürte, wie sich die Nässe in ihre Kleidung fraß. „Auf meiner Schaukel unter meiner Linde sitzt jemand“, dachte Illy, während sie wieder aufsprang. Nachdem sie sich ein Blatt von der nassen Stirn gewischt hatte, setzte sie langsam ihren Weg Richtung Holzschaukel fort. Je näher sie kam, desto besser konnte sie das Mädchen sehen, das in der Schaukel saß, jedoch nicht schaukelte. Ihren Blick hatte sie einem Mobiltelefon zugewandt, dass sie in ihren Händen hielt. Das Mädchen war nicht so alt wie Rebecca, aber älter als Illy, vielleicht ein oder zwei Jahre. Sie trug einen schwarzen Rock, der ziemlich eng zu sein schien und ihr bis zu den Knöcheln reichte. Illy schätzte das Material als weich ein. Den Oberkörper des Mädchens bedeckte ein T-Shirt, das in dichtem Muster geblümt war. Mit langsamen Bewegungen scharrten ihre Füße, die in kurzen, roten Lackstiefeln steckten, in der Erde unter der Schaukel. Als Illy noch ungefähr zehn Meter von ihr entfernt war, hob das Mädchen den Kopf, wodurch ihr Gesicht besser erkennbar wurde. Es hatte lange, hellblonde Haare und ihre blasse Haut war um die Augen herum schwarz geschminkt. Das Mädchen blickte Illy mit offenem Mund entgegen, die sich nun fragte, wie ihre kleine, durchnässte, zerzauste Gestalt wohl auf sie wirken musste. Illy ärgerte sich über diesen Gedanken, denn ein ähnlicher war ihr im Nichts noch nie gekommen. Sie pflückte dann aber doch ein paar Blätter von ihrer hellrosaroten Weste und ihren Khakihosen, bevor sie sich eine Strähne des schulterlangen braunen Haares hinter das rechte Ohr strich.

„Ähm, ich bin Elena.“ Auf dem Gesicht des Mädchens lag ein verlegener Blick, der allerdings auch etwas Belustigung erahnen ließ. Illy sagte nichts und war sich sicher, dass ihr die Verwirrung wie ins Gesicht geschrieben stand. „Er hat doch tatsächlich Schluss gemacht. Per Sms, pff, kann man das glauben!“ Elena lachte, nahm die Eisenketten der Schaukel in ihre Hände und stieß sich fest vom Boden ab. Illy konnte noch immer nichts sagen. Wer... ihre Schaukel... was sollte das? „Aber weißt du, ich bin sogar froh drüber! Soll er doch scheißen gehen, der Arsch!“ Elena schrie fast und lachte jetzt hysterisch, wobei die Schaukel sie höher trug, höher, höher, höher. „Was machst du da?“ Die Worte kamen lauter als beabsichtigt aus Illy. Sie war sich im Klaren darüber, dass sie gekränkt aussehen musste, sogar ihre Unterlippe zitterte. Wie vom Blitz getroffen sprang Elena von der Schaukel und landete genau neben Illy. Sie roch nach Blumen. Illy machte einen Schritt zurück und atmete tief durch. „Okay, tut mir leid, das war wohl etwas unhöflich. Mein Name ist Illona Sirgiakis, aber man nennt mich Illy. Das heißt, da drüben nennt man mich Illy, und zu Hause, denn hier im Nichts nennt man mich gar nichts. Nannte man mich gar nichts.“ Illy musste noch einmal Luft holen. Sie war es nicht gewohnt, so viele Sätze am Stück zu sprechen. Elena sah einen Moment aus, als würde sie sich gleich umdrehen und gehen. Dann sah sie aus, als würde sie gleich lauthals loslachen. Schließlich lächelte sie breit und streckte Illy die Hand hin. „Hallo Illona. Illona und Elena – Na, das passt doch! Weißt du, ich hab hier noch nie wen anderen gesehen, deswegen war ich erst etwas verblüfft, als ich dich gesehen hab'. Also, so oft bin ich ja auch nicht hier. Immer nur dann, wenn mein Freund mich mit Anrufen oder Sms drangsaliert und ich einfach raus muss aus dem Scheiß-Klassenzimmer. Also... mein Exfreund!“ Wieder brach Elena in dieses hysterische Lachen aus, das jedoch kurz darauf abrupt zu einem Ende kam. Illy sah zu Boden, wobei sie ihre Hände zu Fäusten ballte. Was sollte sie darauf antworten? Was würdest du sagen, wenn auf einmal jemand in dein Zimmer einbräche, in dem du dich alleine geglaubt hast?

Elena hatte sich verabschiedet, mit den Worten, dass sie wohl jetzt wirklich zurück in die Lateinstunde müsste, aber auf jeden Fall bald wieder vorbeischauen würde. „Tss!“, stieß Illy aus, während sie auf der Holzschaukel saß und ihre Füße Kreise in die nasse Erde malten. Es war 13 Uhr 51 und sie hatte versucht zu schaukeln, hoch, höher, höher, höher, doch irgendwie war ihr die Lust vergangen. Stattdessen nahm sie jetzt ihren Rucksack, warf ihn vor der Schaukel in das noch immer nasse Gras und setzte sich so darauf hin, dass sie die Linde im Blick hatte. Sie malte den Baum, den sie schon fast im Schlaf zeichnen könnte, und fügte die zarte Holzschaukel hinzu. Darauf malte sie eine einfache Blume. Als sie ihrem Bild wie immer einen Namen geben wollte, fiel ihr nichts Passendes ein.

Zwei Tage später, zur selben Zeit, saß Illy im Gras vor der Linde, an die sie ihren Kopf lehnte. In ihren Ohren hatte sie Kopfhörer und ihr Gesicht war der Sonne zugewandt, gegen deren starke Strahlen sie ihre Augen geschlossen hielt. Es war heute so heiß, dass Illy zum ersten Mal in diesem Jahr ihre Jeans-Latzhose angezogen hatte. Plötzlich fühlte Illy, dass ihr ein Kopfhörer aus den Ohren gezogen wurde. Als sie daraufhin ihre Augen öffnete, entfuhr ihr ein kleiner Schreckensschrei. Über ihr schwebte ein blasses Gesicht mit schwarz geschminkten Augen, blonde Haare kitzelten Illy an der Nase. Bevor diese sich von dem Schreck erholen konnte, hatte Elena sich auf die ein paar Meter entfernte Schaukel gesetzt. „Tut mir leid“, sagte sie grinsend, „Es war einfach zu verlockend. Ich musste es tun!“ Illys Gesicht verfinsterte sich und sie wollte Elena schon mitteilen, dass sie sich zum Teufel scheren sollte, als deren Worte sie stocken ließen. „Weißt du, ich bin so froh, dass ich dich hier das letzte Mal getroffen habe. Ich sehe hier sonst nie jemanden, ich wusste gar nicht, ob man hier herkommen darf. Und meistens war ich so damit beschäftigt, was mir mein Ex gerade wieder vorgeworfen oder angedroht hatte. Als ich dann hier auf dieser Schaukel saß, war ich eigentlich zum ersten Mal seit langem wieder glücklich. Ich war wohl egoistisch, das tut mir sehr leid. Und ich hätte mich fast nicht getraut, wieder hierherzukommen. Du schienst irgendwie... nicht so erfreut.“ Elena sah jetzt so besorgt aus, dass nun beinahe Illy diejenige war, die grinsen musste. Mit möglichst neutraler Mine sagte sie: „Ach... ist schon okay. Du warst auch fast nicht egoistisch. Und ist doch blöd, dass du dich nicht her getraut hast.“ Elena hatte jetzt wieder dieses strahlende Lächeln im Gesicht, das Illy schon bei ihrer ersten Begegnung aufgefallen war. Es ließ irgendetwas in ihr auf- und abspringen, und so sagte sie übermütig: „Ich bin jedenfalls froh, dass du den Kerl los bist.“ Wie auf ein unhörbares Kommando brachen beide in lautes Lachen aus, und wäre jemand zufällig des Weges gekommen, hätte er sich wohl gewundert über dieses Paar, das nicht ungleicher hätte sein können und das doch in diesem Moment wie unsichtbar verbunden war.

„Warte, beweg dich noch nicht!“ Illy saß noch immer auf ihrem Platz unter dem Baum, jetzt mit ihrem großen Zeichenblock auf den dünnen Knien. Auch Elena saß noch immer auf ihrem Platz auf der Schaukel, nur dass sie jetzt ihre Beine überschlagen hatte und Illy kichernd anblickte. „Ach, mach schon! So superbequem ist das hier nämlich nicht.“ Illy tippte sich mit ihrem Bleistift gegen die Schneidezähne, während sie so tat, als ob sie sich Elenas Position noch einmal genau einprägen wollte. In Wirklichkeit hatte sie das schon längst getan, und konnte ihren Blick trotzdem nicht von deren langen blonden Haaren und dem engen, pinken Trägerkleid lösen. „Okay, du kannst es jetzt anschauen kommen!“, grinste Illy. Blitzschnell war Elena von der Schaukel gesprungen und ließ sich neben Illy ins Gras fallen. „Boah, das sieht ja voll gut aus, ey! Du bist ja echt talentiert! Mann, Haaammer, Alter...“ Elenas rechte Hand ruhte auf Illys nacktem Oberschenkel und wenn Illy tief einatmete, dann roch sie Blumen. Während sie in den strahlend blauen Himmel blickte, wusste Illy auf einmal, was Sommer wirklich bedeutete.

Noch immer saß Illy unter der Linde, nur dass sie sich jetzt bemühen musste, nicht einzudösen. Elena hatte ihren Kopf auf Illys Knie gebettet, und ihre Haare kitzelten sie. Bereits seit einiger Zeit vermutete Illy, dass sie eingeschlafen sein musste. Sie streckte ihre rechte Hand aus und pflückte einen reifen Löwenzahn aus der Wiese. Sie hielt ihn vor Elenas Augen, beugte ihren Kopf und blies laut Luft aus, sodass die Sporen der Pflanze in alle Richtungen davon sprangen. Davon sprang auch Elena, nachdem sie aus ihrem Schlaf hochgeschreckt war. „Spinnst du?“ Sie sah Illy entgeistert an. „'tschuldigung... aber es war einfach zu verlockend. Ich musste es tun!“ Illy fing an zu lachen, sprang ebenfalls auf und lief in Richtung Holzzaun, wobei sie auf halbem Weg ihren Rucksack vom Boden aufhob. Als sie durch das Loch im Zaun schlüpfte, hörte sie hinter sich ebenfalls Gelächter und wusste, dass sie sich verstanden hatten.

Der nächste Tag war ein Samstag, und bis Montagmittag hatte Illy Elena beinahe schon vergessen. Als sie über den Basketballplatz ging, fühlte sie sich angespannt. Ihr Mathebuch musste ihr letzten Freitag im Nichts aus dem Rucksack gerutscht sein, denn zu Hause konnte sie es nicht finden. So hatte sie es versäumt, eine wichtige Hausaufgabe zu machen, was ihr sonst nie passierte. In jedem anderen Fach wäre das nicht so schlimm gewesen, aber Mathematik war leider wirklich nicht Illys bestes Fach. Während sie über all das nachdachte und sich nach dem Wochenende mit Mama, Papa, Rebecca und dem Hund auf ein bisschen Alleinsein freute, schlängelte sie sich durch die Lücke zwischen den Holzlatten. Als sie auf den weichen Wiesenboden trat, konnte sie aus dem Augenwinkel schon jemanden auf der Schaukel sitzen sehen. „Verdammt!“, dachte Illy. Sie hatte Elena total vergessen, oder vielleicht hatte sie sie auch nur nicht schon wieder hier erwartet. Illy war nicht verärgert, es war einfach nur ein Problem mehr, als sie ertragen konnte. Sie wusste ja, weshalb sie gerne alleine war. Langsam ging Illy auf den Lindenbaum zu. Der Tag war verhangen und kühl, und als sie Elena näher kam, konnte sie nicht glauben, wie heiß es letzten Freitag gewesen war. „Hallooo!“ Elena strahlte, sprang von der Schaukel und kam auf Illy zugelaufen. Stürmisch umarmte sie diese. Es roch nach Blumen, aber irgendwie schien der Geruch in der Luft stehenzubleiben und nicht zu Illy durchzudringen. „Hey, Illy, ich hab nachgedacht. Der viele Platz hier – der gehört doch genutzt! Bei meinem Papa in der Garage steht ein altes Sofa, so ein einfaches Ikea-Ding. Aber das wär' doch perfekt für hier! Wir stellen sie einfach unter die Linde. Man könnte sogar Erdbeeren anbauen, da drüben im Schatten. Und weißt du was? Wär' das nicht DER Ort für die Party zu meinem siebzehnten Geburtstag?“ Um Illy drehte sich alles. Es war zu laut, es war zu viel, was war aus ihrem Nichts geworden? Was hatte sie angestellt? Kurz presste sie sich die Hände auf die Ohren, bevor sie sie wieder herunternahm und ihre Stimme hob: „Elena! Könnte ich bitte ein bisschen alleine sein? Weißt du eigentlich, wie lange ich hier herkomme? Weißt du, wie lange es hier schon NICHTS gibt außer meiner Linde und meiner Schaukel und dem Gras? Na, weißt du es? DREIEINHALB JAHRE. DREIEINHALB. Okay? Und da kommst du einfach so reinspaziert, schreist was rum von deinem Scheiß-Freund, machst hier auf beste Freundin und willst mir jetzt auch noch meinen einzigen eigenen Ort nehmen? Sicher nicht! Sicher nicht, Elena, scher' dich zum Teufel! Ich bin gern allein!“ Illy atmete schwer. Ihre Hände hatte sie zu Fäusten geballt und sie zitterte leicht. Langsam hob sie den Blick und sah ihr Gegenüber an. Elena sah aus, als ob sie gleich bewusstlos würde. Ihre Augen blinzelten wie verrückt während ihr Mund auf und zu ging, als ob sie etwas sagen wollte, es sich aber immer wieder anders überlegt hätte. Eine einzelne Träne bahnte sich einen Weg ihre Wange hinunter. Schließlich atmete sie tief ein und begann, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Sie ging zuerst etwas unbeholfen und stolperte dann immer schneller, bis sie rannte. Als Illy allein war, ging sie zur Holzschaukel und setzte sich darauf. Sie fühlte sich jedoch zu schwach um zu schaukeln und entschied schließlich, sich unter die Linde zu setzen. Bevor sie jedoch dort ankam, fiel sie auf die Knie und blieb auf dem Boden liegen. Was hatte sie getan? Der Rest des Tages lief wie ein Film an Illy vorbei. Sie handelte mechanisch, sagte nur dann etwas, wenn sie gefragt wurde, und ging früh zu Bett. Doch sie konnte nicht schlafen. Es fühlte sich an, als würde ein Stein in ihrem Magen liegen, und ein Ziegel auf ihrer Brust. Als sie die Augen schloss, roch ihr Bett nach Blumen.

Als die Pausenglocke läutete, ließ sich Illy absichtlich Zeit mit dem Einpacken ihrer Schulsachen. Wie in Zeitlupe stieg sie die Stiegen hinunter, die zur Schultür führten. Anders als normalerweise war der Pausenhof jetzt schon voll mit Schülern. Panisch glitten ihre Augen umher, scannten Haare, Gesichter und Klamotten. Es war wie der Versuch, eine Blume in einem Misthaufen zu finden. Auch Elenas Augen waren herum geglitten und sie trafen Illys für den Bruchteil einer Sekunde, bevor sich eine Menge kreischender Mädchen zwischen sie schob. Illys Herz pochte und sie fühlte einen Kloß in ihrem Hals. Schließlich zwang sie sich dazu, sich durch die Menge zu drängen, und kam vor Elena zum Stehen. Diese sah sie teilnahmslos an, und trotzdem nahm Illy ihre Hand in die eigene. Es war laut auf dem Pausenhof, unglaublich laut, also musste Illy sich nahe zu Elena beugen. Ohne sie anzusehen, sagte sie: „Weißt du, eigentlich mag ich Erdbeeren eh voll gern.“ Ihre Wangen brannten wie Feuer, während sie zu Boden sah. Als sie hysterisches Lachen vernahm, hob sie ihren Kopf und wäre fast mit Elena zusammengestoßen, die ihr jetzt einen Kuss auf die Wange gab. „Komm, Dummkopf!“ Illy erzählte ihr nicht, dass sie Blumen noch lieber mochte als Erdbeeren.

In den folgenden Wochen kehrte der Sommer zu Illy zurück. Im Nichts sein, das war jetzt nicht mehr nur etwas, das sie genoss, sonders auch etwas, auf das sie sich freute, jeden Tag schon ab 15 Uhr. Sie traf Elena entweder auf dem Pausenhof, oder am Loch im Drahtzaun. Ab und zu saß Elena auch auf einer der Rennbahnen und war in ihr Handy vertieft, oder sie empfing Illy lächelnd unter der Linde, wo sie schaukelte, höher, höher, höher. Täglich wurden es mehr Bilder, die Illy von Elena unter der Linde zeichnete. Alle unterschieden sich durch ein Detail oder mehrere, und ihre Namen bekamen sie, als Illy abends zu Hause im Bett lag. Illy lernte die Wörter zu Elenas Lieblingssongs, woraufhin die beiden diese lautstark ins Nichts schrien, nachdem Elena ihr gelehrt hatte, den untersten Ast der Linde zu besteigen. Wettschaukeln war zur täglichen Routine geworden, wobei Elena Illy trotz ihrer langen Beine niemals beim Hochschaukeln schlagen konnte. Trotzdem beneidete Illy Elena, weil sie wahnsinnig weit springen und dazu einen beeindruckenden Gorillaschrei ausstoßen konnte. Illy sah lächelnd zu, wenn Elena ihr die neueste Hip-Hop-Choreographie vortanzte. Im Gegenzug hörte Elena lächelnd zu, wenn Illy ihr eine ihrer selbstausgedachten Geschichten erzählte, oder davon, warum sie so gern alleine war. Es war fast, als ob Illy mit Elena alle Worte nachholen musste, die sie mit anderen nie geredet hatte. Elena machte sich oft einen Spaß daraus, Illy ihr Mathebuch zu stehlen und damit hysterisch kreischend vor ihr wegzulaufen. Illy war zwar kleiner als Elena, aber nicht minder flink, und so konnte sie es sich meistens wieder zurückholen. Einmal war Illy gestolpert, während sie ihre Hand nach Elenas Schulter ausstreckte, und hatte sie beide zu Boden gerissen. Elena war genau auf Illy gelandet und für einen Moment bewegte sich keiner von beiden. Illy spürte Elenas blondes Haar auf ihren Wangen und sah wie gefesselt auf ihre roten, vollen Lippen, die so dicht vor ihren eigenen schwebten. Elenas vom Laufen angestrengtes Herz pochte gegen Illys Brust und Illy spürte, dass Elena keinen BH trug. Es waren Momente wie diese, in denen Illys Herz auf- und absprang, ihr Mund trocken wurde und sich gleichzeitig eine Ruhe über ihren kleinen Körper legte, die fast einschläfernd wirkte. Genauso wie sie sich auf das Nichts freute, freute sie sich über diese kleinen Momente. Wenn sie unter der Linde dösten, bettete Illy ihren Kopf in Elenas Schoß. Wenn sie in umgekehrter Position dasaßen, streichelte Illy Elenas Haare und hatte sie einen ihrer Sprüche losgelassen, die manchmal einfach zu doof waren um wahr zu sein, gab ihr Illy lachend einen kleinen Kuss auf die Wange. Es war das Kribbeln in ihrem Bauch, dass sie mutig werden ließ, und doch raubte ihr Elena noch immer den Atem. Wenn sie in Elenas Schoß etwa fast eingeschlafen war und deren sanfte Finger in ihren Haaren spürte, wie sie ihr einen Zopf flochten, oder wenn Elena sie mit ihren großen Augen ansah und sie Beste Freundin nannte, oder wenn sie sie vor einem Wochenende zum Abschied minutenlang umarmte. Nach einiger Zeit wusste Illy wohl fast alles, das es über Elenas Leben zu wissen gab. Sie wusste, dass sie nicht besonders gut in der Schule war, sich daraus aber nichts machte. Sie wusste, dass sie samstags in einer Boutique jobbte, um sich von dem Geld Konzertkarten zu kaufen. Sie wusste auch, dass Elenas Vater gestorben war, als diese erst drei Jahre alt gewesen war. Illy kannte Elenas Mutter, ihre drei Schwestern und den alten Onkel mit der extravaganten Frau. Illy kannte Leonie, Rosa und Lena, die so etwas wie Elenas beste Freundinnen waren. „Aber gegen dich sind sie wahnsinnig langweilig“, fügte Elena schnell hinzu und lächelte. Illy sah Elena gerne beim Reden zu, sieh liebte das Glänzen in ihren Augen wenn sie von ihrer Lieblingsband schwärmte, sie liebte ihre gestikulierenden Arme, wenn sie sich über ihren Biologieprofessor beschwerte, sie liebte die Falte zwischen ihren Augenbrauen wenn sie nicht weiterwusste. Manchmal redete Elena auch über ihren Exfreund, doch nach wenigen Sätzen unterbrach Illy sie meist und versicherte ihr, was für ein Segen des Himmels es doch gewesen war, dass die beiden Schluss gemacht hatten, und was für ein zurückgebliebenes Arschloch er doch gewesen war. Illy wusste kaum etwas über ihn, da sie Elena nie zu Ende erzählen ließ, aber sie sagte das gerne. Und noch lieber nahm sie danach Elenas Hand und sah, wie diese wieder zu strahlen anfing.

Irgendwann fing Elena an, von Chris zu erzählen. Illy hörte anfangs lächelnd zu, denn sie wusste, dass er mit Elena in die Klasse ging und ein Exfreund von Lena war. Irritiert stellte Illy jedoch fest, dass dieser Chris in immer mehr Geschichten von Elena vorkam, und bald erwähnte sie ihn täglich. Es war Freitagnachmittag, als Elena Illy aufgeregt erzählte, dass sie an diesem Abend mit Chris ins Kino gehen würde. Ihre Wangen färbten sich rot und sie fuhr sich nervös mit den Fingern durchs Haar. Ihre Augen glänzten, und auf einmal konnte Illy nichts Liebenswertes mehr daran finden. Sie wusste nicht, was sie davon halten sollte. Sie wusste, dass Elena ihr Exfreund viel bedeutet hatte. Aber der war ein Arschloch. Jetzt redete sie von Chris, und ihre Augen glänzten. Und sie würden ins Kino gehen, heute Abend. Illy stand vom Boden auf und ging in Richtung Schaukel. Sie atmete tief durch und setzte sich darauf. „Hey, ist das nicht cool?!“ Elena war jetzt auch aufgestanden und stellte sich mit verschränkten Armen vor Illy. „Ja, sorry, ich war gerade abgelenkt. Klar. Klar ist das cool! Das wird sicher genial werden, im Kino. Ich wünsch' euch viel Spaß. Du musst mir dann alles erzählen.“ Illy wusste selbst nicht, wie sie hier sitzen und lächeln konnte. In diesem Moment fing es an zu regnen und für einen Sekundenbruchteil wusste Illy, dass der Sommer vorbei sein würde, bevor er überhaupt angefangen hatte.

Illy begann, sich nicht mehr so sehr auf das tägliche Nichts zu freuen, wie sie es zuvor getan hatte. Sie wurde Elena gegenüber stiller, nicht mehr viel unterschied sie von der Person die sie außerhalb des Nichts war. Das Prickeln und der Mut in ihrem Bauch waren wie weggeblasen. Illys Körper war noch im Nichts, doch in Gedanken glitt sie über die Wiese wie reife Löwenzahnsporen. Der Stein in ihrem Bauch war zurückgekehrt, schwerer als zuvor. Auf ihrem Herz lag diesmal kein Ziegelstein, doch Blumen wucherten darin, wild und geräuschvoll. Während die Elena im Nichts Illy von ihrem neuen Freund Chris vorschwärmte und ihr erklärte, wie toll es sich angefühlt hatte, ihn zum ersten Mal zu küssen, war die Elena abends in Illys Bett viel lieber zu ihr. Sie schmiegte sich an sie und streichelte ihren Bauch, und küsste sie viel besser, als irgendein Chris es je gekonnt hätte.

Die zweite Juniwoche brachte allerlei Regen und so war es nicht verwunderlich, dass Illy klatschnass war als sie an diesem Tag durch das Loch im Holzlattenzaun rutschte. Sie erblickte Elena, die unter der Linde im trockenen Gras saß, hielt sich ihren Schulrucksack über den Kopf und sprintete geduckt über die Wiese, bis sie im Schutz der Linde angekommen war. Erst als sie aufblickte, erkannte sie, dass Elena weinte. Illys Herz sank ihr bis in die Knie, sie hatte Elena noch nie zuvor weinen gesehen. Vorsichtig kniete sie sich gegenüber von ihr auf den Boden und nahm ihre beiden Handgelenke in die eigenen. „Elena“, flüsterte sie, während sie ihr tief in die Augen sah, die jedoch durch sie hindurch sahen. Erst als sie ihr rechtes Handgelenk losließ und ihr die Haare aus der Stirn strich, reagierte Elena. „Wir haben's getan. Gestern, bei mir, und es war schrecklich! Es war nach zwei Minuten vorbei, ich hab gar nichts gespürt, und dann ist er einfach gegangen und hat gesagt er wird mich anrufen. Er hat mich noch nicht angerufen. Er ist einfach gegangen!“ Elena schluchzte wieder los, entriss Illy ihre Hand und vergrub ihr Gesicht in den Händen. Langsam verstand Illy, was Elena ihr erzählt hatte. Auf einmal spürte sie wieder ein vertrautes Gefühl von Mut in ihr, das in ihrem Bauch hämmerte und hinaus wollte. „Elena! Chris ist ein Arschloch, das ist doch klar. Genauso wie dein Exfreund. Männer sind doch alle gleich! Der wird dich nicht anrufen, nie mehr. Gib's auf! Wer dich so behandelt, hat dich nicht verdient. Der ist einen Dreck wert. Du bist auf seine miese Masche hereingefallen, das ist alles. Was der kann, das kann doch jeder von den Typen da draußen, also wenn ich mal die Möglichkeit hätte...“ „Illy!“ Elena starrte sie unverwandt an. Illys Herz schlug schneller, ihr war als würde Elena sie gar nicht mehr kennen. Auf einmal ekelte sie sich selbst vor dem, was sie gesagt hatte. „Wie kannst du Chris mit meinem Scheiß-Exfreund vergleichen? Ich LIEBE Chris. Chris liebt mich. Er trägt mich auf Händen, er respektiert mich, ich kann mit ihm so gut reden wie mit niemandem sonst. Chris ist der beste Typ, den ich seit langem kennengelernt habe. Wie kommst du eigentlich darauf, irgendetwas zu wissen?“ In Elenas Blick lag Abscheu. Illy stammelte, dass es ihr leid tue, und gab Elena zitternd einen Kuss auf die Wange. Diese sprang auf und lief hinaus auf die Wiese, wo sie niedersank und im strömenden Regen auf dem Rücken liegen blieb. „Elena!“ Illy richtete sich auf, rannte und kam keuchend neben Elena zum Stehen. Langsam setzte sie sich ins nasse Gras und legte sich neben Elena, während der peitschende Wind ihr den Regen ins Gesicht trieb. Sie sah Elena an, die sich jetzt zu Illy umdrehte, und sah wie müde sie aussah. So unendlich müde. Das Wasser auf ihren Gesichtern bildete Sturzbäche, während Illy ihr Gesicht immer näher an das von Elena brachte. Da waren Elenas Hände in Illys Haaren, ihre Lippen auf ihrer Wange, bevor sie eine nasse Spur zu Illys Lippen zogen. Als die beiden Lippenpaare einander fanden, spürte Illy die Hitze, die trotz des eisigen Regens von Elenas Lippen ausging. Die Blumen, die in ihrem Herz gewuchert waren, brachen aus und vermengten sich mit den Schmetterlingen in ihrem Bauch, die sich in deren Nektar ertränkten. Ein Blitz fuhr durch Illys ganzen Körper und sie zog Elena näher zu sich, während ihre Zunge sich einen Weg in Elenas Mund bahnte. Sie hörte, wie Elena neben ihr stöhnte, und konnte durch ihr nasses Oberteil ihre erregten Brüste fühlen. Da fühlte Illy, wie eine unglaubliche Ruhe über sie fiel. Es war nicht die einschläfernde Ruhe, die sie schon kannte, nein, diese Ruhe war viel klarer. Sie fühlte die harten Regentropfen auf ihr Gesicht fallen, die Schmetterlinge in ihr ließen von den Blumen ab, und auch Illy löste sich von Elena. „Mach's gut, Elena.“ Sie gab ihr einen letzten Kuss auf die Wange, drehte sich auf ihre andere Seite und rollte sich zu einer Kugel zusammen. Sie wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, möglicherweise Minuten oder auch Stunden, ehe Elena gegangen war. Irgendwann jedenfalls hörte der Regen auf, die Vögel fingen an zu singen, die Sonne kam zwischen den Wolken hervor und trocknete Illys Kleider. Als sie schließlich durch die Lücke im Holzlattenzaun geschlüpft war, wusste Illy, dass sie das zum letzten Mal getan hatte.

Die Schulglocke läutete, und zögernd packte Illy ihren Schulrucksack. Mit zitternden Beinen stieg sie die letzten Stufen hinunter und öffnete die Tür, die in den Hof führte. Vorbei ging sie am Basketballplatz und hinüber zu den Holztischen. Kurz blieb sie unentschlossen stehen, bevor sie ihren Blick vom Drahtzaun wandte und ihren Rucksack auf dem Tisch ihrer Schwester abstellte. „Ist da noch frei?“ Rebecca starrte sie an. Illy konnte sehen, wie ihr Gehirn arbeitete. „Klar ist da noch frei, Schwesterherz!“ Alle von Rebeccas Freundinnen starrten nun ebenfalls. „Na, was ist, macht Platz für Illy.“ Sie lächelte nun und schüchtern stimmten ihre Freundinnen mit ein, woraufhin Illy sich setzte. „Sieht so aus, als wäre das schlechte Wetter nun erstmal wieder vorbei. Der Sommer kann kommen!“ wechselte das Mädchen gegenüber Illy das Thema und lächelte ihr freundlich zu. Aus dem Augenwinkel sah Illy, wie Elena durch das Loch im Drahtzaun schlüpfte, einen Jungen an der Hand. Sie wartete kurz, bevor sie antwortete. „Ach, mir ist das eigentlich egal. Ich mag Regen sowieso lieber.“

 
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Hallo ihr da draußen,
Ich bin neu hier und nachdem ich schon einige sehr gute Texte gelesen habe,
hat mich jetzt selbst die Schreiblust gepackt.
Ich hab die Geschichte jetzt gerade in ein paar Stunden verfasst, d.h. ich hatte vlt keine nötige Distanz beim Korrekturlesen, aber ich wollt sie trotzdem schon jetzt posten

Auf jeden auch noch so kurzen Kommentar und möglichst viel Feedback freut sich

betty

 
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Hallo bettyboops,
Du kannst gut schreiben und machst das sicher gerne. Trotzdem ist mein Eindruck, dass diese Geschichte stark gekürzt werden sollte. Es sind zu viele Details beschrieben, die das Wesentliche verdecken.
Beispiele

Der Frühling war definitiv ein heißer, doch ob dies auf einen noch heißeren Sommer hoffen ließ, das wusste Illy nicht.
Der erste Satz regt nicht zum Weiterlesen an. Vielleicht könnte man den heissen Frühling kurz beschreiben, wenn es Dir wichtig ist. "Die Liebespaare gingen diesen Frühling früher in den Wald, ... Oder: Der Frühling war heiss, ...
ohne Gespräche in denen sie erklären musste,
Komma hinter Gespräche.
Alleine, höchstens umgeben von ein paar zuckerigen Wolken oder hübschen Schmetterlingen mit malerischen Flügeln.
Dieser Satz enthält für mein Empfinden zu viele Adjektive. Was sind zuckerige Wolken? Schmetterlinge sind fast immer hübsch, daher kann "hübsch" gestrichen werden.
Illys Schaukel befand sich im Nichts. Es war natürlich nicht wirklich Nichts, aber es war ein alter Bolzplatz, auf dem schon längst eine Siedlung von Einfamilienhäusern hätte errichtet werden sollen.
Finde ich umständlich formuliert. Eine Schaukel im nicht wirklichen Nichts?
Dieses Unternehmen war jedoch aus Illy unbekannten Gründen, die ihr aber sehr willkommen waren, in der Planungsphase steckengeblieben.
Wie können unbekannte Gründe willkommen sein.
und Illys Schule sich genau 3 drei Gehminuten vom Nichts entfernt befand.
Würde ich streichen. Unwichtig. Nichtssagend. Ebenso die folgenden Sätze kürzen.
Illy schaukelte nicht jede Minute jeder Mittagspause, aber jede Mittagspause mindestens einmal.
Kürzen. Es ist klar, dass sie nicht jede Minute schaukelt.
Dieses Schaukeln soll, wie ich verstehe, irgendwo im Nichts stattfinden. Es wäre für mich verständlicher, wenn das Nichts zu "Etwas Mehr" werden würde.
Der Regen peitschte gegen die Fensterscheiben und die Kälte draußen hatte diese innen beschlagen lassen.
Ich dachte, wir befänden uns in einem heissen Frühling.
sie hätte gerne weiterdiskutiert über Der geheime Garten.
Das Gefühl eines geheimen Gartens musst Du noch entstehen lassen. Bis jetzt ist da eher ein Nichts.
Lächelnd fing Illy wieder an zu rennen, Pausenhof, Holztische, Drahtzaun, Laufplatz, Holzlattenzaun, nasses Gras, auf zur Linde mit der Schau-
Soll sicher Schaukel heissen.
Gegen Ende hin habe ich schneller gelesen. Ich denke, dass massive Kürzungen dem Text gut täten, besonders die Einleitung sollte "einladend" werden. Das Wesentliche, das was Du sagen willst, kommt noch nicht in den Vordergrund. Mit einem kürzeren Text wirst Du sicher mehr Leser anlocken.
Viele Grüsse und herzlich willkommen
Fugu

 

Hey bettyboops,

hat ein bisschen gedauert, aber jetzt biste dran! Erste Geschichte? Auf jeden Fall merkt man der Geschichte an, an Du Freude dran hattest, sie zu schreiben, dass Dir ganz viel durch den Kopf flog und Du das alles festhalten wolltest und zu Papier bringen und den Leser auf eine Reise durch deinen Kopf mitnehmen wolltest. Das ist erst mal gut. Auch erzählst Du sehr szenisch, was perfekt ist, und damit erhebst Du Dich aus einer Unmenge Erstgeschichten schon mal hervor. Aber, jaja, es kommt, jetzt müsste man sich hinsetzen und Handwerk lernen. Ist ähnlich wie bei einem Musikinstrument. Du hast ein gutes Gehör und ein gutes Rhythmusgefühl, aber jetzt muss man eben lernen Klavier zu spielen und pauken und üben und pauken und üben.

Lektion eins - Fugusan hat es schon gesagt - kürzen. Frag Dich bei jedem Satz, ob er wichtig ist, ob er den Leser weiter bringt, die handlung und die Geschichte vorantreibt. Es ist normal, dass der Text in der Erstfassung deutlich länger ist, als das was am Ende übrig bleibt. Aus einem 800 Seiten Roman können locker auch nur 300 übrig bleiben. Ähnlich bei Kurzgeschichten. Ich spiele Dir das mal für deinen Anfang durch:

Der Frühling war definitiv ein heißer, doch ob dies auf einen noch heißeren Sommer hoffen ließ, das wusste Illy nicht. Sie wünschte jedoch, dass es so sein würde, denn verregnete Nachmittage und wolkenverhangene Himmel mochte sie nicht besonders gerne.

Wichtig? Vielleicht für die Figur, um Illy dem Leser vorzustellen, aber es ist nicht besonders reizvoll eine Geschichte zu lesen, die damit beginnt, XY mochte den Frühling. Das weckt kein Interesse beim Leser, weil, viele Menschen mögen den Frühling. Das ist normal und normal fasziniert den Leser nicht. Das soll der Anfang aber tun. Wir leben in einem Zeitalter, wo der Klick mit der Maus auf die nächste Geschichte nicht mal eine Sekunde dauert. Und die Konkurrenz ist groß. Weiter ...

Illy entschied sich jedoch dazu, einfach das Hier und Jetzt zu genießen, die wärmere Jahreszeit, die sich in so grellen Farben und süßem Vogelgesang ankündigte, und zog ihren Pullover aus, bevor sie ihn vor sich auf den Boden warf. Sie umklammerte fest die Eisenketten der Schaukel und stieß sich ab, holte Schwung und flog höher, höher, höher.

Abgesehen von den ganzen stilistischen Dingen, die hier bisschen ... naja, dass kommt später. Wir suchen immernoch einen Anfang und etwas wichtiges. Schaukel ist wichtig. Schaukel ist sehr wichtig für deine Geschichte. Beginnen wir also mit der Schaukel.
Früher, als sie noch kleiner waren, war Illys größerer Schwester Rebecca immer die Aufgabe zugefallen, sie von zu hohem Schaukeln abzuhalten. „Denn wenn du zu hoch schaukelst, dann überschlägst du dich, und das willst du doch nicht, oder? Oder??“ Es war wahrlich kein leichtes Los, das Rebecca mit ihrer kleinen Schwester gezogen hatte. Das sah diese jetzt ein, ...

Nette Anekdote, die brauchen wir vielleicht noch.

... und jetzt wo sie älter war, verbrachte sie ihre Zeit sowieso lieber alleine, frei von allen Ablenkungen, ohne Gespräche in denen sie erklären musste, was sie soeben doch schon gedacht hatte, alleine in der ruhigen Stille mit sich selbst.

Nicht machen. Nicht eine Figur vom Erzähler erklären lassen. Die leser wollen die Figur erleben, da brauchst keinen, der die totlabbert. Streichen wir. Das bekommt der Leser im weiteren mit, wenn Illy am liebsten allein ist, da gibt es genügend Szenen in deiner Geschichte, wo das perfekt rüberkommt. Auch ganz ohne Erzähler.

Wenn Illy nur lange genug auf ihrer Schaukel saß, dann vergaß sie ebendiese Tatsache, nämlich dass sie auf einer Schaukel saß. Sie sah nur auf die wild wuchernden Gräser unter ihr und die Pappeln in der Ferne, und natürlich in den Himmel. Illy liebte den Himmel, denn er konnte so unendlich strahlend blau sein, und ein bisschen war er auch wie sie selbst. Alleine, höchstens umgeben von ein paar zuckerigen Wolken oder hübschen Schmetterlingen mit malerischen Flügeln.

Wir nehmen die Details aus diesem Absatz und streichen wieder den erklärenden Erzähler.

Den nächsten Absatz erkläre ich nicht weiter. Alles raus, was erklärender Erzähler ist, was nicht die Handlung vorwärtsbringt, was die Figur ausmacht, also, fast alles. Könnte bleiben:

Illy zog ihren Pullover aus und warf ihn vor sich auf den Boden. Fest umklammerte sie die Eisenketten der Schaukel, stieß sich ab, holte Schwung und flog. Sie sah die wild wuchernden Gräser unter sich, die Pappeln in der Ferne und natürlich in den Himmel. "Wenn du zu hoch schaukelst, dann überschlägst du dich!" Wie oft hatte ihre ältere Schwester Rebecca das zu ihr gesagt? Hundert Mal? Tausend? Illy lachte.
Ihre Schaukel stand auf einem alten Bolzplatz mit Zaun drumrum, weil hier irgendwann einmal Häuser gebaut werden sollen. Dieser Ort war Illys Nichts. Hier gab es keine Kinder, Rentner, Hunde, Schulkameraden oder hektische Erwachsene. Hier gab es nur die Wiese, die Schaukel, eine Linde und sie. Täglich in der Mittagspause zwängte sich Illy durch die lose Latte im Holzzaun, der den Schulhof vom alten Bolzplatz trennte, und genoss die Freiheit auf dieser Seite des Zaunes.

So, dass wären die Infos, die der Leser wirklich braucht, um Dir und der Geschichte weiter folgen zu können. das war ziemlicher Kahlschlag. Ich entschuldige mich dafür bei Dir. Natürlich kann man das alles ausschmücken, aber weniger ist oft mehr, das haben hier alle lernen müssen und das lernt man irgendwann auch, wenn man sich ein wenig mit dem Schreiben beschäftigt.
Lektion eins: Kürzen. Versuch es mal. Und wenn dabei nicht ganz soviel rauspurzelt wie bei mir jetzt, egal, dein text, Du darfst ihn behalten oder streichen, wie es dir gefaällt. Aber, wenn du unnötige Dinge rausnimmst, gewinnt der Text an Intensität. Probiere es aus und vergleiche, du wirst sehen, der Text gewinnt dadurch und Du somit Leser.

Inhaltlich. Ich habe das am Ende nicht ganz gerafft. Also Illy verliebt sich in Elena, die beiden werden auch zärtlich miteinander, dann hat Elena einen Freund, verlässt also Illy und in Illy wird dadurch etwas wieder zum Leben erweckt. Sie will keine Einsiedlerin mehr sein. Warum? Warum ist der Fortgang von Elena für sie ein Gewinn und kein Verlust?
Da fehlt mir ein wenig, was Elena da in ihr bewirkt. Ansonsten ist es eine sehr rührende Geschichte über das erste Verliebtsein, über ein Mädchen, das sich zurückzieht, um irgendwann aus ihrem Kokon zu schlüpfen und mitten im Leben zu stehen. Mir gefiel das gut. Jetzt ist nur noch an Dir, dich durch die Hölle zu begeben und trockenes, stupides Handwerk zu lernen. Vielleicht hast Du Lust drauf. Vielleicht auch nicht. Auf jeden Fall wünsche ich Dir viel Spaß am Schreiben, wie auch immer ;).

Beste Grüße, Fliege

 

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