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Serie Das Floß

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29.03.2013
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Das Floß

Der blaue Wurm wand sich zwischen seinen Fingern. Die Spitze des Angelhakens glänzte im Licht der untergehenden Sonne, und Toms Zungenspitze glitt auf seiner Unterlippe hin und her.
„Halt still, Mistvieh“, flüsterte er und wunderte sich einmal mehr darüber, wie schwer es war, die feste Haut der Würmer zu durchbohren. In dem mit Wasser gefüllten Bottich neben ihm schwammen lediglich zwei Dornenfische. Vor seinem inneren Auge sah Tom sie in der Pfanne zu einem Nichts zusammenschrumpfen.
Schließlich gelang es ihm, den Köder zu befestigen; er warf ihn ins Wasser, wickelte die Angelschnur einige Male um seine rechte Hand und wartete. Der Schatten der Berge wanderte langsam über das Floß. Als schließlich das Ufer zu seiner Linken im Dunkel versank, und er seine Hoffnung auf ein opulentes Abendmahl bereits begraben hatte, zuckte die Schnur. Na also, dachte er beim Anblick des stattlichen Barschs, der Sekunden später im Zwielicht auf den Planken zappelte.
Nachdem er den Fisch in den Bottich geworfen und die Schnur aufgewickelt hatte, erhob er sich und machte sich auf den Weg zu seiner winzigen Hütte am Bug des Floßes. Als er an den verkohlten Überresten des Käfigs vorbeikam, setzte er den Eimer ab und sah einigen Kindern zu, die in der Asche herumstocherten, auf der Suche nach Schädeln und anderen halbwegs gut erhaltenen Knochen.
Den Anblick der bizarren Gestalten, die sich, als er vor drei Tagen an Bord gekommen war, im flackernden Licht der Feuerschalen hinter den Gitterstäben gedrängt hatten, würde er so schnell nicht vergessen können. Die Untoten hatten auf dem Floß anscheinend seit Tagen für Streit gesorgt und Reisende sowie die Besatzung in zwei Lager gespalten. Schließlich war der Käfig in der vergangenen Nacht von Unbekannten in Brand gesteckt worden. Morin, der Floßmeister, den Tom in Verdacht hatte, zu den Gegnern der Transporte zu gehören, hatte sich keine große Mühe gegeben, die Brandstifter ausfindig zu machen. Nach außen hin gab er sich neutral, wie es sich für einen Floßmeister gehörte, aber aus gewissen Äußerungen, die er abends in der Spelunke am Kuru-Ob, dem Gemeinschaftshaus von sich gegeben hatte, schloss Tom, dass Morin die Anwesenheit der Toten auf dem Floß nicht billigte.
„Vollkommen sinnlos“, hatte er getönt, „diese Monster zu untersuchen. Eine Medizin gegen die Seuche? Lächerlich – man muss die verfluchten Dinger auf der Stelle vernichten, wo sie auch auftauchen. Dann wird sich das Problem von allein lösen, da bin ich mir sicher.“

Tom nahm den Bottich wieder auf und ging weiter, vorbei an den vielen kleinen und großen Hütten, die scheinbar wahllos verteilt waren. Am Himmel funkelten die ersten Sterne. Der Wind hatte nachgelassen. Der Dreimaster, der das riesige Floß übers Wasser schleppte, ragte über der glatten Wasserfläche auf wie ein Turm aus Segeltuchfetzen. Tom hörte, wie der Befehl zum Ankern gegeben wurde, gleich darauf das Rasseln der Ketten und den Aufprall von Bug - und Heckanker auf dem Wasser. Nicht mehr lange, und die ersten Nebelschwaden würden aufsteigen.

„Na, Glück gehabt?“ Roona warf einen Blick auf den Kübel und verschwand, ohne seine Antwort abzuwarten, in der winzigen Hütte.
„Ein Barsch, immerhin. Besser als nichts.“
„Was gäbe ich für ein anständiges Stück Fleisch“, sagte Roona, als sie mit einer Laterne, in der mehrere Kerzen brannten, zurückkehrte. „Sieh mal, ich habe die Hornplatten abgeschliffen. Jetzt haben wir’s wieder hell.“ Sie befestigte die Ampel an einem Stock, der aus der Hüttenwand ragte, drehte sich zu ihm um und breitete die Arme aus. Als sie Toms Blick sah, der unwillkürlich zu ihrem linken Arm wanderte, lächelte sie. „Du wirst dich schon noch daran gewöhnen, mein Lieber. Es ist eben, wie es ist.“
„Ich wollte nicht unhöflich sein, und…“
„Das weiß ich doch“, unterbrach sie ihn. „Ich bin’s gewohnt, angestarrt zu werden, glaub mir. Und in ein paar Tagen musst du den Anblick ja nicht mehr ertragen.“ Sie wedelte anmutig mit ihrer Knochenhand vor seinem Gesicht herum und hielt dann ihren Arm vor die Laterne. Ihr Oberarmknochen sowie Elle und Speiche waren mit einem dünnen Stoff umwickelt, dessen blaue Farbe einen kräftigen Kontrast zu ihrem dunkelroten Wams bildete.
„Vielleicht ist es besser, wenn du deinen Umhang wieder überziehst“, sagte Tom. „Es gibt einige an Bord, die auf so einen Anblick merkwürdig reagieren könnten.“
Nicht viele hatten die Berührung eines Untoten überlebt. So viel Tom wusste, waren es nur drei. Zwei Brüder aus den Sandländern im Süden, und Roona. Aus irgendeinem Grund waren sie nicht gestorben, sondern es wurden nur die Teile ihres Körpers von der Seuche befallen, die berührt worden waren. Das Fleisch war innerhalb weniger Wochen verdorrt und schließlich abgefallen. Nur Knochen und Sehnen waren übriggeblieben. Roona hatte Glück gehabt, die Brüder weniger. Beide trugen nun einen blanken Schädel auf den Schultern, hatten sich dem fahrenden Volk angeschlossen und stellten sich gegen Bezahlung zur Schau.
Ihre Unbekümmertheit war gespielt, da war Tom sich sicher. Wenn sie sich unbeobachtet glaubte, wurde ihr Gesicht hart und abweisend. Er sah sie immer noch vor sich, wie sie, kurz nach ihrer Ankunft auf dem Floß, lange vor dem Käfig gestanden und die bedauernswerten Kreaturen angestarrt hatte.

Morin ließ sein Fernrohr sinken. „Sieh mal einer an. Ich dachte gleich, dass mit den beiden was nicht stimmt.“
„Gib her“, sagte Voor. „Ist ja kaum noch was zu sehn.“ Der Bruder des Floßmeisters bemühte sich, das Glas ruhig zu halten. Trotz der Dunkelheit sah er den Zwischenraum zwischen Elle und Speiche von Roonas Arm, als sie diesen vor die Laterne hielt. „Ah, ich verstehe, dieses verdammte Weib…“
Nachdem sie vom Dach des Kuruh-Ob geklettert waren, betraten die Brüder die danebengelegene Kaschemme. Beim Anblick der lärmenden Preisboxertruppe, die den Großteil des Schankraums in Beschlag genommen hatte, verdunkelte sich Morins Gesicht. Verfluchtes Pack, dachte er. Nicht mehr lange, dann fangen sie an, Tische und Bänke zu zerlegen. Voor, der die Gedanken seines Bruders erriet, zerrte ihn weiter bis zu einer Tür neben der Theke. Er versetzte dem Hundling, der dort lag und scheinbar seinen Rausch ausschlief, einen Tritt.
„Verschwinde, du Abschaum!“ Der Hundling erhob sich knurrend, machte aber keine Anstalten, die Schenke zu verlassen, sondern wartete ab, bis die Brüder die Tür hinter sich geschlossen hatten und legte sich unmittelbar neben der Tür wieder hin. Den Kopf presste er fest an die Wand. Nur ein aufmerksamer Beobachter hätte das Zittern seiner Lefzen bemerkt.

Tom stellte die Pfanne neben der Feuerschale ab. Roona rülpste dezent.
„Nicht besonders damenhaft, wenn ich das sagen darf.“
„Damenhaft?“ Roonas Knochenhand bedeckte ihren Mund. „Ist es so besser?“
„Was wirst du tun, nachdem ich dich abgeliefert habe?“
„Abgeliefert…“ Sie legte den Kopf in den Nacken, schloss die Augen und schwieg. „Ich weiß es nicht“, sagte sie schließlich. „Vermutlich hat mein Vater jemanden gefunden, der bereit ist, mich zu heiraten. Trotz meines kleinen Schönheitsfehlers.“ Sie lachte kurz und bitter. Tom wusste nicht, was er sagen sollte. Er erhob sich, nahm die Pfanne und wusch sie im Wasser aus. Neben ihm ragte einer der beiden Poller, an denen die Schlepptrossen festgemacht waren, in den Nachthimmel. Es war still geworden auf dem Floß. Die Hitze des Tages ließ langsam nach und in den Wäldern kehrte Ruhe ein.
Er hörte einen dumpfen Aufprall, als sei jemand gestürzt.
„Tom?“ Ihre Stimme klang aufgeregt. Tom umfasste den Pfannenstiel fest und eilte zurück zur Hütte. Roona kauerte auf dem Boden. Neben ihr krümmte sich ein zerlumptes, formloses Bündel. Es war ein Hundling, der nach Luft schnappte und seine dicht behaarte Kehle rieb. Tom legte die Pfanne ab, beugte sich hinunter und sah dem Hundling ins Gesicht.
„Was soll das? Wieso schleichst du hier herum?“
„Ich bin nicht geschlichen“, beteuerte das Wesen.
„Kann sein, dass ich ein wenig vorschnell war“, gab Roona zu. „Ich bin ein bisschen nervös, Kleiner.“
„Also, ich frage dich nochmal: Was willst du hier? Soviel ich weiß, haust deine Sippe am Heck bei den Preiskämpfern.“
„Mein Name ist Tyras“, sagte der Hundling, „ich bin gekommen, um euch zu warnen.“
„Zu warnen? Vor wem?“
„Der Floßmeister, sein Bruder und noch ein paar Andere wollen euch ans Leben.“ Tyras schilderte, was er, an der Wand neben der Schanktheke liegend, erlauscht hatte. Tom wusste, dass Hundlinge mit einem äußerst scharfen Gehör ausgestattet waren. Zudem hatte der Kleine etwas an sich, das ihm Vertrauen einflößte. Er half ihm auf.
„Eigentlich haben sie es nur auf deine Begleiterin abgesehen. Wahrscheinlich sind sie schon auf dem Weg.“
Roona verschwand in der Hütte und kehrte mit Toms Lederharnisch, seinem Schwert und ihren eigenen Waffen zurück, einem gebogenen Säbel und einer Streitaxt, deren Griff aus dem Oberschenkelknochen eines ausgewachsenen Höhlenaffen gefertigt war. Der Blick des Hundlings glitt über ihren linken Arm und blieb an der Lederschlaufe des Axtstiels hängen, den sie sich um ihr Handgelenk geschlungen hatte. Knochen an Knochen. Seine Schnauze verzog sich zu einem Grinsen. Nun würde Morin dafür bezahlen, dass er ihn wie Dreck behandelt hatte.
Roona öffnete die Laterne und blies die Kerzen aus. Sie warteten eine Weile, bis sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten.
„Erwarten wir sie hier oder gehen wir ihnen entgegen?“ flüsterte sie.
„Wir warten. Unser Freund hier hat scharfe Ohren, stimmt’s?“
„Oh ja. Ich kann … aber das tut nichts zur Sache. Psst…“
„Was?“

Die Männer gaben sich keine Mühe, besonders leise zu sein. Sie waren zu siebt, die Frau hatte nur ihren Begleiter. Ganz einfach, hatte Morin gesagt. Und sie rechnen nicht mit uns. Wir warten, bis sie schlafen: ein Kinderspiel. Voor gab zu bedenken, dass man den Kerl, der sie begleitete, nicht unterschätzen dürfe. Morin hatte seinen Einwand beiseite gewischt. Ich sage doch: Die werden schlafen. Wie schwer kann es sein, einen Schlafenden zu erschlagen?
Jetzt, nur noch einen Steinwurf von der Hütte der untoten Schlampe entfernt, traten sie dennoch leiser auf, ihr Flüstern verstummte und ihre Fäuste umklammerten die Knüppel fester. Morin glaubte zu sehen, dass die Tür einen Spalt weit offen stand und hob seinen Prügel.

Tom war überrascht, wie schnell Tyras sich bewegte. Lautlos glitt der Hundling auf Morin zu, entriss dem Floßmeister die Keule und verschwand in der Dunkelheit. Bevor die Angreifer reagieren konnten, waren Roona und Tom, die neben der Hütte auf dem Boden gelegen hatten, aufgesprungen. Die Axt in der Linken, den Säbel in der Rechten, vollführte Roona einen kurzen, tödlichen Tanz. Tom schwang sein Schwert mit ebensolcher Präzision, und bevor die Männer begriffen hatten, was ihnen widerfuhr, lagen vier von ihnen leblos am Boden, darunter auch Morins Bruder Voor. Zwei ergriffen die Flucht.
„Lass sie laufen, Tom“, sagte Roona. Der Floßmeister starrte sie entsetzt an und rührte sich nicht. Sein Blick wanderte zum Körper seines Bruders. Das schwache Licht reichte aus, um die klaffende Wunde an Voors Hals zu erkennen. Tom entzündete die Kerzen der Laterne, und Morin wurde gewahr, dass er im Blut seines Bruders stand. Entsetzt machte er einen Schritt rückwärts, als ihn ein kraftvoll geführter Schlag, begleitet von einem tiefen Grollen, in die Kniekehlen traf. Er stürzte zu Boden. Hinter ihm war der Hundling aufgetaucht. Die Lefzen hochgezogen, präsentierte er seine kräftigen, nadelspitzen Zähne. Er schlug ein zweites mal zu, diesmal auf Morins Hinterkopf. Als er ein drittes Mal ausholen wollte, hob Tom die Hand.
„Wir stehen in deiner Schuld, Tyras, aber es reicht wohl, meinst du nicht?“ Der Hundling zuckte mit den Schultern und warf den Prügel ins Wasser.
„Wir sollten uns ein Boot suchen“, mahnte Roona. „Es ist wohl klar, dass wir das Floß so schnell wie möglich verlassen müssen. Dieser Dreckskerl hat bestimmt mehr Freunde, als uns lieb sein kann.“

Als Roona dem Hundling zum Abschied über den Kopf strich, zuckte Tyras leicht zusammen. Misstrauisch beäugte er ihre knöchernen Finger, ließ es aber geschehen.
„Du bist sehr tapfer“, sagte Tom. „Wenn sie die Seuche in sich tragen würde, hätte ich das mitbekommen, glaub mir. Und du bist sicher, dass du auf dem Floß bleiben willst? Wir hätten nichts dagegen, wenn du uns begleitest.“ Roona nickte zustimmend. Tyras senkte seinen Schädel und schloss für einen Moment die Augen. Dann schwang er sich in das Boot und nahm auf der Ruderbank Platz.
„Worauf wartet ihr?“
Mit Roonas Hilfe hob Tom die Truhe mit seinen Habseligkeiten ins Boot, und setzte sich neben den Hundling. Er warf einen letzten Blick auf die leblosen Körper des Floßmeisters und seiner toten Spießgesellen.
„Seht ihr das?“ sagte Roona. „Ich glaube, da kommen sie.“ Dort, wo das Gemeinschaftshaus lag, war der Schein mehrerer Fackeln zu sehen, die rasch näher kamen. Hundegebell war zu hören.
Tom und der Hundling ergriffen die Riemen und tauchten die Ruderblätter in das schwarze, glatte Wasser. Das Spiegelbild des Sternenhimmels zersprang.
Nach kurzer Zeit war die Jolle in der Dunkelheit verschwunden.

„Wir haben das Boot gefunden, Morin. Flussabwärts, nicht ganz einen Kilometer von hier.“ Nossom, aufgrund seiner Hautfarbe die Nuss genannt, ließ sich auf einem Schemel am Bett des Floßmeisters nieder. In der Eile des Aufbruchs hatten die drei Flüchtigen ein Kleidungsstück zurückgelassen, das es den beiden Bluthunden Nossoms ermöglichen würde, die Fährte der Mörder von Voor und den anderen Männern aufzunehmen. Die gewaltigen Tiere kauerten neben Morins Lager. Ihre schuppigen Schwänze schabten über die Planken.
„Gut. Auf welcher Seite?“
„Unterhalb der großen Mauer; etwa da, wo sie eingestürzt ist.“ Nossom strich einem der Hunde über den Kopf. „Das wird nicht einfach, aber wir haben diesen Lumpen, und dann ist da noch der verdammte Hundling. Der Kerl stinkt meilenweit gegen den Wind. Kein Problem für die beiden hier.“
Morin richtete sich mit schmerzverzerrtem Gesicht auf.
„Ihr macht euch sofort auf den Weg. Wie viele hast du aufgetrieben?“
„Zwanzig. Es sind auch einige der Preiskämpfer mit von der Partie. Als sie von der Belohnung gehört haben, wollte gleich die ganze Truppe mitmachen“. Die Nuss stieß ein heiseres Gelächter aus. „Ich habe die besten fünf ausgesucht.“



„Wir hätten das Boot zerstören sollen, Tom“, sagte Roona.
„Und wir hätten den Floßmeister töten sollen“, fügte der Hundling hinzu. „Der Kerl wird nicht locker lassen, bis er uns gefunden hat.“
Die beiden hatten Recht. Seit sie durch die Lücke in der Mauer gestiegen waren, hatte Tom fieberhaft überlegt, wie sie weiter vorgehen sollten. Dass Morin sie verfolgen würde, war gewiss. Tyras hatte ihm von den Bluthunden und den fantastischen Geschichten, die man sich auf dem Floß über sie erzählte, berichtet.
„Das Klügste wäre demnach, ich würde dich den Berg hoch tragen, damit die Viecher deine Witterung nicht aufnehmen können, oder?“
„Klug wäre es, diese Kiste stehen zu lassen, damit wir …“ – „Keinesfalls“, unterbrach Tom den Hundling. „Was auch immer geschieht, diese Truhe wird nicht zurückgelassen.“
„Aber lass sie uns einen Moment absetzen“, sagte Roona. „Dort drüben, unter den Bäumen.“
Es war die Stunde der kleinen Schatten. Die gläsernen Dornen des Tongmooses, das an dieser Stelle nahezu den gesamten Hang bedeckte, reflektierten das Licht der Sonne so stark , dass der Boden unter ihren Füßen zu brennen schien. Sie alle kannten die Geschichten von Az-han-Serudd, einer weitläufigen, vollkommen baumlosen Ebene im Zentrum des Wurmlandes. Im Umkreis von vielen Kilometern wuchs dort nichts als Tongmoos. Wer sich dort um die Mittagszeit aufhielt, wenn die Sonne im Zenit stand, tat gut daran, seine Augen zu schützen, wenn er nicht Gefahr laufen wollte, zu erblinden. Im Schatten der Bäume, die den Hang säumten, ließen die drei Gefährten sich nieder und verfolgten das seltsame Schauspiel mit zusammengekniffenen Augen.
„Seht mal“, sagte Tyras und deutete auf eine schwankende Gestalt, die aus dem gegenüberliegenden Wald stolperte und den gleißenden Hang betrat. Ihre Bewegungen waren unbeholfen, wie die eines Betrunkenen. Von der Hüfte an abwärts verschwand der Körper im strahlenden Licht des Mooses. Tom sah, dass der rechte Arm der Gestalt verstümmelt war und ihr Kopf unnatürlich hin und her pendelte. In der Mitte des Hanges angekommen, blieb sie stehen. Der Hundling knurrte leise und stand auf. Seine Nackenhaare hatten sich aufgerichtet und wölbten den Kragen seiner dünnen Lederweste.
„Keine Gefahr“, flüsterte Roona. „Es ist nur einer. Wir können ihm problemlos ausweichen.“
„Keine Gefahr?“ erwiderte Tyras. „Und warum flüsterst du dann?“
Der Tote setzte sich erst wieder in Bewegung, als die Sonne hinter einer Wolkenbank verschwand und das Tongmoos zu leuchten aufhörte. Er taumelte hangabwärts, auf die Lücke in der großen Mauer zu. Tom sah, dass Roona ihre Lippen aufeinander presste und die Kreatur nicht aus den Augen ließ, bis sie hinter den efeubewachsenen Trümmern verschwunden war.

Eine Stunde später erreichten sie einen Trampelpfad dicht unterhalb des Bergkamms. Von hier aus konnten sie weite Teile des mächtigen Flusses überblicken, und die Savanne, die sich hinter der gegenüberliegenden Hügelkette bis zum Horizont erstreckte. Tom sah seine Befürchtungen bestätigt. Der Dreimaster und das Floß waren dort, wo sie an Land gegangen waren, vor Anker gegangen. Das Ufer wurde von den Bäumen unterhalb der Mauer verdeckt, aber er war sicher, dass ihre Verfolger bereits an Land gegangen waren. Warum nur war keiner von ihnen auf die Idee gekommen, die Jolle zu versenken?
„Und nun?“ sagte Roona. Der Hundling stieß ein heiseres Lachen aus. „Also, wenn wir nicht wollen, dass uns dieses Pack in den nächsten Tagen auf den Fersen bleibt, dann schlage ich vor, dass wir unseren Vorteil nutzen.“
„Was meinst du? Was für einen Vorteil?“
„Wir sind hier oben. Die sind da unten. Irgendwie muss es doch eine Möglichkeit geben, sie gebührend zu … empfangen.“ Der Kleine hat natürlich recht, dachte Tom. Er setzte sich auf seine Truhe und betrachtete die Umgebung. Felsen, vereinzelte Bäume, Sträucher. Ein Zalakvogel, der eine große Schnecke im Schnabel hielt, breitete seine ledernen Schwingen aus, erhob sich in die Luft und ließ das Schneckenhaus aus großer Höhe auf ein Felsstück fallen, wo es zerbarst. Tom sah ihm dabei zu, wie er das Innere der Schnecke verspeiste.
„Ich glaube, da kommen sie“, sagte Roona und deutete nach unten. Tom öffnete die Kiste und nahm sein Glas heraus. Er zog es auseinander und sah hindurch.
„Ja, das sind sie, ohne Zweifel.“
„Wie viele sind es?“, wollte Tyras wissen.
„Etwa zwanzig, denke ich. Aber mir ist da gerade eine Idee gekommen.“
„Und?“
Tom antwortete nicht, sondern begann in seiner Truhe zu wühlen und förderte nach kurzer Zeit einen fest verschnürten Lederbeutel sowie ein zusammengerolltes Stück Lunte zutage.
„Ich war mir nicht sicher, ob ich noch einen Rest davon habe“, sagte er mit einem zufriedenen Lächeln. „Wisst ihr, was das ist?“
„Schießpulver?“ sagte Roona.
„Etwas ähnliches – schwarzes Feuerkorn. Genug, um diesen Felsen dort zu sprengen, versteht ihr? Morins Leute werden unserer Spur folgen und demnach geradewegs den Hang empor klettern. Die Felstrümmer werden die Steine auf dem Hang mit sich reißen und… “ - „ …sie zermalmen“, ergänzte der Hundling begeistert.
„Ich würde mich beeilen“, sagte Roona nach einem kurzen Blick durch Toms Glas. „Wir haben vielleicht noch eine halbe Stunde. Sie sind schnell.“

Die Hunde winselten und zogen ihren Herrn mühelos den Hang hinauf. Nossom feuerte die Männer an und wies immer wieder auf die ansehnliche Belohnung hin, die Morin ausgelobt hatte. Die Preiskämpfer, Hünen mit vernarbten Gesichtern, trugen im Gegensatz zu den Anderen keinerlei Waffen und vertrauten ganz auf ihre gewaltigen Muskeln. Es waren schlichte Gemüter, und Nossom gedachte sie an vorderster Stelle in den, wie er hoffte, kurzen Kampf zu schicken. Sie würden die drei Flüchtigen beschäftigen, und seinen Leuten Gelegenheit geben, ihre Schwerter, Lanzen und Knüppel einzusetzen.
Auf halber Höhe des Hanges legten sie eine Rast ein. Die Nuss setzte sich auf einen Stein und rang nach Atem. Natty, der Spelunkenwirt, setzte sich zu ihm. Er deutete auf die Bresche in der Mauer.
„Sieh mal, da unten.“
„Was ist da?“ fragte die Nuss.
„ Siehst du den umgestürzten Baum neben der Öffnung? Da bewegt sich was.“
„Du hast recht. Das sieht beinahe aus wie … verdammt, ist das etwa eine tote Mißgeburt? Ruten, komm mal her!“ Aus der Gruppe löste sich ein hagerer Kerl und eilte herbei.
„Du hast doch gute Augen, Ruten. Was ist das da unten?“
Ruten kniff die Augen zusammen und starrte hinunter. Einer nach dem anderen erhoben sich die Männer und gesellten sich zu ihnen.
„Ein Toter“, sagte Ruten schließlich.
„Bist du sicher?“
„Ganz sicher.“
„Nur einer?“
Gerade, als Ruten ‚nein, da sind noch andere‘ sagen wollte, erschütterte eine gewaltige Explosion die Stille. Sekunden später war die Luft erfüllt von einem infernalischen Pfeifen, Poltern und Dröhnen. Felssplitter regneten auf sie herab und in einer gewaltigen Staubwolke sauste eine Gerölllawine auf sie zu. Ungläubig starrte die Nuss auf das heranrasende Unheil. Die Bluthunde zerrten mit aller Kraft an ihren Riemen und rissen ihn von den Beinen. Er sah, wie Nattys Kopf von einem Stein zermalmt und Rutens Oberkörper unter einem Felsbrocken verschwand. Die Luft war erfüllt von Staub, Blut und dem Geschrei der Männer. Krampfhaft umklammerte er die Lederriemen. Er versuchte, den Kopf zu heben, und sah einen mannshohen, gezackten Stein auf sich zu rasen.

Die Nuss erwachte, als etwas an seinem Gesicht herum zupfte. Er verspürte keinerlei Schmerzen und gab sich für Sekunden der Illusion hin, verschont geblieben zu sein. Seine Lider flatterten; als er den Mund öffnete, um Luft zu holen, explodierte etwas in seinen staubgefüllten Lungen. Er schlug die Augen auf und blickte in ein graues, verdorrtes Gesicht. Finger drängten sich zwischen seine Lippen und zwangen seine kraftlosen Kiefer auseinander.

 

Sorry, hat eine Weile gedauert, und ich denke, ich lasse es jetzt mal dabei. Das Gemeinschaftshaus hat nun einen Namen, und die leidige Stelle mit dem Knüppel, den der Hundling 'hob', habe ich geändert. Klingt jetzt ein bisschen besser, aber so ganz zufrieden bin ich noch nicht.Natürlich kann man immer wieder was ändern und verbessern, aber einmal muß Schluss sein, würde ich sagen.
Herzlichen Dank noch mal an alle, die mich auf Schwächen hingewiesen oder einfach nur kommentiert haben.
Schöne Grüße
Harry

 

Hallo Harry!

Ich kann Dir leider noch nicht viel konstruktive Kritik bringen, ich möchte einfach mal anmerken, dass mir die Art wie Du Dialoge einbaust sehr gut gefällt und ich sie mir als Vorbild genommen habe.

LG

 

Hallo einszwo!
Zunächst mal danke ich Dir für dein Lob bezüglich meiner Dialoge. Freut mich wirklich sehr.
Ich selber bin auch nicht gerade ein Weltmeister im kommentieren, aber Du gehst ja wirklich sehr zaghaft vor, was das angeht. Tu dir da bloß keinen Zwang an, hier kochen alle nur mit Wasser. Du hast nix zu verlieren. Schreib, wenn dir was gefällt, und schreib, wenn du was schlecht findest. Mach auf Fehler aufmerksam. Fast jeder freut sich, wenn er auf Flüchtigkeitsfehler, Kommafehler, Groß- und Kleinschreibung, Logikfehler u.s.w.hingewiesen wird. Und auf jeden Fall freut sich jeder über ein Lob. Also, trau dich ruhig!
Schöne Grüße
Harry

 

Hi Harry,
Einmal ein dickes Lob, wie du die Geschichte beginnst, wie du die Personen beschreibst und auch für die Idee mit dem riesigen Floß. Der Anfang mag als Beispiel dienen, wie man eine Geschichte erzählt und mit der Handlung die Hintergründe einführt: Das Floß, die Untoten usw.
Mit dem Ende, bin ich so wie andere Leute auch, unzufrieden. Es wirkt wie ein Bruch oder anders gesagt, als wäre das erste Kapitel zu Ende geschrieben und die Geschichte ginge weiter. Also mehr der Anfang eines Romans als eine abgeschlossene Kurzgeschichte.

lg
Bernhard

 

Hallo Bernhard!
Ich hab mich sehr über Deine freundlichen Anmerkungen zum Floß gefreut. Danke dafür. Was Du über den Anfangsteil schreibst, ist ja sehr schmeichelhaft. Das Ende – es gab ja durchaus auch Stimmen, die sich damit anfreunden konnten. Aber dass die Story so abrupt zu enden schien, war wirklich für viele ein Manko, was ich schon verstehen kann. Ich habe blöderweise versäumt, das Ganze (‚Der Duft der Toten‘ gehört auch dazu) als Serie zu kennzeichnen. Wie ich das nachträglich machen kann, weiß ich nicht. Ich wäre für einen Tipp dankbar.
Es wird also eine Fortsetzung zum Floß geben, wie ich schon einige Male geschrieben habe. Der Anfang ist bereits gemacht, aber es wird noch eine Weile dauern, bis ich sie reinstellen kann. Dank Dir nochmal für das dicke Lob. Tut gut,sowas.
Herzliche Grüße
Harry

 

Hallo Maria,
Soso. Du schreibst, du hättest nicht aufhören können, zu lesen; die Story sei geflutscht wie ein gutes Abführmittel. Immerhin ist sie Dir dann ja nicht am Arsch vorbeigegangen, was mich sehr freut.

Und als sie plötzlich an Land waren, das habe ich nicht sofort begriffen, weil ich vor Augen immer nur die endlose See hatte und nicht ein Stückchen Land.
Vielleicht hat das Abführmittel zu schnell gewirkt, sonst wär dir nicht entgangen, dass es bereits am Anfang heißt
Der Schatten der Berge wanderte langsam über das Floß. Als schließlich das Ufer zu seiner Linken im Dunkel versank, und er seine Hoffnung auf ein opulentes Abendmahl bereits begraben hatte, zuckte die Schnur.

Du hast recht, man hätte die Funktion des Floßes, seine Ausdehnung, Besatzung etc. ausführlicher beschreiben können. Ich hatte von Anfang an allerdings was Kurzes im Auge, habe aber schnell gemerkt (etwa, als der Hundling auftaucht), dass ich Lust bekam, einen zweiten (etwas längeren)Teil dranzuhängen.
Zu interpretieren gibt’s eigentlich nicht viel, z.B. was die Truhe angeht. Was spricht dagegen, die Leser mal ein bisschen rätseln zu lassen? In der Vorgängergeschichte ‚Der Duft der Toten‘ kommt sie bereits vor. Aber weil ich zu dämlich war, das als Serie zu kennzeichnen, gibt’s natürlich immer wieder Kritik über Unklarheiten und abruptes Ende usw. Ich werde versuchen, das nachträglich irgendwie hinzukriegen, wenn ich auch noch nicht weiß, wie.
Was die ‚Schlampe‘ angeht: Ich entwerfe doch keine weibliche Protagonistin detailliert und liebevoll, um sie dann plötzlich als Schlampe zu bezeichnen. Wenn das allerdings so missverständlich rüberkommt, und noch mal jemand das bemängelt, werd ich’s vielleicht ändern. Für mich allerdings ist klar, dass das die Gedanken der durch die Nacht schleichenden bösen Buben sind.
Und übrigens: wenn man Zombies generell Scheiße findet, sollte man einfach aufhören zu lesen, sobald die Brüder auftauchen.
Auf jeden Fall danke ich Dir für deine Zeit, für’s Lesen und kommentieren.Hat mich gefreut.
Herzliche Grüße
Harry

 

Hallo Maria,
alles gut – ich war nicht wütend. Und wenn, dann hättest Du das gemerkt.
Aber ich habe blöderweise ‚awesome‘ mit awful verwechselt, und bin davon ausgegangen, dass Du Zombies nicht abkannst. Schön, dass das nicht der Fall ist. Ignorier das

Und übrigens: wenn man Zombies generell Scheiße findet, sollte man einfach aufhören zu lesen, sobald die Brüder auftauchen.
also bitte Deinerseits.
Schöne Grüße
Harry

 
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