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Copywrite Es ist vollbracht

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06.08.2005
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Es ist vollbracht

Sommer. Ein feuchter Film auf der Haut, trotz der dicken Mauern des Gebäudes. Nur noch drei Stunden, dann sind Ferien. Große Ferien, besonders für mich. Ich räuspere mich, bevor ich das Lehrerzimmer betrete, doch es gibt keinen Grund, nervös zu sein. Sie springen nicht hinter dem Sofa hervor und rufen: „Überraschung!“ Die anderen Lehrer leben ein anderes Leben, in einem anderen Rhythmus. Da ist ihnen der Abschiedstag eines Kollegen nicht so wichtig.

Trotzdem habe ich für jetzt Kuchen und belegte Brötchen bestellt. In der zweiten und dritten Stunde haben einige Freistunden; da können sie noch einmal richtig zulangen. Auch ich greife zu: ein Lachs-Canapée, dazu einen Kaffee. Den Sekt lasse ich unberührt im Kühlfach.

Simon klopft mir freundschaftlich auf die Schulter. „Thomas, jetzt haben Sie es ja fast geschafft!“
„Ja, die letzten Stunden ...“ Ich lächele und hoffe, dass ihm meine Dankbarkeit nicht auffällt.
„Und? Große Pläne für die Zeit danach?“
„Endlich Zeit für den Garten. Meine Rosen, der Teich ... Da ist immer was zu tun.“ Ich strahle und glaube ihm den Neid.“
„Endlich Zeit, ja?“
„Na, so lange dauert es bei Ihnen doch auch nicht mehr!“
Nur eine Mikrobewegung lang Bestürzung, dann steht seine joviale Fassade wieder.

Ich habe nie zu den Lehrpersonen gehört, die ihre Tage in der Schule zählen. Andererseits freue ich mich auf meine freie Zeit. Ich werde mich bestimmt nicht langweilen, habe schon eine neue Astschere gekauft und Pläne für die Umgestaltung gemacht. Trotzdem, ein Teil meines Lebens geht zu Ende, unwiderruflich, ist vorbei. Und wie viel Zeit bleibt? Wie viele Möglichkeiten, mich zu entscheiden? Das hat Fanni immer gesagt. Jahrelang habe ich nicht an sie gedacht. Warum fällt sie mir jetzt ein, heute?

Es war auch im Sommer, vor zehn Jahren. Wir hatten wie immer vorgehabt, unseren Urlaub in Schaffhausen zu verbringen. Nur diesmal war sie dagegen.
„Es muss doch noch etwas anderes geben!“, hatte sie geklagt.
„Aber du liebst doch den Fall. Was hast du geschwärmt von der Wucht der Wassermassen, dieser Kraft ...“
„Das war vor zwanzig Jahren. Das brauche ich nicht jedes Jahr wieder.“
„Aber ... w-was willst du dann?“ Ein leichtes Stottern.
„Etwas anderes, neues. Kreativ sein. Überraschungen.“ Sie kam ganz nah, blickte mir direkt ins Gesicht. „Wo soll dein Leben noch hingehen?“
„Na, die Schule ... Wenn ich pensioniert bin ...“
„Hach!“ Sie hatte sich unwirsch umgedreht, und ich hatte Angst, sie enttäuscht zu haben. Dass ich eine Warnung überhört hatte, erkannte ich erst später.
Ich seufze. Jetzt ist sie bestimmt schon seit sieben Jahren mit ihrem neuen Mann verheiratet.

Meine Augen werden feucht. Das doch nicht jetzt! Wenn mich jemand anspricht? Ich flüchte in das Nebenzimmer, in dem Unterrichtsmaterialien gelagert sind. Muffige Luft empfängt mich, Staubteilchen tanzen im Sonnenschein. Verstohlen schleiche ich durch den Raum, beachte die Gegenstände kaum: das Sonnenmodell mit den Bahnen der Planeten, das Bord mit den Philosophiebüchern des Kollegen Arthur, das Aquarium ... Es ist dicht mit Algen bewachsen, und ich frage mich, wer sich in den Ferien darum kümmern wird.
„Nicht meine Aufgabe“, versuche ich mich selbst zu disziplinieren, bevor die Gedanken wieder rasen auf der Suche nach einer Lösung. Da sehe ich einen Fisch neben dem Behälter liegen, ganz platt, schon ausgetrocknet. „Wieder ein Springer“, murmele ich und rücke die Abdeckung zurück, die die Fische sicher im Glas halten soll. Den kann ich doch nicht so liegen lassen. Ich zupfe ein Papiertaschentuch aus meiner Hose und nehme damit das Tierchen auf, befördere es vor den Augen der anderen in den Abfalleimer des Lehrerzimmers.
„Ach so, ja, das Aquarium ...“, erinnert Simon die Kollegen.
„Alles geregelt, nehme ich mit!“ Benjamin ist einer der jungen Pädagogen.

Damals, bei der Geschichte mit Thomas Adam hatte er sich als patent erwiesen. Der ehemalige Musterschüler war als Fünfzehnjähriger notenmäßig in fast allen Fächern abgerutscht, und er fiel immer wieder durch provokantes Verhalten auch den Lehrkräften gegenüber auf. Als er dann mitten im Unterricht seinen MP3-Player auf laut stellte, sich eine Clownsmaske aufsetzte und den Text von „Dead Body Man „ mitgrölte, gab es eine Klassenkonferenz.
„Dead Bodies, dead bodies in the street,
55 to 65 bodies at least …
Dead bodies, dead bodies in the back of my van,
All the kiddies love the dead body man …”
Hatten wir einen zukünftigen Amokläufer unter uns?

Zu unserem Erstaunen erklärte sich der verstockte Junge bereit zu einem Spaziergang mit Benjamin, und beide verschwanden in seinem Ford Ka. Zwei Stunden später kamen sie zurück, und der Schüler wirkte wesentlich gelöster. Probleme gab es von da ab nicht mehr.
„Wie haben Sie das angestellt?“, fragte ich ein paar Tage später.
„Der Junge brauchte nur mal jemandem zum reden.“ Ben schüttelte den Kopf. „Er war seinem christlichen Kinderglauben entwachsen, und er wollte mit seinen Fragen nicht die Eltern traurig machen.“
„Der ungläubige Thomas?“ Ich grinste. „Kommt mir bekannt vor.“
„Ach so, ja, derselbe Name ...“ Ben lachte. „Eher gottverlassen.“

Ich starre die Uhr an der Wand an und versuche, die Zeiger mit der Kraft meiner Gedanken zu bewegen, wie ein Schüler. Na, zumindest klingelt die Glocke die dritte Stunde ein. Noch eine Freistunde für mich, bevor ich die Zeugnisse ausgeben kann.
Ich ordne die Unterlagen alphabetisch in einer Mappe, beginnend mit "Christian Adam". Der kleine Bruder, klar. Noch verfolgt er alles mit großen Augen, doch wie wird er mal rebellieren, wenn sein Verstand dem Glauben davonläuft? Welche Möglichkeit hat er, wenn sein Name schon die Religionszugehörigkeit verrät? Oder wird er sich einmal nur noch „Chris“ rufen lassen, mit dem keltischen Wort für Tannenreisig?

Ben und sein Kollege Richard sind mal wieder in einer hitzigen Diskussion verstrickt. Nebenbei stopfen sie sich Kuchen in den Mund.
„Was kann ein Organismus denn tun, um das Überleben seiner Nachkommen in einer sich verändernden Welt sicherzustellen?“ Richard schwenkt die Arme in einer großen Geste. „Ihnen einen Bauplan mitgeben! Also die DNS! Das ist doch plausibel!“
„Ja, das Bewährte bewahrend und offen genug für Veränderungen. Doch bevor du meinst, gesiegt zu haben, erkläre mir doch mal Folgendes: Wozu sollte er überleben wollen? Wozu soll nach diesem Modell das Leben gut sein?“
Richard kaut noch, vermischt seinen Nahrungsbrei mit etwas Kaffee. Sobald er die Anstandsgrenze erreicht hat, bei der die Worte trotz Kuchen im Mund verständlich zu hören sind, platzt er heraus: “Die völlig falsche Frage! Das ist ja wieder von einem Bewusstsein aus gedacht!“
Jetzt ist Ben noch mit Kauen beschäftigt, und Richard führt weiter aus: „Überleben wollen liegt in unseren Genen. Das hat uns am Leben gehalten wie Lust auf Essen und Trinken, Schlaf und Sex. Wenn wir das nicht hätten, gäbe es uns nicht.“
Während Ben noch nachdenklich kaut, fügt er hinzu: „ Oder besser: Die Wesen ohne das gibt es nicht mehr!“
„Kein Sinn? Kein Zweck?“ fragt Ben nach. „Alles nur Zufall?“
Die Schulglocke läutet die vierte Stunde ein, so dass ich seine Erwiderung nicht mehr verstehen kann.

Ich greife die Zeugnismappe und mache mich auf den Weg in die 5a. Ich werde nie wieder vor einer Klasse stehen, muss das Schicksal der Schüler und der kommenden Generationen den anderen überlassen. Was hätte ich damals in dem Alter von einem Lehrer erhofft? Hätte er mich mit Worten vorbereiten können auf die Ferien, als mein Bruder den Unfall hatte? War es nicht erst die kühle Nische mit dem aufgebahrten Leichnam, meine Hand an seiner Seite, die mich begreifen ließ?

Als ich vor der Tür stehe, räuspere ich mich. Wenn ich gleich wieder herauskomme, ist alles vollbracht. Nur noch diese Stunde jetzt, dann wird es vorüber sein.

 
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Servus Elisha,
ich weiß nicht, ob es spielregelkonform ist, einen Copywrite-Text ohne Kenntnis der Vorlage zu lesen. In deinem Fall nämlich hab ich das getan.
Ich weiß somit also nicht, wie sehr du eventuell durch die Vorlage eingeschränkt warst.
Gleich mal vorweg: Schon aufgrund des sympathischen, unprätentiösen Tonfalles des Erzählers fand ich die Geschichte sehr angenehm zu lesen. Entsprechend gespannt war ich auf die philosophischen Aspekte. Die allerdings, das schicke ich auch gleich voraus, kamen mir aber zu kurz.

„Aber ... w-was willst du dann?“ Ein leichtes Stottern.
„Etwas anderes, neues. Kreativ sein. Überraschungen.“ Sie kam ganz nah, blickte mir direkt ins Gesicht. „Wo soll dein Leben noch hingehen?“
„Na, die Schule ... Wenn ich pensioniert bin ...“

Spätestens an dieser Stelle wusste ich nicht mehr so recht, ob ich mit dem Erzähler Mitleid haben oder ihn einfach nicht ernst nehmen sollte. Zu langweilig, zu kleingeistig erschien mir der, zu lehrerhaft, aber vermutlich stehe ich den typischen Lehrern, bzw. was ich mir unter solchen vorstelle, ohnehin nicht gänzlich vorurteilsfrei gegenüber.
Wie auch immer, der Erzähler erlebt den letzten Tag seines Berufslebens und er tut das mit verständlicherweise ambivalenten Gefühlen, einer Mischung aus sentimentalen Rückblicken in die Vergangenheit und leiser Vorfreude auf ein beschauliches Rentnerdasein. (Bzw. auf spannende Erlebnisse mit der neuen Baumschere. Du lieber Himmel, was für ein Langeweiler.) Seine Gedanken schweifen dahin und dorthin - zu ehemaligen Schülern, zu seiner Exfrau, er denkt an seinen verstorbenen Bruder und an dies und das. Solch assoziatives, zielloses dahin und dorthin Denken entspricht natürlich vollkommen der Realität und steht einem Text, der aus der ich-Perspektive geschrieben ist, allemal zu. Aber der Text wird mir dadurch zu kaleidoskopartig. Lauter kleine Schlaglichter halt. Mir scheint, als übertrüge sich die Unentschlossenheit des Protagonisten auch auf den Text, als wisse auch der nicht genau, was er eigentlich will.
Für mich fügt sich das alles nicht recht zu einem Ganzen, zu ungeordnet, zu absichtslos, zu zufällig erscheinen mir die Reflexionen des Erzählers. Mir war am Ende der Geschichte nicht recht klar, was und vor allem warum er mir das erzählt.

„Kein Sinn? Kein Zweck?“ fragt Ben nach? [Punkt statt Fragezeichen] „Alles nur Zufall?“

Steckt gar darin die Kernaussage des Textes? Soll das die Verfasstheit deines Protagonisten umschreiben? Stellt er sich im Herbst seines Lebens stehend nun die große Sinnfrage? Wobei man noch meckern könnte, dass das Gespräch seiner beiden Kollegen ja nicht unbedingt ein intellektueller Hirnwegfetzer ist. Küchenphilosophie nennen wir in Wien diese Art vermeintlich anspruchsvollen, in Wahrheit eher banalen - weil nur vordergründig tiefsinnigen – Gedankenaustausches. Oder muss ich mir die Konversation in Lehrerzimmern echt so vorstellen?

Schön geschrieben, Elisha, aber mir letztendlich etwas zu beliebig, zu wenig auf den Punkt kommend. Aber trotzallem irgendwie sympathisch.

offshore

 

Hallo Offshore,

danke für dein Feedback. Natürlich liegt ganz viel an der Auseinandersetzung mit Kews Version und den darin verwendeten Begebenheiten und Symbolen. Trotzdem soll natürlich die Stimmung rüberkommen, Isolation und die Frage nach Gott und der Welt. Kern vllt:

Ich werde nie wieder vor einer Klasse stehen, muss das Schicksal der Schüler und der kommenden Generationen den anderen überlassen. Was hätte ich damals in dem Alter von einem Lehrer erhofft?

Denn das leitet über zu dem, was der Prot in Kews Geschichte tut. Jetzt würde es mich natürlich völlig interessieren, wie du meine Story im Zusammenhang mit Kews siehst. Vllt kommst du ja noch mal irgendwann dazu, auch diese zu lesen. ;)

Gruß, Elisha

 

So, endlich:

Meine original-Geschichte liegt so lange zurück, dass ich selbst mal spicken musste, was ich da eigentlich verzapft habe. :D

Ich finde, du hast einige coole Ansätze gefunden.

Du erzählst ja einige Sachen stärker aus, was bei mir nur im Dialog transportiert wird: Der letzte Schultag und das mit der Ex-Frau. Finde den letzten Schultag sehr gelungen, vor allem die Stelle hier hat es mir angetan:

„Na, so lange dauert es bei Ihnen doch auch nicht mehr!“
Nur eine Mikrobewegung lang Bestürzung, dann steht seine joviale Fassade wieder.
Das ist schick, weil es das Gesprächsverhältnis für einen Augenblick zu kippen droht. Bis dahin ist es ja immer der alte Kollege und der jüngere und es geht um den Abschied des älteren. Und dann kommt diese Zeile, die andeutete, dass der jüngere gar nicht soviel jünger ist. Und anscheinend kommt er damit auch nicht wirklich klar - sonst bräuchte er nicht diesen Moment um sich zu fangen. Ist cool, weil es die offensichtliche Richtung des Gespräches unterbricht (einzig schade, dass das ohne Folgen bleibt, aber bietet sich bei dem Rahmen ja auch nicht an, die Figur des Kollegen wirklich auszubauen; aber bei einer längeren Geschichte wäre hier ein cooler Ansatzpunkt).
Mit der Ehe. Ich weiß nicht, das funktioniert nicht wirklich für mich. Das ist zu sehr reduziert, beziehungsweise durch die kürze wirkt das sehr klischeehaft, weil du ja auch nicht wirklich einen interessanten/ungewöhnlichen Grund bietest fürs Scheitern der Ehe. Der Mann willt immer das gleiche, die Frau will was neues. Das gibt es einfach zu häufig, um auf dem raum noch wirklich zu überzeugen. denke ich jedenfalls.

Zwei Variationen noch, die ich sehr cool fand:

Den Fisch neben dem Aquarium. Das ist wirklich ein schickes Bild. Das mit dem Springer. War für mich jedenfalls neu und ist vermutlich die Textstelle, die ich mir mitnehmen werde, also das was wirklich länger bleibt. Auf jedenfall schicker als mein Fisch im Teich. :)

Der Problemschüler als Ersatz für den seltsamen Lehrer hat auch was. Auch wenn man die Clownmaske kennt: Im Unterricht + das Lied: Das gibt schon Spannung. Aber hier habe ich ein bisschen das Gefühl, dass da etwas angeschnitten wird, ohne das die Geschichte den Raum bietet dem gerecht zu werden. Das wird ja in zwei Absätzen abgehandelt und ich denke, das bräuchte einfach viel mehr Platz, um wirklich zur Geltung zukommen - eigentlich wäre das doch Stoff für eine ganze Geschichte. So wirkt das ziemlich schematisch. Also es wird klar, warum du das gemacht hast, wenn man meinen Text im Hinterkopf hat. Aber als eigenständiger Text klappt es hier auch nicht so richtig.

Dann die Lehrerdiskussion über den Sinn. Das finde ich ehrlich gesagt die schwächste Stelle des Textes (zusammen mit der Ehe). Irgendwie kaufe ich da die Dialoge nicht. Das klingt zu sehr danach: Der Autor will, dass sich die Figuren über das und das unterhalten. Und nicht die Figuren unterhalten sich über das und das. Liegt sicher auch an meiner Vorlage: Da habe ich ja die Gesprächsausrede genommen, um einige Gedanken los zu werden, die mich damals beschäftigt haben. :D

Insgesamt würde ich mich offshore anschließen, als eigentständiger Text wirkt das alles zu beliebig. Da werden Themen angerissen und nicht auserzählt. Als Variation auf meinen Text, mit einer Box voller Anspielungen fand ich mich aber gut unterhalten. Ich vermute damit ist dein Ziel erreicht. :)

Gruß,
Kew

 

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