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Der Koch, die Kellnerin, Pepe und das Boot

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14.08.2012
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Der Koch, die Kellnerin, Pepe und das Boot

Während Vincent an seinem gewohnten Tisch vor der Hafenkneipe saß und ein Bier trank, dachte er darüber nach, warum der Kater nur jeden zweiten Tag beim Boot vorbeischaute. Manchmal kam Charlie morgens, manchmal tagsüber, manchmal abends. Aber nur alle zwei Tage, nie öfter, nie seltener. Am Tag, als Vincent angelegt hatte, war Charlie an Deck der Luna gesprungen und hatte ein paar Runden gedreht, neugierig wie Katzen nun mal sind. Dann war er am dritten Tag gekommen, am fünften, am siebten, und so weiter, die ganzen zwei Wochen hindurch, verlässlich wie ein Uhrwerk. Was trieb er in der Zwischenzeit? Gestern hatte sich der Kater erstmals von Vincent berühren lassen, zögerlich nur und ganz kurz. Dann hatte er sich das Fischstück aus seiner Hand geschnappt und war wieder verschwunden.
Über das verwaiste Möwenjunge Pepe, das der Koch hier in der Kneipe großzog, dachte Vincent auch nach. Würde das jemals fliegen lernen? Warum sollte es, überlegte er sich. Hier bekam Pepe doch alles, was er brauchte. Luca hatte ihm in einer Pappschachtel ein Nest bereitet, fütterte ihn mit Haferbrei und Fischsuppe und quatschte den lieben langen Tag zu ihm, als wäre der Vogel ein Menschenkind. Das war doch weit mehr, als den meisten Lebewesen auf dieser gnadenlosen Welt vergönnt war. Wusste Pepe überhaupt, dass er fliegen könnte, wenn er nur wollte? Dachte Pepe darüber nach, wie groß der Himmel war und wie endlos der sich erstreckte?

Beinahe unmerklich hatte es zu regnen begonnen. Ganz sanft nur, eher zu erahnen, als zu hören, nicht mehr als ein leises Rascheln auf der Markise. Aber die Gerüche veränderten sich. Der Staub der Straße und die Erde in den Blumentöpfen, die dürren Grasbüschel zwischen den Steinplatten der Mole und die blühenden Robinien hinter ihm, alles schien jetzt einen intensiveren Duft zu verströmen.
Vincent schloss die Augen und versuchte sich vorzustellen, in einer warmen Sommernacht vor einer sizilianischen Hafenkneipe zu sitzen, am Meer. Das Meer zu riechen und unzählige Frösche von der nahen Flussmündung her lärmen zu hören. Er versuchte sich vorzustellen, wie vom Gezirpe der Zikaden die Luft zu vibrieren schien und hin und wieder ein fremdartiger Vogelruf ertönte. Dass Vögel auch in der Nacht singen, war ihm früher nie aufgefallen, aber möglicherweise, dachte er, musste man erst ein gewisses Alter erreicht haben, um solche Dinge wahrzunehmen.
Die Vorstellung, momentan nicht einen Traum, sondern sein wirkliches Leben zu erleben, gefiel ihm. Und ihm gefiel auch der Mond, der über dem Hafenbecken hing und sich durch die wenigen Wolken nicht beirren ließ, auch nicht durch das Getöse der Frösche und Zikaden, das in Wahrheit ja ohnehin kein Getöse, sondern vielmehr so etwas wie ein leises, äonenaltes Raunen war. Wie das Echo aus einem längst vergangenen Zeitalter dieser seltsamen Erdenwelt. Uralt und unergründlich. Vincent nahm den Bleistift und das Notizbuch aus der Tasche und versuchte, seine Gedanken aufzuschreiben, bevor er sie vergaß.

Franca brachte ihm noch ein Bier und bat ihn, die leere Flasche und den Aschenbecher aufs Fensterbrett zu stellen, wenn er dann ginge, er sei der letzte Gast. Sie sei spät dran, sie müsse zusperren und sehen, dass sie nach Hause käme. Aber dann blieb sie noch ein Weilchen an seinem Tisch stehen und fragte ihn, was er schriebe.
Vincent sagte ihr, er schriebe ein Gedicht und grinste sie an, so verschlagen, wie es ihm nur möglich war, so dreckig, wie er sich vorstellte, dass Hemingway gegrinst hätte, wäre der in einer warmen Sommernacht in einer sizilianischen Bar gesessen und eine Kellnerin hätte ihn gefragt, was er schriebe. Franca war eine ungemein schöne Kellnerin obendrein. Mit schwarzem Haar, heller Haut und verklärtem, melancholischem Blick. Als wäre sie einem Gemälde Rossettis entstiegen.
„Bist du etwa ein Dichter?“, fragte sie ihn.
„Nein, nein“, sagte er, „nur ein ganz gewöhnlicher Mann.”
Sie lachte. Vincent fragte sie, ob sie ein Glas Wein mit ihm trinken wolle.
„Ja, gerne. Ein kleines. Mein Mann wird mir schon nicht davonlaufen.“ Sie holte Wein und zwei Gläser, nahm die Schürze ab und setzte sich zu ihm. Bat ihn um eine Zigarette.
Sein Italienisch war mehr schlecht als recht. Aber das machte nichts. Er erzählte ihr vom Boot und von dem kaputten Segel und von seiner Heimatstadt und von seinem älteren Sohn und von seinem jüngeren Sohn, und dass die Luna sozusagen sein drittes Kind sei, seine Tochter - la mia barca, mia figlia - und immer wieder brachte er sie zum Lachen und er hatte keine Ahnung, ob sie überhaupt verstand, was er da quatschte.
„Und ist deine Frau eifersüchtig auf das Boot?“, fragte sie ihn. - E tua moglie è geloso della barca? - Das verstand selbst er. Er liebte diese Sprache.
„Ist die Sonne eifersüchtig auf den Mond?“, fragte er zurück.
Und wieder lachte sie. „Du bist ja doch ein Dichter, ich hab’s gewusst.“
Dann rauchten sie schweigend, schauten hinaus aufs Meer oder hinauf zum Mond oder lächelten sich an.
Ein paar spätheimkehrende Möwen landeten auf der Kaimauer und es kam zu einem kleinen Tumult, als sie sich zwischen die schon schlafenden Vögel drängten, kurz war halbherziges Flügelschlagen und schlaftrunkenes Gekreische zu hören. Dann kehrte wieder Ruhe ein.
„Wie geht’s dem kleinen Pepe?“, fragte Vincent.
„Pepe ist weg.“
„Ach du Scheiße … eine Katze?“
„Keine Ahnung. Der arme Luca ist völlig fertig.“
„Verdammt. Aber ... na ja, Franca, Pepe war nur ein Vogel. Was hat Luca denn geglaubt? Dass er ihm Kunststücke beibringen kann oder gar das Sprechen?“
Er sei herzlos, sagte sie. - Siete senza cuore, Vincenzo. - Es klang, als sänge sie ein Lied.
„In Wahrheit bist du Sängerin, stimmt‘s?“, fragte er.
„Nein, nein, nur eine ganz gewöhnliche Frau.“
Wieder lachte sie, streckte den Arm über den Tisch und strich Vincent die Haare aus dem Gesicht.
„Lass mich doch deine Augen sehen“, sagte sie.
„Nur wenn du mir dafür eine Geschichte erzählst.“
Sie verdrehte theatralisch die Augen. Dann blickte sie in den Himmel.
„Als ich ein kleines Mädchen war, hat mir mein Bruder einmal eine Krabbe vom Strand mitgebracht. Ich habe ihr ein paar Vogelfedern auf den Panzer geklebt und einen Bindfaden drangebunden und sie dann durch die Luft gewirbelt. Ich habe geglaubt, dass sie so das Fliegen lernt. Damit sie den Möwen entkommen kann und nicht gefressen wird. Na ja, ich war damals höchstens fünf oder sechs.“
„Eines natürlichen Todes ist das arme Kerlchen vermutlich nicht gestorben, was?“
„Nein. Irgendwann ist der Bindfaden gerissen.“
Sie nahm einen Schluck Wein.
„Hast du gewusst, Vincenzo, dass es das Sternbild Krabbe gibt?“
„Du meinst den Krebs?“
„Nein, die Krabbe. Ist am Südhimmel, glaub ich. Ach, ich weiß es nicht. Aber immer wenn ich in den Sternenhimmel schaue, muss ich an die arme Krabbe denken.“
Vincent schenkte Wein nach. Wie lange er noch bliebe, fragte sie ihn und er antwortete, dass er es nicht wisse, weil er noch immer auf das neue Segel wartete. Dann schwiegen sie.
„Mein Mann betrügt mich“, sagte sie plötzlich und blickte dabei zu Boden. „Erzählt mir was von Nachtschichten in der Werft, der Dreckskerl. In Wahrheit hat er eine Geliebte. Schon seit zwei Jahren.“
Sie hatte einen Schuh abgestreift und ließ ihn gedankenverloren von den Zehen baumeln. Vincent betrachtete ihren nackten Fuß, die zierliche Fessel, die schlanke Wade. Dann sah er wieder hinaus aufs Meer.
„Vermutlich bist du ihm zu schön. Vermutlich ahnt er, dass er dich nicht verdient hat.“
„Ich habe ihn wirklich geliebt.“
„Dinge gehen kaputt, Franca … Dinge gehen kaputt, die Liebe geht zu Ende, Menschen sterben und Küken werden flügge.“
„Ich weiß. Aber weh tut’s trotzdem.“
„Ich weiß.“ Er berührte ihre Hand und sie ergriff seine Finger.
„Pepe wird wohl davongeflogen sein“, sagte sie ganz leise. „Ich wünsche es mir so sehr. Am weitesten sieht, wer am höchsten fliegt. Das ist ein Sprichwort hier bei uns.“ Eine Träne lief über ihre Wange.
„Willst du mit aufs Boot kommen, Franca?“
Sie blickte aufs Meer und schwieg. Minutenlang.
„Nein“, sagte sie schließlich und lächelte ihn an. „Aber ich find’s schön, dass du mich gefragt hast.“
„Ich gehe nach Hause“, sagte sie dann, stand auf und strich mit einem Finger über seine Wange. „Ciao, Vincenzo. Pass auf dich auf.“
„Ciao, Franca, bis morgen “, sagte er.
Sie ging.
Er blieb sitzen, schaute hinüber zur Luna und dachte daran, dass er morgen das Segel bekäme und spätestens zu Mittag auslaufen würde.
Er fragte sich, ob er nicht versuchen sollte, ein Gedicht zu schreiben. Über ein verwaistes Möwenkind, das nicht lernen wollte, zu fliegen. Oder über einen Mann, der seine Grenzen nicht erkennen will.
Dann entdeckte er Charlie. Der Kater stolzierte über den Platz, kam auf ihn zu, strich um seine Beine und sprang ihm schließlich auf den Schoß.
Charlie schnurrte.

 
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Servus Friedel, servus Wilhelm

Friedrichard schrieb:
Zwei Sätze habens mir angetan, einer, der dem common sense entspricht und die richtige Antwort darauf:
„Und, ist deine Frau eifersüchtig auf das Boot?“, fragte sie ihn.
Was übrigens auf die Verknüpfung von Liebe (die ja seit den Korinther Briefen nichts fordert) und Besitzansprüchen hinweist und mit der Folgefrage
„Ist die Sonne eifersüchtig auf den Mond?“
Die sich in mein armseliges Hirn hineingefressen hat …

Ja, Friedel, Vincents Antwort, besser gesagt Gegenfrage, mag ich auch sehr sehr gern, ist sie doch quasi eine wunderschöne Liebeserklärung an seine (abwesende) Frau. Und eben das war es vermutlich auch, was mich - und das richtet sich jetzt eigentlich an Novak - am Ende der Geschichte Vincent diesen Gedanken denken ließ: er sei ein Mann, der seine Grenzen nicht erkennen will. Hat er doch einerseits offenbar eine wunderbare Frau zuhause, und macht sich andererseits trotzdem an Franca heran. Macht er sich überhaupt an sie heran, flirtet er gar mit ihr? Oder bietet er ihr einfach Trost an? Ach, ich weiß es nicht … Überhaupt bin ich schier erschlagen von den tiefsinnigen Gedanken, zu denen euch meine kleine (Sommer-)Geschichte inspiriert hat.
Vor allem deine Interpretationen, Wilhelm, haben mich schwer beeindruckt, auch wenn ich sie großteils nicht teile, bzw. sie meinen ursprünglichen Intentionen beim Schreiben nicht entsprechen. Aber je öfter ich deinen Kommentar jetzt lese, umso mehr verunsichert er mich. Kann es tatsächlich sein, dass da mehr Unbewusstes (gar Unterbewusstes?) in den Text geflossen ist, als ich ahne? Ich meine, der Text war ja nicht durchkonstruiert und in allen Details durchdacht, sondern vielmehr ein Zufallsprodukt, eher so ein intuitives Dahinschreiben und nicht ein kalkulierter Entwurf. Natürlich kann ich, der Autor der Geschichte, nicht leugnen, die letzten fünf Wochen in Italien verbracht zu haben, ja, auf einem Segelboot, und beim Schreiben in einer entsprechenden "italienischen" Stimmung gewesen zu sein, insofern ist Vincent möglicherweise mein alter ego, aber alles andere ist pure Erfindung und es lag mir fern, Vincent als etwas anderes als einen glücklichen, zufriedenen Mann, meinetwegen Abenteurer, darstellen zu wollen. Weder dachte ich an Midlifecrisis oder hilfloses Ausgeliefertsein, noch an die eventuellen symbolistischen Konnotationen von Mond, Regen, äonenaltem Raunen, oder gar von Katern.
Im Grunde könnte ich jetzt jeden Punkt deiner Liste hernehmen und deiner Interpretation meine Gedanken beim Schreiben gegenüberstellen. Zum Beispiel dass Vincent die Welt nicht wegen melancholischer Stimmung als seltsam und gnadenlos begreift, sondern schlicht aufgrund rationaler Erkenntnis. („Es gibt keinen Grund, nicht verrückt zu werden“.) usw.
Irgendwie habe ich jetzt, nachdem du so viel aus dem Text herauslesen konntest, das Gefühl, ein bisschen dumm dazustehen, weil ich das alles ja eigentlich gar nicht hineingeschrieben habe, oder etwa doch? Muss ich mir jetzt gar die Frage stellen, ob ich überhaupt verantwortlich bin, für das was ich schreibe? Sehr eigenartig irgendwie, aber auch sehr interessant.
Hätte mir vor zwei Jahren jemand gesagt, ich bekäme einmal zu einer Geschichte von mir so einen Kommentar wie den deinen hier, ich weiß nicht, was ich geantwortet hätte. Vermutlich: “Ja ja, und das Gras ist blau.“ Irgend so etwas wahrscheinlich. Aber jetzt, wo es passiert ist, macht es mich schon auch ein wenig stolz, ganz ehrlich, Wilhelm.

Vielen Dank euch beiden.

offshore

 

Über Melancholie und das Schreiben

Hallo ernst offshore

Ach, ich weiß es nicht. Überhaupt bin ich schier erschlagen von den tiefsinnigen Gedanken, zu denen euch meine kleine (Sommer-)Geschichte inspiriert hat.
Vor allem deine Interpretationen, Wilhelm, haben mich schwer beeindruckt, auch wenn ich sie großteils nicht teile bzw. sie meinen ursprünglichen Intentionen beim Schreiben nicht entsprechen.
Irgendein Schriftsteller, dessen Namen ich vergessen und auch nach längerer Suche nicht gefunden habe, sagte einmal sinngemäß über das Schreiben: Die Hand ist klüger als der Kopf. Meint, dass im Prozess des Schreibens mehr auf das Papier kommt, als es dem Schreiber bewusst ist. Als Leser meiner Texte entdecke ich immer mehr und anderes, als ich gewollt hatte. Man verrät in jedem Text von sich sehr viel, ohne es zu beabsichtigen.

Aber je öfter ich deinen Kommentar jetzt lese, umso mehr verunsichert er mich.
Deine Verunsicherung tut mit nun wirklich leid, denn ich habe ja den Text durchaus positiv gewürdigt.

Kann es tatsächlich sein, dass da mehr Unbewusstes (gar Unterbewusstes?) in den Text geflossen ist, als ich ahne?
Da bin ich mir sicher, das geschieht bei jedem Text. Die Frage ist nur: Was ist in den Text geflossen?
Ich meine, der Text war ja nicht durchkonstruiert und in allen Details durchdacht, sondern vielmehr ein Zufallsprodukt, eher so ein intuitives Dahinschreiben und nicht ein kalkulierter Entwurf.
Gerade mit dieser Einstellung „intuitives Dahinschreiben“ verrät man am meisten, weil man am wenigsten versteckt. Unter dem Begriff „Automatisches Schreiben“ wird diese Methode in der Psychotherapie und auch in der Literatur verwendet.

Natürlich kann ich, der Autor der Geschichte, nicht leugnen, die letzten fünf Wochen in Italien verbracht zu haben, ja, auf einem Segelboot, und beim Schreiben in einer entsprechenden "italienischen" Stimmung gewesen zu sein, insofern ist Vincent möglicherweise mein alter ego, aber alles andere ist pure Erfindung und es lag mir fern, Vincent als etwas anderes als einen glücklichen, zufriedenen Mann, meinetwegen Abenteurer, darstellen zu wollen. Weder dachte ich an Midlife-Crisis oder hilfloses Ausgeliefertsein, noch an die eventuellen symbolistischen Konnotationen von Mond, Regen, äonenaltem Raunen, oder gar von Katern.
Im Grunde könnte ich jetzt jeden Punkt deiner Liste hernehmen und deiner Interpretation meine Gedanken beim Schreiben gegenüberstellen. Zum Beispiel dass Vincent die Welt nicht wegen melancholischer Stimmung als seltsam und gnadenlos begreift, sondern schlicht aufgrund rationaler Erkenntnis. („Es gibt keinen Grund, nicht verrückt zu werden“.) Usw.
Jeder Text spiegelt die Erlebniswelt des Autors wieder. Also müsstest du dich fragen, wie Wilhelm „gestrickt“ ist, denn es sind meine Worte, es liegt darin meine Lebenserfahrung, die mit deiner italienischen Stimmung nichts zu tun hat. Das ist grundsätzlich so.

Nun bedienen wir uns einer Sprache, bei der wir Schnittmengen haben oder eben auch nicht.
Wenn ich das Wort „Nacht“ lese, verknüpfe ich damit meine literarischen (!) Nachterfahrungen; die sind verbunden mit Hoffmann, Nachtwachen, Licht-und Dunkelsymbolik im Tristan, mit italienischer Nacht (Horvath) und mit den wunderbaren Ausstellungskatalogen „Die Nacht“, München 1998 und „Melancholie. Genie und Wahnsinn in der Kunst“, Berlin 2005.
Ich kann natürlich nicht, wenn einmal das Wort Nacht vorkommt, immer von Melancholie sprechen. Aber eingebettet in Einsamkeit von Vincent, mit dem sterbendem Vogel und all den anderen Punkten, die ich angeführt haben, ergeben bei mir eben das beschriebene Bild.

pure Erfindung

Eine pure Erfindung gibt es nicht. Alles, was du schreibt, ist immer und unbedingt mit dir verbunden, es wird dir nicht "pur" zur Verfügung stehen. In allem, was du schreibt, stecken Persönlichkeitsanteile von dir drinnen. Es ist nur die Frage: Warum hast du Franka "erfunden", warum hast du diese Fahrt gemacht? Wie steht der sterbende Vogel mit dir in Verbindung und weitere Fragen. Auch etwa dein Name "offshore" könnte gerade in diesem Text neue Aspekte bringen.

Irgendwie habe ich jetzt, nachdem du so viel aus dem Text herauslesen konntest, das Gefühl, ein bisschen dumm dazustehen, weil ich das alles ja eigentlich gar nicht hineingeschrieben habe, oder etwa doch?
Wer soll den Text sonst geschrieben haben? Jeder Text ist eine Projektion innerer Vorgänge. Nur achten wir meistens nicht darauf, weil das handlungshemmend wäre.

Muss ich mir jetzt gar die Frage stellen, ob ich überhaupt verantwortlich bin, für das, was ich schreibe? Sehr eigenartig irgendwie, aber auch sehr interessant.
Verantwortlich ist man für Texte auf jeden Fall. Aber unser Bewusstsein ist defizitär. Das heißt, man kann Fehler machen oder etwas nicht erkennen. Ver –Antwort lich. Aber wem muss man Antwort geben?

Hätte mir vor zwei Jahren jemand gesagt, ich bekäme einmal zu einer Geschichte von mir so einen Kommentar wie den deinen hier, ich weiß nicht, was ich geantwortet hätte. Vermutlich: “Ja ja, und das Gras ist blau.“ Irgend so etwas wahrscheinlich. Aber jetzt, wo es passiert ist, macht es mich schon auch ein wenig stolz, ganz ehrlich, Wilhelm.
Und das mit Recht. Wer sich seinem Kreativitätsfluss überlässt und sich ihm „stellt“, braucht eine gewisse Tapferkeit, um seine Selbsterkenntnis, aber auch die Analyse von Personen und Gesellschaft durchzuführen.
Und dafür ist Wortkrieger doch eine gute Plattform (jetzt sollte ich das Wort Plattform wirklich nicht weiter analysieren, sonst komme ich zu einer Hoch-Form).
Fröhliche Grüße
Wilhelm

 
Zuletzt bearbeitet:

Auch wenn das jetzt schön langsam Richtung Offtopic geht, Wilhelm, zu deinem letzten Kommentar will und muss ich dir noch was sagen, und ich mache das ganz bewusst hier unter meiner Geschichte.
Du hast in deinem letzten Kommentar so viel Kluges und Allgemeingültiges über das Schreiben gesagt, und mir damit auch sozusagen ein wenig die Augen geöffnet und mir einen ganz neuen (ehrlich verblüfften) Blick auf mein Schreiben eröffnet. Nicht dass ich mich für einen geistig schwerfälligen Simpel halte, aber über viele Aspekte, die du ansprichst, habe ich mir ehrlich gesagt noch niemals den Kopf zerbrochen. Schreiben bedeutete mir bisher vorwiegend ein Spielen mit der Ästhetik der Sprache, ein stilverliebtes Hin- und Herschieben von Worten, im allerbesten Fall ein „Geschichtenerzählen“, aber die Handlung, eine Prämisse, gar ein tieferer Sinn, waren bei mir immer zweitrangig, einer (vermeintlich) schönen Formulierung opferte ich allemal jegliche Plausibilität und erst recht eine etwaige Botschaft.

Aber je öfter ich deinen Kommentar jetzt lese, umso mehr verunsichert er mich.
Deine Verunsicherung tut mit nun wirklich leid, denn ich habe ja den Text durchaus positiv gewürdigt
Ich meinte mit Verunsicherung ja nichts negatives, Wilhelm, vielmehr eine Art von Verwunderung, ein ehrliches Verblüfftsein darüber, was ich mit meinen Fantasieprodukten in anderen Menschen für Gedanken auszulösen offenbar imstande bin, ungewollt, unbeabsichtigt, vollkommen naiv in Wahrheit. Ähnlich ging’s mir nach firefiz‘ Kommentar unter meiner Much im Frühling-Geschichte. Da stellte ich mir nämlich, als ich Begriffe wie Paragone, demiurgisches Schuften, usw. las, genauso die Frage, wer jetzt der Schlauere ist. Ich, der ich mit meinen Sätzen die klugen Gedanken des Lesers auslöse, oder der Leser, der die klugen Gedanken und Assoziationen in seinem Kopf erst erschafft.

Jeder Text spiegelt die Erlebniswelt des Autors wieder. Also müsstest du dich fragen, wie Wilhelm „gestrickt“ ist, denn es sind meine Worte, es liegt darin meine Lebenserfahrung, die mit deiner italienischen Stimmung nichts zu tun hat. Das ist grundsätzlich so.
Stellst du damit nicht die Sinnhaftigkeit jeglicher Lteraturkritik (und des wk-Forums) in Frage? Weil, so viele Leser, so viele legitime Rezeptionen?

Wer sich seinem Kreativitätsfluss überlässt und sich ihm „stellt“, braucht eine gewisse Tapferkeit, um seine Selbsterkenntnis, aber auch die Analyse von Personen und Gesellschaft durchzuführen.
Oder eine gewisse Naivität?

Und dafür ist Wortkrieger doch eine gute Plattform
Das lass ich jetzt mal als passendes Schlusswort stehen, bevor ich mich noch um Kopf und Kragen rede.

Danke für deine vielen Gedanken, Wilhelm.

offshore (sic)

 

jetzt hab ich Mich beim Häuten verlustiert, dass ich Euch beide mit nach Haus nehmEN werd und ich hoff, dass mir nicht Oranje und Montezuma dazwischen funken

(Matjes und Genever, bevorzugt jongen) aber kein Heineken ...

Bis moin!

 

Hey offshore,

Dachte Pepe darüber nach, wie groß der Himmel war und wie endlos der sich erstreckte?

Typen die darüber nachdenken, worüber Möwen nachdenken, nehme ich ab dem Augenblick einfach nicht mehr ernst. Sorry.

Ein paar spätheimkehrende Möwen landeten auf der Kaimauer und es kam es zu einem kleinen Tumult, ...

Lieber Ernst, kannst Du mir vielleicht mal sagen, wovor Du Angst hast? Warum nimmst du Dir nicht mal ein Thema und beackerst das? Das ist irgendwie, als würdest Du Dich weigern, in die nächste Klasse versetzt zu werden, weil Du Angst davor hast, dann nicht mehr Klassenbester zu sein. Stimmungsbilder kannst Du ja nun malen, das hast Du schon mehrfach bewiesen, warum also immer und immer wieder? War Much wirklich nur ein Ausreißer?

Ich habe die Geschichte gelesen und dachte an nix, außer dass sie mir ein Wohlfühlgefühl vermittelt hat. So Urlaubsstimmung halt und musste echt mit dem Kopf schütteln, als ich dann im Komm gelesen hab, war grad im Urlaub :) Okay, daran ist ja erst mal nichts Schlechtes. Die Welt verlangt Wohlfühtexte, soll sie sie bekommen. Das kannst Du und das weißt Du. Ich habe mich wohlgefühlt und werde den Text in einer Woche wieder vergessen haben. Da steckt keine interessante Aussage drin, die Figuren sind keine Charaktere sondern Platzhalter für so "Lebensphilosophien", wie einem bei Sonnenuntergang schon mal die Vergänglichkeit so in den Sinn kommen kann. Alles gut und schön, aber naja, lau wie die Sommernacht halt. Ich weiß nicht, ich wünsche mir, Du würdest Dir mal größere Schuhe anziehen. Und da sind wir bei den unschönen Erwartungshaltungen ;), nicht immer fair, ich weiß ... Der Text ist völlig in Ordnung, aber ... vielleicht solltest Du Dich mal davon trennen, es Deinem Leser schön zu machen. Nimm ihm die Decke und den Kakao weg. Und vor allem: Tue Deinen Figuren weh! Lass sie leiden! Quäle sie! Der Korb von der Kellnerin ist nicht wehtun, das ist wie in die Nase zwicken.

Ich hab grad ein Buch gelesen: Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert. Bisschen Krimi, bisschen Schreibratgeber, viel Unterhaltung. Da spielen zwei Schriftsteller die Hauptrollen, Meister und Schüler Verhältnis, ich zitiere:

"Worte sind schön und gut, Marcus. Aber schreiben Sie nicht, um gelesen zu werden. Schreiben Sie, um sich Gehör zu verschaffen."

In diesem Sinne, warte ich geduldig auf einen Text von Dir, der mich nicht streichelt, sondern der mir volle Kanne eins auf die Nase haut ;).

Beste Grüße, Fliege

 
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”It’s better to burnout than to hideaway.”
Neil Young​

Hallo,

da bin ich nochmals und komm hoffentlich nicht ungelegen. Ich hab mit meiner Meinung noch nie hinterm Berg gehalten,

lieber ernst,

dass ein guter Text sich von der Intention des Verfassers löse und mehr als eine (etwa nur die eigene) Deutung zulasse. Zudem bestehe die Kunst darin, mit Andeutungen auszukommen, denn unerheblich sei, wie lang einer mit dem Schwanz wedele (oder wie geringelt er sei). Ein eindeutiger Text duldet keinen Widerspruch oder Gegenentwurf und wäre allemal auf dem Weg zu Lebensberatung und Gebrauchsanweisung, kurz: der Autor versteht sich als Gesetzgeber (wenn auch nicht auf dem Berg Sinai, der wäre ihm viel zu ungemütlich, nicht nur der Dornbusch wär im viel zu heiß) und will seine Sicht der Dinge durchsetzen. Womit ich zum massenhaften Gebrauch des Wortes „Melancholie“ springe – nix gegen Deine Aufstellung,

Wilhelm,

ich bin mir sicher, dass Du es nicht allzu häufig verwendest.
Mit dem Wort verhält es sich m. E. wie mit der inflationären Verwendung der Worte wie „Liebe“ (wurd schon mal angesprochen unter einer Markus’schen Arbeit), Kultur u. v. a. Mitscherlich hatte seinerzeit die Unfähigkeit zu trauern festgestellt, und wenn mein Gedächtnis mich nicht im Stich gelassen hat, sei an deren Stelle Melancholie getreten. Beides Reaktionen auf den Verlust eines Objektes, eine Welt wird leer und verarmt, weil auch einstweilen das Interesse an der Umwelt schwindet. Der Melancholie bedarf’s aber keines Todesfalles, es genügt, dass der Mond, die Sonne oder eine bis dahin heile, kleine Welt vergehe, wenn etwa der/die/das Liebste eine/n verlässt und somit dessen vermeintlicher Besitzanspruch verloren geht. Denn selbst die Liebe ist ein Machtspiel (wie unlängst noch im Zeitmagazin und Markus’ Beitrag dargestellt) und gründet nicht erst mit dem code civil auf Eigentum und Besitz und fällt dann eher unters Sachen- und Vertragsrecht als den Menschenrecht (und eines auf Glück oder Liebe gibt’s nicht). Man ergeht sich in Selbstmitleid. Und davon spür ich nix in der Geschichte. Die Kellnerin geht nach Hause, die Frau ist so wenig Eifersüchtig auf irgend was auch immer wie Mond und Sonne. Die leiht zudem auch noch ihr Licht an den Mond ohne was auch immer zu verlangen und doch müssen beide nicht nur als Zeitmesser untergehen, dass ich geneigt bin, mit Heine weniger melancholisch als ironisch zu schließen

„Das Fräulein stand am Meere / Und seufzte lang und bang, / Es rührte sie so sehre / Der Sonnenuntergang. // »Mein Fräulein!, sein Sie munter, / Das ist ein altes Stück; / Hier vorne geht sie unter / Und kehrt von hinten zurück.«“

(Anpassung der Zeichensetzung an die Rechtschreibreformation durch mich.)​

Gruß

Friedel

 

Hallo Ernst,

das ist mir zuviel attitude und zu wenig Inhalt. Alles zielt darauf ab, den Ich-Erzähler mit einer künstlerischen Aura zu umgeben, da wird soviel "Künstlerisches" zitiert. Zunächst mal der Titel, der von Peter Greenaways Film "Der Koch, der Dieb, seine Frau und ihr Liebhaber" entlehnt ist, dann der vielsagende Name "Vincent" für den Ich-Erzähler (sorry, aber bei "Vincent" hat man automatisch immer die Assoziation zu Van Gogh), der Ich-Erzähler, der andererseits auch versucht, sich wie Hemingway zu fühlen, und schließlich die Muse, die aussieht, wie einem Botticelli-Gemälde entstiegen. Für so einen kurzen Text ist das schon verdammt viel name-dropping bzw. Kulturbeflissenheit.
Wer ist denn dieser Ich-Erzähler eigentlich? Was treibt den denn um? Das mit der Katze und der Möwe, das sind doch Ablenkungsmanöver am Beginn, die vom Protagonisten wegführen. Fragt sich wirklich ernsthaft jemand, was eine Katze so treibt, wenn sie mal nicht da ist? Denkt irgendjemand ernsthaft, dass eine Möwe damit zufrieden ist, Ansprache und Futter zu haben, und nie fliegen wird? Das ist so Einfühlsamkeit um der Einfühlsamkeit willen, aber nicht wirklich Einsicht in die Dinge, hier die Tiere, die real da sind.

Das war doch weit mehr, als den meisten Lebewesen auf dieser gnadenlosen Welt vergönnt war. Wusste Pepe überhaupt, dass er fliegen könnte, wenn er nur wollte? Dachte Pepe darüber nach, wie groß der Himmel war und wie endlos der sich erstreckte.
Und ja, das ist wirklich "Möwe Jonathan"! :rolleyes:

Das Spannendste in der Geschichte ist die Doppelung von Erlebnis und Vorstellung:

Vincent schloss die Augen und versuchte sich vorzustellen, in einer warmen Sommernacht vor einer sizilianischen Hafenkneipe zu sitzen, am Meer. Das Meer zu riechen und unzählige Frösche von der nahen Flussmündung her lärmen zu hören. Er versuchte sich vorzustellen, wie vom Gezirpe der Zikaden die Luft zu vibrieren schien und hin und wieder ein fremdartiger Vogelruf ertönte. Dass Vögel auch in der Nacht singen, war ihm früher nie aufgefallen, aber möglicherweise, dachte er, musste man erst ein gewisses Alter erreicht haben, um solche Dinge wahrzunehmen.
Die Vorstellung, momentan nicht einen Traum, sondern sein wirkliches Leben zu erleben, gefiel ihm.
Das zielt im Grunde natürlich auch auf künstlerische Produktion, auf die Mimesis, das Nachahmen der Wirklichkeit. Vincent versucht, das reale Erlebte in eine Vorstellung umzusetzen, eine Voraussetzung vielleicht für künstlerische Produktion.
Damit es wirklich dazu kommt, fehlt natürlich nur die Muse, und dada, da kommt sie schon, die schöne Franca, die genau die richtige Balance zwischen Verlockung und Verweigerung hält, um Vincent in die Sublimation zu treiben, sprich in den künstlerischen Akt. Und schon spürt er Lust, ein Gedicht zu schreiben.
Aber gerade bei Franca merkt man, wie sehr dieser Vincent in seiner Künstler-Attitüde gefangen ist: Ihre Erscheinung wird sofort mit einem Botticelligemälde überblendet, ansonsten erfährt man nur, dass sie eine "sehr schöne Frau" ist. So geschärft am Beginn die Sinneswahrnehmung Vincents erscheint, bei Franca versagt sie. Wie riecht sie denn, wie klingt ihre Stimme, wie bewegt sie sich, was hat sie an, wie sieht ihr Körper aus?
Ich wiederhole mich: Der Wunsch, den Protagonisten um jeden Preis einen künstlerischen Habitus zu verpassen, ein Subjekt aus ihm zu machen, das quasi die ganze Welt in sich aufnimmt und mit ihr fühlt, geht auf Kosten der Wahrheit der Figuren und eines Inhalts, der erzählenswert wäre.

Gruß
Andrea

 
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Fliege schrieb:
Lieber Ernst, kannst Du mir vielleicht mal sagen, wovor Du Angst hast? Warum nimmst du Dir nicht mal ein Thema und beackerst das? Das ist irgendwie, als würdest Du Dich weigern, in die nächste Klasse versetzt zu werden, weil Du Angst davor hast, dann nicht mehr Klassenbester zu sein. Stimmungsbilder kannst Du ja nun malen, das hast Du schon mehrfach bewiesen, warum also immer und immer wieder? War Much wirklich nur ein Ausreißer?
Äh, Frau Lehrerin, aber ich hab außer Much doch auch Nordwand geschrieben. Und Der Sprung und Der Verführer. Also das sind doch nicht nur Stimmungsbilder. Oder haben Sie die nicht gelesen? Ähm, … muss ich jetzt nachsitzen, Frau Lehrerin?

Im Ernst jetzt, Fliege, ich kann dich verstehen und ja, ich finde es gut und wichtig, dass du mir sozusagen die Leviten liest, um nicht zu sagen, mir in den Arsch trittst.

Ich weiß nicht, ich wünsche mir, Du würdest Dir mal größere Schuhe anziehen. Und da sind wir bei den unschönen Erwartungshaltungen , nicht immer fair, ich weiß ... Der Text ist völlig in Ordnung, aber ... vielleicht solltest Du Dich mal davon trennen, es Deinem Leser schön zu machen. Nimm ihm die Decke und den Kakao weg.
Deine hohe Erwartungshaltung empfinde ich nicht als unfair oder unangemessen, sondern eher als eine Art Kompliment. Du bescheinigst mir damit ja offenbar schreiberisches Potential, das du gerne ausgeschöpft sehen möchtest, oder?
Klar bin ich in erster Linie ein hoffnungsloser Romantiker, aber ich spüre selbst schon auch bisweilen den Drang, etwas stärkeres, mutigeres als meine mehrheitsfähigen Wohlfühltexte hinzukriegen. Aber du meine Güte, jetzt schreibe ich seit gerade mal zweieinhalb Jahren, ich sehe mich halt wirklich noch am Anfang.

Und vor allem: Tue Deinen Figuren weh! Lass sie leiden! Quäle sie!

In diesem Sinne, warte ich geduldig auf einen Text von Dir, der mich nicht streichelt, sondern der mir volle Kanne eins auf die Nase haut.

Ja, du hast vollkommen recht. Meine Lieblingsbücher - die ich dann auch gerne mehrmals lese – sind ja auch diejenigen, die mich verstören und aufwühlen, mir wehtun, mir halt einen Pfahl ins Herz zu rammen imstande sind, oder mir zumindest das Hirn verdrehen.

Vielen Dank für deine motivierenden Worte, Fliege. Ich will mich bemühen, über meinen Schatten zu springen, versprechen kann ich dir allerdings nichts.

PS

Fliege schrieb:
Urlaubsstimmung halt und musste echt mit dem Kopf schütteln, als ich dann im Komm gelesen hab, war grad im Urlaub.
Damit nicht der falsche Eindruck entsteht, ich sei ein (gar unermesslich reicher) Müßiggänger:
randundband war es, der vermutete, ich sei im Urlaub gewesen. Ich selbst schrieb lediglich, ich sei fünf Wochen in Italien gewesen. War ich auch, allerdings in Ausübung meines Handwerks und das bedeutete fünf Wochen lang harte Arbeit.
Na ja, schön war’s trotzdem.


Und auch dir, Friedel, vielen Dank für deine neuerliche intensive Auseinandersetzung mit der Geschichte.


Servus Andrea,

Andrea H. schrieb:
Fragt sich wirklich ernsthaft jemand, was eine Katze so treibt, wenn sie mal nicht da ist? Denkt irgendjemand ernsthaft, dass eine Möwe damit zufrieden ist, Ansprache und Futter zu haben, und nie fliegen wird?
Ist mir jetzt schrecklich peinlich, Andrea, aber, ja, Typen, die sich über sowas den Kopf zerbrechen, gibt’s wirklich, zumindest hin und wieder tun sie das, also nach ein paar Bier kann das schon mal passieren …
Aus einem launigen (realen) Herumspinnen dann allerdings pseudo-metaphysische Fragen zu destillieren und sie dem Protagonisten*) einer fiktiven Geschichte unterzuschieben, kann natürlich ins Auge gehen. Zum Beispiel in deines. Aber gut war’s, weil, na ja, ich will‘s mal so sagen, ich bin wirklich froh über deine Kritik, die kommt auch zum richtigen Zeitpunkt, unmittelbar nach der von Fliege, und ja, das passt auch irgendwie recht gut zusammen, was ihr beide sagt. Auch wenn ihr anscheinend verschiedene Aspekte ansprecht. Fliege wirft mir mangelnden Mut zu Größerem vor, du wiederum

… zuviel attitude und zu wenig Inhalt.

bzw. schreibst du:

Der Wunsch, den Protagonisten um jeden Preis einen künstlerischen Habitus zu verpassen, ein Subjekt aus ihm zu machen, das quasi die ganze Welt in sich aufnimmt und mit ihr fühlt, geht auf Kosten der Wahrheit der Figuren und eines Inhalts, der erzählenswert wäre.

Na ja, ist ja beinahe dasselbe igendwie, was ihr da sagt und das lässt mich jetzt grundsätzlich meine Herangehensweise ans bzw. meine Einstellung zum Schreiben hinterfragen und darüber nachdenken, und das wiederum, das Nachdenken, führt mich zu der Einsicht, dass ich nach wie vor viel zu unbedarft, zu unbedacht, zu naiv, zu halbherzig schreibe, und ja, zu selbstgefällig, zu effektheischend, zu sehr auf den Stil bedacht und zu wenig auf die inhaltliche Aussage. In Wahrheit, und das soll jetzt nicht kokett klingen, halte ich mich, was das Schreiben betrifft, ja eigentlich für einen Scharlatan und ihr beide scheint mich durchschaut zu haben, euch kann man offensichtlich kein X für ein U vormachen. Also Scharlatan in dem Sinn, dass ich so tue als ob. Als ob ich mir Gedanken machen würde beim Schreiben, als ob ich eine Absicht und Intention hätte, als ob ich wüsste, was ich da eigentlich tue. Wo ja in Wahrheit die wahren Regisseure meiner Geschichten der Zufall und der Schalk sind. Oder meinst du im Ernst, Andrea, ich hätte bei der Namenswahl an Van Gogh gedacht?
Zwei Tage vor dem Posten der Geschichte hieß Vincent noch Vinc, so wie der Typ in Pulp Fiction, kein Witz, dann allerdings las ich am nächstenTag in einer Segelzeitschrift von dem französischen Regattasegler und mehrfachen Vendee Globe -Teilnehmer Vincent Riou, und nach dem nannte ich Vinc dann doch Vincent. So war das.
Was ich sagen will, das „kulturbeflissene Namedropping“ fiel mir als solches gar nicht auf, das geschah nicht mit Absicht, ehrlich nicht. Na klar, der Titel. Aber der war weniger als Hommage an Greenaway, sondern vielmehr als Witz gedacht, als Insidergag zwischen mir und einer Freundin, die hier im Forum auch mitliest und die den Film einfach nicht mag. Und überhaupt sah ich Vincent nicht als Künstler oder gar Dichter. Der kritzelt halt irgendwas in sein Notizbuch, meinetwegen Tagebuch, aber dazu muss man ja nicht Dichter sein, und als ihn die Kellnerin fragt, was er da schreibt, verarscht er sie quasi. Ein Gedicht schreibt er, sagt er. Eh klar, was sonst, kommt doch immer gut, um eine Frau anzumachen. Und dazu muss er natürlich dreckig grinsen. Und bei dreckigem Grinsen und Schriftsteller fällt einem natürlich, also mir zumindest, als erstes der Obermacho Hemingway ein, wer sonst. Na ja, und um Botticellis Frauen schön zu finden, muss man auch nicht unbedingt kulturbeflissen sein, das ist ja quasi männlicher common sense. Wie gesagt, hat sich alles ohne jegliche Absicht und ohne Hintersinn einfach so ergeben. Ich hab’s ja auch schon Wilhelm geschrieben, dass ich nicht recht weiß, wie weit - oder ob überhaupt – man als Autor verantwortlich ist für die Rezeption seines Textes durch die Leser.

Aber gerade bei Franca merkt man, wie sehr dieser Vincent in seiner Künstler-Attitüde gefangen ist: Ihre Erscheinung wird sofort mit einem Botticelligemälde überblendet, ansonsten erfährt man nur, dass sie eine "sehr schöne Frau" ist. So geschärft am Beginn die Sinneswahrnehmung Vincents erscheint, bei Franca versagt sie. Wie riecht sie denn, wie klingt ihre Stimme, wie bewegt sie sich, was hat sie an, wie sieht ihr Körper aus
Auch das ist ja weniger Vincents vermeintlicher Künstler-Attitüde vorzuwerfen, als vielmehr meiner, des Autors Dilletanz (gibt’s das Wort überhaupt? Egal. Zumindest ist es erheblich kürzer als Dilettantismus.) Du hast vollkommen recht, Andrea, wäre ich Leser, würde ich auch gerne mehr von Franca erfahren, von ihrer sinnlichen Ausstrahlung, von ihrer Schönheit, wie sie riecht, vermutlich nach einer Mischung aus Kneipenküche und Zigaretten und Orangenblüten, keine Ahnung, egal, jedenfalls ich, der Autor, habe schlicht vergessen, sie für die Leser erlebbarer zu machen. Ich hab‘s echt vergessen. So viel hätte ich von ihr erzählen können, verdammt.
Ich versuche jetzt nicht meinen Text vor dir zu verteidigen, Andrea, sondern will dir nur zeigen, wie es dazu gekommen ist, dass er so ist, wie er scheint. Auf jeden Fall kann ich aus deiner Kritik viel lernen, vor allem, dass ich viel bewusster schreiben, mir auch gewisse Konsequenzen überlegen sollte, also wie das in den Köpfen der Leser wirken könnte, nicht nur Sätze schreiben, weil sie mir halt so gut gefallen.

Jessas, ich muss echt noch viel lernen über das Schreiben, danke, dass du mir dabei hilfst, Andrea. Meine ich ganz ernst.

Gruß, offshore

*) Ich kapiere übrigens nicht, warum du Vincent als Ich-Erzähler bezeichnest. (Projizierst du gar mich, den Autor, in die fiktive Figur des Vincent?)

 

Hallo offshore

Dass Du ein begnadeter Romantiker bist, kam teilweise schon in früheren Geschichten zum Ausdruck. Mit dieser Erzählung hier hast Du nun aber ein besonders feines und sensibles Stück dargelegt. Nicht, dass es nach moderner Literaturtheorie rundum einwandfrei funktioniert, dazu fehlt es an einer vertieften Auseinandersetzung und einer Auflösung, die den Wandel als bedeutungsvoll ausweist. Desungeachtet schmeichelte es mir als Leser aber mit den dargelegten Sätzen, die die Gefühlswelt sympathisch anzusprechen vermochten.
Bei diesem Stück erscheint es mir auch angezeigt, wenn Leser sich von theoretischen Definitionen lösen und sich am eintauchen in das stille Geschehen erfreuen können. Aristoteles erwähnte einst in seiner Poetik: „Das wesentlichste Element des Erzählens sei die Handlung, gute Geschichten müssten einen Anfang, eine Mitte und ein Ende haben und würden durch die Art ihrer Anordnung Vergnügen bereiten.“ Nach meinem subjektiven Eindruck ist diese Formgebung doch erfüllt.

Die Masse an Kommentaren, welche die Geschichte bereits auslöste, habe ich aus Zeitgründen nicht gelesen. Wenn meine Meinung sich in diesen allenfalls schon spiegelte und nichts Neues einbringt, ist es diesem Umstand und meinem Vergnügen am Lesen zuzuschreiben. – Einzig der Titel, er war mir kein Zugpferd.

Schöne Grüsse

Anakreon

 

Servus myisrael

seit deinem Debüttext, diesem Eisbrecherdings, schätze ich dich als Autor und Kommentator und ja, du bist mir abgegangen hier in den letzten Monaten. Umso mehr freut es mich, dass du jetzt wieder da bist und dich obendrein zu meinem Text äußerst.

myisrael schrieb:
hier und dort etwas kitschig,
Ja ich weiß, scheint irgendwie mit dem Älterwerden zusammenzuhängen, dass ich Kitsch gegenüber mehr und mehr tolerant werde. Ich trage das allerdings mit Gelassenheit.

"Nein, nur ein Irrer, ein Spinner"
Diese Antwort Vincents gefiel dir nicht. Ich muss zugeben, dass auch ich nicht hundertprozentig damit zufrieden war, und habe nach deinen Bedenken noch einmal darüber nachgedacht, mit dem Ergebnis, dass ich die Stelle jetzt geringfügig geändert habe. Und dementsprechend auch Francas Antwort ein paar Zeilen später.

Vielen Dank, myisrael.


Servus Anakreon

Einen begnadeten Romantiker nennst du mich, und das ist eine Bezeichnung, die ich mittlerweile als großes Kompliment betrachte, anders als noch vor ein paar Jahren, als ich danach trachtete, mir möglichst lange mein cooler Hund-Image zu erhalten. Ist das womöglich ein erstes Anzeichen von Altersweisheit?
Ja, hat mich ehrlich gefreut, was du zu meiner kleinen Sommergeschichte gesagt hast.
Und auch dass du meine Missachtung der Wie eine moderne Kurzgeschichte auszusehen hat-Regeln tolerierst, bzw. sie sogar gutheißt, freut mich und bestärkt mich in meiner Haltung, nicht alle Regeln als in Stein gemeißelt anzusehen.
Ein wirklich schöner Kommentar, Anakreon, vielen Dank dafür.

offshore

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo ernst

Asche über mein Haupt, endlich der erste Com zu einer Geschichte von dir.
:shy:

Der Einstieg, eine Landschaftsmalerei mit dem Pinsel des inneren Monologs, poetisch vorgetragen aber ohne zu stark in Schwulst abzudriften.

„Ertrunken ist das arme Kerlchen vermutlich nicht, was?“
Da hat's mich kurz rausgehauen, da ich den Zusammenhang zwischen dem "Durch-die-Luft-wirbeln" und dem Ertrinken nicht kapiert habe.

Nachtschichten in der Werft, der Dreckskerl. In Wahrheit hat er eine Geliebte. Schon seit zwei Jahren.“
„Vermutlich bist du ihm zu schön. Vermutlich ahnt er, dass er dich nicht verdient hat.“
Das ging mir zu schnell, die Reaktion von Vincenzo kam so ohne betroffene Kunstpause, dass mir der weitere Dialog dann wie einstudiert vorkam.
Du zeichnest Vincenzo bis dahin als Gefühlsmensch, wie er die duftende Umgebung wahrnimmt, sich Sorgen um Katzen und Möven macht und dann diese nüchtern hingeworfene Alltagsweisheit:

„Dinge gehen kaputt, Franca … Dinge gehen kaputt, die Liebe geht zu Ende, Menschen sterben und Küken werden flügge.“
Das nehem ich dir/ihm nicht ab, so berechnend.
Oder willst du ihn - nur in diesem einen Moment - absichtlich etwas plump darstellen?

Franca mochte Vincenzo, wollte das mit ihrem Mann - runtergearbeitet und wohl etwas weinseelig - einfach mal los werden. Deshalb schlug sie auch Vincenzos Angebot nach kurzem Träumen
(wenn nicht jetzt, wann dann?) aus.

Eigentlich ist deine Geschichte ein Reigen um Beziehungen und Gefühle, zwischen Menschen und Tieren, Zeit und Raum, Leben und Traum. Alles konzentriert auf diesen einen Moment am Tisch in der Hafenkneipe.
Schön "gezeichnet", gern gelesen.

Liebe Grüsse,
dot

 

dotslash schrieb:
Asche über mein Haupt, endlich der erste Com zu einer Geschichte von dir.
Na ja, dot, zum Glück kann ich mich echt nicht über zu wenige Kommentare beklagen. Trotzdem freut es mich natürlich, dass auch du dich einmal an einen offshoreschen „Wohlfühltext“ heranwagst.

„Ertrunken ist das arme Kerlchen vermutlich nicht, was?“
Da hat's mich kurz rausgehauen, da ich den Zusammenhang zwischen dem "Durch-die-Luft-wirbeln" und dem Ertrinken nicht kapiert habe.
Ich hab mich eigentlich eh schon gewundert, dass diese Stelle bisher von niemandem hinterfragt worden ist. Im Grunde ist es nur ein harmloser Witz von Vincent. Aber durch einen Überarbeitungsschritt hat er an Eindeutigkeit verloren. In einer früheren Fassung stand da nämlich noch:

„Eines natürlichen Todes ist das arme Kerlchen vermutlich nicht gestorben, was?“
„Nein. Irgendwann ist der Bindfaden gerissen.“
Das klang mir aber irgendwie zu umständlich. Und mit der Frage, so wie sie jetzt dasteht, deutet Vincent halt an, dass er nicht annimmt, die arme Krabbe habe jemals noch das Meer gesehen ...
Ich glaub, ich werd‘s wieder zurückverändern. Überhaupt werde ich an dieser Dialogszene noch ein wenig arbeiten, weil:

Das ging mir zu schnell, die Reaktion von Vincenzo kam so ohne betroffene Kunstpause, dass mir der weitere Dialog dann wie einstudiert vorkam.
Du hast nämlich vollkommen recht, dot, da fehlt wirklich was. Ich habe mir die Geschichte jetzt gerade noch einmal durchgelesen, und an der Stelle hab ich mir auch gedacht, verdammt, eigentlich klingt das viel zu drehbuchmäßig perfekt …
Ich werd mal schauen, ob mir da noch was einfällt dazu, ob ich das mit ein paar zusätzlichen Sätzen verbessern kann.
Diese Stelle allerdings:

Du zeichnest Vincenzo bis dahin als Gefühlsmensch, wie er die duftende Umgebung wahrnimmt, sich Sorgen um Katzen und Möven macht und dann diese nüchtern hingeworfene Alltagsweisheit:
„Dinge gehen kaputt, Franca … Dinge gehen kaputt, die Liebe geht zu Ende, Menschen sterben und Küken werden flügge.“
Das nehem ich dir/ihm nicht ab, so berechnend.
Also ich weiß nicht recht, ich mag das nach wie vor, was Vincent da sagt. Also „Alltagsweisheit“ hin oder her, für mich hat das weniger was Berechnendes, als vielmehr was Tröstliches. Klar ist das banal, na ja, aber es stimmt halt einfach.

Eigentlich ist deine Geschichte ein Reigen um Beziehungen und Gefühle, zwischen Menschen und Tieren, Zeit und Raum, Leben und Traum. Alles konzentriert auf diesen einen Moment am Tisch in der Hafenkneipe.
Schön "gezeichnet"
Und du ziehst hier ein sehr schönes Resümee meiner kleinen Sommergeschichte, dot. Vielen Dank dafür.

offshore

 

„Eines natürlichen Todes ist das arme Kerlchen vermutlich nicht gestorben, was?“
„Nein. Irgendwann ist der Bindfaden gerissen.“
:D
Passt besser, allerdings, müsste Vincenzo nicht eher nach dem Befinden fragen, denn Franca erwähnt ja nicht, dass die Krabbe das Zeitliche segnete.

so in etwa:
„Hat sie's überlebt?“
„Nein. Irgendwann ist der Bindfaden gerissen.“

Also ich weiß nicht recht, ich mag das nach wie vor, was Vincent da sagt. Also „Alltagsweisheit“ hin oder her, für mich hat das weniger was Berechnendes, als vielmehr was Tröstliches.
Keine grosse Sache. Hab das auch nochmal durchgelesen, und wenn Vincenzo vielleicht erst irgendwie noch einen Moment auf die Tischdecke guckt, also die Worte von Franca setzen lässt, dann stimmts schon.
Ist deine Geschichte und wenn es für dich an dieser Stelle so stimmt, unbedingt stehen lassen.
;)

dot

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo ernst,

warum das Gehen auf Gedankenwegen oftmals als löchrige Handlung gesehen wird, weiß ich nicht – als ob das weiße Blatt beim Schreiben von Gedanken weiß bliebe oder wenig schwarz würde. Wir lesen hier keine ausgefuchsten Gedanken, sondern begleiten Vincent auf einem solchen Gedankengang, er biegt nicht ab, fliegt nicht davon, gräbt sich nicht in die Tiefe, er schaut sich um und wir schauen uns mit um. Mir hat gefallen, was ich gesehen habe, ich habe auch nicht mit den Achseln gezuckt und mir mehr gewünscht.

Ein paar Anmerkungen:

Die Vorstellung, momentan nicht einen Traum, sondern sein wirkliches Leben zu erleben, gefiel ihm.
Dieses „momentan“ ließ mich stolpern. Bedeutet dieses Wort, dass Vincent in der Regel einen Traum erlebt und nur selten das wirkliche Leben sieht?

Franca war eine ungemein schöne Kellnerin obendrein.
Die Satzstellung hat mir hier nicht gefallen.

„Dinge gehen kaputt, Franca … Dinge gehen kaputt, die Liebe geht zu Ende, Menschen sterben und Küken werden flügge.“
Wie Vincent eine so poetische Sicht auf die Welt haben kann und zugleich eine so ernüchternde Rationalität, eine pessimistische Resignation, empfinde ich als eigenartig, nicht jedoch als unstimmig oder falsch. Allerdings wäre es – als Folge seiner anfänglichen Beobachtung und Interpretation der Umwelt – schön, wenn er das Ende der Schönheit der Dinge nicht mit einer bloßen Tatsache abtut, sondern einen Vergleich startet, mit einem Kunstwerk, einem Bild vielleicht, das vergilbt oder sich wellt, auf jeden Fall zwangsläufig seine ursprüngliche Form verliert oder vielleicht selbst nach Jahren noch in Schönheit dort steht, in unübersehbarer Schönheit wollte ich schon schreiben, aber doch übersehen wird, weil man sie nicht mehr durchschaut – wie zu Beginn deiner Geschichte als Vincent die Szene abhorcht und abschnüffelt, und dabei bemerkt, dass mit dem Alter seine Sinne schwächer geworden sind, ihm aber – nenne es ein Paradox – mehr zeigen.

Beinahe unmerklich hatte es zu regnen begonnen. Ganz sanft nur, eher zu erahnen, als zu hören, nicht mehr als ein leises Rascheln auf der Markise. Aber die Gerüche veränderten sich. Der Staub der Straße und die Erde in den Blumentöpfen, die dürren Grasbüschel zwischen den Steinplatten der Mole und der blühende Hibiskus hinter ihm, alles schien jetzt seinen eigenen Duft zu verströmen.
Vincent schloss die Augen und versuchte sich vorzustellen, in einer warmen Sommernacht vor einer sizilianischen Hafenkneipe zu sitzen, am Meer. Das Meer zu riechen und unzählige Frösche von der nahen Flussmündung her lärmen zu hören. Er versuchte sich vorzustellen, wie vom Gezirpe der Zikaden die Luft zu vibrieren schien und hin und wieder ein fremdartiger Vogelruf ertönte. Dass Vögel auch in der Nacht singen, war ihm früher nie aufgefallen, aber möglicherweise, dachte er, musste man erst ein gewisses Alter erreicht haben, um solche Dinge wahrzunehmen.
Sehr schön!

Die Szene mit der Kellnerin mochte ich – in ihrer beiläufigen Wichtigkeit – auch sehr. Und mit Wichtigkeit werfe ich dir nicht vor, dass die Szene wichtig sein soll, es aber nicht schafft, sondern das genaue Gegenteil behaupte ich damit: eine Kellnerin bietet ihrem Gast an, die Bierflasche ans Fensterbrett zu stellen, weil sie bald schließt – mag üblich sein, aber darin lese ich trotzdem ein kleines Vertrauensverhältnis. Sie sagt, sie muss nach Hause, bleibt aber dann doch. Ein Interesse. Sie gesteht – ohne dabei ein Geständnis abzulegen – dass sie von ihrem Mann betrogen wird. Eine Offenbarung. Und da passiert sehr viel mit wenigen Worten. Schließlich fragt er noch, ob sie mit aufs Boot mag. Ein Flügelschlag. Er könnte wie ein notgeiler, alter Sack aussehen, tut er aber nicht und das liegt nicht an seinem Charme oder seiner Eleganz, sondern an ihr, so eine Situation hängt im Grunde immer von dem Gegenüber ab – und sie antwortet höflich und lieb und süß, aber das höflichste und liebste und süßeste dürften wohl jene Minuten (!) gewesen sein, die sie in die Ferne blickt. Du schreibst da ja ganz bewusst von Minuten und nicht von Sekunden oder Augenblicken. Das hat mir sehr gefallen.

Beste Grüße
markus.

 

dotslash schrieb:
und wenn Vincenzo vielleicht erst irgendwie noch einen Moment auf die Tischdecke guckt, also die Worte von Franca setzen lässt, dann stimmts schon.

Ich habe zu der Stelle da jetzt ein paar alternative Ergänzungen im Kopf, jeweils nur wenige Sätze (passenderweise wieder in Italien geschrieben), jetzt muss ich mich nur noch entscheiden, was ich nehme. Mal sehen.
Vielen Dank für deine neuerliche Rückmeldung, dot.

M. Glass schrieb:
„Dinge gehen kaputt, Franca … Dinge gehen kaputt, die Liebe geht zu Ende, Menschen sterben und Küken werden flügge.“
Wie Vincent eine so poetische Sicht auf die Welt haben kann und zugleich eine so ernüchternde Rationalität, eine pessimistische Resignation, empfinde ich als eigenartig, nicht jedoch als unstimmig oder falsch. Allerdings wäre es – als Folge seiner anfänglichen Beobachtung und Interpretation der Umwelt – schön, wenn er das Ende der Schönheit der Dinge nicht mit einer bloßen Tatsache abtut, sondern einen Vergleich startet, mit einem Kunstwerk, einem Bild vielleicht, das vergilbt oder sich wellt, auf jeden Fall zwangsläufig seine ursprüngliche Form verliert oder vielleicht selbst nach Jahren noch in Schönheit dort steht, in unübersehbarer Schönheit wollte ich schon schreiben, aber doch übersehen wird, weil man sie nicht mehr durchschaut – wie zu Beginn deiner Geschichte als Vincent die Szene abhorcht und abschnüffelt, und dabei bemerkt, dass mit dem Alter seine Sinne schwächer geworden sind, ihm aber – nenne es ein Paradox – mehr zeigen.

Ach markus, der wirkliche Poet bist ja in Wahrheit du. Und wärest du an Vincents Stelle gewesen, klängen all diese Überlegungen wohl vollkommen glaubwürdig. Aber Vincent ist in meinen Augen ja kein Philosoph, oder gar ein Intellektueller. Nur ein ganz gewöhnlicher Mann halt, dem es gelingt, seine Augen offen zu halten.

... und sie antwortet höflich und lieb und süß, aber das höflichste und liebste und süßeste dürften wohl jene Minuten (!) gewesen sein, die sie in die Ferne blickt. Du schreibst da ja ganz bewusst von Minuten und nicht von Sekunden oder Augenblicken. Das hat mir ganz wunderbar gefallen.
Jessas, ich mag deine so poesievolle Art Kommentare zu schreiben einfach, markus, ehrlich, da geht mir altem Misanthropen jedesmal so richtig das Herz auf.

Und da passiert sehr viel mit wenigen Worten.
Dass man dieses Resümee aus der im Grunde ja sehr kurzen Szene ziehen kann, war ganz in meinem Sinne, und es freut mich natürlich, dass es gerade bei dir wieder einmal geklappt hat.

Vielen Dank, markus

offshore

 

Ich bekomme tatsächlich Lob von der gnadenlosen maria? Jessas, darauf warte ich seit zwei Jahren …
Jetzt kann ich mich eigentlich getrost von den Wortkriegen zurückziehen, mich aufs Sofa hauen und Bier trinken.
Hach, ist das Leben schön.

Vielen Dank, maria.

 

Mahlzeit,

ich begebe mich nicht auf die Suche nach dem perfekten Text der den perfekten Moment einfängt. Als Südfrankreich-Griechenland-Hafenkneipen-Sitzer, bin ich sofort in der Situation drin. So ergibt sich aus der Stille des Gedankens immer wieder eine Situation, die einem am Ende in die Einsamkeit entgleitet. Zwei sich kurz berührende Linien, fast zu schön, um zu begreifen, dass sie wieder auseinanderdriften müssen, weil sie nicht füreinander bestimmt sind.

Dinge gehen nicht nur kaputt oder entstehen neu, sie kommen auch oftmals gar nicht erst zusammen.

Ernst hat einen wichtigen Teil von Literatur getroffen, den Teil des Lebens, der mehr enthält, als wir sehen können, wollen. Hat er gut gemacht.

Morphin

 

Morphin schrieb:
Zwei sich kurz berührende Linien, fast zu schön, um zu begreifen, dass sie wieder auseinanderdriften müssen, weil sie nicht füreinander bestimmt sind.
Du ziehst hier ein wirklich schönes Resümee meiner kurzen Geschichte, Morphin. Tja, ein Mann, der Orangen-Curry-Joghurt-Sauce zu kochen imstande ist, kann ja kein wirklich schlechter Mensch sein, das hab ich mir schon gestern Abend gedacht, insofern wundert es mich nicht, dass gerade du dich so empfänglich für diesen Text zeigst.

Vielen Dank, Morphin.
(Und nein, ich empfinde deinen Kommentar nicht als verschämtes Dankeschön auf meinen gestrigen Heiratsantrag, sondern als ernstgemeinte Rezension.)

 

Ich hab es grad noch mal gelesen und - weil ich heute Morgen in der Buchhandlung war und fünf Leute vor mir Actionreißer mit gewaltigen Titeln kauften - gedacht, dass die Menschen mit Tiefgang aus solchen Geschichten wie deiner, Unmengen an Erkenntnis ziehen können, während der Actionreißer sie von Zeitpunkt A bis Zeitpunkt B unterhält, dann wird ihr Leben aber wieder langsam leer (okay, nicht bei allen).

 

Lieber offshore!

Wow, da komme ich gerade ein bisschen verloren aus dem Italienurlaub, vermisse neben lingua italiana, Pizza und Chianti auch meersalzige Luft und echt sonnige Sonne – und tauche in deine Geschichte. Die führt mich direkt zum Hafen zurück … vielen Dank! Nein, spannend ist die Story nicht, das spielt aber keine Rolle, solange man sich in ihr so dermaßen wohlfühlt .

Beste ‚dolce‘ Grüße,
(die ich immer noch nur selten anbringen kann, da mich das Leben ein wenig fordert gerade :-)

Eva

 

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