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Das vertraute Gesicht
Stefan liebte seinen Job. Seit anderthalb Jahren arbeitete er nun in dem Transportunternehmen. Sein Boss war ein Workaholic und erwartete das auch von seinen Leuten. Wenn Stefan seine Touren schaffte und die Tonnage stimmte, rollte auch der Rubel. Das war das Positive an diesem Job. Letztes Jahr hatte er zum ersten Mal seiner Frau und dem kleinen Mike eine Woche Urlaub in der Toskana bieten können. Dann hieß es wieder: Geld verdienen.
Sein Mobiltelefon klingelte. Es lag immer griffbereit auf dem Armaturenbrett. Der Boss legte Wert darauf, jeden seiner Fahrer ständig erreichen zu können. Der Tourenplan war mehr als flexibel.
"Stefan, wenn du in Köln deine Ladung los bist, meldest du dich." Das ging immer so. Die Adressen, die er anzufahren hatte, bekam er per SMS. Der Job war hart. Nichts für Weicheier.
Dieses Mal warteten Fässer mit Chemikalien. Weiß der Teufel, warum, aber die mussten unbedingt noch heute von Köln nach Bremen. Und da spielte es keine Rolle, ob er schon seit Stunden ohne Pause auf dem Bock gesessen hatte. Stefan würde es bis Feierabend nicht bis Bremen schaffen, wenn er die Lenkzeiten einhalten wollte. Aber dafür wurde er nicht bezahlt. Kundenzufriedenheit war, was zählte.
Die Fahrt nach Köln verlief zügig. Der Weg durch die Stadt war da schon schwieriger. Stefan hasste die vielen engen Einbahnstraßen.
Dann war er am Ziel. Jetzt im Akkord die Ladung runter. Immer seltener bekam er Personal zum Entladen. Ständig saß ihm die Zeit im Nacken. Das hatte er schnell erfahren müssen. Aber wenigstens bekam er einen Mann, wenn auch nur bis zur Pause.
Er fuhr die letzten Paletten von der Ladebordwand. Sein Handy klingelte. Er musste nicht erst auf das Display schauen, um zu wissen, wer ihn anrief.
"Bin fast fertig mit Abladen", keuchte er, den Hubwagen mit einer Hand ziehend.
"Was heißt bin gleich fertig! Du solltest schon die nächste Ladung drauf haben, verflucht noch mal!"
Das kann nicht sein, dachte Stefan, der Alte will tatsächlich, dass ich noch heute in Bremen auslade. "Chef, ich bin schon fast weg. Adresse hab ich schon gecheckt." Fluchend rannte er durch die Gänge des Verwaltungsgebäudes, um die Unterschrift auf den Frachtpapieren zu bekommen. "Konnte der Idiot nicht später Pause machen?!", ärgerte er sich über den Kollegen.
Er saß wieder in seiner Kabine. "Scheiße. Nichts mehr zu trinken." Er stellte die leere Flasche zurück. Um etwas zu besorgen, fehlte ihm jetzt die Zeit. Schon rollte er aus dem Tor und in Richtung des nächsten Ziels. Der Jingle von seinem Telefon kündigte eine SMS an. Er las sie und hätte dabei fast eine rote Ampel überfahren. Die Firma mit den Chemikalien machte Stress. Die Fässer hätten schon unterwegs sein müssen. "Du mich auch", sagte er leise, als ob es niemand hören sollte und warf das Handy zurück auf die Ablage. Wenige Sekunden später läutete es erneut, diesmal eine ihm unbekannte Nummer. "Transporte aller Art und zu jeder Zeit, immer zu Ihren ...", sagte er und wollte die auswendig gelernte Phrase vollenden, wurde aber unwirsch unterbrochen.
"Sind Sie der Kerl, auf den die ganze Welt wartet?" Die Frau am anderen Ende der Leitung hatte eine rauchige Stimme. "... Diensten", gab Stefan gewollt lässig hinzu. "Wo brennt's denn so furchtbar?", fragte er ruhig, auch, um sich selbst zu beruhigen.
"Ja, wo bleiben Sie denn? Ihr Chef hat Sie schon für ein Uhr versprochen." Er hörte Ungeduld und Verzweiflung.
"Mein Engelchen", flirtete Stefan, "ich habe heute schon fünfhundert Kilometer hinter mir und bald noch mal so viel vor mir. Das schaffen wir schon." Plötzlich Schweigen. Dann die Stimme versöhnlicher: "Entschuldigung, ich weiß, wie das läuft. Hier wartet ein Kaffee auf Sie."
"Klingt gut. In zehn Minuten bin ich da." Gottseidank waren genug Leute zum Beladen da, wie sie noch gesagt hatte. Das Zeug wollten sie ihm bestimmt nicht alleine überlassen. Er legte das Handy weg und sah zur Uhr. Es war schon fast Zwei.
Der Kaffee tat gut und die Dame mit der rauchigen Stimme war gar nicht so grantig, wie er sie sich vorgestellt hatte. "Wissen Sie", sagte sie, indem sie sich bequem in ihren Sessel setzte, "die müssten in Bremen die Anlage herunterfahren, wenn sie das Zeug nicht rechtzeitig bekämen." Stefan lächelte sie an und bedankte sich für den Kaffee. Er wollte nicht unhöflich sein und kontrollierte so unauffällig wie möglich, ob neue Nachrichten auf seinem Mobiltelefon eingegangen waren.
"Wo werden Sie übernachten?", fragte sie wie beiläufig.
Er hielt sein Telefon hoch und zeigte auf eine SMS. "Muss zurück ohne Ladung. Noch heute."
Sie schüttelte den Kopf und goss ihm noch einmal Kaffee ein. Mit einem Nicken bedeutete sie ihm, zu trinken. Noch während er seine zweite Tasse Kaffee zu genießen versuchte, kam die Meldung, die Ladung sei komplett. Hektisch goss er den Rest in sich hinein und verließ mit einem knappen, aber herzlichen Gruß das Büro.
Brummi an Brummi wälzte sich die Kolonne auf der A1 Richtung Bremen vorwärts. Nur wenige Meter vor sich sah er die Heckklappen des vor ihm fahrenden Lasters. Die Lider wurden ihm schwer. Er wischte sich über die Augen. Was war das? Ihm war plötzlich, als habe er ein Gesicht gesehen. Es war ein ihm vertrautes Gesicht, aber er konnte nicht sagen, wem genau es gehörte.
Dann sah er dieses Gesicht wieder. Deutlicher jetzt. Es war ein rundliches, fast kindlich wirkendes Gesicht. Das Gesicht einer Frau. Er musste sich konzentrieren, um dem Laster vor ihm nicht zu nahe zu kommen. Immer wieder tauchte dieses Gesicht vor seinen Augen auf. Die Abstände wurden kürzer. Er wusste nicht, was ihm dieses Gesicht sagen wollte. Es sah ihn mit weit geöffneten Augen an. Wollte es ihn warnen? Aber wovor nur? Dann fielen ihm die Arme schwer in den Schoß. Plötzlich hörte er einen Schrei. Er registrierte nicht mehr, dass es sein eigener war. Als letztes sah er wieder dieses Gesicht, vor Angst zu einer Fratze verzerrt.
Irgendwo im Fahrerhaus klingelte ein Mobiltelefon. Der Mann in der gelbgrünen Warnweste nahm das Gespräch entgegen.
"Hallo?"
"Stefan, die warten in Bremen schon seit einer Stunde. Wo bleibst du denn?"
"Moment, bitte."
Ein anderer Polizist in Warnweste hielt die Scheibe des Fahrtenschreibers in der Hand. "War seit fünfzehn Stunden am Stück auf Achse."
"Was ist da los, Stefan? Mit wem redest du?"
Der Mann hielt sich das Handy wieder ans Ohr.
"Hallo?"
"Mit wem spreche ich? Was ist da los? Wo ist Stefan?"
"Sie sprechen mit der Polizei. Wer sind Sie?"
"Polizei?" Er lachte verlegen. "Ist er zu schnell gewesen? Er hat's immer so eilig."
"Nein, zu schnell ist er nicht gewesen. Nur zu lange."
"Geben Sie mir bitte meinen Fahrer. Es ist wirklich dringend!"
"Tut mir leid, aber ich fürchte, er kann nicht mehr telefonieren. Und fahren schon gar nicht mehr."
"Ist ihm was passiert?"
"Sind Sie mit ihm verwandt?"
"Ich bin sein Boss."
"Hören Sie, wenn Sie nicht mit ihm verwandt sind ... Aber das Fahrzeug und die Ladung gehört ja dann Ihnen. Was genau ist in diesen Fässern?"
Vor dem kleinen Siedlungshaus fuhr ein Streifenwagen vor. Die junge Frau sah ihn von ihrer Küche aus, beachtete ihn aber nicht weiter. Doch dann läutete der Türgong. Sie ging an die Haustür, öffnete sie und sah erschrocken in die Gesichter zweier Uniformierter. Ihr rundliches, fast kindlich wirkendes Gesicht bekam einen angstvollen Ausdruck. Aus dem Inneren des Hauses war die Stimme eines sorglos spielenden kleinen Jungen zu hören.