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Tod des Japaners

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29.01.2010
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Tod des Japaners

Erstaunt blickte Raoul Koller auf den leblosen Körper seines Vorgesetzten. Wäre da nicht die kleine Blutlache, die sich unter dessen Kopf hervor bildete, könnte man denken, er sei vor Erschöpfung eingeschlafen. Ein Opfer seines hyperaktiven Arbeitslebens. Doch da lag auch die Pistole, hart an der Kante des Schreibtisches, neben seiner rechten Hand. Wie in Zeitlupe verdichtete sich das Bild zur Information, die Koller suggerierte, Watanabe sei tot. Zaghaft begannen seine Nerven zu flattern, ein leichtes Zittern erst in seinen Händen, um dann beschleunigt den ganzen Körper zu erfassen. Fluchtartig rannte er aus dem Büro.

Man ließ ihn warten. Endlos schien die Zeit sich hinzuziehen, bis endlich der Polizeibeamte ohne anzuklopfen eintrat. Honegger, so hatte er sich vorgestellt, blickte ihn scharf an.
»Nun erzählen Sie mal präzis, was vorgefallen ist.«
Koller hatte bereits bei Eintreffen der Polizisten kurz ausgesagt, wie er den Toten vorgefunden hatte. Was konnte er da ergänzen, sein Kopf fühlte sich leer an. »Ich klopfte an die Tür meines Vorgesetzten, und da keine Antwort kam, trat ich ein. Da sah ich ihn über dem Pult gebeugt liegen, dachte erst, er sei vor Müdigkeit eingeschlafen. Erst allmählich begriff ich, dass da eine Blutlache war und eine Pistole dort lag.«
»Was wollten Sie denn um diese Zeit von Herrn Watanabe? Es war doch immerhin gegen Mitternacht. Und wieso wussten Sie überhaupt, dass er da war?«
»Ich hatte ein Projekt abgeschlossen, die letzten Kontrollen waren einwandfrei. Herr Watanabe wollte in solchen Fällen stets umgehend informiert werden. In der Projektentwicklung ist Nachtarbeit nicht ungewöhnlich, da Termine drängen. Weil ich ihm gegenüber ankündigte, heute noch fertig zu werden, war ich mir sicher, dass er darauf wartete.«
»Hörten Sie den Schuss nicht? Im Haus herrschte Stille, war da nicht zumindest ein gedämpfter Knall zu hören?«
»Nein, ich hörte gar nichts. Vielleicht war ich zu sehr auf meine Arbeit konzentriert oder es geschah, als ich die Unterlagen ausdruckte. Der Druckvorgang könnte einen gedämpften Laut übertönt haben. Sein Büro liegt ja auch am andern Ende des Korridors.«
»Wie lange dauerte denn der Druckvorgang und wieviel Zeit verstrich, bis Sie ihm die Unterlagen bringen wollten.«
»Der Drucker benötigte etwa fünfzehn Minuten. Dann … äh …«, Koller stammelte unvermittelt.
»Ja, was dann?«
»Während des Druckvorgangs trat ein Kurzschluss im normalen Stromnetz auf, das Licht erlosch. Es ist jedoch unmöglich, dass dieser vom Drucker ausgelöst wurde, da die Stromversorgung für die Computerinfrastruktur über eine separate Leitung erfolgt. Auch schalteten nur das Raumlicht und die Klimaanlage aus.«
»Was taten Sie aufgrund dieses Vorfalls? Orientierten Sie den Sicherheitsdienst? Deren Büros im Parterre sind ja immer besetzt.«
»Nein, nein. Es war nicht das erste Mal, dass es in der normalen Stromversorgung einen Kurzschluss gab. Da ich wusste, in welchem Raum die Sicherungen untergebracht sind und welche für meinen Arbeitsraum zuständig sind, ging ich selbst ins Kellergeschoss.«
»War die Tür zu ihrem Arbeitsraum offen, als sie in den Keller gingen?« Mit dem Kopf wies Honegger auf den Keil, der offensichtlich als Stopper neben dem Türrahmen am Boden lag.
»Nein, das ist strikt verboten, wenn niemand Befugter anwesend ist. Ich hatte die Tür ordnungsgemäß geschlossen. Einzig Herr Watanabe und Franz Hartmann, ein Arbeitskollege, haben auf ihren Batches die Zutrittsberechtigung.«
»Ist Ihnen nichts aufgefallen, als sie in den Keller gingen.«
»Nein, gar nichts. Ich nahm den hinteren Lift, mit dem man direkten Zugang ins Untergeschoss hat. In den Gängen war die übliche Nachtbeleuchtung eingeschaltet und zum Sicherungsraum hatte ich mit dem Batch Zutritt. Wie erwartet, war der Sicherungshebel für meinen Arbeitsraum herabgekippt. Ich rastete ihn wieder ein und wartete einen Moment. Wenn ein Defekt in einer Leitung gewesen wäre, die den Kurzschluss auslöste, wäre er erneut herabgekippt. Doch es war alles in Ordnung. Wahrscheinlich war es einfach ein Stromimpuls, der den Kollaps auslöste.«
»Und als sie wieder hochkamen, war da nichts Ungewöhnliches?«
»Nein, überhaupt nichts. Es herrschte die gewohnte Stille, die normal ist, wenn niemand mehr in unserer Etage anwesend ist.«
»Und dann?«
»In meinem Arbeitsraum war wieder Licht, der Drucker hatte seinen Auftrag inzwischen beendet und ich stellte die Dokumente zusammen. Einen Moment saß ich noch da, die letzten Arbeitsschritte rekapitulierend, dann ging ich zu Herrn Watanabe. Wie bereits gesagt, ich dachte erst er sei eingeschlafen, als ich ihn in dieser Stellung erblickte.«
»War es schon mal vorgekommen, dass Sie Herrn Watanabe vor Erschöpfung schlafend vorfanden?«
»Nein, nie. Er war stets auf Etikette bedacht, so etwas wäre für ihn wohl eine Schmach gewesen. Er legte höchsten Wert auf einen korrekten Auftritt und sein Ansehen in der Öffentlichkeit.«
»Können Sie sich vorstellen, dass Herr Watanabe einen Grund hatte, sich selbst umzubringen?«
Die Frage kam für Koller überraschend, er zögerte einen Moment.
»Ich weiß nicht. Einen Grund wüsste ich nicht, aber Japaner haben, wie man so hört, ihre eigenen Vorstellungen von Ehre. Vielleicht hatte er mit der Erreichung von Geschäftszielen oder im Privatleben irgendwelche Probleme, doch darüber weiß ich überhaupt nichts.«
»Sie erwähnten seine Korrektheit und sein Ansehen in der Öffentlichkeit. Galt dies auch Ihnen gegenüber als Ihr Vorgesetzter oder waren da noch andere Wesenszüge, die ihn prägten?«
Die Verlegenheit war Koller anzusehen, seine Augäpfel wanderten unstet hin und her.
»Er war im Betrieb immer sehr korrekt, das meinte ich auch mit Öffentlichkeit. Wenn es um die Präzision der Arbeiten und die Einhaltung von Zeitplänen ging, konnte er jedoch knallhart sein. Vermutlich gab er den Druck, den der Konzern auf ihn ausübte, auf die Mitarbeitenden weiter. Wenn jemand seinen Anforderungen nicht entsprach, konnte er direkt gemein werden, jedoch nie in Gegenwart von Dritten. Auch ließ er niemandem einen Verhandlungsspielraum, entweder man parierte oder konnte auf der Stelle gehen. Ich selbst kam damit zurecht, da meine Arbeit ohnehin höchste Präzision erfordert, war dies mir kein nennenswertes Problem.«
»Haben Sie konkrete Namen von Personen, die mit Watanabe in solch krasse Konflikte kamen?«
»Nein … nein. Ich hörte nur davon. Man sprach unter vorgehaltener Hand darüber, wenn bekannt wurde, dass jemand die Firma von einer Stunde auf die andere verlassen hat.«
»Sie arbeiten bereits achtzehn Jahre in dieser Firma, wie man mir sagte. Gibt es da nicht auch einen Verschleiß, wird die Routine nicht allmählich nervenaufreibend?«
Verwundert lachte Koller auf. »Routine? Dies mag für Außenstehende so wirken, doch bei meiner Arbeit ist beständige Innovation entscheidend. Die Entwicklungen verändern sich nicht nur über die Jahre, sie kommen häufig kurzfristig und verlangen ständige Anpassung. Da bleibt keine Zeit für Routine. Es fordert einen natürlich schon, doch ist es zugleich auch höchst interessant, in diesen Bereichen an vorderster Front mitzuwirken. Ich könnte mir auch keinen anderen Beruf vorstellen, der mich derart erfüllen würde.«
»Als sie im Büro von Herrn Watanabe waren, hatten sie da etwas berührt?«
»Nein!«
»Auch die Pistole oder Herrn Watanabe selbst nicht?«
»Nein. … Ich nahm an, dass er tot ist. In dem Moment konnte ich keinen klaren Gedanken fassen. Ja, vielleicht hätte ich erst prüfen sollen, ob er nicht einfach verletzt ist. Doch ich war mir sicher, wollte nur raus und informierte umgehend den Sicherheitsdienst.«

*​

Die Polizei sprach in den folgenden Wochen noch dreimal mit Koller, hinterfragte ihm unwichtig scheinende Details. Aufgrund der Fragestellungen vermutete Koller, dass es keinen Rückschluss auf Fremdeinwirkung gab. Honegger erwähnte zwar einmal wie beiläufig, dass die Schmauchspuren am Kopf des Toten nur schwach ausgeprägt seien, was ungewöhnlich sei. Normalerweise presse ein Suizident den Lauf der Waffe direkt an die Schläfe. Bei diesen Worten hatte er Koller beobachtet, wie er reagiert. Dieser hatte sich nie Gedanken gemacht, wie jemand eine Waffe hält, der sich erschießt, weshalb er nichts zu erwidern wusste. Beim letzten Gespräch erwähnte Honegger, dass sie von einem Suizid ausgehen, da keinerlei konkrete Hinweise auftraten, die dagegen sprechen. Da Watanabe jedoch keinen Abschiedsbrief hinterlassen habe, werde es wohl einer dieser ungeklärten Fälle bleiben.

Ein Sicherheitsspezialist, der direkt vom Konzernsitz her angereist war, sprach auch sehr ausführlich mit Koller. Anscheinend hatte man sowohl das Privatleben von Watanabe als auch das von Koller sehr genau unter die Lupe genommen. Die Fragen waren viel nervenaufreibender als jene der Polizei, da dieser Mann nicht davor zurückschreckte, peinlichste Fragen zum Intimleben zu stellen. Detailliert wollte er auch wissen, ob es zwischen ihm und Watanabe auch private Kontakte gab, was natürlich nicht der Fall war. Watanabe ging völlig in seiner Rolle auf und war ein traditionsverbundener Japaner, der sein Gesicht unter allen Umständen wahrte. Aus den gestellten Fragen zog Koller jedoch den Rückschluss, dass man Watanabe verdächtigte, mit einem Konkurrenzunternehmen heimliche Kontakte gepflegt zu haben. Da Koller sich seiner Unbescholtenheit sicher sein konnte, überstand er dieses Verhör zwar strapaziert, aber doch ohne Widersprüche oder ernsthafte Zweifel mit seinen Antworten auszulösen.

*​

Koller war in einem neuen Projekt engagiert, dass seine Aufmerksamkeit voll in Anspruch nahm. Sein neuer Vorgesetzter, ein Schwede, hatte sich befriedigt über das vorgehende Projekt gezeigt. So konnte er nahtlos ein weiteres ambitioniertes Vorhaben angehen.

Die Zahlengruppen am Bildschirm verblassten kurz, ließen imaginär Watanabe ins Bild treten. Koller schüttelte seinen Kopf, rieb sich die Augen, stand auf und trat zur Kaffeemaschine. Seine Augen waren wohl etwas überanstrengt, dies war der Nachteil bei ständiger Arbeit am Bildschirm. Der Espresso tat seine Wirkung, das Aroma löste im Gaumen ein Wohlgefühl aus und ließ Kollers Gedanken schweifen. Noch dreieinhalb Wochen, dann hatte er Urlaub. »Verschleißerscheinungen?«, hatte ihn Honegger seinerzeit gefragt, was er verneinte. Jetzt war er sich nicht mehr sicher. Na, vielleicht ein wenig. Doch wer hat dies nicht, wenn man sich im Beruf mehr als hundertprozentig einbringt. Watanabe war in seiner Gedankenwelt in den Hintergrund getreten, sein visionärer Auftritt am Bildschirm soeben kam völlig überraschend.
Er gönnte sich noch einen zweiten Espresso, genüsslich schlürfend. In Gedanken rief er sich den Ferienprospekt in Erinnerung, das Bild des Hotels, den Swimmingpool, den Sandstrand. Es waren inzwischen fünfzehn Monate her, seit er letztmals richtig ausspannte. Als sein Blick aus der Distanz zum Bildschirm wanderte, meinte er die Zahlenreihen wandelten sich in Striche mit einem unruhigen Wellengang. Er schloss die Augen, um sie einen Moment einfach ruhen zu lassen, ihnen Entspannung zu gönnen. Einige Sekunden hatte er das Büro von Watanabe vor Augen, die Waffe lag auf dem Pult. Der Japaner war eben dabei die Reinigungsutensilien beiseite zu räumen, ein beinah zeremonieller Akt, den er da abschloss, wie Koller wusste. Watanabe legte Wert darauf, dass die Pistole wie alles in seiner Umgebung perfekt funktionierte.
»Vergiss ihn, verdammt nochmal«, sprach Koller zu sich selbst. Er wunderte sich, dass er so plötzlich wieder an Watanabe dachte, dieser verrückterweise gar als Einbildung in Szenen gegenwärtig wurde. In den letzten Wochen war es ihm gelungen, eine innere Distanz zu seinem früheren Vorgesetzten aufzubauen. Warum sich dieser selbst umbrachte, darüber wollte er nicht nachdenken oder urteilen. In seiner Erinnerung sollte er jene Respektsperson bleiben, die er zu Lebzeiten verkörperte. Sein neuer Vorgesetzter war auch knallhart, doch umgänglicher, seitdem dieser sich selbst ein Bild von den Leistungen Kollers gemacht hatte.

Nach einer Stunde intensiver Bildschirmarbeit verblassten die Zahlen erneut in seiner Wahrnehmung. Watanabes Gesicht schien sich abzubilden, wutverzerrt. Imaginäre Bildfetzen fügten sich zusammen. Die Pistole war in seiner, Kollers Hand, nicht weit von Watanabes Kopf entfernt. In Watanabes Augen trat ein ungläubiger Blick, als könnte er nicht fassen, dass Koller sich ihm zu Widersetzen wagte. Weitere Bruchstücke fügten sich in wilder Unordnung ein. Watanabe behauptete, Koller habe dieses Projekt durch eine schlechte Arbeit unbrauchbar gemacht. Das stimmte so nicht. Ein Fehler, der sich in einer Schlüsselstelle eingenistet hatte, war ihm bei den Kontrollen aufgefallen und er konnte ihn glücklicherweise eliminieren. Drei Kontrollläufe hatte er noch vorgenommen, nach verschiedenen Methoden ausgerichtet, die alle ein einwandfreies Ergebnis lieferten. Aber woher wusste Watanabe überhaupt von diesem Vorfall? Koller wollte die definitiven Kontrolldaten ihm erst vorlegen, als er ihn aufsuchte.

Erschöpfung überkam ihn. Koller fühlte sich schlagartig unwohl, er stand auf, setzte sich nach wenigen Schritten jedoch wieder auf den nächstbesten Stuhl. »Ich muss überarbeitet sein, dass ich solche Hirngespinste habe«, murmelte er vor sich hin. Er versuchte sich zu erinnern, ob an diesem Abend des Projektabschlusses doch etwas ungewöhnlich gewesen war. Er hatte die ordentlichen Kontrollprogramme aktiviert, welche er für dieses Projekt geschaffen hatte. An keiner der involvierten Schnittstellen trat mehr eine Unregelmäßigkeit auf. Unregelmäßigkeit? Dieser Gedanke lauerte tiefer in seinem Gedächtnis, doch in welchem Zusammenhang war dies. Dass bei den Schlusskontrollen noch diese oder jene Verbesserung anstand, das kam vor und war nicht so ungewöhnlich. Wesentlich war der Schlusslauf, da durfte es keine noch so minimale Abweichung geben. Vergeblich versuchte er, sich zu erinnern.
Die Tür ging auf, Hartmann trat ein. »He, was ist mit Dir los, Raoul? Du siehst kreidebleich und verschwitzt aus.«
»Es muss ein Virus sein, wohl eine Grippe.« Koller fuhr sich mit dem Handrücken über die Stirn, was ein paar Tropfen die über sein Gesicht perlten, auslöste.
»Geh nach Hause, ich melde Dich krank.«
Mühsam erhob sich Koller vom Stuhl, er fühlte sich, als ob er körperlich Schwerstarbeit geleistet hätte.

*​

Mitten in der Nacht schreckte Koller auf. Ein Schrei hatte ihn geweckt. Verwirrt blickte er ins Dunkle, seine Hand tastete nach dem Knopf der Nachttischlampe. Der gedämpfte Lichtschein offenbarte nichts Außergewöhnliches. Das spartanisch eingerichtete Schlafzimmer zeigte die Konturen des Kleiderschranks und den Stuhl, auf dem Kleider lagen, sonst nichts. Da erst spürte er die Feuchtigkeit, er war völlig verschwitzt. Er griff zum Fieberthermometer, das auf dem Nachttisch neben Medikamenten lag. Ein Schluck Wasser netzte seine trockene Schleimhaut im Mund.
Die digitale Anzeige wies 37,6° auf, das Fieber war gesunken. Erschöpft legte er seinen Kopf wieder auf das Kissen. Der Schrei war markerschütternd gewesen, beinah übermenschlich. In seiner nun bewussten Erinnerung setzte sich der Schluss eines Traums zusammen, aus dem er gerissen wurde. Schemenhaft die Gestalt eines Mannes in der Rüstung eines Samurai. Mit beiden Händen ein Schwert umklammernd, mit dem er zielgerichtet auf ihn zuschritt. Seine Augen konnten den Bewegungen des Schwerts dann nicht mehr folgen, so rasch schwang die Klinge hoch um dann mit einem sirrenden Ton die Luft durchschneidend, auf seinen Hals zu zielen. Er war es selbst, Koller, der in panischem Entsetzen geschrien hatte. Den Moment, wie sein Kopf vom Rumpf abgetrennt wurde, konnte sein träumendes Bewusstsein nicht ertragen, - er erwachte. Doch da war noch etwas, Koller war sich sicher, im letzten Augenblick das Gesicht des Samurais schemenhaft wahrgenommen zu haben, es war Watanabe.
Stöhnend erhob sich Koller. »Dieser verfluchte Mistkerl, ich habe ihm doch nichts getan. Soll er doch im Reich der Toten bleiben, falls es so etwas bei den Japanern gibt.«
Nach einer Dusche und in frischer Nachtkleidung fühlte er sich körperlich ein wenig behaglicher, doch zunehmend wütend. Im obersten Regal des Küchenschranks griff er zu dem Päckchen Zigaretten und Streichhölzern, die er vor knapp einem Jahr dort deponiert hatte. Es sollte nur für den Notfall sein, er wollte endgültig damit aufhören. Zwei, drei Monate zur Sicherheit, dann wollte er sie wegwerfen. Doch dann vergaß er sie – bis jetzt. Umständlich zündete er sich die Erste an, der Geschmack war ihm fremd, doch das vertraute Gefühl, wie er den Rauch ausstieß, empfand er als beruhigend.

Auf dem Unterteller tummelten sich die Zigarettenstummel. Koller war hellwach und er fühlte sich körperlich soweit fit. Seine Gedanken kreisten um das Geschehen, als er Watanabe auf dem Schreibtisch liegend gefunden hatte. Dieses Bild war es, das ihn verfolgte, da war er sich nun sicher. In jener Nacht hatte er sich nicht traumatisiert gefühlt, zutiefst erschrocken, doch nur in der Art wie, wenn man unerwartet an einen Unfallort kommt. Dieses Bild musste weg. Er fasste einen Entschluss.

*​

An Briner und den Raum hatte er sich inzwischen längst gewöhnt. Als er vor vier Monaten erstmals einen Termin bekam, hatte er eine in klinisch sterilem-weiß gehaltene Praxis erwartet. Eine Liege, auf der er sich wehrlos ausgeliefert hinstrecken müsste, während er hinter sich einen gestrengen Psychiater wusste, der sein überspanntes Unbewusste wieder in Ordnung bringen sollte.
Es war anders gekommen, als sein Unbehagen und seine Vorurteile ihm vorgaukelten. Die in sanft pastellfarben gehaltene Räume waren modern möbliert, das Sprechzimmer angenehm mit Fauteuils eingerichtet, freistehend eine Corbusier-Liege, und alles weit entfernt von steril. Briner entpuppte sich als Mittvierziger, von der Erscheinung und seinen Umgangsformen her sympathisch auftretend, eine Übervater-Figur konnte er in ihm nicht wahrnehmen.

Briner hatte ihm ruhig zugehört, als er von seinen Einbildungen und dem Samurai-Traum erzählte, inzwischen waren noch weitere Visionen aber auch Trauminhalte dazugekommen. Auf eine Deutung dieser Erscheinungen hatte Briner sich nicht eingelassen, einzig eingeräumt, dass ein solches Erlebnis wie es Koller widerfahren war, durchaus eine Belastung darstellen konnte, umso mehr, da vorgehend schon ein Spannungsfeld bestand.
In etlichen Sitzungen, auf der Liege musste Koller nie Platz nehmen, hatte er Gelegenheit auch Dinge auszusprechen, denen er sich selbst bis anhin nicht so recht bewusst war. Briner unterbrach ihn nie, stellte ab und zu gezielte Fragen oder führte das Gespräch in eine bestimmte Richtung. Wenn sich für Koller eigentlich auch nichts spürbar bewegte, gewann er dennoch das Gefühl, innerlich mehr Freiraum gegenüber Watanabe gewonnen zu haben. Dieser selbst erschien ihm nun auch in einem etwas anderen Licht. Die Fassade des Managers bröckelte nicht, doch teilte sie sich mehr und mehr mit dem Individuum dahinter, das er auch gewesen sein musste. Der kulturelle Hintergrund und die Erziehung, welche dieser erfahren haben mochte, waren in Gedanken nicht einfach nachvollziehbar, aber Koller ahnte nun, dass dies das Prägende war, das ihn ausmachte. Die Härte und Disziplin, die er präsentierte, schien ihm in der Erinnerung nun weichere Konturen zu erlangen.

Wären die Visionen und gelegentlich Träume, an die er sich erinnerte, nicht immer noch intensiv und lästig gegenwärtig, würden ihm die Therapiestunden zunehmend überflüssig erscheinen. Doch das Geschehnis drehte sich noch im Kreis, der Geist des toten Watanabe hatte Besitz von ihm.

Heute setzte Koller sich wieder in den von ihm bevorzugten Fauteuil. Gelegentlich hatte er auch schon andere gewählt, doch aus diesem bot die Raumtiefe seinem Blick eine Rückzugsmöglichkeit. Eine innere Unruhe ergriff ihn, ohne deren Ursache deuten zu können. Sein Blick auf Briner wurde unstet, während dieser ihm ruhig gegenübersaß. Kein Wort, das Koller erlöste, ihm eine Brücke gab, um dieser Bedrückung zu entkommen. Koller öffnete den Mund, als wollte dieser einen Schrei formen, wie damals im fiebernden Schlaf. Sein Blick wanderte herum, all die vertrauten Gegenstände, Chrysanthemen in einer Vase, daneben – sein Blick erstarrte – auf einem schlichten Holzträger, ein Samurai-Schwert. Er meinte jenes aus dem Büro von Watanabe zu erkennen, da hatte ein solches auf einer Anrichte an der einen Wand gestanden.
Sein Blick wurde glasig, in seinem Kopf verdichteten sich Bilder. Müde aber gutgelaunt war er mit den Kontrollergebnissen zu Watanabe geeilt. Ein gelungener Projektabschluss bereitete ihm jeweils ein Hochgefühl, wie einem Marathonläufer der allen Strapazen zum Trotz als Erster das Ziel durchläuft.
Watanabe hatte ihn kühl gemustert, als er eintrat. Anscheinend war er damit beschäftigt gewesen seine Pistole zu reinigen. Wie Koller wusste, gab Watanabe diese Handlung Entspannung und tat es, wenn wichtige Entscheidungen anstanden. Er versorgte die Utensilien und ein Poliertuch in einer der Schubladen im Pult, die neu geladene Waffe lag noch entsichert auf der sonst leeren Fläche.

»Herr Watanabe, ich habe hier die Kontrollergebnisse, es ist alles bestens.« Er hielt Watanabe die Blätter entgegen.
Dessen bis dahin versteinertes Gesicht verzog sich zu einer Grimasse, während er aufschrie: »Pfusch! Sie haben das Projekt verpfuscht. In mindestens einer Schaltstelle hat es Fehler, die das ganze Projekt wertlos machen.« Watanabe geiferte beinah, während er mit einer heftigen Handbewegung die Blätter welche Koller ihm entgegenstreckte, wegfetzte.
»Dies ist nicht möglich, ich habe alle Kontrollverfahren durchgespielt.« Kollers Gedanken zirkulierten nur noch in Zeitlupe, während er die Worte sprach. Watanabe musste Zugriff auf seinen Computer haben, was nicht möglich war. Aber wieso konnte er davon wissen, dass vor wenigen Stunden noch Schwächen drin waren.
»Sie sind entlassen! Für den ungeheuren Schaden werde ich sie persönlich haftbar machen und dafür besorgt sein, dass sie in diesem Beruf keine Aussichten mehr haben.« Watanabe hatte sich richtiggehend in eine Hasstirade hineingeredet. Er gab Koller keine Möglichkeit sich zu erklären.
In Koller hatte der Schock eine momentane Blutleere im Kopf erzeugt, die bewirkte, dass sein klares Bewusstsein sich in eine Trance verflüchtigte.
Wie es geschehen konnte, vermochte sich auch jetzt nicht zu kristallisieren. Er sah Watanabe vor sich, der ihn entgeistert ansah. An seiner Schläfe sickerte Blut, langsam beugte er sich vor, um dann heftig mit dem Kopf auf der Pultplatte aufzuschlagen.
Mechanisch sammelte Koller die verstreuten Blätter zusammen, ging um das Pult herum und öffnete die Schublade mit dem Poliertuch. Sorgsam putzte er die Metallflächen der Waffe und drückte sie Watanabe in die rechte Hand um sie alsdann auf der Pultfläche abzulegen.

Tränen lösten sich aus Kollers Augen, ein Zucken erfasste ihn, heftiger noch als damals, als er Watanabe fand. »Ich war es! Ich muss es gewesen sein, die Pistole war in meiner Hand, als sich der Schuss löste.« Ein Weinkrampf schüttelte ihn.
Briner wartete schweigend, dass Koller weitersprach. Er wusste, der Damm war gebrochen, das Verdrängte war dem Bewussten wieder zugänglich. Das Samurai-Schwert vermochte den geplanten Zweck, einen heilsamen Schock auszulösen, erfüllen.
»Ich … Ich war erregt, sehr erregt, da ich nicht verstand, warum Watanabe über mich derart aufgebracht war und mich entlassen wollte. Von dem Fehler, der vor der Schlusskontrolle noch vorhanden war, konnte er eigentlich gar nichts wissen. Dennoch wusste er davon und meinte, es hätte noch mehr. Reflexartig hatte ich die Pistole, die auf seinem Pult lag, ergriffen und hielt sie in der Hand, da ich glaubte, er stürze sich auf mich. Meine Hand verkrampfte sich, die Hasstirade von Watanabe erzeugte mir panische Angst. Wie es passieren konnte, verstehe ich nicht, der Schuss löste sich für mich völlig unerwartet. Was folgte, tat ich mechanisch, ohne einen Gedanken fassen zu können.
Ich kam erst zu mir, als ich an meinem Arbeitsplatz vor dem Computer saß. Der Bildschirm zeigte noch immer die Schlussdaten der Kontrollen an. Ich rieb mir die Augen, atmete einmal tief durch, der Meinung, wohl kurz eingenickt zu sein. Die Blätter der abschließenden Kontrollen lagen sorgsam gebündelt vor mir. Da war einzig der Gedanke, ich muss sie Watanabe bringen, der wartet darauf.«

*​

Briner hatte ihn nicht angezeigt. In den Monaten der Nachbehandlung wurde Koller zusehends bewusst, dass es nicht einzig das Berufsgeheimnis sein konnte, welches seinen Therapeuten dabei leitete. Er brachte ihn dazu, es selbst zu erkennen. Sein Leiden war nun, dass er künftig mit dem Wissen, dass er Watanabe tötete, leben musste. Er kam in Versuchung, dieses schwer Erträgliche abzuwerfen, eine Selbstanzeige vorzunehmen, um Buße zu tun. Briner redete es ihm nicht aus, noch nahm er ihm die Entscheidung ab, sondern führte ihn einen Schritt weiter. Die Resozialisierung, der Sinn welcher über einer jeden Strafe zu stehen hat und nicht einfach als begleitendes Moment verstanden werden darf, ist nur in sich selbst erreichbar. Er hatte versucht Briner zu bewegen, ihm diesen Weg zu ebnen, indirekt eine Absolution zu erlangen. Dieser sagte jedoch nur knapp: »Leben Sie bewusst!«

Dann kam der Tag, an dem er ihn aus der Behandlung entließ.
»Ich fühle mich nicht geheilt!«, wandte Koller ein. Doch sein Sträuben, seine Angst auf sich selbst zurückgeworfen zu sein, nutzte nichts.
»Sie wehren noch immer vehement ab, die ganze Wahrheit zuzulassen. Der Moment in jener Nacht, als sich die Ereignisse überstürzten, war sicher der Auslöser zur Tat. Doch der eigentliche Grund, dass sie überhaupt fähig waren Watanabe zu töten, muss viel tiefer liegen. Wenn Sie Klarheit darüber gewinnen, ebnet sich Ihnen auch der Weg dies seelisch aufzuarbeiten und Rehabilitation zu erlangen. Sollten Sie es dann, aber erst dann, nicht selbst bewältigen, können Sie sich wieder bei mir melden.«

Koller fürchtete sich vor jeder Nacht, die ihn mit seinen Gedanken allein ließ. In seinen Träumen war Watanabe nicht mehr gegenwärtig, auch die kurzen Visionen am Tag blieben aus, doch fand er in seiner freien Zeit keine Ruhe. Er vergrub sich noch intensiver in seine Arbeit, als er es bis anhin tat, nur um seine Gedanken unter Kontrolle zu halten. Der Versuch, das verborgene Motiv zu finden, wie Briner es ihm nahegelegt hatte, scheiterte ebenso wie die Vorgabe bewusst zu leben. Die nackte Angst, welche von ihm Besitz hatte, qualifizierte ihn in seinem Denken in Endlosschleifen als Mörder. Obwohl dies sich verinnerlichte, wollte er es nicht wahrhaben, er war kein schlechter Mensch. Dies erzeugte eine nagende Ungewissheit, die weder durch Demut noch einem Versuch in religiösem Geistesgut Erleichterung zu finden, sich kompensieren ließ. Er kam immer an den gleichen Ausgangspunkt, einem starken Schuldgefühl, das in seiner Erinnerung den Konflikt weiter schürte.

*​

Zum Firmenjubiläum wurde ein Festanlass für die Angestellten durchgeführt, der mit einer Rede eines Delegierten des Verwaltungsrates eingeleitet wurde. Er war vom Konzernsitz angereist. Die wirtschaftliche Entwicklung des Unternehmens übertraf noch die Prognose, wofür er allen Mitarbeitenden des hiesigen Unternehmens dankte. Danach erhob sich Watanabe und trat an das Rednerpult. Nach einem allgemeinen Dank seinerseits bat er Koller zu sich.
»Herr Koller, es ist mir eine große Ehre, dieses Jubiläum zum Anlass zu nehmen, um Ihnen für Ihre stets brillanten Leistungen, die Sie zum Wohl der Firma einbrachten, herzlich zu danken. Den Gepflogenheiten meiner Heimat folgend, überlegte ich mir lange, mit welcher Würde die Firma diese Hochschätzung Ihnen gegenüber zum Ausdruck bringen könnte. Ich überreiche Ihnen hiermit ein Samurai-Schwert, einen Wert, der seinen Besitzer adelt, da es noch für Shōgun Tokugawa Iemochi in der ausgehenden Edo-Periode geschmiedet wurde.« Mit beiden Händen hielt Watanabe zeremoniell das leicht gebogene Schwert in die Höhe, damit es jeder der Anwesenden sehen konnte, bevor er es mit einer Verneigung an Koller überreichte.

Er fühlte sich zutiefst befriedigt, als die Intensität des eben erlebten ihn aufwachen ließ. Das Wohlgefühl hatte ihn voll im Griff. Er war in den Olymp der Begnadeten aufgestiegen, ein Mitglied der Elite. Diese Auszeichnung aus Watanabes Hand, ihn den er trotz oder vielleicht gerade wegen seiner harten Disziplin nahezu verehrte, war gleichwertig einem Ritterschlag. Sie waren nun beide auf gleicher Augenhöhe.

Nur langsam dämmerte ihm im Halbschlaf, dass Nacht war und er geträumt hatte, - von Watanabe! Erst aufkommendes Entsetzen legte sich sofort wieder, es war ein guter, ein versöhnlicher Traum. Watanabe wusste um seine enorme Leistungen für den Konzern, aber auch, dass er sich in einer Führungsposition nicht wohlgefühlt hätte, er nicht zum Manager berufen war. Die Würde, welche er mit diesem Akt vollzog, war wohl die höchste Auszeichnung, die ein Japaner in dieser Position verleihen konnte. Er musste lange warten, doch hatte er, die Sprossen überspringend, die Leiter nun erklommen.

Seine Fantasien brachen abrupt ab, er war nun hellwach. Watanabe ist wieder da, wie ein Donnerschlag traf ihn diese Erkenntnis nun. Er lachte bitter auf, ausgerechnet sein Opfer sollte ihn auszeichnen, ihm die Hand zur Gleichstellung reichen.
Werde ich verrückt?, dieser Gedanke setzte quälend und unerbittlich ein. Er versuchte sich an Briners Worte zu erinnern, der einzige Strohhalm an den er sich klammern konnte. Bewusst zu leben und Klarheit zu erlangen, um die Geschehnisse aufarbeiten zu können, hatte er gesagt. Nur wie? Koller versuchte sich an die Sitzungen zu erinnern, welche Mechanismen es waren, die damals das Unbewusste teilweise wieder zugänglich machten. Wie hatte Briner es geschafft, dies in ihm auszulösen?

Die Tagesdämmerung setzte ein, den Traum als auch seine Fantasien im Halbschlaf danach hatte er systematisch hinterfragt, versucht Briners analytische Kompetenz anzuwenden. Jedes Detail hatte er beachtet, das Schwert war ähnlich dem, wie das in Watanabes Büro.
… musste lange warten … die Leiter! Verflucht, hinter dieser Kaschierung versteckte es sich. Seine Gedanken wirbelten aufgeregt durcheinander, Erinnerungen tauchten auf, Enttäuschungen, die er immer wieder seinem fehlenden Ehrgeiz zugeordnet und unterdrückt hatte. Die jahrelang gestauten Gefühle brachen durch, der Schutzwall des Unbewussten war eingebrochen.

Deprimiert lag Koller noch Stunden im Bett, reagierte nicht auf das mehrmalige läuten des Telefons. Die Gewissheit, Watanabe aus dem niederen Instinkt seiner Egozentrik und bitterer Enttäuschung getötet zu haben, hatten ihn in einen dumpfen Zustand versetzt. Während vieler Jahre hatte er auf die ihm zustehende Anerkennung gewartet, dass man seine überdurchschnittlichen Leistungen honoriert, nein, nicht einfach mit Geld. Ihm schwebte der Rang eines Direktors vor, quasi in der Position eines Ministers ohne Portefeuille, er wollte dabei seine Arbeit weiter ausüben können. Forschen und entwickeln, das war seine Stärke, nicht als Manager die Zeit in Sitzungen unnütz vertun. Die Beförderungen waren jedoch immer an ihm vorbeigegangen, als wäre er inexistent, zumindest ungeeignet und nicht berufen.
Es war dieser Traum, der ihm den Schlüssel zum letzten Geheimnis überreicht hatte. Nur empfand er es nicht als befreiend, den Weg ebnend, wie Briner es vorhersagte.
»Das bin doch nicht ich«, flüsterte er. Danach gellend: »Ich war es nicht, ich war es nicht!« Sein Aufschrei verhallte im kleinen Raum. Kein antwortendes Echo, das ihm die Illusion erlaubte, ein anderer könnte die Schuld tragen, zwar abwehrend, aber doch hörbar.
Er versuchte sich Watanabe vorzustellen, wie dieser sich die Pistole selbst gegen den Kopf richtet, doch es gelang ihm so nicht.
In schwachen Konturen nur, verzerrt durch einen Schleier seiner Tränen, projizierte sich kurz dessen Gesicht. »Das werden Sie mir büßen«, Watanabes Stimme wandelte sich in schallendes Gelächter, dann entzog er sich.

Schweißgebadet versuchte Koller sich von allen Gedanken abzukapseln, doch in Sekundenbruchteilen unterliefen diese immer wieder sein Bemühen. Watanabes Gelächter verfolgte ihn.
Dabei, ja so ist es! Ein aufgekommener Gedanke gab ihm das Gefühl sich der Umklammerung von Watanabes Rache entziehen zu können. Laut rief er: »Ich habe Watanabe getötet, doch er ist Schuld nicht ich, er hat mich dazu gebracht.«
Vor Erschöpfung mühsam, doch beschwichtigt, rappelte sich Koller auf. »Ich werde Briner anrufen, er muss mir helfen diesen Fluch loszuwerden, das hat er mir versprochen!«
Der Gedanke, dass Watanabe dann endgültig tot ist, löste ihm ein bitteres Lachen aus. Er hatte immer noch Respekt vor ihm, doch nur auf gleicher Augenhöhe könnte er ihn ertragen.

 

Diese Geschichte wurde von einem Autor geschrieben, der hier im Forum angemeldet ist, es für diese Geschichte aber bevorzugt hat, eine Maske zu tragen.
Der Text kann, wie jeder andere Text im Forum, kommentiert werden, nach zehn Tagen wird die Identität des Autors enthüllt.

Als Kritiker kann man bis dahin Vermutungen über die Identität des Autors anstellen. Damit man anderen mit einem schlüssigen Rateversuch nicht den Spaß raubt, sind Spekulationen und Vermutungen bitte in Spoiler-Tags zu setzen.
Beispiel:

[spoiler]Ich vermute, dass der Autor der Geschichte Rumpelstilzchen ist. Der schreibt doch auch immer von güldenem Haar und benutzt so viele Ausrufezeichen![/Spoiler]

Die eckigen Klammern setzt ihr mit der Tastenkombination Alt-gr+8 bzw. Alt-gr+9.
Da dies jedoch kein Ratespiel ist, sind Beiträge ohne Textarbeit, also reine „Vermutungen“, nicht erwünscht.

Viel Spaß beim Raten und Kommentieren!


Die Runde endet am: 01.07.

 

Hallo Maske, schön, mal wieder ein Inkognito-Text lesen zu können. Aber ich habe so meine Probleme mit der Geschichte. Hier kommen ein paar Gedanken dazu:

Auf der sprachlichen Ebene scheint mir der Text nicht ganz rund – beispielsweise solche Formulierungen:

- die kleine Blutlache, die sich unter dessen Kopf hervor bildete
- fluchtartig rannte er
- es waren inzwischen fünfzehn Monate her, seit er letztmals richtig ausspannte
- er versorgte die Utensilien und ein Poliertuch in einer der Schubladen im Pult
- hatte sich richtiggehend in eine Hasstirade hineingeredet

Das klingt alles etwas sehr nüchtern, förmlich, teilweise steif, ein bisschen Beamtendeutsch. Ein neutraler Tonfall ist ja grundsätzlich in Ordnung, finde ich, aber dieser Text übertreibt es damit. Die Sprache könnte etwas weicher und fließender sein.

Große Schwierigkeiten hatte ich mit der Umsetzung der Idee. Nach einem nicht eben eleganten Start in den Text, quält sich die Geschichte durch einen zähen Dialog, was wohl einige Leser verprellen dürfte. Ich finde, das ist kein optimaler Aufbau. Gerade am Anfang muss der Leser in die Geschichte gelockt werden. Wenn man dann einen Dialog als Aufhänger nutzt, darf der nicht einfach nur Fakten vermitteln, sondern muss eine zusätzliche Qualität aufweisen.

Diese Qualität könnte darin liegen, dass die verwendete wörtliche Rede auf einen interessanten Charakter schließen lässt oder ein bizarres Moment besitzt. Der Dialog in der Geschichte ist aber ebenfalls äußerst nüchtern und sachlich. Und die Personen reden wie Roboter:

»Ich hatte ein Projekt abgeschlossen, die letzten Kontrollen waren einwandfrei. Herr Watanabe wollte in solchen Fällen stets umgehend informiert werden. In der Projektentwicklung ist Nachtarbeit nicht ungewöhnlich, da Termine drängen. Da ich ihm gegenüber ankündigte, heute noch fertig zu werden, war ich mir sicher, dass er darauf wartete. Es ist ein wichtiges Projekt, an dem ich während der letzten sechzehn Monate arbeitete.«

Jemand, der gerade ein Leiche gefunden hat, wird wohl Anzeichen von Schock zeigen, sich räuspern, schlucken, Schwierigkeiten mit dem Sprechen haben. Hier aber breitet der Sprecher nur die Fakten so aus, als würde er eins zu eins eine Version des Plots wiedergeben. Seine Persönlichkeit oder überhaupt irgendetwas Menschliches ist nicht zu erkennen.

Und so geht es dann in der Plot-Umsetzung auch ziemlich schwerfällig weiter. Nach dem Dialog kommt eine zusammenfassende Passage, dann wieder eine Szene, in der Koller in einer Flashback-Situation gezeigt wird. Er erinnert sich an den Tod Watanabes als wäre er selbst, Koller, der Mörder.

Doch wie kann das sein? Die letzten Sätze eines Textes sind Schwergewichte. In den letzten Sätzen dieses Textes wird suggeriert, dass sich Koller die ganze Geschichte nur vorgestellt (geträumt) hat. Doch derartig komplexe Träume mit langen Dialogen, Zeitraffersequenzen und Flashback-Erlebnissen, die das Geschehene umdeuten, sind wohl extrem selten. Das scheint mir zu weit hergeholt. Im Übrigen ist die "Es war nur ein Traum" – Variante nicht besonders originell. Das geht bestimmt besser.

Man könnte die Geschichte auch anders interpretieren, aber der Eindruck einer problematischen Gliederung bleibt. Ich finde, Du hast Dich zu sehr mit den Details beschäftigt (Kurzschluss im Stromnetz, Sicherungen im Keller, Batches/ Zutrittsberechtigung, Kontrollläufe nach nach verschiedenen Methoden) und zu wenig mit der Struktur der Geschichte, die den Leser eigentlich durch eine Zuspitzung der Ereignisse ziehen sollte. Auch diese Quereinschübe von Visionen mit dem Samurai-Schwert kommen mir künstlich vor.

Fazit: Das Hauptproblem der Geschichte sehe ich in der Gliederung des Plots. Das ist zu zäh und motiviert den Leser nicht genug. Es wirft zu wenig Fragen auf, ist zu wenig spannend. Ebenfalls spannungsmindernd wirkt die trockene Sprache. Der Text fließt nicht, hat so gut wie keine Poesie. Ich empfehle daher, die Struktur neu zu überdenken und die Sprache etwas aufzulockern.

Gruß Achillus

 

Oh, ich bin nicht mehr die Erste. Jetzt kopiere ich das rein und lese dann den Komm von Achillus. :)

Salü Maskenball,

ich bin ja nicht so ein Krimi-Fan und eine Expertin schon gar nicht. Trotzdem habe ich diese Geschichte mit Spannung gelesen und dann auch bald gedacht: „Das hat sicher, ganz sicher …. geschrieben!“
Aber zurück zur Geschichte, die du mit etlichen Schleifen versehen hast, um die Spannung zu steigern. Den Koller hast du m.E. gut beschrieben und auch einleuchtend sein Handeln. Zwischendurch war es mir ein bisschen zu verwirrend, diese Suche nach dem Stromausfall, die zog sich so hin. Da hab ich es bitzeli die Zeilen übersprungen.
Die Situation bei Briner konnte ich auch gut nachvollziehen. :D Nur ist mir nicht so ganz klar, warum dieses Samuraischwert bei Briner, dann zum Schluss führt. Ja, das gleiche Schwert wie bei Watanabe! Das kann natürlich in die Tiefe der Verdrängung führen. Aber dann der Schluss, dieses Wirrwarr auf dem Compi, da verwirrt sich auch mir wieder alles. Hat er das alles nur geträumt? Nein, kann nicht sein, bei all den Verhören. Also da ist mir einiges noch offen.

Verschleißerscheinungen hatte ihn Honegger seinerzeit gefragt,
Müsste es nicht so da stehen: „Verschleißerscheinungen?“, hatte ihn Honegger seinerzeit gefragt,

Insgesamt gerne gelesen, aber nicht immer ganz durchgeblickt.

Liebe Grüsse,
Gisanne

Er gönnte sich noch einen zweiten Espresso, genüsslich schlürfend. Wenn das nicht Anakreon ist, rate ich nie wieder!

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Maske,
zum Lesen angeregt hat Deine Geschichte. Leider geht die Handlung dann in wirren Träumen unter.
So war besonders das Traumende enttäuschend:

Der Bildschirm zeigte noch immer die Schlussdaten der Kontrollen an. Koller rieb sich die Augen, atmete einmal tief durch, er musste wohl kurz eingenickt sein. Die Blätter der abschließenden Kontrollen lagen vor ihm auf dem Tisch, er musste sie noch Watanabe bringen.
Traumenden können eine Geschichte vernichten; das hat Achillus schon geschrieben.
Auf dem Unterteller tummelten sich die Zigarettenstummel. Koller war hellwach und er fühlte sich körperlich soweit fit. Seine Gedanken kreisten um das Geschehen, als er Watanabe auf dem Schreibtisch liegend gefunden hatte. Dieses Bild war es, das ihn verfolgte, da war er sich nun sicher. In jener Nacht hatte er sich nicht traumatisiert gefühlt, zutiefst erschrocken, doch nur in der Art wie, wenn man unerwartet an einen Unfallort kommt. Dieses Bild musste weg. Er fasste einen Entschluss.
Hier träumt Koller hellwach zu sein. Er träumt dann weiter unten in anderen Träumen. Rekursives Träumen! Mit Träumen in Träumen, die wieder in Träumen sind, könnte man vielleicht eine ganz andere Geschichte entwerfen.
Es ist ein wichtiges Projekt, an dem ich während der letzten sechzehn Monate arbeitete.
Obwohl „wichtig“, wird das Projekt nicht explizit erwähnt. Ein konkretes Projekt könnte die Geschichte spannender machen. Geht es nur um die neue Farbe eines Haarwassers oder um den Verkauf eines Medikaments gegen Alzheimer? Forschen die an etwas, von dem sie glauben, dass es nötig sei? Ich hatte den Eindruck, das Projekt sei sinnlos und die Typen machten sich korrekt wichtig.
Während des Druckvorgangs trat ein Kurzschluss im normalen Stromnetz auf, das Licht erlosch. Es ist jedoch unmöglich, dass dieser vom Drucker ausgelöst wurde, da die Stromversorgung für die Computerinfrastruktur über eine separate Leitung erfolgt. Auch schalteten nur das Raumlicht und die Klimaanlage aus.
Das Ausfallen des Stromnetzes bringt etwas Spannung in die sonst eher spannungslose Handlung. Leider spielt das später keine Rolle mehr.
Sie sind entlassen! Für den ungeheuren Schaden werde ich sie persönlich haftbar machen und dafür besorgt sein, dass sie in diesem Beruf keine Aussichten mehr haben.
Kollers Fehler kann gar nicht so schwerwiegend gewesen sein, denn Watanabes Nachfolger, der Schwede, kann die Firma ja weiterführen und das mit Koller, wenn auch nur im Traum eines Traums.
Die Pistole war in seiner, Kollers Hand, nicht weit von Watanabes Kopf entfernt.
Ab hier war spätestens klar, dass Koller der Mörder ist. Zudem fehlen andere Verdächtige
Man hätte etwas aus dem Stoff machen können: ein Motiv, ein spannendes Projekt, mehr Verdächtige, Frauen, kein Traumende.
Anscheinend war er damit beschäftigt gewesen seine Pistole zu reinigen. Wie Koller wusste, gab Watanabe diese Handlung Entspannung und er tat es, wenn wichtige Entscheidungen anstanden.
Ein derartiges Pistolenreinigen ist sehr merkwürdig und sicher sehr selten. Das weckt den Eindruck, Watanabe sei pervers und seine Projekte auch, vielleicht ist er ein Waffenhändler.
An Briner und den Raum hatte er sich inzwischen längst gewöhnt.
Briner war für mich verwirrend. Bei Briner dachte ich zuerst an einen neuen Birnenschnaps. Besser wäre hier Frau oder Herr Briner oder Dr. Briner.
Briner hätte doch der Mörder sein können und er wollte Koller den Mord in die Schuhe schieben. Watanabe hatte vielleicht Briners Frau bei einem Sexspiel mit dem Samuraischwert übel zugerichtet. Naturlich hätte er danach das Samuraischwert so gründlich wie die Pistole gereinigt.

Sonstiges:

könnte man denken er Komma sei vor Erschöpfung eingeschlafen.
Doch da lag auch die Pistole, hart an der Kante des Schreibtisches, neben seiner rechten Hand.
„hart“ kann doch weg
dachte erst Komma er sei vor Müdigkeit eingeschlafen.
Es ist auch mit Infrarotsensoren ausgerüstet, die jede Bewegung wahrnimmt und festhält, selbst wenn es finster ist
wahrnehmen und festhalten
Der Sicherheitsdienst verfügt zwar über einen Batches
Batch
Es fordert einem natürlich schon,
einen

Trotzdem habe ich die Geschichte nicht ungern gelesen. Man kann doch etwas Humor herausziehen.
Viele Grüße
Fugu

Ich habe keine Ahnung, wer das geschrieben haben könnte, denke aber, dass die Person ansonsten interessanter schreibt.

 

Die Maske sei gelüftet.

Als ich diesen Text verfasste, war er nicht zur Veröffentlichung in diesem Forum vorgesehen, auch schrieb ich die Geschichte unter einem völlig anderen Autoren-Pseudonym. Kurz vor Pfingsten, während der x-ten Korrekturlesung, kam mir die Frage auf, wie weitgehend Pseudo-Identitäten wirklich austauschbar sein können, ohne sich massiv zu verstellen. Ich war stets der Meinung, dass Eigenarten im Stil erkennbar bleiben, war mir dessen aber nicht sicher. So fasste ich kurzfristig den Entschluss, den Text hier im Forum als „Maskenball“ einzubringen. Zur Retusche bediente ich mich einzig strikt der „deutschen Zeichensetzung“, an Stil und Inhalt nahm ich keine Änderungen vor.

*​

Die letzten zwei Wochen war ich abwesend und verfolgte die Kommentare via Smartphone. Was mich dabei überraschte war, dass zwei Aspekte des Inhalts in der Lesersicht anders interpretiert wurden, als von mir vorgesehen. Die Geschichte will kein „Krimi“ sein zumindest nicht im literarisch klassischen Sinn. Es war eine Tat im Affekt oder ein Unfall, welche zu einer Verdrängung führte, und der beschriebene Trauminhalt ist auf die Szene mit dem Samurai beschränkt. Anderes sind „Bruchstücke“ des Unbewussten, die visionär ins Bewusstsein vordrangen. Ich habe den Text diesbezüglich nochmals unter die Lupe genommen und meine, dass die Unterscheidung vom Szenario her gegeben ist. Auch wird gegen Ende, im Rahmen der Behandlung, u. a. noch differenzierend erwähnt: „... inzwischen waren noch weitere Visionen aber auch Trauminhalte dazugekommen“. Ich hätte vielleicht bedenken müssen, dass nicht jedem Leser die unterschiedlichen Merkmale von Traum- und Wacherleben bewusst sind; Träume orientieren sich an realen Erinnerungen, Erwartungen und Empfindungen, sind in ihrer Bilderscheinung gegenüber der Wirklichkeit jedoch immer kaschiert.

Doch nun zu den einzelnen Kommentaren:


Hallo Achillus

Auf der sprachlichen Ebene scheint mir der Text nicht ganz rund […]
Ein neutraler Tonfall ist ja grundsätzlich in Ordnung, finde ich, aber dieser Text übertreibt es damit. Die Sprache könnte etwas weicher und fließender sein.

Ich stimme Dir zu, dass die Geschichte in der Erzählsprache auf einem kargen Boden gewachsen ist. Mitbestimmend mag sein, dass ich mich in diesem Stück weniger an poetischer Ausdrucksweise orientierte, sondern das Erleben des Protagonisten – aus dessen Sicht alles abrollt – in den Mittelpunkt stellte.

Große Schwierigkeiten hatte ich mit der Umsetzung der Idee. Nach einem nicht eben eleganten Start in den Text, quält sich die Geschichte durch einen zähen Dialog, was wohl einige Leser verprellen dürfte. Ich finde, das ist kein optimaler Aufbau.

Dass dieses Stück in Aufbau und Inhalt nicht allgemein Anklang finden wird, war ich mir im Klaren. Dennoch war es mir ein Anliegen, die gewählte Perspektive konsequent durchzusetzen. Der Dialog ist sachbestimmt, dem berufsbedingten Misstrauen des Polizisten Rechnung tragend. Ich bemühte mich dabei es möglichst kurz zu fassen, doch bedingte es den Ablauf des Geschehens – soweit der Protagonist sich dessen bewusst war – aufzurollen.

Jemand, der gerade ein Leiche gefunden hat, wird wohl Anzeichen von Schock zeigen, sich räuspern, schlucken, Schwierigkeiten mit dem Sprechen haben. […] Seine Persönlichkeit oder überhaupt irgendetwas Menschliches ist nicht zu erkennen.

Du sprichst hier durchaus die „normale“ Reaktion von Menschen an. Allerdings kann sich ein Schock verschieden auswirken. Beim Protagonisten wirkte die Traumatisierung „neutralisierend“, wie sich erst später weist, und ermöglichte ihm so die eingetretene Situation vorläufig zu ertragen.

Er erinnert sich an den Tod Watanabes als wäre er selbst, Koller, der Mörder.

Dies ist folgerichtig, doch das Bewusstsein sträubt sich gegen das Verdrängte, nur in Bruchstücken erlangt es zunehmend einen Durchbruch.

Doch wie kann das sein? Die letzten Sätze eines Textes sind Schwergewichte. In den letzten Sätzen dieses Textes wird suggeriert, dass sich Koller die ganze Geschichte nur vorgestellt (geträumt) hat.

In den beiden letzten Abschnitten werden Koller wesentliche Teile des Verdrängten zugänglich. Er wird sich bewusst, wie er schockbedingt und mechanisch handelte, indem er nach dem Eintritt des ungeplanten Geschehens ein Fremdverschulden kaschierte und mit den Unterlagen an seinen Arbeitsplatz zurückkehrte. Dort erst stellte sich sein klares Bewusstsein wieder ein. Er meint eingenickt zu sein und müsse die Papiere seinem Vorgesetzen noch vorlegen. Damit schliesst sich der Kreis der Geschichte, es folgte dann der Beginn, wie er Watanabe vorfand. An dieser Stelle hat sich das Geschehen seinem Bewusstsein soweit also wieder offenbart. Er hat nun die Erkenntnis über den Vorfall, ihm fehlt einzig noch der Moment, als er zur Waffe griff, die auf dem Pult lag und weshalb sich ein Schuss löste. Dieser letzte Punkt bleibt hier gewollt offen.

Auch diese Quereinschübe von Visionen mit dem Samurai-Schwert kommen mir künstlich vor.

Das Samurai-Schwert nimmt eine Schlüsselfunktion ein. In Watanabes Büro diente es der Zierde für Betrachter. Diese Belanglosigkeit war jedoch ein wesentlicher Gegenstand im angsterfüllten und dem einzig dargestellten Traum des Protagonisten. Der Psychiater stellte deshalb ein solches Schwert auf, in der Hoffnung, es könnte als Auslöser für die Aufhebung der Verdrängung dienen, das Geschehen dem Bewusstsein wieder vollständig zugänglich machen.

Das Hauptproblem der Geschichte sehe ich in der Gliederung des Plots. […] Der Text fließt nicht, hat so gut wie keine Poesie.

Ich kann Deine Kritik nachvollziehen. Insofern werde ich mir noch Gedanken zu diesen Aspekten machen, wobei ich mir noch unsicher bin, wieweit sich dies Umsetzen lässt, ohne die Geschichte an sich in Frage zu stellen. Möglicherweise ist das Thema auch zu hoch gegriffen, um es Lesern verbreitet transparent zu machen und dennoch realitätsnah zu bleiben.

Ich danke Dir für Deine wie üblich durchdachte Auseinandersetzung mit dem Stoff.

*​

Salü Gisanne

ich bin ja nicht so ein Krimi-Fan und eine Expertin schon gar nicht. Trotzdem habe ich diese Geschichte mit Spannung gelesen und dann auch bald gedacht: „Das hat sicher, ganz sicher …. geschrieben!“

Es freut mich sehr, dass die Geschichte bei Dir Spannung zu wecken vermochte. Sie eröffnet zwar wie ein Krimi, doch soll es mehr ein menschliches Drama sein.
Dass mein Stil erkannt werden würde, ahnte ich, wollte dennoch diese Gewissheit erlangen.

Den Koller hast du m.E. gut beschrieben und auch einleuchtend sein Handeln.

Da war ich beruhigt, dass Figur und Handlung Deine Zustimmung fanden. Als ich die verschiedenen Kommentare las, fragte ich mich, ob ich mehr Transparenz in das Geschehen hätte einbringen müssen, was mir eigentlich nicht angezeigt erschien.

Zwischendurch war es mir ein bisschen zu verwirrend, diese Suche nach dem Stromausfall, die zog sich so hin. Da hab ich es bitzeli die Zeilen übersprungen.

Natürlich war dies nur eine Finte, doch nahtlos wollte ich den Stoff nicht präsentieren. Ich werde bei den Längen nochmals schauen, was sich ohne Verlust der Stoffaufarbeitung straffen lässt.

Die Situation bei Briner konnte ich auch gut nachvollziehen. Nur ist mir nicht so ganz klar, warum dieses Samuraischwert bei Briner, dann zum Schluss führt.

Achillus hatte dies auch beanstandet und ich habe in der Antwort an ihn ausgeführt, warum es eine Schlüsselstellung einnimmt. Es musste etwas eintreten, dass in Koller die im Traum aufgetretene Angst nochmals weckt, um einen Teildurchbruch zu erzielen.

Aber dann der Schluss, dieses Wirrwarr auf dem Compi, da verwirrt sich auch mir wieder alles. Hat er das alles nur geträumt? Nein, kann nicht sein, bei all den Verhören. Also da ist mir einiges noch offen.

Und ich war überzeugt, dem Leser erschliesse es sich sukzessive, die Bruchstücke würden zu einem Ganzen führen. Ich werde da wohl noch länger darüber brüten, welche Nahtstellen sich klarer schliessen müssen. Vom Aufbau geht die Geschichte natürlich eigene Wege und ich fragte mich, ob dies tragbar sei? Letztlich gelangte ich aber zur Meinung, der Versuch sei es Wert.

Müsste es nicht so da stehen: „Verschleißerscheinungen?“, hatte ihn Honegger seinerzeit gefragt,

Du hast recht, in der Intensität des wiederkehrenden Lesens hatte ich dies schon nicht mehr als zitiertes Wort wahrgenommen.

Insgesamt gerne gelesen, aber nicht immer ganz durchgeblickt.

Es ist meist eine Schwäche, wenn der Inhalt einer Geschichte sich den Lesern nicht voll erschliesst. Ich nehme dies in mein Brüten über die Geschichte mit und freue mich aber sehr über das gerne gelesen.

*​

Hallo Fugusan

zum Lesen angeregt hat Deine Geschichte.

Das freut mich.

Leider geht die Handlung dann in wirren Träumen unter.

Wie bereits vorstehend ausgeführt, handelte es sich mit Ausnahme des Samurai-Traums um keine Träume, sondern um visionäre Durchbrüche von Verdrängtem. Während des Schreibens hatte ich mir Gedanken gemacht, diese Passagen kursiv zu setzen, liess es jedoch bleiben, da ich dies normalerweise den gewöhnlichen Gedankengänge der Protagonisten reserviere. Hier werde ich mir noch Gedanken machen, wie es klarer zum Ausdruck kommen könnte.

Mit Träumen in Träumen, die wieder in Träumen sind, könnte man vielleicht eine ganz andere Geschichte entwerfen.

Dies wäre dann ein ganz sonderliches Konstrukt, das purer Fantasie entspringen müsste.

Obwohl „wichtig“, wird das Projekt nicht explizit erwähnt.

Da es mir schwerpunktmässig um das Erleben des Protagonisten ging, sah ich keinen Mehrwert darin das Projekt zu benennen, dessen Wichtigkeit musste einzig zum Ausdruck kommen, um die Nachtarbeit zu begründen. Da ich technisch nicht versiert bin, begab ich mich mit den entsprechend angeführten Inhalten schon ausreichend auf Glatteis.

Das Ausfallen des Stromnetzes bringt etwas Spannung in die sonst eher spannungslose Handlung. Leider spielt das später keine Rolle mehr.

Insofern war es eine Finte des Autors, auch zur Irreführung der Polizei, es sollte ja nicht einfach alles glatt über die Bühne gehen.

Kollers Fehler kann gar nicht so schwerwiegend gewesen sein, denn Watanabes Nachfolger, der Schwede, kann die Firma ja weiterführen und das mit Koller, wenn auch nur im Traum eines Traums.

Zu diesem Zeitpunkt erinnerte sich Koller wieder an Watanabes Gezeter. Es blieb zwar vage, weshalb Watanabe sich derart ereiferte, doch hatte es ein paar Indizien im Text, dass er ein doppeltes Spiel trieb und mit einem Konkurrenzunternehmen in Kontakt stand. Da die Geschichte jedoch nur Kollers Erleben wiedergibt, klärt sich dies im Inhalt auch nicht. Und den aufgetretenen Fehler hatte Koller ja bereinigt, was Watanabe nicht wusste, da er vorgehend und ohne Wissen von Koller auf dessen Computer zugegriffen hatte.

Ab hier war spätestens klar, dass Koller der Mörder ist. Zudem fehlen andere Verdächtige

Es war vielleicht unfair, die Geschichte wie ein Krimi zu eröffnen, da die Handlung gänzlich der Verdrängung von Koller gewidmet ist. Doch kann nur etwas verdrängt werden, das emotional tief erschütternd ist, was denn auch mit dem ungewollten Tod von Watanabe erfolgte. Insofern war es kein Mord, dies setzt eine willentliche Planung und Ausführung voraus und würde nicht zu einer Verdrängung führen. Daraus lässt sich klar schliessen, dass es ein Unfall oder eine Tat im Affekt war.

Ein derartiges Pistolenreinigen ist sehr merkwürdig und sicher sehr selten.

Selbst hatte ich in meinem Leben noch nie eine Waffe in der Hand. Doch ist mir bekannt, dass das sorgfältige reinigen von Waffen für Liebhaber von solchen zur Selbstverständlichkeit gehört, von manchen gar, wie ein Ritual zelebriert. Insofern sehe ich darin qualitativ nichts anderes als bei jenen Leuten, die liebevoll ihr Auto regelmässig auf Hochglanz polieren.

Briner war für mich verwirrend. Bei Briner dachte ich zuerst an einen neuen Birnenschnaps. Besser wäre hier Frau oder Herr Briner oder Dr. Briner.

Hier ging es mir um die Unmittelbarkeit, wie Koller über seinen Psychiater denkt. Dies erfolgt, wenn ich seine Wesensart berücksichtige, ohne Titel oder Höflichkeitsform, einfach der Name. Auch ist Briner kein ungewöhnlicher Name und kommt recht häufig vor.

Watanabe hatte vielleicht Briners Frau bei einem Sexspiel mit dem Samuraischwert übel zugerichtet.

So weit sollte es denn doch nicht gehen, das wäre schon arg konstruiert, wenn Koller für seine Behandlung ausgerechnet und ungeahnt einen Widersacher ausgewählt hätte. Nüchtern betrachtet nährt sich die Fiktion dieser Geschichte eben an real möglichem Geschehen.

Bei den fehlenden Zeichensetzungen und den unrichtigen Formulierungen hast Du recht, sie sind mir durch alle Korrekturlesungen durchgerutscht. Danke für die Hinweise.

Doch da lag auch die Pistole, hart an der Kante des Schreibtisches, neben seiner rechten Hand.

„hart“ kann doch weg


Ich stimme Dir zu, dass dies in einer Kurzgeschichte an sich nur ein Füllsel darstellt. Hier habe ich es dennoch verwendet, da das Bild der Szene dadurch nicht gestellt wirkt.

Trotzdem habe ich die Geschichte nicht ungern gelesen. Man kann doch etwas Humor herausziehen.

Dieses Resümee freut mich, zeigt es mir doch, dass es Dir auch etwas zu geben vermochte.


Ich danke Euch allen für Eure Kommentare. Ich werde mir über die eingebrachten Einwände vertieft Gedanken machen, um eine griffigere und damit mehr entschlüsselte Form der Erzählung zu finden.

Schöne Grüsse

Anakreon

 

Hier nun eine überarbeitete Version der Geschichte. Die Kritiken habe ich, soweit der Stoff es meines Dafürhaltens erlaubte, berücksichtigt. Die dem Protagonisten im Wachzustand aufgetretenen Visionen sind nun kursiv gekennzeichnet. Einige Passagen sind gestrafft, vereinzelte Ergänzungen eingeflossen und am Schluss ein zusätzlicher Absatz aufgenommen, der den Sachverhalt definitiv klärt.

 

Hallo Anakreon,

so gefällt mir das viel viel besser. Die Markierungen der Visionen machen nun klar, was vorher so vernebelt rüberkam. Es geht nicht um die Suche nach dem Mörder, sondern um Kollers Psyche und die Verdrängung seiner Schuldgefühle und deren Verarbeitung. Das Samuraischwert und der Kampf der Visionen erinnern mich ein bisschen an "Rashomon" (Der Mord im Lustwäldchen).

Das nebenbei:

da Termine drängen. Da ich ihm gegenüber ankündigte,
da ... Da

Watanabe behauptete, er Koller habe dieses Projekt durch eine schlechte Arbeit unbrauchbar gemacht.
"er" raus

Er griff zum Fieberthermometer, der auf dem Nachttisch neben Medikamenten lag.
das

mit dem Individuum dahinter, dass er auch gewesen sein musste.
das

Viele Grüße
Fugu

 

Hallo anakreon,

hab diesen "Maskenball" leider verpennt, hätte Dich aufgrund Deiner anakreischen Partizipkonstruktion sofort erkannt ;).
Der Text ist gut. Schau Dir aber noch mal einige arg gestelzte Absätze, die Rechtschreibung und die Zeichensetzung an.
Koller – war er’s oder war er’s nicht – darum kreisen die Gedanken des Lesers bis zur Mitte des Textes.

»Routine? Dies mag für Außenstehende so wirken, doch bei meiner Arbeit ist beständige Innovation entscheidend. Die Entwicklungen verändern sich nicht nur über die Jahre, sie kommen häufig kurzfristig und verlangen ständige Anpassung. Da bleibt keine Zeit für Routine. Es fordert einen natürlich schon, doch ist es zugleich auch höchst interessant, in diesen Bereichen an vorderster Front mitzuwirken. Ich könnte mir auch keinen anderen Beruf vorstellen, der mich derart erfüllen würde.«

Hat mir durchaus gefallen, der Absatz, erinnert aber auch verdammt an die Antwort auf eine Frage zu einem Mitarbeiter- oder Bewerbungsgespräch ;).

Der Wutausbruch Watanabes kommt mir ein wenig zu plötzlich. Sollte er von Kollers „Pfusch“ bereits im Vorfeld etwas geahnt haben, hätte er – im Sinne der Firma – sicherlich eher reagiert.

Mir fehlt an dem ein richtiger, prägnanter Schluss – da fällt Dir doch sicher noch ein i-Tüpfelchen ein?

Ganz allgemein: Ich mag solche Japan-Büro-Sachen. Absolute Leseempfehlung:
Amelie Nothomb – „Mit Staunen und Zittern“

Gern gelesne und schöne Grüße,

nastro.

 

Hallo Fugusan

Schön, dass Du nochmals vorbeischautest und diese Version Dir besser gefällt. Dies freut mich sehr.
Dass das Eigentliche vor dem Szenario der Tat nebulös wurde, ist einer Fehleinschätzung von mir zuzuschreiben. Ich zog daraus, dass es in Unterhaltungsliteratur angezeigt sein kann, Sachverhalte, die mehrdeutig sein könnten, früh und klarer darzulegen.

Das Samuraischwert und der Kampf der Visionen erinnern mich ein bisschen an "Rashomon" (Der Mord im Lustwäldchen).

Ein sehr schöner Vergleich, wobei ich keinen Moment an „Rashomon“ dachte. In solch einem alten Schwert sehe ich vorab handwerkliche Kunst und den kulturellen Wert für die Japaner. Gegenwärtig war mir beim Schreiben dieser Szene, Yukio Mishima, der das Samurai-Schwert, als letzten Akt seines Lebens, instrumentalisierte.

Danke für die korrigierenden Hinweise. Durch erneut intensives Hineindenken fehlte mir die Distanz, diese wahrzunehmen.


+


Hallo nastro

Es freut mich sehr, dass dieses Stück im Tatort Maskenball sich Dir noch erschloss.

… hätte Dich aufgrund Deiner anakreischen Partizipkonstruktion sofort erkannt.

Damit findet meine Vermutung, mich der Sprachgewalt dieses Anakreons nicht entziehen zu vermögen, weitere Bestätigung. :(

Der Text ist gut. Schau Dir aber noch mal einige arg gestelzte Absätze, die Rechtschreibung und die Zeichensetzung an.

Deine wohlwollenden Worte interpretiere ich bildlich, als eine Skulptur mit Schattenwurf. Ich werde in ruhigen Stunden wohl wieder über den Text herfallen, ihn Demaskieren, und versuchen mit Akribie seine Ausreizungen zu glätten. Im Hinterkopf hab ich auch noch den Einwand fehlender Poesie, welcher einfloss, dessen Brückenschlag zur analytischen Handlung mir jedoch noch nicht erleuchtend zuflog.

Hat mir durchaus gefallen, der Absatz, erinnert aber auch verdammt an die Antwort auf eine Frage zu einem Mitarbeiter- oder Bewerbungsgespräch.

Die gezeigte technische Welt ist mir „ein Buch mit sieben Siegeln“. So musste ich ein plausibel klingendes und doch fiktives Konstrukt erschaffen. Anscheinend hat noch keiner der Informatiker, die das Forum hier durchkreuzen, dies gesehen. Zumindest blieb ein empörter Aufschrei aus. :D

Der Wutausbruch Watanabes kommt mir ein wenig zu plötzlich. Sollte er von Kollers „Pfusch“ bereits im Vorfeld etwas geahnt haben, hätte er – im Sinne der Firma – sicherlich eher reagiert.

Hm. Da Watanabe die Arbeit von Koller nicht engmaschig begleitete und auch keinen direkten Zugriff auf die Programme hatte, sehe ich hierin kein zwingendes Problem. Natürlich erlangte er Einblick, sonst hätte er nicht von einem Fehler wissen können, doch war dies eher zu einem aktuelleren Zeitpunkt. Auch wäre eine frühere Reaktion für ihn entlarvend ausgefallen. Diese Fehlleistung unterlief ihm dennoch, da er seine emotionale Unterdrückung nicht mehr im Griff hatte und ausrastete, ohne die Ergebnisse der Schlusskontrolle abzuwarten. Folglich ist der Zeitpunkt, in der er die Beherrschung verliert, schon richtig gesetzt.

Mir fehlt an dem ein richtiger, prägnanter Schluss – da fällt Dir doch sicher noch ein i-Tüpfelchen ein?

Autsch. Das ist jetzt ein harter Knackpunkt. Der analytische Teil, wie es zum Vorfall kommen konnte, ist an sich abgeschlossen. Die Behandlung, welche ansteht, würde in ihrer Ausführung für Leser kaum interessant sein. Doch Dir geht es um ein mehr pointiertes Ende. Möglich wäre dies etwa, wenn ein weiterer Abgrund in seiner Seele sich auftäte und im Sog des Bewusstwerdens mitgerissen wird. Bei einer Pointe muss man jedoch aufpassen, dass es nicht zu „konstruiert“ wird. Ich werde mal darüber nachdenken. Wie schnell mir dazu eine gelingende Idee zufliegt, vermag ich aber nicht zu sagen.

Absolute Leseempfehlung:
Amelie Nothomb – „Mit Staunen und Zittern“

Da hast Du ja trefflich ein literarisches Werk zu „japanischer Unternehmenskultur“ erwähnt, boshaft und zugleich humorvoll hinter die Kulissen schauend.


Danke euch beiden, für die positive Bewertung des Inhalts, die mich sehr freute.

Schöne Grüsse

Anakreon

 
Zuletzt bearbeitet:

Ergänzender Schlussteil

Der Kritik folgend, habe ich den Schlussakt nun um zwei Szenenfolgen erweitert, erkennbar an den Sternchen (*), die diese abgrenzen. Ob es damit die Kritiker sowie die Leser gleicherweise zu befriedigen vermag, muss sich weisen. Doch als Autor ging es mir darum, den gezeigten Charakter des Protagonisten zu wahren, es einem erweiterten Ende zuzuführen und nicht effektheischend eine Pointe zu konstruieren, sondern das restlich Verdrängte glaubwürdig einzubinden. Dass er dabei weiterhin einem Widerstreit zwischen Wirklichkeit und Erträglichem ausgesetzt ist, gehört in diesen Prozess.

Auch wenn sich diese fiktive Geschichte nun eindeutig als Verbrechen offenbart, eine Tat im Affekt, sehe ich darin mehr eine menschliche Tragödie, als denn eine Kriminalgeschichte. Wobei, in vielen realen Fällen sind die Komponenten miteinander dicht verwoben und lassen sich nur im gesamten Wissen dazu verstehen.

 

Lieber Anakreon,

deine Geschichte gefiel mir gut, die Irreführung zunächst und die überraschende Wendung, sehr schön! Allerdings gerät für meinen Geschmack der Schlussteil, also seine inneren Kämpfe nach der Selbstentlarvung als Mörder, zu ausführlich.
Ein paar Kleinigkeiten noch:

»War es schon mal vorgekommen, dass Sie Herrn Watanabe vor Erschöpfung schlafend vorfanden?«
»Nein, nie. Er war stets auf Etikette bedacht, so etwas wäre für ihn wohl eine Schmach gewesen. Er legte höchsten Wert auf einen korrekten Auftritt und sein Ansehen in der Öffentlichkeit.«
Die meisten Japaner empfinden es nicht als Schmach, ein Schläfchen einzulegen während überlanger Arbeitstage, beim Pendeln etc. Vielmehr sind Kurzeinnicker sogar üblich, soweit ich weiß.
Der Espresso tat seine Wirkung, das Aroma löste im Gaumen ein Wohlgefühl aus und ließen Koller die Gedanken schweifen.
Der Satz erscheint mir nicht ganz korrekt, vielleicht: 'ließ Kollers Gedanken schweifen' ?
, um Busse zu tun.
Dass es mit ss und ß in der Schweiz anders ist, hast du mir ja schon einmal erklärt. Aber heißt es nicht auch dort 'Buße'? Wäre ja sonst leicht mit Verkehrsmitteln zu verwechseln.

Habe ich gerne gelesen!

Viele Grüße,

Eva

 

Hallo Eva

Ah, Watanabe bäumt sich noch einmal auf. Ich wähnte ihn bereits in der Gruft des Archivs auf Ewigkeit versorgt.

deine Geschichte gefiel mir gut, die Irreführung zunächst und die überraschende Wendung, sehr schön!

Das freut mich, dass die Irreführung durch Verdrängung nicht nur den Protagonisten an der Nase rumführt, sondern auch Betrachter von aussen dadurch aktiv am Prozess teilhaben lässt.

Allerdings gerät für meinen Geschmack der Schlussteil, also seine inneren Kämpfe nach der Selbstentlarvung als Mörder, zu ausführlich.

Ich suchte einen Kompromiss um den Aufschrei eines Lesers zu beschwichtigen, dem das ursprüngliche Ende zu vorläufig war. Mir selbst vollendete sich die Geschichte, als das Verdrängte Koller bewusst wurde und er sich seiner Tat stellen musste, da es das Wesentliche und die Wende bildet. Aber so ist es mit Kompromissen, ein Abwägen zwischen der Intention des Autors und den Erwartungen von Lesern, diese Balance gelingt nicht immer. - Ich hatte aufgrund Kritiken mal eine Geschichte mit Änderungen völlig verschrieben und konnte sie nicht mehr der Intention entsprechend und gelingend rekonstruieren, seither bewahre ich die anfängliche Fassung stets auf. :Pfeif:

Die meisten Japaner empfinden es nicht als Schmach, ein Schläfchen einzulegen während überlanger Arbeitstage, beim Pendeln etc. Vielmehr sind Kurzeinnicker sogar üblich, soweit ich weiß.

Dem ist sicherlich im Allgemeinen so. Für Watanabe, der nicht nur ein knallharter Manager war, sondern auch annähernd in einer alten Tradition verhaftet war, der Denkweise des Bushido, wäre dies eine Blösse gewesen. Als Vorbild für diese Disziplin hatte ich Yukio Mishima vor Augen, der sich diesen Geist zwanghaft zu eigen machte.

Der Espresso tat seine Wirkung, das Aroma löste im Gaumen ein Wohlgefühl aus und ließen Koller die Gedanken schweifen.

Der Satz erscheint mir nicht ganz korrekt, vielleicht: 'ließ Kollers Gedanken schweifen' ?

Da hast Du recht, ist geändert.

Dass es mit ss und ß in der Schweiz anders ist, hast du mir ja schon einmal erklärt. Aber heißt es nicht auch dort 'Buße'? Wäre ja sonst leicht mit Verkehrsmitteln zu verwechseln.

Du bist hartnäckig. :lol:
Aber ja, hier in der vorliegenden Geschichte, welche erst anonym erschien, muss es dem Gesamtkontext angepasst Buße lauten, da ich zur Tarnung von der mir bevorzugten Schreibweise abwich. Das Wort habe ich nun bußfertig „delatinisiert“. :huldig:

Habe ich gerne gelesen!

Es freut mich sehr, dass Du an diesem Verwirrspiel eines menschlichen Affekts Gefallen fandst und danke Dir herzlich für Deinen Kommentar als auch die Korrekturhinweise.

Schöne Grüsse

Anakreon

 

Lieber Anakreon!

Der Tod des Japaners. Was sich unter diesem einfachen Titel hervortut, ist starker und interessanter Stoff.

»Nun erzählen Sie mal präzis, was vorgefallen ist.«
Daran schließen sich sehr viele Fakten an. Es mögen zum Teil wichtige oder unwichtige sein. Die Geschichte scheint mir fast ein Krimi zum Mitraten zu sein.

Die Polizei sprach in den folgenden Wochen noch dreimal mit Koller, hinterfragte ihm unwichtig scheinende Details.
Selbstmord oder Mord? Wenn Mord, war es wirklich Koller? Ich finde die Geschichte sehr spannend, komme aber einer Lösung nicht nahe. Sehe jedoch, es gibt noch genug Text.

Die Zahlengruppen am Bildschirm verblassten kurz, ließen imaginär Watanabe ins Bild treten.
Das verwundert mich für den Moment ein wenig. Ich befürchte einen Wechsel ins schier uferlose Meer des Fantasy-Genres? Nur das Wörtchen „imaginär“ lässt mich daran zweifeln. Und wenn Anakreon „imaginär“ schreibt, dann kann es sich nur um ein Bild aus der Psyche handeln.

An Briner und den Raum hatte er sich inzwischen längst gewöhnt. Als er vor vier Monaten erstmals einen Termin bekam, hatte er eine in klinisch sterilem-weiß gehaltene Praxis erwartet. Eine Liege, auf der er sich wehrlos ausgeliefert hinstrecken müsste, während er hinter sich einen gestrengen Psychiater wusste, der sein überspanntes Unbewusste wieder in Ordnung bringen sollte.
Ich wusste es! :D

Die Resozialisierung, der Sinn welcher über einer jeden Strafe zu stehen hat und nicht einfach als begleitendes Moment verstanden werden darf, ist nur in sich selbst erreichbar.
Also, da bin ich ganz heftig hängen geblieben. Dieser Begriff ist, zumindest in Verbindung mit Strafvollzug, mehr als umstritten. Es kann, nicht erst in neuerer Zeit, eine positive Wirkung nicht nachgewiesen werden. Auch gibt es Stimmen, die hier die Rechte der Gefangenen gemindert sehen. Es geht ja im Grunde um Beeinflussung, ohne das eine Zustimmung gegeben werden muss. Ich erinnere mich an breit gestreute Diskussionen, die schon gut 25 Jahre her sind.
Ich weiß nicht, ob die Geschichte diesen zusätzlichen Gedankengang braucht.

»Sie wehren noch immer vehement ab, die ganze Wahrheit zuzulassen. Der Moment in jener Nacht, als sich die Ereignisse überstürzten, war sicher der Auslöser zur Tat. Doch der eigentliche Grund, dass sie überhaupt fähig waren Watanabe zu töten, muss viel tiefer liegen.
Aha … es geht noch weiter. Ich bin gespannt, wie sich das Drama auflöst.

Schweißgebadet versuchte Koller sich von allen Gedanken abzukapseln, doch in Sekundenbruchteilen unterliefen diese immer wieder sein Bemühen. Watanabes Gelächter verfolgte ihn.
Dabei, ja so ist es! Ein aufgekommener Gedanke gab ihm das Gefühl sich der Umklammerung von Watanabes Rache entziehen zu können. Laut rief er: »Ich habe Watanabe getötet, doch er ist Schuld nicht ich, er hat mich dazu gebracht.«
Vor Erschöpfung mühsam, doch beschwichtigt, rappelte sich Koller auf. »Ich werde Briner anrufen, er muss mir helfen diesen Fluch loszuwerden, das hat er mir versprochen!«
Der Gedanke, dass Watanabe dann endgültig tot ist, löste ihm ein bitteres Lachen aus. Er hatte immer noch Respekt vor ihm, doch nur auf gleicher Augenhöhe könnte er ihn ertragen.
Aaaargh! Der letzte Absatz hat es in sich. Ich meine, gut, für den Leser ist die Geschichte beendet, aber der Protagonist hat noch eine Menge an sich zu arbeiten.

Also, das ist wirklich schwieriger Stoff, den du hier anbietest. So ganz bin ich damit noch nicht fertig. Aber hat mir sehr gefallen. Ist mal richtig was zum Nachdenken.

Lieben Gruß

Asterix

 

Hallo Asterix

Der Tod des Japaners. Was sich unter diesem einfachen Titel hervortut, ist starker und interessanter Stoff.

Du stellst den Artikel vorab, den ich gewollt wegliess – und niemand hat reklamiert. :D
Dem zweiten Satz entnahm ich, dass dem was folgt, eine zähere Auseinandersetzung um den Inhalt vorangegangen sein muss. Dies lässt mir Spannung aufkommen.

Daran schließen sich sehr viele Fakten an. Es mögen zum Teil wichtige oder unwichtige sein. Die Geschichte scheint mir fast ein Krimi zum Mitraten zu sein.

Mir lag daran, dass die Leser zu diesem Zeitpunkt über den gleichen Wissensstand verfügen wie die Polizei und Koller selbst. Ob ein Verbrechen vorliegt, ein Unfall oder ein Suizid, wissen alle Beteiligten nicht. So – mein Gedanke – ist der Leser direkt miteinbezogen, kann seine Überlegungen oder Vorurteile spielen lassen. Ein durchaus ein fieses Vorgehen, sollen Geschichten ja unterhalten, doch sollte es dadurch auch merklicher erfahrbar werden.

Die Zahlengruppen am Bildschirm verblassten kurz, ließen imaginär Watanabe ins Bild treten.

Das verwundert mich für den Moment ein wenig. Ich befürchte einen Wechsel ins schier uferlose Meer des Fantasy-Genres? Nur das Wörtchen „imaginär“ lässt mich daran zweifeln. Und wenn Anakreon „imaginär“ schreibt, dann kann es sich nur um ein Bild aus der Psyche handeln.

Der Übergang von der scheinbaren Normalität zur verdeckten Befindlichkeit von Koller war ein Knackpunkt, den es anschaulich einzubringen galt. Der Bildschirm erschien mir hierfür ein geeignetes Medium. Dass Sprache, Wortwahl und Thema mich entlarven, musste ich bereits im zweiten Kommentar – damals noch anonym eingestellt - erfahren. Doch an dieser Stelle erschien mir die Sinnestäuschung als hinführendes Indiz für die Leser angezeigt.

Ich wusste es! :D

:thumbsup:

Die Resozialisierung, der Sinn welcher über einer jeden Strafe zu stehen hat und nicht einfach als begleitendes Moment verstanden werden darf, ist nur in sich selbst erreichbar.

Also, da bin ich ganz heftig hängen geblieben. Dieser Begriff ist, zumindest in Verbindung mit Strafvollzug, mehr als umstritten. Es kann, nicht erst in neuerer Zeit, eine positive Wirkung nicht nachgewiesen werden. Auch gibt es Stimmen, die hier die Rechte der Gefangenen gemindert sehen. Es geht ja im Grunde um Beeinflussung, ohne das eine Zustimmung gegeben werden muss. Ich erinnere mich an breit gestreute Diskussionen, die schon gut 25 Jahre her sind.
Ich weiß nicht, ob die Geschichte diesen zusätzlichen Gedankengang braucht.

Das Gedankengut, welches Briner an Koller übermittelte, zweifellos eine Provokation der Thematik, verwandte er als therapeutisches Mittel. Dabei stellt der zitierte Satz nicht wörtlich das Gespräch dar, sondern das, was Koller im Kontext daraus zog. Eine psychologische Infiltration, bei der Briner auf seine Urteilskraft setzte und sein Vertrauen in die Fähigkeit des Patienten dies anzugehen. Es überraschte mich auch, dass es bei Lesern vorgehend keine Reflexe darauf gab, da es derart explizit und übergeordnet nicht allgemein umsetzbar wäre. Einerseits sind die Persönlichkeitsstrukturen der Menschen individuell und komplex, anderseits besteht heute ein multikultureller Hintergrund, bei dem eine einheitliche Methode vorsehbar leerlaufen würde.
Dennoch war mir dieser annähernd philanthropische Ansatz für die Geschichte bedeutsam, da es die Handlung im nachträglich – als Kompromiss - eingebrachten Teil steuert. In der ersten Fassung endete es zwei Kapitel vorher.

Aaaargh! Der letzte Absatz hat es in sich. Ich meine, gut, für den Leser ist die Geschichte beendet, aber der Protagonist hat noch eine Menge an sich zu arbeiten.

So ist es, Kollers Schwierigkeiten nehmen hier eine neue Dimension an. Ob und wie er diese bewältigen könnte, wäre ein voluminöses Unterfangen, die den Rahmen einer Kurzgeschichte sprengen würde. Auch wäre diese lange Phase der Aufarbeitung in argem Kontrast zum vorangehenden, ein Spannungsbogen würde sehr flach verlaufen und noch weniger Leser interessieren.

Also, das ist wirklich schwieriger Stoff, den du hier anbietest. So ganz bin ich damit noch nicht fertig. Aber hat mir sehr gefallen. Ist mal richtig was zum Nachdenken.

Na das ist ein Kompliment, wenn es gelungen ist, über den Unterhaltungswert hinaus - den eine Geschichte einfordert -, Stoff geliefert zu haben, der zu weiterem Sinnieren anregt.

Ich danke dir für Deine intensive und aufmerksame Auseinandersetzung mit der Geschichte, die kritische Hinterfragung des fiktiven „Lehrsatzes“ und die lobende Bewertung. :)

Schöne Grüsse

Anakreon

 

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