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Serie Der dunkle Spiegel III

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08.07.2012
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Der dunkle Spiegel III

Six

"Gérôme ist ein sehr harter Mann", sagte Sundberg und schlug seinen Mantelkragen hoch. "Und wenn ich hart sage, dann meine ich, er ist ein Monster."
Lenka zuckte mit keiner Wimper. "Nicht das einzige in diesem Laden."
Sundberg lächelte, drehte sich abrupt um und ging zum Wagen. Bevor er in den Fond des schwarzen Mercedes stieg, schaute er noch einmal zurück und sagte: "Halten Sie durch."
Lenka beobachtete, wie sich die roten Lichter ihren Weg durch die Finsternis bahnten und dort, wo der Waldrand wie eine schwarze Mauer bis in den Himmel aufragte, verschluckt wurden.
Die Stille dieses Ortes war bedrückend. Lenka wusste, dass man sie irgendwo im norddeutschen Flachland abgesetzt hatte, wahrscheinlich in der Nähe der polnischen Grenze. Sie holte tief Luft, ergriff ihre Sporttasche und ging durch das offenstehende Tor.
Das Gehöft bestand, so weit Lenka in der Dunkelheit erkennen konnte, aus drei Gebäuden in u-förmiger Anordnung. Die beiden Nebengebäude, vermutlich Scheune und Werkstatt, wirkten heruntergekommen und baufällig, doch das Haupthaus schien in recht passablem Zustand zu sein. Über der Eingangstür schwamm eine Laterne wie eine Signalboje in windstiller See. Lenka ging über den Hof und betrat das Haus.
Die untere Etage bestand aus einem einzigen, schlicht eingerichteten Raum, dessen Zentrum ein Cafétisch und zwei rustikale Ledersessel bildeten. Im hinteren Bereich, in einem schwach beleuchteten Winkel der Wohnküche, saß Phillipe Gérôme über eine Zeitung gebeugt und las. Auf dem Feuerherd neben ihm brodelte Wasser in einem Kessel.
Lenka schloss die Tür, stellte ihre Tasche ab und sagte: "Guten Abend, Monsieur Gérôme!"
Einen Moment lang schien es, als hätte er sie nicht gehört, doch dann sagte Gérôme, ohne von seiner Lektüre aufzublicken: "Zieh dich aus."
Lenka starrte ihn an. Sein Alter war schwer zu schätzen, er mochte fünfzig sein, vielleicht war er älter.
"Ich glaube, Sie verwechseln mich mit jemandem", sagte Lenka. "Carl Sundberg schickt mich. Ich bin hier wegen des Intensivtrainings."
Gérôme würdigte sie noch immer keines Blickes. Er erhob sich, machte einen Schritt hinüber zum Herd und nahm den Kessel vom Feuer.
Lenka beobachtete ihn. "Haben Sie gehört, was ich …"
Gérôme hatte eine Blechdose aus dem Wandschrank genommen und hantierte jetzt mit einem Thermometer.
"Tja, also diese Scheiße brauche ich nicht", sagte Lenka und zog ihr Telefon aus der Jackentasche. "Ich rufe Sundberg an und kläre das."
Aus den Augenwinkeln verfolgte sie, wie Gérôme das heiße Wasser in eine Kanne mit Seitengriff goss. Er strich den Ärmel seines Pullovers zurück und schaute auf die Uhr an seinem Handgelenk.
Kein Netz, blinkte es auf dem Display von Lenkas Handy. Sie biss auf ihre Unterlippe. Sekunden vergingen, Gérôme rührte sich nicht.
Lenka drehte sich um und griff ihre Tasche. "Okay, das war's für mich. Schönen Abend noch."
Als sie die Tür öffnete, sagte Gérôme mit leichtem Akzent: "Carl Sundberg hat mir uneingeschränkte Freiheit in der Wahl meiner Methoden zugesichert."
Lenka fuhr herum. "Und das heißt?"
Gérôme starrte noch immer auf seine Uhr. "Das heißt, wenn ich sage Zieh dich aus, dann tust du es und hältst die Fresse."
Er ergriff die Teekanne und schwenkte sie über eine bauchige Schale aus schwarzer Keramik.
"Und wenn nicht?"
In diesem Moment drängte sich die Stille dieses verlassenen Ortes mit Nachdruck in Lenkas Bewusstsein. Für einige Augenblicke schien es nur ein Geräusch zu geben - den Klang des Tees, der in eine Schale floss.
"Wenn du nicht tust, was ich dir sage, dann bist du raus aus dem Programm."
Drauf geschissen, wollte Lenka sagen. Aber sie schwieg. Vielleicht, weil sie in diesem Programm die einzige Chance sah, ihrer elenden Vergangenheit zu entkommen. Vielleicht, weil die Arbeit für Sundberg versprach, das Rätsel um den Tod ihres Vaters zu lösen. Vielleicht, weil das beachtliche Einkommen, das sie nun verdiente, ihr ermöglichen würde, ein neues, besseres Leben aufzubauen, für sich selbst und für ihre Tochter Lisa.
Gérôme stellte die Teeschale auf ein Tablett. Lenka begann, sich auszuziehen. Es überraschte sie nicht, dass Sundberg einen Psychopathen gewählt hatte, um sie ausbilden zu lassen. Alles in Sundbergs Welt hatte pathologische Züge. Doch dieser Franzose schien ein besonderer Fall zu sein.
Als Lenka ihren Slip auf den Boden fallen ließ, ging Gérôme, das Tablett auf spitzen Fingern, an ihr vorbei und sagte: "Verstaue die Kleidungsstücke in deiner Tasche."
Lenka betrachtete ihn genauer. Mit seinem kurzgeschnittenen, silbern schimmernden Haar, dem Fleece-Pullover und dem sonnengebräunten Teint wirkte Gérôme wie ein rüstiger Pensionär vom Typus Segler – ein Mann, der es gewohnt war, Probleme jeder Art mit den eigenen, harten Händen aus der Welt zu schaffen. Hinter den Gläsern seiner stahlgefassten Brille verhüllte etwas Unbekanntes, ein physisches Leiden oder eine Form des Wahnsinns, den Blick der dunklen Augen.
Während Lenka in ihrer Sporttasche wühlte, um Platz zu schaffen, ließ Gérôme sich in einem der Sessel nieder. Tablett und Teeschale hatte er vor sich auf den Tisch gestellt.
"Okay, was jetzt?" Lenka stand nicht zum ersten Mal nackt vor einem Mann. Doch als Gérôme den Kopf hob und sich ihr zuwandte, spürte sie die Schärfe dieses Blicks so intensiv, dass sie instinktiv zurückwich. Ohne die Augen von ihrer Gestalt zu lassen, ergriff Gérôme die Teeschale, führte sie zu den schmalen Lippen und trank. Lenka spürte, dass dieser Mann nicht von Begehren getrieben wurde. Er betrachtete sie - so, wie ein Schächter das Tier musterte, bevor er sein Messer schwang.
"Bisher haben – einschließlich dir – sieben Personen das Training für Sundbergs Spezialprogramm begonnen", sagte er mit einer ungewöhnlich dunklen Stimme. "Fünf sind gescheitert, und du bist Nummer sechs. Deshalb werde ich dich Six nennen." Er zischte es. Sssiesssss.
"Sie täuschen sich", sagte Lenka. "Sie haben keine Vorstellung davon, was ich aushalten kann."
Gérôme lachte auf. Es war ein raues, böses Lachen.
"Sag mir, Six, weshalb bist du hier?"
Lenka zögerte kurz, dann sagte sie: "Ich werde das Training absolvieren und in Sundbergs Programm kommen. Das ist der Plan."
"Das ist der Plan", wiederholte Gérôme. Er stellt die Schale auf den Tisch, erhob sich und machte ein paar Schritte auf Lenka zu.
"Dreh dich um, Six."
Einem Mann wie Gérôme den Rücken zuzuwenden, kam einer Mutprobe gleich. Lenka erschauerte und spürte, wie ihr Herz gegen die Brust hämmerte, als Gérômes Atem über ihren Nacken strich.
"Du hast keine Vorstellung davon, worauf du dich einlässt", hörte sie seine Stimme direkt an ihrem Ohr.

"Steh auf! Hoch mir dir, Six! Hoch, hoch, hoch!" Lenka fühlte, wie jemand ihr Handgelenk packte und zog. Einen Moment lang drehte sich die Welt, rollte und schaukelte, bis Lenka begriff, dass Gérôme sie auf dem Rücken über den Boden schleifte. Es war dunkel, stockfinster, sicher mitten in der Nacht. Noch bevor sie ganz wach war, hatte sie sich herumgedreht, kam auf die Knie und sprang auf.
Gérôme zog sie vorwärts, schleuderte sie durch die konturlose Schwärze und stieß ihr in den Rücken. Achtung! Hier musste die Treppe kommen. Lenkas nackter Fuß trat ins Leere, und schon stolperte sie ein paar Stufen hinab.
"Geh weiter! Geh weiter!", schrie Gérôme und trieb sie mit Schlägen und Tritten vor sich her. Auch in der unteren Etage herrschte undurchdringliche Finsternis. Lenkas Erinnerungen kamen zurück. Gérôme hatte ihre Tasche weggeschlossen und ihr dann das kleine Zimmer im zweiten Stock gezeigt, in dem sie in den nächsten Wochen leben würde. Der winzige Raum enthielt nicht mehr als eine Futton-Matte, auf der Unterwäsche und Trainingssachen bereit lagen.
Gérôme zog sie aus dem Haus. Lenka spürte die Kühle des feuchten Bodens unter ihren Füssen. Sie taumelte durch die Nacht, unfähig zu denken, nur darauf aus, nicht wieder zu stürzen. Doch das war unmöglich. Sie strauchelte und schlug der Länge nach hin. Gérôme trat nach ihr. "Weiter! Weiter!"
Und so begann Lenkas Training mit einem Marsch durch die Finsternis, der ahnen ließ, was sie hier erwartete. Während Gérôme sie als Fotze, Versagerin und Pétasse beschimpfte, ihr zwischen die Schulterblätter boxte und in ihre Beine trat, während sie stürzte, sich die Hände und Knie zerschrammte, während sie sich das Kinn anschlug und von Gérôme an den Haaren gezogen wurde, bis sie winselte, wurde ihr klar, dass dieser Mann tatsächlich eine Bestie war.
Als über den Feldern das erste Licht des Tages schimmerte, kehrten sie zum Haus zurück. Lenka sank auf die morgenfeuchte Erde und weinte. "Wasch dich. Wechsle deine Kleidung. Wir essen in zehn Minuten", sagte Gérôme.

Die Lektion des Vormittags bestand in einer zermürbenden geistigen Ausdauerübung. Gérôme hatte sie, eine Decke und ein dickes Kissen unter dem Arm, in den Garten hinter dem Haus geführt. Er wählte einen Platz nahe einer Hecken-Wicke, breitete die Decke aus und sagte: "Das Kissen dient nicht deiner Bequemlichkeit. Es richtet dein Becken beim Sitzen auf. Schau her, dies ist die korrekte Technik."
Dann ließ er Lenka auf dem Kissen Platz nehmen. Er verbesserte ihre Haltung, korrigierte sie mit schmerzhaften Griffen.
"Konzentriere dich auf die richtige Sitzposition, und beobachte das Kommen und Gehen des Atems." Lenka hörte den Kies des Gartenweges unter seinen Schritten knirschen, und dann wurde es still.
Anfänglich entspannte sie das Sitzen. Den Blick auf die Ranken, Blätter und Blüten der Wicken gerichtet, erholte sich ihr Körper von den Torturen der Nacht. Doch dieser Friede währte nicht lange. Lenka wurde unruhig. Die Meditation begann, sie anzustrengen. Die Pflanzen verschwammen vor ihren Augen, und bald war es mit der Konzentration vorbei: Lenka verbrauchte ihre Kräfte im Kampf gegen die erzwungene Versteinerung – sie wollte aufspringen, sich schütteln und die Arme strecken. Sekunden dehnten sich zu Minuten, die Schmerzen in Schulter und Rücken wurden unerträglich. Sie wusste nicht, wie lange sie so gesessen hatte. Es mochte eine Stunde gewesen sein, vielleicht waren es zwei.
Als ihr Widerstand zusammenbrach und sie vornüber sank, um ihre Schultern zu entspannen, fuhr ein Schlag wie ein Peitschenhieb auf sie nieder. Lenka schrie auf und warf sich herum. Gérôme starrte sie mit einem irren Funkeln hinter den Gläsern seiner Brille an. In seiner Hand schwang das Seil, mit dem er zugeschlagen hatte. "Du kannst nicht laufen, kannst nicht sitzen", sagte er mit einem Ausdruck äußerster Verachtung. "Sag mir, Six, wozu bist du gut?"

Am Nachmittag dieses Tages folgte Lenka Gérôme in das verfallene Gebäude zur Linken des Haupthauses. Als sie die Tür hinter sich geschlossen hatte, begriff sie, dass das heruntergekommene Äußere der ehemaligen Scheune die Tarnung einer geräumigen Trainingshalle darstellte: Das kakaofarbene Holz des Bodens bestand aus Dielen, die man mit großer Sorgfalt abgeschliffen, versiegelt und poliert hatte.
Lenka sagte staunend: "Was ist das hier? So eine Art Kungfu-Dōjō?"
Gérôme ignorierte ihre Fragen, zog seine Schuhe aus und durchquerte die Halle, während Lenka sich weiter umschaute. Auch Stützpfeiler und Wandverkleidungen waren mit Holz in dunklen Tönen konstruiert worden. Außer einigen Waffenständern mit Übungsgeräten aus roter Eiche gab es keine sichtbaren Ausrüstungsutensilien.
"Worauf wartest du, Six? Komm her, aber putz dir vorher die Füße ab!"
Die Methode, die Gérôme in der Trainingshalle anwendete, basierte auf einem simplen Drei-Schritte-Programm, das aus Demonstration, Korrektur und Praxis bestand. Alle Übungen, die Lenka an diesem Nachmittag erlernte, waren Variationen eines einzigen Themas.
"Es gibt nur ein wahres Maß", sagte Gérôme. "Wie effizient kann ein Mann oder eine Frau das eigene Körpergewicht stützen und bewegen."
Dann sah er an Lenka herab. "Für dich stehen die Chancen diesbezüglich schlecht, denn du bist schwach und fett."
In den drei Stunden dieser Trainingseinheit trieb Gérôme Lenka an die Grenzen des Zusammenbruchs. Während sich vor der Scheune der Tag dem Abend entgegen neigte, durchlebte sie ein Martyrium aus Liegestützen, Kniebeugen und Bauchpressen. Lenka keuchte, stöhnte, schrie und wimmerte. Gérôme überwachte ihre Bewegungen, schrie ihr ins Gesicht und schlug sie mit dem Seil. Als sie beim Abendessen Mühe hatte, die Teeschale zum Mund zu führen, sagte Gérôme erneut: "Weshalb bist du hier, Six?"

In dieser Nacht träumte sie von ihrer Tochter. Sie sah Lisa vor sich, streichelte ihr blondes Haar und … fuhr in die Höhe, als ein glühender Schmerz über ihren Rücken jagte. "Hoch mit dir, Garce! Los, los!" Wäre ihr in dem Moment, als sie am Abend zuvor todmüde und zerschlagen auf die Futton-Matte gesunken war, der Gedanke gekommen, gegen einen zweiten Nachtmarsch zumindest psychologisch gewappnet zu sein – immerhin wusste sie, was ihr auf den mondlosen Feldern blühte – sie hätte sich nicht mehr täuschen können.
Gérôme hetzte sie über rissige Äcker, prügelte sie durch Dickicht und Dornengestrüpp. Er schien darauf versessen, sie winseln zu hören. "Weshalb bist du hier?", schrie er wieder und wieder. "Wozu bist du gut, Six?" Doch in Lenka war etwas erwacht, dass sich immer dann in ihrem Leben zeigte, wenn die Welt verschworen schien, sie zu demütigen. Es mochte Stolz sein oder eine Art sinnlosen Trotzes.
Und so konnte sie zwar nicht verhindern, dass sich Gérôme an ihren Qualen weidete – sie spürte seine Erregung, wenn er den Stiefel in ihren Rücken stieß – aber sie versagte ihm die Genugtuung ihrer Kapitulation.
Das morgendliche Sitzen verbrachte Lenka im Zustand tiefer Agonie. Weder die blühenden Wicken noch die Sonnenstrahlen auf ihrer Haut konnten sie trösten. Es fehlte ihr die Kraft, den Schmerzen in den Kniegelenken mehr entgegenzusetzen als ein leises Wimmern. Und obwohl sie Gérôme weder hörte noch spürte, wusste sie, dass er hinter ihr stand und darauf lauerte, das Seil zu schwingen. Schließlich kam der Moment, in dem ihr Gérômes Prügel als das geringere Übel erschien. Doch das war ein Irrtum.
Ingrimm und Ekel verzerrten Gérômes Gesicht, als er Lenka mit wütenden Hieben durch den Garten peitschte. "Du verschwendest meine Zeit", brüllte er, heiser vor Zorn. "Du verschwendest meine Zeit!"

In den ersten Wochen schrumpfte Lenkas Leben zu einer Lektion im Aushalten und Überdauern. Sie lernte, Gérômes Raserei zu ertragen, wenn er sie nachts durch die Wildnis jagte. Sie entwickelte die Technik, in Gedanken an ferne, friedvolle Orte zu reisen, während Gérômes Seil schwirrte und er ihre Arme und Schenkel schlug, bis sie sich dunkel färbten. Eine morbide Sehnsucht nach Verausgabung trieb sie in die Trainingshalle, und so seltsam es ihr selbst erschien – das von Gérôme verordnete Krafttraining erfüllte sie mit Befriedigung, denn sie verbesserte sich von Tag zu Tag, und sie spürte, wie sie allmählich stärker wurde.
Sie sprachen nur selten miteinander. Wenn er sie nicht beschimpfte, erteilte Gérôme Anweisungen, die knapp und präzise ausfielen. Neben dem täglichen Training bestanden Lenkas Verpflichtungen darin, ihre Kleider zu reinigen, Haus und Trainingshalle zu putzen sowie bei der Zubereitung der Mahlzeiten zu helfen. Hin und wieder befahl ihr Gérôme, die Trockentoilette zu säubern. Lenka hasste diese Arbeit und betrachtete sie als Demütigung, denn sie erforderte das Ausleeren des Fäkalienkübels in eine übelriechende Sickergrube weitab vom Haus.
Drei Mal am Tag - vor dem Frühstück, während der Mittagspause und nach dem Abendessen - widmete sich Lenka ihren Verletzungen. Gérôme zeigte ihr, wie man Abschürfungen reinigte und mit einer Salbe auf Aloe Vera-Basis behandelte. Blutende Wunden wurden mit Pflastern oder Mullkompressen versorgt. Am meisten setzten ihr Prellungen und Zerrungen zu, die von Gérômes Misshandlungen, aber auch von Stürzen und von den Überlastungen des Krafttrainings herrührten. Lenka lernte, wie sie die Schmerzen durch Massagen und Einreibungen aus Kampferöl lindern konnte. Eines Tages lag ein gerupftes Huhn auf dem Tisch im Garten. Gérôme hielt eine ledernes Futteral in der Hand. "Das ist ein chirurgisches Besteck", sagte er. "Heute üben wir das Vernähen von Wunden."
Irgendwann begann Lenka, sich auf Gérômes nächtliche Überfälle vorzubereiten. In der zehnten Nacht erwartete sie ihren Peiniger und rannte so schnell vor ihm durch die Dunkelheit, dass es schien, als hätte Gérôme Mühe, mit ihr schrittzuhalten. Erst als sie schon beinahe den Hof erreicht hatten, brachte er sie wütend mit einem Seilwurf zu Fall. Er trat nach ihr, doch sie rappelte sich auf und lief weiter.
Während des morgendlichen Sitzens im Garten kämpfte sie gegen die Schmerzen, mit denen ihr Körper sie quälte. Sie fand heraus, wie sie durch tiefes Atmen die Verkrampfungen in Rücken und Schultern lösen konnte, und bald bemerkte sie auch, dass es einen Zusammenhang zwischen Atmung und Gefühl gab: Nichts erleichterte so sehr wie ein Seufzen, und all die seelischen Torturen, denen sie hier ausgesetzt war, wurden erträglicher, wenn es ihr gelang, sich so sehr in das Kommen und Gehen des Atems zu versenken, dass der Rest der Welt für einige Augenblicke verschwand.
Doch Gérôme ließ die Anpassungsbemühungen seiner Schülerin nicht unbeantwortet. Eines Nachts änderte er seine Taktik. Lenka hatte geahnt, dass dieser Moment kommen würde, aber als es soweit war, kostete es sie fast das Leben.
Während ihres irrwitzigen Nachtlaufs trieb Gérôme sie auf unbekanntes Terrain. Der Untergrund wurde feucht und dann morastig. Lenka glitt aus und rutschte in den Schlamm. Sumpfland, schoss es durch ihren Kopf.
"Hoch mit dir, Con!", schrie Gérôme. "Lauf, lauf!"
Doch das Laufen im Morast kostete Kraft, und da sie nicht über Gérômes unheimliche Nachtsichtfähigkeiten verfügte, stürzte sie häufiger als bisher. Jedes Straucheln wurde mit Prügel bestraft. Lenka stolperte, rutschte, glitt und taumelte durch den nächtlichen Sumpf, und erst, als sie durchnässt vor Kälte schlotterte, hustete und nach Luft rang; erst, als der Moder zwischen ihren Zähnen knirschte, begriff sie, dass Gérôme es darauf anlegte, sie im Moor zu ertränken. Wieder und wieder stieß er sie ins Wasser, drückte ihren Kopf in die schwarze, eiskalte Brühe, trat ihr seitlich in die Beine, bis sie röchelnd vor Schmerz und Entsetzen im Schlamm versank.
Doch gegen ihren Wunsch, loszulassen, um endlich und endgültig frei zu sein, um zu versickern und in der schwarzen Erde davon zu rinnen, bäumte sich ein Wille in ihr auf, drückte den zerschlagenen Körper aus dem Moor und ließ sie weiterlaufen, ohne Denken, ohne Fühlen. Zurück im Hof, strauchelte sie mit den letzten Schritten, stürzte und prallte gegen die Mauer der Scheune.
Als sie erwachte, rann warmes klares Wasser ihren Leib hinab. Sie kauerte auf den Fliesen des Duschraumes, und Gérôme stand über ihr, ein Medic-Päckchen in der Hand. Er stellte das Wasser ab und sagte: "Trockne dich ab, und versorge deine Verletzungen. Dann geh schlafen. Du hast den Rest des Tages frei."

Nacht für Nacht träumte Lenka jetzt von ihrer Tochter. Die Sehnsucht nach Lisa wurde unerträglich. "Kann ich sie besuchen?", fragte sie Gérôme eines Morgens beim Essen.
"Sicher. Du kannst jederzeit gehen, Six. Aber dann komm nie wieder!"
Die Härte dieses Mannes irritierte sie. Lenka begann daran zu zweifeln, dass er ein Mensch war. Sicher, er besaß einen menschlichen Leib, ein menschliches Erscheinungsbild. Aber selbst das änderte sich eines Tages: Es mochte am permanenten Schlafmangel liegen, an dem durch Beschimpfungen und Schmerzen ausgeübten Druck, doch Lenka hielt jene plötzliche, furchteinflößende Wahrnehmungsstörung für Klarsicht: Tauchte Gérôme am Rand ihres Blickfeldes auf, dann setzten all die Grausamkeiten, die er Lenka angetan hatte – all das Schlagen, Schreien und Peitschen, selbst der Blick aus seinen schmalen Augen, das Fauchen und das Zähnefletschen - das Bild eines Höllengeistes zusammen, so wie Lenka es aus den Fabelbüchern ihrer Kindheit kannte. Erst wenn sie ihn direkt anblickte, verflüchtigte sich die Schreckensvision.
Nach zwanzig Tagen erweiterte Gérôme das Ausbildungsprogramm. Neben Nachtlauf, morgendlichem Sitzen und dem Krafttraining am Nachmittag hatte Lenka jetzt Abend für Abend eine Einführung in Gérômes Kampftraining zu absolvieren. Er behauptete, die Techniken, die er lehrte, gingen auf ein altes System zurück - die Palast-Faust.
"Jeder ausgebildete Kämpfer kennt drei Distanzen", sagte er und schob sie in der Trainingshalle in eine Ecke. "Fuß, Faust und Ellbogen." Lenkas Atem ging schnell und stoßweise, als Gérôme sich an sie presste und in ihr Ohr flüsterte: "Aber es gibt noch eine vierte Distanz." Falls sich Lenka noch hin und wieder gefragt hatte, ob Gérôme tatsächlich das Reptil war, dass er zu sein schien, dann wurde diese Frage jetzt geklärt. Ohne die Hände, den Kopf oder die Knie zu benutzen, brachte er sie mit einer Serie abrupter Schulter-, Brust- und Beckenstöße unter seine Kontrolle. Lenka ballte die Fäuste, schlug, trat, biss und kratzte, aber der Gewalt, die von Gérômes zerstörerischem Körper ausging, hatte sie nichts entgegen zu setzen. Sie war in eine Schrotmühle geraten - Gérôme schüttelte sie, rammte, walzte und zerschredderte ihren Leib.
Hin und wieder verließ Gérôme das Gehöft. In einem Kombi, den er im Gebäude zur Rechten des Hauses geparkt hatte, fuhr er nach dem Frühstück davon und kehrte – den Kofferraum voller Lebensmittel - erst zurück, wenn es bereits dunkel wurde. Lenka widmete sich auch an diesen Tagen ihrem Training - ein Verhalten, von dem sie selbst nicht wusste, ob es als Gehorsam oder Fleiß zu deuten war.
"Weshalb bist du hier, Six?" Diese Frage hörte sie nun immer häufiger, und da es schien, als erwarte Gérôme wirklich eine Antwort, sagte sie eines Abends in der Trainingshalle: "Ich will raus aus meinem alten Leben. Ich will Geld verdienen und meiner Tochter das geben, was sie verdient." Gérôme hatte ihr zugehört. Er sah sie an, schüttelte den Kopf und sagte: "Trainiere weiter."
Bei einer anderen Gelegenheit sagte Lenka: "Sundberg hat die Möglichkeiten, den Tod meines Vaters aufzuklären. Wenn ich für ihn arbeite, werde ich erfahren, was damals geschah." Gérôme spuckte in Sand. "Kümmere dich um den Abwasch, Six."
Lenka ließ nicht locker. "Ich will mir beweisen, dass ich mehr kann, als ich bisher zustande gebracht habe."
"Nein, nein, nein!", schrie Gérôme und schlug ihr auf den Kopf. "Weshalb bist du hier?"

Als Basisübungen der Palast-Faust entwickelte Gérôme für Lenka ein Programm, das – wie er sagte - darauf abzielte, die Struktur ihres Körpers neu zu organisieren: "Du hast deine Wirbelsäule durch das Tragen von High Heels ruiniert. Titten und Arsch zu zeigen, wird dich aber nicht retten."
Er stellte sie auf ein Wackelbrett und ließ sie über Balken balancieren. Nach und nach reduzierte er Lenkas Krafttraining und ersetzte es durch immer umfangreichere und komplexere Gleichgewichtsübungen.
Allmählich durchschaute Lenka das System. Gérôme handelte keineswegs rein impulsiv. Er folgte einem Muster, hatte einen Plan. So wie er das Balancetraining auf den Körperkraftübungen aufbaute, so bereitete er nun die nächste Stufe vor.
Als sie am Ende der vierten Woche die Halle betrat, pendelte ein leichter Sandsack unter einem Galgen.
"Schlage nicht mit der Faust", sagte Gérôme. "Schlage mit dem ganzen Körper." Mit dem Finger zeichnete er an ihr eine Linie nach, die im Fußballen ihren Ursprung hatte und dann über Bein, Becken, Rumpf, Schulter und Arm bis zu den Knöcheln ihrer Hand verlief.
"Schlage mit dem ganzen Körper", sagte er noch einmal.
Während Lenka jetzt allabendlich gegen die Lederhaut des Sandsacks schlug und das Blut ihrer Knöchel durch die Bandagen sickerte, wurde ihr selbst bewusst, wie stark sie sich bereits verändert hatte. Das Erdulden körperlicher Qualen war ihr beinahe zur Routine geworden. Schmerz, das war nun eine Übung. Gérôme hetzte sie nachts noch immer über die Felder und durch den Wald. Er stieß sie in den Sumpf, er warf sie zu Boden. Doch die aufgerissenen Hände, das angeschlagene Kinn und die geprellte Schulter – das alles war jetzt nicht mehr als ein natürlicher Bestandteil des Trainings. Lenka blutete, schrie, weinte, stöhnte. Dann ging sie in den Duschraum, versorgte ihre Wunden und bereitete anschließend für Gérôme und sich das Frühstück zu, als sei dies der normale Lauf der Dinge.
Auf Gérômes Frage, weshalb sie hier sei, wusste sie keine vernünftige Antwort mehr. Sie versuchte es mit: "Ich habe ein Talent für diesen Job." Gérôme nannte sie Idiote und ging davon. Lenka probierte: "Weil ich skrupellos bin, also genau das, was Sundberg braucht." Gérôme winkte ab. "Weil ich nicht weiß, was ich sonst tun soll!" "Débile!"

Schließlich begann Gérôme, Lenka in die Taktik des Zweikampfes einzuweisen. Er lehrte sie einfache Bewegungskombinationen, die Schrittmanöver, Körperdrehungen und Finten sowie verschiedene Schläge, Stöße, Blöcke und Griffe umfassten.
"Es geht nicht darum, möglichst viele Varianten zu kennen", erklärte er. "Suche oder provoziere die Situation, in der die Techniken funktionieren, die du perfekt beherrschst."
Mit dem Beginn des Zweikampftrainings geriet Lenka erneut in die Krise. Gérômes Übergriffe besaßen bislang einen scheinbar beliebigen Charakter, doch nun nahm er sie aus der Perspektive des Kämpfers gezielt aufs Korn. Er wich ihren Schlägen durch Pendelbewegungen aus und rammte sie mit seiner Schulter. Er blockierte ihre Kniestöße und schmetterte sie zu Boden. Lenka setzte alles daran, ihren teuflischen Feind und Meister zumindest ein einziges Mal im Kampf zu treffen. Doch es war aussichtslos.
Im Verlauf der ersten Wochen dieser neuen Trainingsphase schmolzen Lenkas Rundungen dahin. Ihr Körper wurde schwer und hart. Sie bearbeitete den Sandsack mit Fäusten, Knie und Ellbogen. Sie lernte, ihre Füße einzusetzen, trat und hämmerte gegen das Leder, bis Gérôme den leichten Sandsack gegen einen schwereren ersetzte.
Das abendliche Zweikampftraining beschäftigte Lenkas Gedanken Tag und Nacht. Im Duschraum starrte sie minutenlang mit offenen Augen in den Strahl des Wassers, um das Blinzeln zu überwinden. In der Mittagspause schlich sie in die Trainingshalle und färbte Sandsäcke und lederumwickelte Holzpfosten mit ihrem Blut. Während sie nachts auf Gérôme wartete, übte sie die Schrittarbeit der Palast-Faust.
Sie begann, Gérômes Kampfweise genauer zu beobachten. Sie bemerkte, dass er die Linksauslage bevorzugte und stellte ihre eigene Kampfstellung auf die rechte Seite um. Sie entschlüsselte sein Primärverfahren, das aus Abwehr, Konter und einem Körperrammstoß bestand, den er gewöhnlich beendete, indem er sie an den Haaren packte und gegen einen Sandsack, eine Wand oder einen Pfosten stieß. Deshalb lernte sie, mit Finten anzugreifen, gegen die es keine sinnvolle Abwehr gab. Sie entwickelte einen wirkungsvollen Gegenkonter, und als sie eines Tages im Ausrüstungsraum eine Pflanzenschere entdeckte, schnitt sie ihr Haar bis auf die Kopfhaut ab. Und obwohl all diese Bemühungen ihr eigentliches Ziel verfehlten – es gelang Lenka niemals, weder jetzt noch später, Gérôme hart im Kampf zu treffen – so halfen sie doch, die Demütigungen ihres Lehrers zu ertragen.

Gegen Ende ihres zweiten Trainingsmonats, sie hatte jetzt sechzig Tage bei Gérôme verbracht, unterlief Lenka ein katastrophaler Fehler. Beim morgendlichen Essen bemerkte sie, dass Gérômes Blick auf ihren Brüsten ruhte, über die sich straff ihr T-Shirt spannte. Sie lehnte sich zurück und betrachtete ihn einen Moment lang. Dann zog sie sich das Shirt über den Kopf, schleuderte es ihm ins Gesicht und sagte: "Ist Glotzen alles, was du fertigbringst?"
Als sie sah, wie Gérôme seine Brille abnahm und die stählernen Bügel zusammenklappte, lief ein Schauer über ihren Rücken. Noch viele Jahre später verfolgte diese Geste sie in ihren Träumen. In Lenkas Vorstellung verdichtete sie sich zum Symbol des Terrors, zu einer Chiffre namenlosen Schreckens.
Stunden nach diesem Versuch, Gérôme zu manipulieren, zu provozieren, Widerstand zu üben oder was auch immer es gewesen sein mochte, kam Lenka im Morast der Sickergrube zu sich - nackt, blutend und mit Kot beschmiert; ein vor Schmerzen bebendes Bündel aus Fleisch und Knochen. Vielleicht war der Umstand, dass sie noch lebte, ein Hinweis auf einen Rest an Skrupel, den Gérôme bewahrt hatte. Doch Lenka hätte nicht darauf gewettet: Als sie im Duschraum in den Spiegel blickte, erkannte sie ihr Gesicht nicht mehr.
Tage- und nächtelang litt sie unter Qualen, gegen die ihre Atemtechniken machtlos blieben. Sie versorgte die Blutergüsse, Platzwunden und das eingerissene Augenlid. Sie bandagierte ihre gebrochenen Rippen. Sie vernähte den großen Riss auf der Innenseites ihres Schenkels; von welcher Waffe er stammte, fand sie nie heraus. Doch der Schmerz wollte ihren Körper nicht verlassen. Er durchdrang und umhüllte sie. Er folgte ihr bei jedem Schritt, er wurde zum Teil ihrer Persönlichkeit, und eines Tages, als ihr Blick erneut ihr Spiegelbild traf und sie ihren elenden, gepeinigten Leib betrachtete, wusste sie es: Das ist es. Was ich bin. Und schon immer war. Schmerz.

Im August kam Sundberg zu Besuch. Als Lenka ihm auf dem Hof entgegenging, blieb er stehen und sagte: "Oh, mein Gott."
Lenka hatte ihr Training wegen der gebrochenen Rippen und ihres allgemein katastrophalen Zustandes für eine Woche unterbrechen müssen. In dieser Zeit verzichtete Gérôme darauf, sie zu quälen und stellte sie sogar von ihren häuslichen Verpflichtungen frei. Während der gemeinsamen Mahlzeiten streifte er sie gelegentlich mit einem prüfenden Blick, sagte aber nie etwas. Lenka wusste, dass er ihre Genesung überwachte. Als er sie eines Morgens beim Sitzen im Garten antraf, sagte er nur: "Heute Abend machen wir mit dem Training weiter."
In den Wochen vor Sundbergs Besuch stellte Gérôme die Module der Ausbildung um. Statt des Wildnislaufes stand nun Schwimmen auf dem Programm. In der ersten Nacht dieser neuen Trainingsphase führte Gérôme Lenka zu einem im Wald verborgenen See, und während dieser kurzen Wanderung geschah etwas Seltsames.
"Du solltest nicht allzu viele Hoffnungen in Sundbergs Projekt setzen", bemerkte Gérôme und schaute vom Weg hinauf zu den Sternen.
"Warum sagen Sie das?"
"In Sundbergs Welt ist nichts so, wie es scheint."
Darauf wusste Lenka nichts zu antworten, und auch für Gérôme schien die Angelegenheit erledigt. Lenka brauchte einige Minuten, bis sie begriff, dass dies der erste Wortwechsel zwischen ihnen war, der einem echten Gespräch nahe kam.
Das Schwimmtraining würde ihr vor allem in einer Hinsicht wertvolle Dienste leisten, erklärte Gérôme. "Du lernst das Atmen."
Lenka schaute auf den im Sternenlicht glänzenden Spiegel des Waldsees, zog ihre Kleider aus und folgte Gérôme in das Wasser. Diesen Mann nackt zu sehen, löste ein merkwürdiges und unbegründetes Gefühl der Vertrautheit aus. Sein Körper trug die Zeichen eines gewaltsamen Lebens. Das schwache Leuchten der reflektierenden Wasserfläche ließ Narben und schlecht verheilte Verletzungen erahnen.
"Es gibt nur einen Schwimmstil, der sich für dieses Training eignet", sagte Gérôme, schöpfte Wasser und ließ es über seinen Körper rinnen. "Du wirst diese Technik nicht kennen. Schau her."
Gérôme schob sich flach ins Wasser und glitt geräuschlos dahin. Er drehte sich auf die linke Seite und zog erst den rechten und dann den linken Arm gestreckt an den Körper heran. In der letzten Phase rollte er wieder herum, führte beide Arme nach vorn, und der Zyklus begann von Neuem.
"Jetzt versuche es, Six", sagte Gérôme, und Lenka tauchte in den See.
Während Gérôme ihre Bewegungen korrigierte, fühlte sie, wie das Leben in ihren Körper zurückkehrte. In den vergangenen Wochen hatte sie sich, ohne es zu bemerken, in Stasis begeben – der Stillstand ihrer vitalen Energien, Gefühle und Empfindungen mochte eine Konsequenz der tödlichen Bedrohung durch ihren dämonischen Lehrmeister sein; jetzt strömte das Leben zurück in ihren Leib, und sie konnte nicht anders, als zu lachen.
"Atme unter Wasser aus, Six, und in der Seitenlage ein. Hey, was ist so lustig? Ach, ich verschwende meine Zeit mit dir!"
Das Schwimmtraining blieb nicht die einzige Neuerung. Gérôme begann, Lenka in ein umfangreiches Programm von Dehnungsübungen einzuweisen, die er mit Atemtechniken kombinierte. "Du bist zu steif", sagte er. "Nimm das Wasser als Vorbild. Sei, wie Wasser."
Die Auswirkungen dieser Trainingsumstellungen waren bemerkenswert. Schwimmen, Meditation, Yoga und Zweikampf bildeten jetzt die vier Himmelsrichtungen in Lenkas Welt, und Wasser wurde zwischen diesen Polen zum verbindenden Element. Das Mysterium des Fließens und Strömens und der Wunsch, die Qualitäten des Wassers ganz in sich aufzunehmen, beschäftigten Lenka nun Tag und Nacht.
Diese Entwicklung hatte einen heilenden Effekt. Lenka begann, ihre Schmerzhülle abzustreifen. Das Trauma ihres Zusammenstoßes mit Gérôme verblasste. Noch immer setzte er ihr während des Kampftrainings übel zu. Noch immer war sie gezwungen, Tag für Tag ihre blutenden Wunden und Prellungen zu versorgen. Doch das alles erschien jetzt in einem anderen, milderen Licht, und Lenka gab sich der Täuschung hin, sie hätte das Tal des Schreckens endgültig hinter sich gelassen.
"Sie sehen schlimm aus", sagte Sundberg. "Entschuldigen Sie, aber …" Er schien wirklich erschüttert. Lenka winkte ab. "Naja, das Gröbste habe ich wohl hinter mir."
Mit einer Bewegung des Kinns zum Haus hin fragte Sundberg: "Ist er da?"
"Nein, er ist heute früh weggefahren, um ein paar Angelegenheiten zu regeln. Kommt erst heute Abend zurück."
"Okay, dann …" Sundberg drehte sich um und gab ein Zeichen in Richtung des schwarzen Mercedes, der vor dem Hof auf dem Schotterweg parkte. Lenka spürte, wie ein Ruck durch ihren Körper ging, als sich die Tür des Fonds öffnete und ihre Tochter aus dem Wagen sprang.
Mit dem hellen, klaren Gesicht von Lisa kehrte die Welt zurück zu Lenka. Es war, als hätte sie drei Monate lang auf einem fremden Planeten gelebt, in einer Welt jenseits des Styx, doch als sie das Lächeln ihrer Tochter sah, erinnerte sie sich daran, dass Leben auch Freude war, Liebe, Lachen, Zärtlichkeit und Hoffnung.
"Komm her, meine …" Lenka versagte die Stimme. Sie sank auf die Knie, streckte die Hände aus und konnte es nicht erwarten, ihre Tochter zu umarmen. Lisa rannte über den Hof, zögernd erst, dann im vollen Spurt. Sie rief etwas, aber Lenka hörte sie nicht. In ihrem Bewusstsein war nur Platz für diese eine Wahrnehmung, dieses eine Bild und Symbol des Glücks – der Blick ihrer Tochter, ihr lächelnder Mund, ihr blondes in der Sommerluft fliegendes Haar. Lisa warf sich in die Arme ihrer Mutter. "Wo sind deine Haare, Mami? Was ist mit deinem Gesicht?"
"Ist alles okay, meine Kleine, alles okay."
Sundberg stand dabei und betrachtete schweigend das Lachen und das Weinen, die Küsse und die Tränen.
Es war ein Tag, der verging wie ein Traum. Lisa verlangte, alles zu sehen, und Lenka zeigte ihr das kleine Zimmer mit der Futton-Matte, den Trainingsraum und die Sandsäcke, den Meditationsplatz an der Wicken-Hecke. Lisa staunte, wusste nicht, was sie davon halten sollte und schaute an ihrer Mutter hoch, die sich so sehr verändert hatte. "Fährst du mit uns nach Haus, Mami?", fragte sie immer wieder, und an Lenkas Wangen flossen die Tränen herab.
Später, es war bereits Nachmittag und Lisa spielte zwischen Blumen und Apfelbäumen, saßen Lenka und Sundberg am Gartentisch und tranken Tee.
"Ich weiß, wie schwer das hier ist", sagte Sundberg.
Lenka beobachtete lächelnd ihre Tochter und sagte: "Wirklich? Ich glaube nicht."
Sundberg griff in seine Sakko-Tasche und holte ein Päckchen Zigaretten hervor. "Wollen Sie?", sagte er, und hielt Lenka das Päckchen hin.
Lenka starrte auf die Packung und sagte: "Ich hatte nicht mal die Kraft, das Rauchen zu vermissen."
"Nehmen Sie eine", forderte Sundberg sie auf.
Während er Lenka Feuer gab sagte er: "Haben Sie mit dem Schwimmtraining begonnen?"
Lenka schaute wieder zu ihrer Tochter und nickte.
"Dann dauert es nicht mehr lange", sagte Sundberg. "Ich kenne Gérômes Programm. Es folgt noch ein letztes Modul."
"Und kennen Sie ihn selbst auch?", fragte Lenka und inhalierte mit geschlossenen Augen.
"Sie meinen, ob ich ihn …"
"Ich meine, ob Sie wirklich wissen, wer dieser Mann ist!"
Sundberg zögerte einen Moment lang. Dann sagte er: "Man kann es sich leicht machen und ihn als einen Verrückten betrachten, als einen Wahnsinnigen mit einer Methode, die funktioniert."
Lenka schlug die Hände vor das Gesicht. "Sundberg, ich kann es nicht mehr hören – eine Methode, die funktioniert. Ist das Ihr heiliges Mantra?"
Sundberg schwieg.
"Und was ist, wenn ich es mir nicht leicht machen will?", fragte Lenka. "Was ist, wenn ich ihn nicht als Verrückten betrachten will? Als was sehen Sie ihn?"
Sundberg setzte die Teeschale an die Lippen und trank.
"Was ist er?", fragte Lenka noch einmal.
"Fragen Sie nach meiner persönlichen Meinung, Lenka?"
"Ja. Ja."
Sundberg stellte die Schale zurück und sagte: "Ich betrachte ihn als das ganz Andere, als das Fremde."
"Das Fremde", wiederholte Lenka und schüttelte den Kopf. "Ist ja eine Wahnsinns-Erklärung."
Sundberg zuckte mit den Schultern. "Sie haben mich gefragt", sagte er. "Ich möchte Ihnen aber dringend raten, nicht über Phillipe Gérôme nachzudenken. Das ist nicht Ihre Aufgabe. Konzentrieren Sie sich auf das Training, Lenka."
Lisa kam herbeigelaufen. In ihrer kleinen Hand hielt sie ein paar Blumen, Gräser und Zweige, die sie gesammelt hatte. Sie schmiegte sich an Lenkas Knie und hielt ihr den Strauß entgegen. "Sei nicht mehr traurig, Mami", sagte sie. Es war die Geste eines fünfjährigen Mädchens, das die Qualen ihrer Mutter instinktiv verstand.
Der Abschied war bitter, aber Lenka passte einen günstigen Moment ab. Als Lisa am frühen Abend in ihren Armen schlief, sagte sie: "Sie sollten jetzt fahren. Sie wird nicht aufwachen."
Sundberg nickte.
Und wieder drehte er sich noch einmal um, bevor er in den Wagen stieg. "Lisa ist in guten Händen", sagte er. "Machen Sie sich keine Sorgen. Achten Sie auf Gérôme", fügte er nach einem Zögern hinzu. "Er hat noch ein As im Ärmel."

Das letzte Modul in Gérômes Ausbildungsprogramm begann mit einem Knall. "Eine Feuerwaffe ist ein garstiges Ding", sagte Gérôme, nachdem er die Pistole geholstert und Lenka mit einer Geste aufgefordert hatte, den Gehörschutz abzusetzen. "Eine Feuerwaffe unterscheidet nicht zwischen dir und deinem Feind. Deshalb darfst du niemals unaufmerksam sein. Verstehst du das, Six?"
Zu Lenkas Überraschung hatte sich das dritte Gebäude des Hofes - die vermeintliche Werkstatt und Garage – als Schießanlage mit geräuschgedämmten Splitterschutzwänden und einer mechanischen Fallscheibenkonstruktion entpuppt.
"Wir beginnen mit dem Trockentraining", sagte Gérôme und nahm eine schwarze Pistole von einem Haken an der Wand. "Das ist eine tschechische Armeepistole. Ich zeige dir, wie man sie hält."
"Ich hatte schon eine Einweisung", sagte Lenka.
"Das weiß ich", erwiderte Gérôme. "Ich kenne deine Akte, habe von deinen Einsätzen gelesen – Koljakov und Šimánek, nicht wahr?"
Lenka nickte.
"Was du noch nicht begriffen hast, Six, ist der Sinn dieser Ausbildung", fuhr Gérôme fort. "Das hier ist keine Vorbereitung für den Außendienst als Geheimdienstnutte."
Die Stunden zwischen Mittagspause und Abendessen wurden nun gleichmäßig in fortgeschrittene Nahkampfpraxis und Feuerwaffentraining aufgeteilt. In den Zweikampfübungen plagte Gérôme Lenka erneut mit seinen Drills zur vierten Distanz – Griff- und Hebeltechniken, Zwingen, Würfe und Fixierungen, Bodenkampf. Er ließ sie aus allen erdenklichen Positionen und in dutzenden verschiedener Situationen kämpfen: stehend auf einem Bein, liegend auf dem Bauch, mit den Händen auf dem Rücken, im und unter Wasser, kopfüber hängend, sitzend auf einem Stuhl und hockend unter einem Tisch.
Das Pistolentraining begann mit Übungen zum Halten, Holstern und Ziehen der Waffe. "Was nutzt es, präzise zu schießen, wenn du nicht dazu kommst, deine Pistole zu ziehen", sagte Gérôme. Lenka versuchte es mit Holstern verschiedener Form und Materialen. Im Laufe von hunderten von Wiederholungen bildeten sich Schwielen an ihrer rechten Hand. "Gut so", sagte Gérôme. "Du wirst schneller." Ein Gürtelholster aus Kydex lag ihr besonders, und Gérôme schenkte es ihr. Eine Woche darauf begann das Abzugstraining. In ihren Träumen hörte sie Gérôme: "Drücke das Züngel gerade nach hinten." "Benutze das erste Glied, nicht den ganzen Finger!" "Nach dem Schuss geh zurück zum Trigger-Reset. Nein, nicht so. Das ist zu weit. Von vorn, Six, von vorn."
Noch immer schwammen sie jede Nacht. Noch immer setzte sich Lenka nach dem Frühstück auf das Meditationskissen, beobachtete das Kommen und Gehen des Atems, lauschte dem Summen der Insekten, betrachtete die Blattadern der Pflanzen zu ihren Füßen. Noch immer absolvierte Lenka ihr Yoga-Programm. Noch immer lieferte sie sich mit Gérôme verbissene Zweikämpfe in der Trainingshalle. Und da sie glaubte, dass sie das Prinzip dieser Ausbildung jetzt verstanden hatte, wurde sie unaufmerksam und vergaß Sundbergs Warnung.
Gérôme hatte angekündigt, dass sie an diesem Abend mit dem Schießtraining beginnen würde. Das monotone Trockentraining war vorbei. Als sie wie üblich nach dem Schwimmen in der Küche stand, um das Frühstück zuzubereiten, griff Gérôme ihr in den Arm. "Wir beginnen heute mit etwas anderem", sagte er und führte sie in den Garten.
Der Tag war noch jung, die ersten Strahlen der Septembersonne tanzten zwischen den Bäumen. Lenka sah Gérôme erwartungsvoll an. Er erwiderte ihren Blick, und dann sagte er leise: "Je suis désolée, Six." Mit einer Geste wies er in Richtung des Feldes. "Geh den Gartenweg entlang, bis du zu diesen Büschen dort am Acker kommst."
Lenka spürte das Hämmern ihres Herzens. "Und was dann?", fragte sie mit belegter Stimme.
"Du wirst es sehen, Six."
Der kurze Spaziergang führte durch den Garten hindurch, Lenka war den Weg zum Feld so oft gelaufen, heute wurde er zu einem Gang in die Dunkelheit. Anfangs hielt Lenka es für einen Trick Gérômes, eines seiner üblichen Manöver der Einschüchterung. Doch mit jedem Schritt spürte sie es deutlicher, dieses Mal war etwas anders: Dort am Feldrand, hinter den Büschen lauerte der Abgrund, lauerte das Entsetzen. Es war ein Angriff ihres Lehrers, so zwingend und unerbittlich, dass selbst ihm - dem Teufel Gérôme – davor graute; Je suis désolée. Es tut mir leid, Six.
Als sie den Klang schwärmender Fliegen hörte, wurden ihre Knie weich. Als der Geruch der Verwesung in ihre Nase stach, verdunkelte sich die Sonne. Als sie den kleinen Menschenkörper sah, der zwischen Blumen und wildem Roggen auf der rissigen Erde lag, sank sie auf die Knie. "Nein", sagte sie tonlos.
Ein Pochen in den Schläfen kroch sie noch ein Stück. Ihre Finger krallten sich in die Erde, ihre Zähne gruben sich in die Lippe, bis sie blutete. Weiter konnte sie nicht.
"Du musst es dir ansehen", hörte sie Gérômes Stimme direkt hinter sich. Aber Lenka bewegte sich nicht mehr. Sie starrte in den Abgrund. Vor ihren unbewegten Augen weitete sich der Blick in ein Land aus Asche. In der Ferne stiegen Flammen vor einem glühenden Horizont empor.
"Sieh es dir an", sagte Gérôme und packte sie an den Handgelenken. Er schleifte sie hinüber zum Feld. "Nein", flüsterte Lenka mit letzter Kraft. "Bitte, bitte nicht."
Gérôme nahm ihren Kopf zwischen seine Hände. "Du kannst mich nicht zwingen, das anzusehen", wollte Lenka sagen, aber es quälte sich nur ein animalischer Laut aus ihrer Brust.
Sie schloss die Augen, presste die Lider zusammen, entschlossen, niemals wieder einen Lichtstrahl hereinzulassen. Und Gérôme hockte hinter ihr, und er hielt ihren Kopf. Er begann, auf sie zu einzureden. Da er französisch sprach, verstand Lenka ihn nicht. In ihrer Wahrnehmung bewegte sich Gérômes Stimme durch die Finsternis, die sie selbst war. Es war eine angenehme, beinahe schöne Stimme. Sie öffnete Lenkas Augen.
Vor ihr lag der nackte Körper eines etwa achtjährigen Jungen. Sie konnte das Gesicht nicht erkennen, der größte Teil des Schädels war zertrümmert. Und obwohl Lenka unter einem Gedanken der Erleichterung erzitterte – nein, dies hier war nicht ihre Tochter – packte sie nun das Grauen dieses Anblicks: nichts war so tot, wie ein totes Kind.
Sie schlug nach Gérôme, aber er ließ sie nicht los. "Schau es dir an, Six", sagte er, und seine Stimme klang brüchig.
In ihrer Jugend hatte Lenka alles probiert – Alkohol, Kokain, Speed, Ecstasy, Mescalin, Acid, Heroin. Jahrelang hatten Bad Trips sie gegen die Klippen des Horrors geschmettert, und irgendwann glaubte sie, jede Facette von Panik und Wahn zu kennen. Doch erst die kleine Leiche am Feld hinter dem Garten ließ sie die letzte Grenze überschreiten. Es war, als müsse etwas in ihr unter diesem Druck zerplatzen. Es war, als wölbte sich die Erde über ihren Kopf.
"Du wirst jeden Tag hierher kommen und sitzen", sagte Gérôme, doch Lenka verstand den Sinn dieser Worte nicht. Mechanisch folgte sie ihm in die Trainingshalle und führte die Übungen des Yoga-Programms aus. Mechanisch wusch sie sich im Duschraum unter eiskaltem Wasser. Mechanisch war alles, was sie tat: gehen, den Tisch decken, essen, Geschirrspülen, gegen den Sandsack schlagen. Am Abend reichte Gérôme ihr zum ersten Mal eine geladene Pistole – mechanisch schoss sie, mechanisch wechselte sie das Magazin. Als sie in der Nacht durch den Waldsee schwamm, spürte sie nicht die Kälte das Wassers und nicht das Brennen ihrer Muskeln.
Am folgenden Tag führte Gérôme sie wieder zum Feldrand, ließ sie vor der Leiche niedersitzen und sagte: "Schau es dir an, Six, und dann sag mir, weshalb du hier bist."
Lenkas Blick ruhte auf dem toten Kind. Aber er war blind. Unter dem Anprall dieser Erfahrung war Flucht die einzige Option. In ihren Gedanken lief Lenka über morgenfeuchtes Gras. Sie betrachtete den Mond und summte ein Lied aus ihrer Kindheit. Doch sie wusste, dass sie sich hier nicht ewig verstecken konnte.
Am vierten Tag betrachtete Lenka den kleinen toten Körper, und es war ein Massaker. Fliegen hatten ihre Eier abgelegt. Ihre Larven bohrten sich durch die verwesende Haut, die zu kochen schien, so viele mussten es sein. Aaskäfer und Ameisen wimmelten überall. Der die Spätsommerluft verpestende Geruch war unbeschreiblich.
"Das ist obszön", schrie Lenka Gérôme entgegen, als er sie abholte. "Du missbrauchst ihn!" Sie weinte und schlug nach Gérôme. "Du missbrauchst ihn!"
Im Laufe der folgenden Tage trat eine Veränderung ein, die Lenka so irritierte, dass sie glaubte, sie verliere den Verstand. Während ihrer täglichen Übungen begann sie, sich nach dem toten Jungen zu sehnen, und immer wenn sie zu ihm zurückkehrte, hoffte sie, dass ihm in ihrer Abwesenheit nichts zugestoßen war. Sie vermutete, dass Gérôme die Leiche irgendwie vor den Tieren des Waldes schützte. Vielleicht benutzte er eine Plane oder ein Drahtgeflecht.
Tag für Tag kam sie nun zum Gebüsch, unter dem der kleine Körper lag, und nur ein Rest an Vernunft bewahrte sie davor, den Jungen in einer Aufwallung von Kummer und Mitgefühl in die Arme zu nehmen. Sie beobachtete, wie sich das Gewebe von Haut und Muskeln zersetzte, wie die Sekrete des toten Leibes den Boden verseuchten und die Pflanzen ringsum sterben ließen.
Tag für Tag holte Gérôme sie nach dem Sitzen ab und fragte: "Weshalb bist du hier?" Lenka hatte längst begriffen, dass sich diese Frage nicht auf das Gehöft bezog, ja nicht einmal auf ihren Job bei Sundberg. Warum bist du hier?
Und während Lenka im Nahkampftraining lernte, alle möglichen Gegenstände als Waffen einsetzen – Stöcke, Messer, Flaschen, zusammengrollte Zeitungen, Seile, Schraubenzieher -, während sie in der Schießausbildung Kaliber für Kaliber meisterte – von einer zweiundzwanziger Randfeuerpistole bis zum Drei-Null-Acht Sturmgewehr – lebte ein Teil von ihr bei dem toten Kind im Feld.
Längst hatte sie die Frage hinter sich gelassen, was dem Jungen zugestoßen sein mochte und ob Gérôme etwas damit zu hatte. Längst hatte sie ihren Ekel vor dem Zerfließen des Menschenleibes überwunden. Alles was sie jetzt noch wünschte, war bei diesen kümmerlichen Überresten zu sitzen und daran zu denken, dass dies einmal Lachen war und Weinen und Baden im Meer und das Umarmen der Mutter. Und im Zuge dieses Sitzens veränderte sie sich ganz und gar. Vor ihren Augen lösten sich Bänder und Sehnen. Vor ihren Augen dörrten Knorpelfasern und Gelenke. Vor ihren Augen blichen Knochen. Warum bist du hier?
Es überraschte Lenka nicht, als Gérôme eines Morgens sagte: "Der Junge ist fort. Ich habe ihn begraben." Sie hatte ihm längst Lebewohl gesagt. Sie hatte ihm gedankt und versprochen, niemals zu vergessen. Warum bist du hier?
Etwa eine Woche später holte Sundberg sie ab. Als sie sich vor dem Haus von Gérôme verabschiedete, sagte er leise: "Das war nur die Basis-Ausbildung. Mehr konnte ich dir in vier Monaten nicht beibringen."
Lenka nickte, drehte sich um und ging vom Hof.

 

Hallo Achillus,

obwohl das sehr reisserisch und aus meiner Sicht sprachlich perfekt geschrieben ist, verschliesst sich mir der Sinn dieser sportlich grausamen Aktion. Wahrscheinlich habe ich nach den ersten beiden Teilen eine zu grosse Erwartungshaltung aufgebaut, weswegen der jetzt vorliegende dritte Teil für mich so anders und enttäuschend wirken könnte.

Es soll eine Frau, bisher eine Expertin im Fach Prostitution, auf zukünftige extreme physische und psychische Einsätze vorbereitet werden. Dafür würde man doch nicht so eine Durchschnittsperson wählen. Erste Präferenz für eine Aufgabe, die solch einen Körper braucht, wäre doch ein relativ grosser Muskelmann mit Bestkondition ohne viele Gefühle und möglichst hörig und unkritisch. Jetzt könnte man sagen, dass der weibliche Charme auch noch zum Einsatz kommen soll. Aber den verliert Lenka ja bei dieser Ausbildung. Ein Ziel, wofür sich so eine Tortur lohnte, wird hier nicht gezeigt. Ist es, die Mörder des Vaters zu finden? Dafür scheinen mir jedoch die beschriebenen Strapazen ein zu grosser Umweg!

Auch ist mir nicht klar, was das Dabeisein beim Verwesen seines Menschen bringen soll. In seiner Brutalität und Isoliertheit ist dieser gesamte Teil eher eine Ausbildung für Gestalten in einer Fantasy-Geschichte.

Auch die Szene, als die Tochter kommt und ihre zerschlagene Mutter anschauen muss, ist nicht plausibel. Ich denke nicht, dass das Mädchen noch ruhig schlafen würde und so einfach schlafend ins Auto getragen werden könnte. Das Training ist doch fast beendet und diese Szene könnte doch später stattfinden.

Im Gegensatz zu Teil I und II baut sich hier auch nicht so richtig Spannung auf. Die Ausbildungsszenen sind teilweise vorhersagbar und wiederholen sich. Da könnte man kürzen. Oder etwas unerwartetes einbauen: den Test eines neuen Schmerzmittels an Lenka und Sundberg kassiert mit. Darüber hinaus fehlen in meiner Phantasie Giftschlangen, Piranhas, Hornissen, Sumpfkrokodile oder Tiger.

Dieser Sundberg mit seinen Kumpanen wirkt in diesem Teil noch suspekter, noch brutaler, noch mehr als ein Menschenverächter, von man sich auf jeden fernhalten sollte. In den vorigen Teilen wurde Lenka vor Sundberg gewarnt und nun macht Gérôme ähnliche mysteriöse Andeutungen. Spätestens hier meine ich, dass sie sich einen anderen Job suchen würde. Ansonsten wäre deine Protagonistin nur noch eine dumme Masochistin.

Es überraschte sie nicht, dass Sundberg einen Psychopathen gewählt hatte, um sie ausbilden zu lassen. Alles in Sundbergs Welt hatte pathologische Züge.
Mit Sundberg können daher nur Psychopathen arbeiten. Lenka ist also auch ein Psychopathin?

Beim morgendlichen Essen bemerkte sie, dass Gérômes Blick auf ihren Brüsten ruhte, über die sich straff ihr T-Shirt spannte.
Erstaunlich, dass die Brüste nach all den Quälereien noch intakt sind, und merkwürdig, dass sich der Quäler dafür interessieren soll.

Warum bist du hier?
Ich fände es gut, wenn das dem Leser irgendwie mitgeteilt würde. Kommt das im nächsten Teil?

Kleinigkeiten:

Hinter den Gläsern seiner stahlgefassten Brille verhüllte etwas Unbekanntes, ein physisches Leiden oder eine Form des Wahnsinns [Komma] den Blick der dunklen Augen.

trat ihr in seitlich in die Beine, bis sie röchelnd vor Schmerz und Entsetzen im Schlamm versank.
Das erste „in“ ist zuviel.

sagte sie eine Abends in der Trainingshalle:
eines

Sundberg griff in seine Sakko-Tasche und holte eine Päckchen Zigaretten hervor.
ein

Also sprachlich habe ich da nichts zu bemängeln und es liesst sich zusammenhängend. Doch ab hier kann ich die Serie nicht mehr als Krimi verstehen. Die Serie steht zwar erstaunlicherweise nur unter der Rubrik Spannung. Aber jetzt dreht sich die Handlung eher in die Rubriken Seltsam und Fantasy.
Hoffentlich war die Episode des Trainings nicht nur ein Traum von Lenka. (Dann würde ich wirklich nicht mehr weiterlesen.) Vielleicht ergibt Lenkas Abhärtung ja einen Sinn in den folgenden Teilen. Eine vage Idee hätte ich zwar und daher bin ich gespannt, ob sich da unsere Gedanken treffen. Ich werde also den nächsten Teil wieder lesen. So weit hat es mich dann doch nicht weggeschleudert. Ich bin auch weit entfernt davon, zu behaupten, ich könne es besser.

Viele Grüsse
Fugu

 
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Hi Tashmetum,

vielen Dank für Deinen Kommentar und das Kompliment zum Stil. Deine Anmerkungen habe ich mit Interesse gelesen. Dazu ein paar Gedanken:

Kill Bill ist selbst kein Original, sondern ziemlich schamlos aus den Shaw-Brother-Filmen zusammengeklaut, was aber natürlich nicht heißt, man könnte keinen Spaß damit haben. Diese Meister-Schüler-Geschichte ist in ostasiatischer Kultur ein ziemlich zentrales Thema und Pai Lee in Kill Bill kann man als Hommage oder auch Persiflage verstehen.

Ich finde es sehr gut, dass Du hier den Bruch des Mentor-Archetyps erwähnst. Tatsächlich ist das Vertrauen in einen Mentor, Lehrer, Meister immer eine sehr problematische Angelegenheit, und man kann selbst unter den besten Bedingungen bezweifeln, ob dieses rückhaltlose Vertrauen (das insbesondere in Asien häufig als Norm betrachtet wird) wirklich gerechtfertigt ist.

Im Fall dieser Geschichte habe ich etwas Besonders ausprobiert und Gérôme ein Doppelgesicht gegeben – der Meister ist eine Art Mephisto: seine (möglicherwiese) durchaus destruktive Motivation hat positive Folgen, denn Lenka lernt trotz des Horrors sehr viel von/ bei diesem Lehrer.

Über die Frage, ob das dann nicht doch ein wenig übertrieben ist, kann man sicher gut diskutieren. Es ist eben Fiktion, aber trotzdem innerhalb des selbstgesetzten Rahmens plausibel, finde ich. Denn:

Lenka flippt nicht aus Prüderie aus. Das ergäbe bei ihrem Vorleben als Prostituierte kaum Sinn. Lenka hat sich von vielen Männer für Sex bezahlen lassen, ein Blick auf ihre Brüste wird sie nicht aus der Bahn werfen. Was – für mich – hier passiert ist, dass sie eine Chance sucht, Gérôme zu manipulieren, so nach dem Motto: Dann fick mich doch, wenn du schon glotzt. Das greift auf ein Muster zurück, mit dem sie sich in der Vergangenheit durchs Leben geschlagen hat. (An anderer Stelle sagt ja Gérôme, dass das Zeigen von Titten und Arsch sie nicht retten wird.)

Gérôme zu provozieren, ihn vielleicht zum Sex zu bringen, käme Lenka recht, denn es wäre ein Mittel, ihn irgendwie zu handhaben. Dass er nicht "wie ein typischer Mann" reagiert, ist für sie viel beängstigender. Über Sex könnte sie ihn manipulieren. Doch das funktioniert nicht.

Und Gérôme: Wo steht, dass er sexuelle Neigungen verspürt? Das liest Du aus dem Umstand, dass er auf Lenkas Brüste schaut. Der Erzähler sagt es ganz neutral: Beim morgendlichen Essen bemerkte sie, dass Gérômes Blick auf ihren Brüsten ruhte, über die sich straff ihr T-Shirt spannte.

Nach allem, was man von Gérôme bisher erfahren hat, wären durchaus andere Motive denkbar: Das ganze Training ist ein Test, weshalb sollte es in dieser Situation anders sein? Und außerdem: Vielleicht betrachtet er Lenkas Brüste wie er jeden anderen Teil ihres Körpers betrachtet, aus der Perspektive eines Kämpfers. Dass er sexuelle Gefühle dabei entwickelt, wird vom Erzähler nicht gesagt und – wie ich finde – auch nicht angedeutet.

Zur Leichenbetrachtung:

Ich stimme Dir zu, die Frage, woher Gérôme das Kind hat, kann einen beschäftigen. Ich habe das aus dem Grund offengelassen, weil das ermöglicht, Gérômes Charakter in der Schwebe zu halten. Ob er das Kind getötet hat wird nicht geklärt. Das finde ich viel spannender.

Zur Frage, weshalb es kein totes Mädchen ist:

Du schreibst, ein totes Mädchen würde Lenka sehr an ihre Tochter erinnern. Das stimmt. Und das wäre sicher eine zusätzliche Härte. Aber es ginge ein bisschen am Sinn der Leichenbetrachtung vorbei. Gérôme will Lenka damit nicht einfach nur quälen, er will sie etwas lehren. Und das hat mit ihrer Tochter nur wenig zu tun.

Diese Totenbetrachtungen gibt es übrigens wirklich, Theravada Buddhismus.

Das ist kein Zufall, denn daher stammt die Idee.

Und die haben auch eine Antwort darauf, warum man das macht.
Warum findet Deine Heldin sie nicht?

Wieso glaubst Du, dass sie sie nicht findet?

Vielen Dank, Tashmetum, für Deine Zeit und Deine Hinweise.
Gruß Achillus

Hallo Fugusan,

auch Dir danke ich sehr für Deinen Kommentar und Deine Gedanken zum Text. Habe mich gefreut, dass Du wieder reingeschaut hast.

Wie Gérôme am Schluss der Geschichte andeutet, sucht Sundberg keine 0815-Agenten. Die ersten beiden Missionen von Lenka dienten einem Auswahlverfahren, Sundberg wollte sehen, wie sie sich anstellt.

Sundbergs Motivationen werden im Verlauf der drei Teile nur angedeutet, aber es ist klar, dass er erstens Lenkas Familienhintergründe kennt (in denen es eine Geheimdienstvergangenheit gibt) und zweitens ausnutzt, dass sich Lenka in einer sozial schwachen bzw. sogar abhängigen Situation befindet, denn sie hat kein Backup durch Freunde oder Familie, schlägt sich in einer fremden Stadt mit Prostitution durch und ist wegen ihrer Tochter außerdem erpressbar bzw. manipulierbar.

Nach dem, was ich von den Agenten-Anwerbern des kalten Krieges weiß, entspricht das genau dem Profil und ich sehe nicht, weshalb sich das heute geändert haben sollte.

Lenka ist aufgrund ihrer persönlichen Geschichte alles andere als eine Durchschnittsperson. Sie hat Menschenkenntnis und die Möglichkeit, Sex als Waffe einzusetzen – etwas, das man beileibe nicht von jedem Muskelaffen oder Ex-Militär sagen kann.

Das Ziel der Tortur wird nicht gezeigt, aber angedeutet: Sie will in Sundbergs Projekt. Was das ist, kann man erst mal nur ahnen. Die Ausbildung bei Gérôme legt aber einige Vermutungen nahe.

Zur Szene von Mutter und Tochter. Es wird nicht gesagt, weshalb sich Sundberg entschließt Lisa mitzubringen. Wir müssen uns ihn als äußerst berechnenden Menschen vorstellen, denn das legen die bisherigen Aktionen von ihm nahe. Ich glaube, man kann sich vorstellen, welche Motive er hatte, Lisa zu Lenka zu bringen.

Zu Lenkas Motivation: Ich habe die Geschichte ja so gestaltet, dass man über Lenkas Verfasstheit einiges erfährt: Sie sagt von sich selbst, dass sie viel aushalten kann, und das scheint auch etwas zu sein, über das sie sich definiert. Wenn Du Dich an den ersten Teil erinnerst, da taucht dieser Aspekt bereits auf. Beim Blick in den Spiegel sagt Lenka auch etwas über die Rolle von Schmerz in ihrem Leben und das scheint mir wichtig: Schmerz ist ein Teil ihrer Identität. Und das ist es auch, was Sundberg sieht und für sich nutzbar macht. Denn der Schmerzaspekt ist nur der sichtbare Aspekt einer anderen, nicht so leicht zu entdeckenden Seite von Lenka. Das wird dann im späteren Verlauf der Serie hoffentlich deutlicher.

Vielen Dank für Deine Hinweise, Fugusan, ich habe sie mit Spannung gelesen. Dank auch für die Textkorrekturen.

Beste Grüße
Achillus

 

Hallöchen Achillus,

ich habe all drei Teile deiner Serie auf einmal gelesen, und als ich mit diesem hier fertig war, blieb mir nur zu sagen ... puh.

Die Serie ist spannend, alle drei Teile, und wenn man mal "drin" ist, kann man gar nicht mehr aufhören.
Was sich im Laufe dieses Teils aber langsam verflüchtigt.
Klar, es ist eine Ausbildung, es soll Lenka zu einer besseren Agentin machen ... aber teilweise wirkt es übertrieben. Da zuckt Lenka aus, als ihr Gerome auf die Brüste starrt (was sehr unglaubhaft ist, wenn man Lenkas früheren Beruf bedenkt); dann wird sie von Gerome deshalb zu einem blutigen Kumpen geschlagen. Das geschieht so plötzlich und unvermittelt, es wirkt beinahe aufgesetzt; als hättest du diese Szene unbedingt einbauen wollen.
Und die Szene mit dem Kind ist schon sehr harter Tobak. Klar, Lenka wird am Ende der ersten Geschichte fast erschlagen, aber hier wurde mir anders.

Und, was ich auch loswerden möchte: Du nimmst mit jedem Teil mehr und mehr Handlungsfäden auf. (Lenkas Vater / Sunsbergs Pläne / der Anruf, der Lenka vor Sundberg warnte / die Ausbildung bei Gerome / Lenkas Tochter bei Sundberg / Sundbergs Projekt). Ich hoffe, du planst nicht, alles auf einmal zu einem Ende zu führen, denn da würde entweder eine sehr lange, oder aber eine sehr überladene KG herauskommen.

Insgesamt habe ich die Geschichte (wie auch die vorherigen Teile) gerne gelesen, und werde auch die Fortsetzungen verschlingen.

MfG
NerdLion

 

Hallo NerdLion,

vielen Dank fürs Lesen, Kommentieren und das Kompliment zur Serie. Für mich ist die Arbeit an diesem Serien-Format immer noch neu, und ich muss mir da noch mehr Gedanken machen, als beim Schreiben einer einzelnen Kurzgeschichte. In diesem Sinne finde ich auch Deinen Hinweis zu den Handlungsfäden sehr hilfreich. Du hast vollkommen recht, das muss man geschickt zusammenführen. Ich hoffe, ich kriege das hin.

Was den unterschiedlichen Charakter der drei Teile betrifft, kann ich verstehen, dass Dir der letzte Teil schwer im Magen liegt. Es hat mich auch beim Schreiben mitgenommen, teilweise wusste ich nicht, ob das insbesondere für das Forum zu düster ist. Die Bewertung zu diesem Part ist auch in meinem Bekanntenkreis unterschiedlich. Es gibt Meinungen, nach denen es zu hart ist, andere sagen, es ist der bester Teil der Serie.

Ich freue mich jedenfalls, dass es Dir gefallen hat.

Beste Grüße
Achillus

 

Hallo Tashmetum,

ja, es gibt natürlich diese Gefahr, dass der Autor weit mehr in einer Szene sieht, als der Leser heraus deuten kann. Im Fall der Leichenbetrachtung schreibt der Erzähler:

Und im Zuge dieses Sitzens veränderte sie sich ganz und gar. Vor ihren Augen lösten sich Bänder und Sehnen. Vor ihren Augen dörrten Knorpelfasern und Gelenke. Vor ihren Augen blichen Knochen. Warum bist du hier?

Das sollte ein Hinweis auf die tiefgreifende Erfahrung sein, die Lenka hier macht.

Hier die Referenz des Pali-Kanons:

“Wiederum, vergleicht ein Übender, als ob er eine Leiche sähe, die auf ein Leichenfeld geworfen wurde – schon einen, zwei oder drei Tage lang tot, aufgedunsen, blau angelaufen, aus der Flüssigkeiten heraus sickern – so vergleicht er diesen seinen Körper damit: ‘Dieser mein Körper ist von der selben Natur, so wird er sein, er kann diesem Schicksal nicht entgehen.’”

- von Krähen angefressen, von Habichten, Geiern, Hunden, Schakalen oder verschiedenen Arten von Würmern angefressen
- ein Skelett, an dem noch Fleisch und Blut klebt, von Sehnen zusammengehalten
- ein fleischloses Skelett, blutverschmiert, von Sehnen zusammengehalten
- ein Skelett ohne Fleisch und Blut, von Sehnen zusammengehalten
- weiß gebleichte Knochen, muschelfarben
- aufgehäufte Knochen, mehr als ein Jahr alt
- verrottete Knochen, zu Staub zerkrümelt

Nun ist es ja immer die Frage, wie explizit ein Erzähler herausstreichen sollte, was er meint. Ich fand die Hinweise eigentlich ausreichend.

Vielen Dank für Deine Rückmeldung. Werde mir durch den Kopf gehen lassen, ob ich das noch ausführlicher erkläre.

Gruß Achillus

 

Hallo Achillus,
meiner Meinung nach ist dieser Teil der beste, wenngleich ich mir nicht so ganz sicher bin, ob er nicht ein bisschen zu lang geraten ist. Hängt natürlich davon ab, wie lang das ganze Projekt werden soll, und auf welche Reise du Lenka schickst.
Es liest sich schlicht und ergreifend – druckreif. Harter Tobak, das Ganze. Ich habe eigentlich nichts zu meckern. Die Sache mit dem toten Kind habe ich im ersten Moment für überzogen gehalten, aber solche Dinge sorgen doch (meiner Meinung nach) dafür, dass ein Text in Erinnerung bleibt und man gespannt ist auf die Dinge, die noch kommen.
Originell ist das wohl nicht, aber gut und souverän geschrieben, mit einem interessanten Spannungsbogen. Mehr erwarte ich im Grunde auch nicht von einem Thriller. Du schreibst, dass Du Dir nicht sicher warst, ob der 3.Teil für dieses Forum nicht zu düster ist. Ich denke: auf keinen Fall! Im Gegenteil. Ich wünschte, es gäbe mehr wirklich kraftvolles Genre-Zeug.
Kleinigkeit:

Die abendlichen Zweikampftrainings beschäftigen Lenkas Gedanken Tag und Nacht.
Zweikampftrainings? Mag korrekt sein, klingt für mich aber irgendwie komisch. Vielleicht : Das abendliche Zweikampftraining.

Auf jeden Fall bin ich jetzt gespannt, wie’s mit Lenka, die jetzt sozusagen zu einer Waffe geworden ist, weitergeht.
Schöne Grüße
Harry

 

Hallo Achillus,

wow, dachte ich, da ist er ja schon, der dritte Teil. Hoffentlich geht es in dem Akkord weiter ;)
Ich war auch erst etwas an KillBill erinnert. Und, richtig, dieser Film hat Parallelen zu etlichen Fernost-Produktionen. Aber wie du sehr richtig sagst: Spaß haben kann man mit ihm trotzdem.
So sehe ich das bei deiner Episode auch. Also nicht, dass es sonderlich spaßig zugeht, aber ich musste gebannt weitergelesen.

Als sie beim Abendessen Mühe hatte, die Teeschale zum Mund zu führen, sagte Gérôme erneut: "Weshalb bist du hier, Six?"
Nur bei dieser Szene hatte ich zu stark vor Augen, wie Kiddo die Stäbchen nicht halten kann und den Reis mit den Fingern rauspult.
Allerdings fand ich gut, dass du am Ende noch etwas Neues unterbringst. Das Ende fand ich eh am stärksten.
Je suis désolée. Es tut mir leid, Six.
Nach diesem Satz hattest du mich voll.
Ab hier wurde es richtig spannend. Ich wollte unbedingt wissen, was er jetzt vorhatte. Die ganzen Qualen, die er ihr zugefügt hat, man war irgendwie auf alles gefasst. Er schlägt sie grün und blau und schubbst sie in ein Schlammloch und entschuldigt sich nicht mal im Nachhinein, dass er ausgerastet ist - eben alles Teil des Trainings. Aber nun entschuldigt er sich im Voraus. Also da muss jetzt ein Hammer kommen.
Bei den Gedanken, es könne ihre Tochter sein, die da tot liegt, war ich fast am Ausrasten. In Folge dessen war ich etwas erleichtert, als es dann doch nur irgendein Junge war, was natürlich auch nicht ohne ist. Aber wenigstens behält Gérôme so sein zweites Gesicht. Du lässt ihn zwischen Genie und Wahnsinn balancieren, wie man so schön sagt. Ich glaube nicht, dass er den Jungen getötet hat. Meine Vermutung, wie die Story weitergeht ... ach, ich lass mich überraschen. Jedenfalls nimmst du dir viel vor für den Lauf der Geschichte. Der Tod des Vaters und der große Auftrag ... Ich fand die zwei Teile zuvor gut, aber mit deinen vielen Cliffhangern treibst du Erwartungshaltung noch nach oben.
Mein Problem mit dieser Geschichte ist irgendwie, dass sie so losgelöst von der eigentlichen Handlung erscheint. Wieder eröffnen sich mir neue Fragen, aber kaum welche werden aufgedeckt. Die Gefahr besteht, dass das alles etwas zu komplex wird für den Leser, befürchte ich.
Andererseits haben die Figuren noch mehr an Kontur gewonnen. Der eigentliche Charakter eines Menschen wird oft erst ersichtlich, wenn man ihn in eine extreme Situation treibt. Das hast du mit Lenka getan.

Vielleicht, weil sie in diesem Programm die einzige Chance sah, ihrer elenden Vergangenheit zu entkommen. Vielleicht, weil die Arbeit für Sundberg versprach, das Rätsel um den Tod ihres Vaters zu lösen. Vielleicht, weil das beachtliche Einkommen, das sie nun verdiente, ihr ermöglichen würde, ein neues, besseres Leben aufzubauen, für sich selbst und für ihre Tochter Lisa.
Am Stil habe ich eigentlich nichts zu meckern. Das liest sich wie immer flüssig. Ich weiß, das war schon so beabsichtigt mit der Anapher. Gefallen hat es mir aber nicht.

Sie versuchte es mit: "Ich habe ein Talent für diesen Job." Gérôme nannte sie Idiote und ging davon. Lenka probierte: "Weil ich skrupellos bin, also genau das, was Sundberg braucht." Gérôme winkte ab. "Weil ich nicht weiß, was ich sonst tun soll!" "Débile!"
Das ist gut, weil du hier schnell zwischen den Zeitebenen wechselst. Das veranschaulicht auch nochmal die Monotonie und Frustration eines solchen Tages.

Vor ihren unbewegten Augen weitete sich der Blick in ein Land aus Asche. In der Ferne stiegen Flammen vor einem glühenden Horizont empor.
:thumbsup:

nichts war so tot, wie ein totes Kind.
Klingt zwar etwas pseudo-philosophisch, ist aber trotzdem ein starker guter Satz.

Bin gespannt, wie´s weitergeht ...

Beste Grüße

Hacke

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Harry,

vielen Dank für Deine Rückmeldung und das Lob zum Text. Ich finde diesen Teil der Serie auch sehr stark, kann aber verstehen, wenn das manchem Leser zu lang geraten ist. Deinen Hinweis zur Passage mit den Trainings habe ich umgesetzt. Vielen Dank auch dafür.

Was die Gewalttätigkeit der Geschichte betrifft, da beschäftigen mich verschiedene Gedanken. Schildert man Brutalität lediglich, um Aufmerksamkeit zu erregen, dann stumpft dieser Effekt meiner Empfindung nach ziemlich schnell ab. Was ich zeigen wollte, war ein Szenario, in dem zwei Menschen auf eine sehr ungewöhnliche Weise miteinander umgehen. Es ist schwer, das Verhältnis der Beiden zu deuten.

Zwar könnte man unterstellen, Lenka sei irgendwie abhängig von Gérôme, aber das trifft die Sache nicht ganz. Sie handelt letztlich freiwillig. Warum unterzieht sie sich diesem Training, und was wird damit bezweckt. Ich finde, das sind spannende Fragen, auf die es auch keine ganz eindeutigen Antworten gibt.

Schön, dass Du wieder reingeschaut hast.

Beste Grüße
Achillus


Hallo Hacke,

schön, dass Du der Serie treu bleibst. Vielen Dank für Deinen Kommentar. Ich hatte die Hoffnung, dass mir mit der letzten Aufgabe von Lenka eine Steigerung gelingt, die der Leser so erst mal nicht für möglich hält. Schön, dass diese Idee funktioniert hat. Wichtig ist mir dabei, dass diese brutale letzte Überraschung nicht lediglich als Schockeffekt gedacht war, sondern in meinem Kopf rumspukte, bevor ich mit dem Schreiben begonnen habe. Aus europäischer Sicht ist das eine sehr morbide Art und Weise über das Rätsel des Lebens nachzudenken, in Indien und Tibet gibt es da aber eine lange Tradition. Natürlich ist die Frage, ob und wie so etwas transkulturell funktioniert.

Tja, die Cliffhanger. Im Grunde war diese Geschichte von Lenkas Spezialausbildung auch notwendig, weil von Euch in den Kommentaren darauf hingewiesen wurde, dass Lenka schon ganz schön tough für einen Amateur ist. Mir war klar, dass sie ein Training braucht, wenn man die weiteren Missionen anspruchsvoll gestalten will. Die losen Enden/ Cliffhanger werden dann zusammengefügt bzw. aufgelöst.

Du hast aber natürlich recht, Fragen der Vergangenheit (Wie ist Lenkas Vater umgekommen? Wer ist der geheimnisvolle Anrufer aus Teil zwei?) wurden noch nicht aufgedeckt. Doch das wird kommen.

Eine große Schwierigkeit und Herausforderung bei diesem Serienformat ist ja, dass jede Episode für sich allein stehen muss. Auf der einen Seite will ich den Plot weitertreiben, einen Zusammenhang herstellen, auf der anderen Seite darf ein Leser, der die früheren Teile nicht kennt, nicht total irritiert werden.

Ich glaube, diese Schwierigkeit ist ein Grund dafür, dass es im Forum keine längere Serie gibt, zumindest habe ich keine gefunden. Mal sehen, wie ich das Problem knacke.

Vielen Dank für Deine Hinweise, Hacke.

Beste Grüße
Achillus

 

Hallo Achillus,

natürlich sind Initiationsriten, wenn sie denn echt sein sollen, also eine echte Prüfung und zugleich ein Lernprozess, eine Belastung für den Prüfling. Es gibt dabei mehrere Stufen von Initiationen. Es beginnt immer mit der Aufgabe des alten Selbst, eine Unterwerfung unter die Macht des Meisters oder der Institution; souzusagen die Herstellung einer Tabula rasa in einem Menschen mit dem Zweck, ihn zu einem höheren, besseren Menschen zu machen. Die folgenden Stufen umfassen den langsamen Aufbau dieser Persönlichkeit. Immer ist allerdings der Zweck, das Ziel, im Auge zu behalten.

"Was du noch nicht begriffen hast, Six, ist der Sinn dieser Ausbildung", fuhr Gérôme fort. "Das hier ist keine Vorbereitung für den Außendienst als Geheimdienstnutte. Um Diplomatensöhnchen oder Meth-Dealern die Eier zu lecken, brauchst du keinen Unterricht. In dieser Hinsicht bist du wohl ein Naturtalent", fügte er boshaft hinzu.
Das passt nicht so recht in die Geschichte. Das „Boshaft“ ist nicht so gut. Er ist doch eher humorlos und sachlich, also das, was vielleicht mit der Ausbildung bei Six erreicht werden soll: Sich unabhängig von äußeren Einflüssen zu machen, eine kalte Persona zu werden (siehe H. Lethen: Verhaltenslehren der Kälte).

Der wichtigste Satz, mit dem die Geschichte allerdings über sich hinausweist, ist:

"Was ist er?", fragte Lenka noch einmal.
"Fragen Sie nach meiner persönlichen Meinung, Lenka?"
"Ja. Ja."
Sundberg stellte die Schale zurück und sagte: "Ich betrachte ihn als das ganz Andere, als das Fremde."
Mit dieser Bemerkung betritt deine Geschichte das Gebiet der Philosophie. Im Stile einer Agentengeschichte wird eine Lebensphilosophie entwickelt. Das ist der Anspruch, den dieser Satz stellt. Und ich auch, denn ich finde, dass zu der äußeren Spannung, die du ja wunderbar herstellst, die philosophische Spannung gut wäre, denn sonst bleibt es nur Abenteuerspannung, keine Geistesspannung.
Also müsste jede Ausbildungsstufe hier einer geistig-seelischen Entwicklungsstufe zugeordnet sein.
Um dies zu erreichen, müsste sie und vielleicht der Autor wissen:
Es überraschte Lenka nicht, als Gérôme eines Morgens sagte: "Der Junge ist fort. Ich habe ihn begraben." Sie hatte ihm längst Lebewohl gesagt. Sie hatte ihm gedankt und versprochen, niemals zu vergessen. Warum bist du hier?
Etwa eine Woche später holte Sundberg sie ab. Als sie sich vor dem Haus von Gérôme verabschiedete, sagte er leise: "Das war nur die Basis-Ausbildung. Mehr konnte ich dir in vier Monaten nicht beibringen."
Lenka nickte, drehte sich um und ging vom Hof.
Warum ist sie hier?. Ich könnte jetzt nur sagen, damit sie ihre Tochter wiederbekommt. Aber es steckt mehr dahinter. Müsste sie es nicht doch auch wissen, was es ist.
Dass du spannend schreibst, kann ich nur bestätigen. Dass du durch eine genauere Strukturierung in dem Sinne, wie ich sie oben beschrieben habe, auch kürzen könntest, wäre gut. Zu viel an Grausamkeiten u. Ä. verdirbt den Geschmack.
Meine Bemerkungen sind keine Kritik an einem tadellos geschrieben, spannenden Thriller, sondern der Hinweis darauf, dass ich in deinem Text Hinweise von dir sehe, dass du einen „umfassenderen“ Text schreibst als „nur“ einen Thriller.
Fröhliche Grüße
Wilhelm

 

Lieber Achillus,
ja, dass ich die Auflösung zu den offenen Fragen von Teil zwei schmerzlich vermisst habe, das weißt du ja schon.
Kann man dir Aufträge erteilen? Dann mach doch auch da mal weiter. :D
Stattdessen begleitest du Lenka in eine Ausbildung.
Auch das ist spannend und eindrucksvoll geschrieben, aber ich musste, als ich ihn das erste Mal las, den Drittling, doch zuerst mal ein bisschen Enttäuschung überwinden, das hat sich dann aber schnell gelegt. Wenn ich auch finde, dass manche Einzelheiten ihre Kampftrainigs doch ein bisschen übergenau und weitschweifig sind. Die zentralen Stellen sind ja sein Reaktion nach dem Anglotzen und die Totenwache.
Ob du die Waffengeschichte oder das Kampftriming so detailliert brauchst, ich stell das mal in Frage.

Insgesamt hast du mich mit den drei Teilen überzeugt, wenn ich auch nachvollziehen kann, dass es Schwierigkeiten gibt, wenn jeder Serienteil für sich stehen können muss, das macht die Sache nicht gerade leichter.
Aber denk auch dran: Ich stehe ja nicht alleine damit, dass ich mich frage, wie du die vielen losen Fäden zusammenknüpfen willst. Ich finde übrigens schon, dass man das immer wieder aufgreifen kann, trotz Abgeschlossenheit, du müsstest halt nur eine gut lesbare Rückschau einbauen.

Viele haben dieses Teil ja kritisiert. Mir gefiel er, weil ich auch ein bisschen auf diese merkwürdigen Selbstüberwindungstrainigs stehe. Vielleicht ist er insgesamt etwas lang.

Mir kam die Sache mit dem Kind auch gar nicht absurd vor, unterschiedliche Kulturen haben einen sehr vielfältigen Umgang mit dem Tod. In Thailand glaube ich gibt es Orte, Leute reisen extra dahin, um die Begräbnisrituale zu sehen, da werden die Toten oft erst nach ein paar Jahren begraben. Oder in Griechenland werden sie wieder ausgegraben. Vor einem toten Kind zu meditieren, das kann ich mir schon als eine sehr harte Lehre vorstellen, sich mit dem Vergehen alles Lebenden und der eigenen Existenz auf eine sehr nachdrückliche Weise zu befassen.

"Gérôme ist ein sehr harter Mann", sagte Sundberg und schlug seinen Mantelkragen hoch. "Und wenn ich hart sage, dann meine ich, er ist ein Monster."
Lenka zuckte mit keiner Wimper. "Nicht das einzige in diesem Laden."
Ja, was sich liebt, das neckt sich. Eines erbitte ich, bitte lass die beiden nicht irgendwann in einem Bett landen. Das wäre Lenka gegenüber echt gemein.

Über der Eingangstür schwamm eine Laterne wie eine Signalboje in windstiller See.
Schön

In diesem Moment drängte sich die Stille dieses verlassenen Ortes mit Nachdruck in Lenkas Bewusstsein. Für einige Augenblicke schien es nur ein Geräusch zu geben - den Klang des Tees, der in eine Schale floss.
Auch schön. Ein Moment der Entscheidung für sie selbst. Das mit der Stille des Tees zu beschreiben, da wär ich nicht drauf gekommen. Toll.

Ohne die Augen von ihrer Gestalt zu lassen, ergriff Gérôme die Teeschale, führte sie zu den schmalen Lippen und trank. Lenka spürte, dass dieser Mann nicht von Begehren getrieben wurde. Er betrachtete sie - so, wie ein Schächter das Tier musterte, bevor er sein Messer schwang.
Das fand ich heftig.
Denn Lenka hat ja außer so einer Art Grundprogramm in der Hauptsache ihre körperlichen Vorzüge, die sie gegenüber ihren Opfern, Lukas z. B. einsetzt. Und das verärgert sie auf der einen Seite, sie will ernst genommen werden in dem Programm, aber als sie jetzt vor Gerome steht, da spürt man auch, dass sie nicht nur ohne Kleidung ist, sondern wirklich nackt. Sie hat sich auf seinen fiesen Befehl eingelassen, und jetzt ist er noch nicht mal von ihrer Schönheit oder ihrem Charisma beeindruckt.

Dann folgen die verschiedenen Ausbildungsetappen, bei denen ich immer das Gefühl habe, dass es immer nur darum geht, den Willen der Person zu brechen. Ich meine nicht das stundenlange Sitzen, oder die körperlichen Schmerzen, sondern die ständigen Beschimpfungen. Ich kann mir immer nicht vorstellen, dass das funktioniert, wenn die Leere, das Gebrochene, das da zurückbleibt, nicht mit etwas Neuem aufgefüllt wird, das der Prüfling sich auf die Fahnen geschrieben hat. Also was, was schon vorher da war. Und da ist mir der Hinweis auf Sundbergs Programm zu wenig. Ich hätte mir hier vielleicht schon jetzt was gewünscht, wo schon zu einem relativ frühen Zeitpunkt etwas über Lenka rauskommt, über den Typ Mensch, der sie ist. Sie scheint ja die Härte eines Diamanten in sich zu tragen. Etwas Unzerstörbares. Den Schmerz. Aber eben auch ein Ziel. Und diese ständige Frage: Warum bist du hier, die erinnert daran, aber die Ursprungsgründe, die wir Leser kennen, die sind mir nach wie vor zu wenig.
Die Frage steigert sich dann ja immer mehr, ebenso wie ihre Antworten. Aber Schmerz als Lösung, als sinn- und lebensbestimmendes Elixier? Das sie für die Lehren des Totenrituals öffnen? Hmm. wahrscheinlich weiß ich darüber zu wenig.
Ich denk mir manchmal, wenn der Sunddberg die Lenka damit erpressen würde, dass ihrer Tochter sonst was passiert, nicht die Ausweisung oder dass man ihr die Kleine wegnimmt, nee, dass er, der fiese Sundberg der Kleinen was antut, das würde eine Lenka glaube ich ziemlich anfeuern.
Von daher fand ich es gut, dass sie nachts von Lisa träumt oder dass Lisa zu Besuch kommt.

Lenka war etwas erwacht, dass sich immer dann in ihrem Leben zeigte, wenn die Welt verschworen schien, sie zu demütigen. Es mochte Stolz sein oder eine Art sinnlosen Trotzes.
Hier sprichst du sowas Unzerstörbares in ihr an, aber es ist mir zu schwach oder zu allgemein. Das könntest du genauso gut weglassen.

Doch gegen ihren Wunsch, loszulassen, um endlich und endgültig frei zu sein, um zu versickern und in der schwarzen Erde davon zu rinnen, bäumte sich ein Wille in ihr auf, drückte den zerschlagenen Körper aus dem Moor und ließ sie weiterlaufen, ohne Denken, ohne Fühlen. Zurück im Hof, strauchelte sie mit den letzten Schritten, stürzte und prallte gegen die Mauer der Scheune.
Hier finde ich es wesentlich besser. Naja, vielleicht muss die Herausschälung ihres Schmerzes sich ja auch steigern können, das kann nicht mit einem Male geschehen, und die Fähigkeiten werden ja nach und nach aus ihr herausgebrochen.

Gegen Ende ihres zweiten Trainingsmonats, sie hatte jetzt sechzig Tage bei Gérôme verbracht, unterlief Lenka ein katastrophaler Fehler. Beim morgendlichen Essen bemerkte sie, dass Gérômes Blick auf ihren Brüsten ruhte, über die sich straff ihr T-Shirt spannte. Sie lehnte sich zurück und betrachtete ihn einen Moment lang. Dann zog sie sich das Shirt über den Kopf, schleuderte es ihm ins Gesicht und sagte: "Ist Glotzen alles, was du fertigbringst?"
Puhh, das ist hart, was danach kommt. Sie glaubt ja hier, ihn erwischt zu haben. Begehrlich zu machen, das ist das, was sie bisher am besten konnte, sie weiß auch schon, dass er nicht auf ihre Reize reagiert. Aber trotzdem will sie ihn hier provozieren, ich habe es so empfunden, als wollte sie sagen, dass Gerome impotent ist, keinen hochkriegt.
Und dieser Glaube, mit der Sexualität in irgendeiner Weise rechnen zu können, die drischt Gerome dann aus ihr raus. Das erscheint mir einerseits aus seiner Sicht konsequent, aber dann würde er mit wesentlich mehr kühler und präziser Gelassenheit vorgehen. Hier wirkt es so, als würde er völlig ausrasten. Das passt finde ich nicht zu dem Typen, den du vorher immer gezeigt hast, der den Spruch „Zieh dich aus“ als Demonstration dafür genommen hat, dass er über solche profanen Triebe hinaus ist.
Also ehrlich, sie Art, wie du seine Reaktion beschreibst, fand ich überhaupt nicht stimmig. Stimmig wäre es, wenn sie fertig gemacht worden wäre, aber eben mit Kühle und Präzision.
Dass das beim Leser nicht so ankommt, liegt hauptsächlich an diesem Satz:
Vielleicht war der Umstand, dass sie noch lebte, ein Hinweis auf einen Rest an Skrupel, den Gérôme bewahrt hatte.
So, wie du den schilderst, ist der von unglaubliche Grausamkeitund Kälte, weiß aber auch ganz genau zu dosieren. Und das fehlt mir hier.

"Du solltest nicht allzu viele Hoffnungen in Sundbergs Projekt setzen", bemerkte Gérôme und schaute vom Weg hinauf zu den Sternen.
"Warum sagen Sie das?"
"In Sundbergs Welt ist nichts so, wie es scheint."
Ochje, jetzt warnt der sie auch noch. Da hast du ja in Teil vier alle Hände voll zu tun.

"

Es gibt nur einen Schwimmstil, der sich für dieses Training eignet", sagte Gérôme, schöpfte Wasser und ließ es über seinen Körper rinnen. "Du wirst diese Technik nicht kennen. Schau her."
Was soll denn das für ein Schwimmstil sein, das habe ich nicht verstanden, wie das gehen soll. Ich kapiere gar nicht, wie man damit vorwärtskommen soll.

Als sie den Klang schwärmender Fliegen hörte, wurden ihre Knie weich. Als der Geruch der Verwesung in ihre Nase stach, verdunkelte sich die Sonne. Als sie den kleinen Menschenkörper sah, der zwischen Blumen und wildem Roggen auf der rissigen Erde lag, sank sie auf die Knie. "Nein", sagte sie tonlos.
Für einen Moment habe ich befürchtet, das wäre ihre Tochter.
Aber das kann ja nicht sein, damit wäre ja Sundberg alles aus der Hand genommen. Und Gerome handelt immer noch im Auftrag Sundbergs oder seiner Firma.

Und hier fiel mir dann auf, wie unterschiedlich Gerome jetzt auf einmal agiert. Er ist einfühlsam, sensibel, er öffnet ihre Augen.

packte sie nun das Grauen dieses Anblicks: nichts war so tot, wie ein totes Kind.
Puhh. Großartig ausgedrückt.

Alles was sie jetzt noch wünschte, war bei diesen kümmerlichen Überresten zu sitzen und daran zu denken, dass dies einmal Lachen war und Weinen und Baden im Meer und das Umarmen der Mutter. Und im Zuge dieses Sitzens veränderte sie sich ganz und gar. Vor ihren Augen lösten sich Bänder und Sehnen. Vor ihren Augen dörrten Knorpelfasern und Gelenke. Vor ihren Augen blichen Knochen. Warum bist du hier?
Und das Ende hier? Es ist gemein. Ich glaube zu erfassen, was gemeint ist, aber es erschließt sich mir trotzdem nicht. Zu weit ist diese Denkweise wohl von meinem persönlichen Hintergrund entfernt.

Ja, Achillus zum Teil verstörender, harter Inhalt. Und sehr gut geschrieben.
Viele offene Fragen aus Teil ein und zwei, die hier noch ein bisschen weiter vertieft wurden.
Also ich bin sehr sehr gespannt. Furchtbar gerne gelesen.
Viele Grüße noch mal
von Novak

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Wilhelm, toll, dass Du wieder reinschaust. Vielen Dank für Deine klugen, hilfreichen Hinweise.

Das „Boshaft“ ist nicht so gut. Er ist doch eher humorlos und sachlich, also das, was vielleicht mit der Ausbildung bei Six erreicht werden soll: Sich unabhängig von äußeren Einflüssen zu machen, eine kalte Persona zu werden (siehe H. Lethen: Verhaltenslehren der Kälte).

Stimmt. Ich habe diese Passage rausgekürzt. Vielen Dank für den Tipp zu Lethen, ich werde mir das Buch besorgen.

Mit dieser Bemerkung betritt deine Geschichte das Gebiet der Philosophie. Im Stile einer Agentengeschichte wird eine Lebensphilosophie entwickelt. Das ist der Anspruch, den dieser Satz stellt. Und ich auch, denn ich finde, dass zu der äußeren Spannung, die du ja wunderbar herstellst, die philosophische Spannung gut wäre, denn sonst bleibt es nur Abenteuerspannung, keine Geistesspannung.

Tja, über diesen Hinweis habe ich mich natürlich sehr gefreut, denn das wäre schon ein Ideal, etwas zu schreiben, das über den reinen Spannungs- und Unterhaltungswert hinausgeht. Dazu möchte ich aber einschränkend sagen, dass ich noch nicht so weit bin, glaube ich. Der Anspruch, einen gutgeschriebenen Thriller zu verfassen, der ist ja für sich genommen schon ganz schön hoch. Ich denke da an Henning Mankell als Vorbild. In so eine Geschichte jetzt auch philosophische Gedanken auf hohem Niveau einzuweben, wie das Ian McEwan oder Graham Greene schaffen, dazu reicht es bei mir wahrscheinlich noch nicht.

Also müsste jede Ausbildungsstufe hier einer geistig-seelischen Entwicklungsstufe zugeordnet sein.

Ich vertrete ja die Auffassung, dass ein Autor nicht der beste Interpret seiner Texte sein kann. Aber so wie ich es sehe und auch geplant habe, dient die Ausbildung der Zielsetzung, Lenka einerseits physisch abzuhärten und kämpferisch auszubilden. Andererseits soll sie lernen – genau wie Du es schreibst – Verletzungen ihres Egos zu ignorieren. Beleidigungen sind für sie kaum mehr als Schallwellen.

Und diese Phasen habe ich im Text so dargestellt, dass der Erzähler berichtet, wie all die Quälereien und das Geschreie schließlich zu einem Aspekt des Trainings werden und ihre Destruktivität – die sie ja vor allem durch unsere Bewertungen erhalten – in Lenkas Kopf verlieren.

Warum ist sie hier? Ich könnte jetzt nur sagen, damit sie ihre Tochter wiederbekommt. Aber es steckt mehr dahinter. Müsste sie es nicht doch auch wissen, was es ist.

Vielleicht bin ich hier mit der Geheimniskrämerei zu weit gegangen. Der Hintergrund dieser Warum bist du hier? Fragerei ist eine traditionelle Form geistigen Trainings in einigen Schulen, bei der der Schüler mit einer Frage konfrontiert wird, die im Grunde nicht rational aufzulösen ist. Ich will das hier nicht vertiefen, aber die Methode besteht darin, alle Antworten des Schülers solange abzulehnen, bis dieser darauf kommt, dass es um die Frage hinter der Frage geht. Die Frage kann nicht durch Worte beantwortet werden, sondern nur durch die Veränderung der Persönlichkeit. Die Frage dient als Katalysator.

Ich habe versucht, es so zu gestalten, dass Lenka erst einmal alle rationalen Gründe abarbeitet: Sicherheit im Staatsdienst, gutes Einkommen, persönlicher Machtzuwachs aufgrund der Mitgliedschaft in einer mächtigen Organisation (die Möglichkeit, den Tod ihres Vaters aufzuklären), ein neues Leben zu beginnen. Das sind die Motive, die ich aus klassischer Perspektive bei Lenka sehe.

Als ihr Ausbilder dann immer weiter fragt, fördert sie absurdere Ideen zu Tage, die aber sicher auch einiges an Wahrheit enthalten. Erst als sie begreift, dass es gar nicht um das Warum bist du hier bei mir auf diesem Hof? geht, sondern um einen Clash mit der grundsätzlichen Frage, dem Sinn ihres Lebens bzw. Schicksals, deuten sich innere Wandlungen an. Das geschieht durch Gérômes letzten Angriff, die Leiche des Jungen. Diese Erfahrung verändert sie ganz und gar.

Zu Deinem Vorschlag zu kürzen: Ich sehe jetzt auch, dass der Text seine Längen hat. Ich wollte Lenkas Ausbildung möglichst detailliert beschreiben, und da bin ich wohl über das Ziel hinausgeschossen. Ich glaube, wenn sich die Geschichte ein bisschen gesetzt hat, werde ich da wieder rübergehen und ein bisschen ausdünnen.

Wilhelm, hat mich sehr gefreut von Dir zu hören. Vielen Dank und beste Grüße
Achillus


Hallo Novak, Du warst ja richtig fleißig, hast gleich zwei Texte von mir kommentiert, und darüber habe ich mich sehr gefreut. Vielen Dank dafür.

Lieber Achillus, ja, dass ich die Auflösung zu den offenen Fragen von Teil zwei schmerzlich vermisst habe, das weißt du ja schon.

Ich arbeite nach dem Muster – zumindest versuche ich es – offene Fragen zu lösen, aber gleichzeitig neue Fragen in den Raum zu stellen. Im dritten Teil habe ich ein paar Fragen zu Lenka beantwortet, beispielsweise, dass ihre Primärmotivation in der Arbeit für Sundberg darin besteht:

… und da es schien, als erwarte Gérôme wirklich eine Antwort, sagte sie eines Abends in der Trainingshalle: "Ich will raus aus meinem alten Leben. Ich will Geld verdienen und meiner Tochter das geben, was sie verdient."

Für mich sind die Hauptmotive gutes Geld verdienen, aus der Prostitution rauskommen, eine Zukunft aufbauen. In Wolfgang Kriegers Geheimdienste der Weltgeschichte werden unter anderem auch die Motive von Spionen und Agenten untersucht. Natürlich gibt es den Agenten aus Überzeugung, aber neben Abenteuerlust geht es wohl vielen schlicht um das Geld. Im Falle von Lenka, die nahezu mittellos ist, kann man das verstehen, finde ich.

Kann man dir Aufträge erteilen?

Klar, wenn Du z.B. gern einen Blauwal im nächsten Teil haben möchtest, dann schreib mir!

Die zentralen Stellen sind ja sein Reaktion nach dem Anglotzen und die Totenwache.
Ob du die Waffengeschichte oder das Kampftriming so detailliert brauchst, ich stell das mal in Frage.

Ja, ich sehe das jetzt auch so – ist ein bisschen lang geworden, dieser Teil.

Aber denk auch dran: Ich stehe ja nicht alleine damit, dass ich mich frage, wie du die vielen losen Fäden zusammenknüpfen willst. Ich finde übrigens schon, dass man das immer wieder aufgreifen kann, trotz Abgeschlossenheit, du müsstest halt nur eine gut lesbare Rückschau einbauen.

Da hast Du recht. Ich mache das gerade in Teil IV. Ein Problem ist dabei, dass eine Rückschau so gestaltet werden muss, dass neue Leser sich nicht fragen: Warum erklärt der Autor das? Das bedeutet, die Motivation für die Rückschau muss irgendwie aus dem Kontext der aktuellen Geschichte entstehen, und das ist gar nicht so leicht. Aber ich versuche es.

Ja, was sich liebt, das neckt sich. Eines erbitte ich, bitte lass die beiden nicht irgendwann in einem Bett landen. Das wäre Lenka gegenüber echt gemein.

Das ist so auch nicht geplant, da kannst Du ganz beruhigt sein.

Dann folgen die verschiedenen Ausbildungsetappen, bei denen ich immer das Gefühl habe, dass es immer nur darum geht, den Willen der Person zu brechen. Ich meine nicht das stundenlange Sitzen, oder die körperlichen Schmerzen, sondern die ständigen Beschimpfungen. Ich kann mir immer nicht vorstellen, dass das funktioniert, wenn die Leere, das Gebrochene, das da zurückbleibt, nicht mit etwas Neuem aufgefüllt wird, das der Prüfling sich auf die Fahnen geschrieben hat.

Den Willen einer Person brechen, das ist so eine Sache. Gérôme kann ja eigentlich nicht wollen, dass Lenka willenlos wird. Denn wer willenlos ist, der ist auch antriebslos, glaube ich. Als ich den Text geschrieben habe, ging es mir eher darum, ein Programm zu schildern, das Lenka leerfegt und damit von allem Ballast befreit. Das pure Herz, wenn Du so willst. Denn das, was da als neue Erkenntnis bei Lenka entstehen soll, hat Gérôme durch Meditation und Totenschau zu initialisieren versucht.

Sie scheint ja die Härte eines Diamanten in sich zu tragen. Etwas Unzerstörbares. Den Schmerz. Aber eben auch ein Ziel. Und diese ständige Frage: Warum bist du hier, die erinnert daran, aber die Ursprungsgründe, die wir Leser kennen, die sind mir nach wie vor zu wenig.

Schön ausgedrückt. Ja, diese Härte bringt sie mit. Sundberg hat das schon ziemlich früh an ihr bemerkt und sich gedacht, dass man aus diesem Material etwas machen. (Natürlich verfolgt er dabei persönliche Interessen und fragt sich nicht, was Lenka wirklich braucht.)

Für mich ist es so, dass Lenka eine Frau ist, die über spezielle Qualitäten verfügt (beispielsweise über diese bis zur Selbstverleugnung reichende Härte). Sie ist aber völlig mittellos und sozial isoliert. Sundberg baut sie auf. Er macht aus ihr eine Agentin oder etwas Schlimmeres. Erst droht er ihr (Teil I) dann lockt er sie (Ende Teil I) prüft sie (Teil II) und lässt sie schließlich ausbilden (Teil III).

Die Frage steigert sich dann ja immer mehr, ebenso wie ihre Antworten. Aber Schmerz als Lösung, als sinn- und lebensbestimmendes Elixier? Das sie für die Lehren des Totenrituals öffnen? Hmm. wahrscheinlich weiß ich darüber zu wenig.

Der Schmerz ist vielleicht ein Grund für ihre Härte. Aber das Lebenselixier kann nur Sinn sein, und den findet sie in meiner Interpretation am Ende von Gérômes Ausbildung durch die Totenschau. Ich stelle es mir als eine Art Durchbruch vor. Gérôme hat das vorbereitet, hat Lenka mit den Quälereien, den Beschimpfungen, der Meditation auf die Klippe geführt, von der sie nun springen muss.

Und dieser Glaube, mit der Sexualität in irgendeiner Weise rechnen zu können, die drischt Gerome dann aus ihr raus. Das erscheint mir einerseits aus seiner Sicht konsequent, aber dann würde er mit wesentlich mehr kühler und präziser Gelassenheit vorgehen. Hier wirkt es so, als würde er völlig ausrasten. Das passt finde ich nicht zu dem Typen, den du vorher immer gezeigt hast, der den Spruch „Zieh dich aus“ als Demonstration dafür genommen hat, dass er über solche profanen Triebe hinaus ist.

Ja, das wurde schon mehrfach kritisiert. Ich denke, es liegt daran, dass ich Gérômes Charakter nicht eindeutig gezeichnet habe. Denn ich stelle ihn mir nicht völlig emotionslos vor. Sicher ist er ein kalter Typ, rücksichtslos und brutal. Aber er zeigt eindeutig Emotionen, beispielsweise hier:

In seiner Hand schwang das Seil, mit dem er zugeschlagen hatte. "Du kannst nicht laufen, kannst nicht sitzen", sagte er mit einem Ausdruck äußerster Verachtung.

Oder hier:

Ingrimm und Ekel verzerrten Gérômes Gesicht, als er Lenka mit wütenden Hieben durch den Garten peitschte. "Du verschwendest meine Zeit", brüllte er, heiser vor Zorn. "Du verschwendest meine Zeit!"

Das Rätselhafte daran ist, dass es sich hierbei primär um destruktive Emotionen handelt, und dass diese in den großen Plan, den Gérôme verfolgt, zu passen scheinen. Es ist, als könnte er die Emotionen ausleben, die ihm helfen, Lenka auszubilden (Ein hassfreier Lehrer könnte sie kaum so fertig machen.) Das ist ziemlich merkwürdig, und war von mir so gedacht, um seinen Charakter ambivalent zu gestalten.

Was soll denn das für ein Schwimmstil sein, das habe ich nicht verstanden, wie das gehen soll. Ich kapiere gar nicht, wie man damit vorwärtskommen soll.

Lustig – gerade heute morgen sprach mich eine Schwimmerin beim Training an und sagte: "Entschuldigen Sie bitte, was ist das für ein Stil? Ich habe das noch nie zuvor gesehen."

Schau Dir mal das Video auf dem Link an, das vermittelt ein ganz gutes Bild, wie es funktioniert: https://www.youtube.com/watch?v=4lUHudMN1TU

Vielen Dank, liebe Novak, Du hast mir mit Deinen Hinweisen wieder sehr geholfen.

Beste Grüße
Achillus

 

Hallo Achillus,
es freut mich, dass du einiges mit meinen Kommentaren anfangen konntest.
Nur kurz ein Hinweis.

In so eine Geschichte jetzt auch philosophische Gedanken auf hohem Niveau einzuweben, wie das Ian McEwan oder Graham Greene schaffen, dazu reicht es bei mir wahrscheinlich noch nicht.
Ich meine, schon in dieser Geschichte Ansätze dazu gefunden zu haben.
Vielleicht bin ich hier mit der Geheimniskrämerei zu weit gegangen. Der Hintergrund dieser Warum bist du hier? Fragerei ist eine traditionelle Form geistigen Trainings in einigen Schulen, bei der der Schüler mit einer Frage konfrontiert wird, die im Grunde nicht rational aufzulösen ist
Genau das meine ich. Im Zen-Buddhismus ist dies der Weg zur Erleuchtung.

Wie hört man das Klatschen mit einer Hand?
Dieser Koan wäre vergleichbar mit der Frage: Warum bist du hier? Und das meine ich mit der Doppelbödigkeit deiner Geschichte. Es ist jetzt schon beides drinn.
Fröhliche Grüße
Wilhem

 

Hallo Wilhelm,

vielen Dank für Deinen Nachtrag. Ich freue mich über das Kompliment, und behalte den doppelten Boden im Hinterkopf.

Beste Grüße
Achillus

 
Zuletzt bearbeitet:

So, ich bin jetzt auch am vorläufigen Ende angekommen. Dein Schreibstil ist fantastisch, dass habe ich Dir ja schon geschrieben.
Erst mal, Hochachtung für Deine Recherche, alles klingt sehr authentisch. Ich werde das jetzt sicher nicht auf Fehler überprüfen, weder das kochen von Methamphetamin, Kampfsporttechniken oder das Schießen mit Waffen gehört zu meinem Spezialgebieten, aber was Du schreibst, hört sich für den Laien plausibel an. Nichts wird umgangen, oder nur angedeutet, Du hast Dich scheinbar intensiv mit der Materie abgegeben vorab.
Das bewundere und honoriere ich immer.
Man merkt, wie viel Mühe in den Texten steckt. Wenn sie Dir keine Mühe gemacht haben, dann hasse ich Dich und höre heute auf zu schreiben!

Ich bewundere es zutiefst, wie man so viele Handlungsstränge erdenken kann. Es werden immer noch mehr Fragen aufgeworfen, nie welche beandwortet.
Das erinnert mich ein bisschen an Lost, ich bete aber insgeheim, dass alles schlüssiger aufgelöst wird, wie es dem Drehbuchschreiber der Serie gelang.
Überhaupt ließe sich diese Serie sehr gut verfilmen.

Für mich ist die zentrale Frage, warum sie das tut. Da liegt die Anspruchshaltungslatte an die Plausibilität jetzt wirklich sehr hoch, da kannst Du mich jetzt nicht mit einem billigen Grund abspeisen.
Ich hoffe Dir fällt das etwas höchst philosophisches ein, sonst bin ich ein bisschen enttäuscht.

Ich mag sie übrigens inzwischen gerne leiden, das war ja die Kritik an dem ersten Teil, dass sie mir schwammig anmutete. Ich habe sie inzwischen im Kern erfasst und kann mich sehr gut in sie rein versetzen.
Die Art des Trainings kenne ich in abgespeckter Form von mir selber.
Wenn ich mit meinem Partner Bergsteige, oder Fahrrad fahre und komme an meine Leistungsgrenze, spielen wir immer "Herr Leutnant und die Gefreite". Er kommandiert mich dann herum und schreit "Schmerz ist Schwäche, die den Körper verlässt!" Danach schaffe ich dann locker noch ein paar Kilometer.
Schmerz ist ein sehr guter Lehrmeister. Aber ich denke, man muss schon gewisse Anlagen mitbringen, um dafür empfänglich zu sein. Ich denke sie ist so ein Mensch. Und da ich auch zu der Sorte gehöre, verstehe ich sie.
Für mich ist das also, im Gegensatz zu anderen Lesern, sehr plausibel, wie sie reagiert und immer besser wird.
Natürlich muss sich am Ende der Grund ihres Bestrebens an der geschilderten Realität messen, ein normaler Mensch hätte bei derartiger Gewalt irgendwann aus dem Staub gemacht.

Ich bin komplett gespannt, wie es weiter geht, ich hoffe Du bist ein schneller Schreiber.
Liebe Grüße, Gretha

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Gretha,

vielen Dank für Deinen Kommentar. Schön, dass Du Dir die ganze Serie angeschaut hast. Das freut mich natürlich, denn es zeigt, dass die Geschichte spannend geworden ist.

Nichts wird umgangen, oder nur angedeutet, Du hast Dich scheinbar intensiv mit der Materie abgegeben vorab.

Ja, mich hat in Thrillern und Krimis schon immer genervt, wenn der Autor nicht den blassesten Schimmer davon hat, wie z.B. eine Schusswaffe funktioniert. Ich versuche da genau zu sein, aber natürlich ist auch so manches reine Fiktion.

Man merkt, wie viel Mühe in den Texten steckt. Wenn sie Dir keine Mühe gemacht haben, dann hasse ich Dich und höre heute auf zu schreiben!

Also in den drei Teilen stecken etwa sechzig Stunden Arbeit. Das ist eine ganze Menge, aber ich finde, diese Mühe lohnt sich. Ich finde es auch nicht so toll, wenn im Forum Geschichten gepostet werden, die jemand in einer halben Stunde runtergeschrieben hat, und die dann voller Fehler stecken. Ein bisschen Mühe darf man sich schon geben.

Ich bewundere es zutiefst, wie man so viele Handlungsstränge erdenken kann. Es werden immer noch mehr Fragen aufgeworfen, nie welche beantwortet.

Hm, es kann daran liegen, dass ich mir in der Zwischenzeit natürlich viel mehr Gedanken zu Lenka gemacht habe, als in den Geschichten geschrieben steht, aber für mich werden in den drei Teilen schon einige Antworten gegeben.

Für mich ist die zentrale Frage, warum sie das tut. Da liegt die Anspruchshaltungslatte an die Plausibilität jetzt wirklich sehr hoch, da kannst Du mich jetzt nicht mit einem billigen Grund abspeisen.
Ich hoffe Dir fällt das etwas höchst philosophisches ein, sonst bin ich ein bisschen enttäuscht.

Die TV-Serie Lost kenne ich nicht, aber ich habe gehört, dass das Ende ziemlich enttäuschend war. Was die Frage nach den Motiven betrifft, sehe ich es so: In Breaking Bad entscheidet sich ein High-School-Chemie-Lehrer Meth zu produzieren, weil er todkrank ist und seiner Familie etwas hinterlassen möchte. Das kann man als Motiv gelten lassen, aber ein bisschen merkwürdig ist es schon, denn wahrscheinlich würden nur wenige Menschen in dieser Situation so reagieren.

Lenka nimmt Sundbergs Angebot an, für den Geheimdienst zu arbeiten, also eine gefährliche Angelegenheit. Sie tut das, weil sie aus ihrem elenden Leben raus will, Geld verdienen möchte, eine Perspektive sucht. Würde das jeder in ihrer Situation machen? Nein, bestimmt nicht. Sie macht es, weil sie über spezielle Eigenschaften verfügt, und die wurden ja schon ein bisschen angedeutet: Intuition, Menschenkenntnis, Leidensfähigkeit, sexuelle Ausstrahlung. Und natürlich hängt das alles auch mit ihrer persönlichen Geschichte zusammen.

Ich mag sie übrigens inzwischen gerne leiden, das war ja die Kritik an dem ersten Teil, dass sie mir schwammig anmutete. Ich habe sie inzwischen im Kern erfasst und kann mich sehr gut in sie rein versetzen.

Ja, nachdem, was ich von Dir so gelesen habe, kann ich das gut nachvollziehen.

Ich bin komplett gespannt, wie es weiter geht, ich hoffe Du bist ein schneller Schreiber.

Die Fertigstellung des vierten Teils wird nicht mehr lange dauern. Schön, dass Du dann wieder reinschaust.

Gretha, vielen Dank für Deine Hinweise. Hat mich sehr gefreut, von Dir zu lesen.

Beste Grüße
Achillus

 

Hi Achillus,
Der Text ist gekonnt geschrieben. Liest sich außerordentlich flüssig.

"Gérôme ist ein sehr harter Mann", sagte Sundberg und schlug seinen Mantelkragen hoch. "Und wenn ich hart sage, dann meine ich, er ist ein Monster."
kann als Musterbeispiel für einen gelungenen Anfang stehen.
Spannungstechnisch hältst du den Leser immer bei der Stange, nur zum Schluss die Szene mit dem toten Jungen, da konnte ich nicht mitfühlen und da verstand ich auch nicht, warum es für Lenka eine so schwere Prüfung sein sollte. Hier auch mein Hauptkritikpunkt, der sich auch teilweise durch den vorherigen Text zieht. Das Training ist zu wenig spezifisch dargestellt. Mir fehlt das Bild, wie hier:
Und so begann Lenkas Training mit einem Marsch durch die Finsternis, der ahnen ließ, was sie hier erwartete. Während Gérôme sie als Fotze, Versagerin und Pétasse beschimpfte, ihr zwischen die Schulterblätter boxte und in ihre Beine trat, während sie stürzte, sich die Hände und Knie zerschrammte, während sie sich das Kinn anschlug und von Gérôme an den Haaren gezogen wurde, bis sie winselte, wurde ihr klar, dass dieser Mann tatsächlich eine Bestie war.
während zum Beispiel hier:
"Jeder ausgebildete Kämpfer kennt drei Distanzen", sagte er und schob sie in der Trainingshalle in eine Ecke. "Fuß, Faust und Ellbogen." Lenkas Atem ging schnell und stoßweise, als Gérôme sich an sie presste und in ihr Ohr flüsterte: "Aber es gibt noch eine vierte Distanz." Falls sich Lenka noch hin und wieder gefragt hatte, ob Gérôme tatsächlich das Reptil war, dass er zu sein schien, dann wurde diese Frage jetzt geklärt. Ohne die Hände, den Kopf oder die Knie zu benutzen, brachte er sie mit einer Serie abrupter Schulter-, Brust- und Beckenstöße unter seine Kontrolle.
für mich ausreichend Details eingestreut wurden.

Insgesamt wirkt dieser Teil hier mehr wie das Kapitel eines Romanes. Eines den ich gerne weiterlesen würde.

weiterer Textkram:

dessen Zentrum ein Cafétisch und zwei rustikale Ledersessel bildeten.
ich bin dafür, dass sie sich im Zentrum befinden oder stehen, es aber nicht bilden, weil das Zentrum durch die Geometrie des Raums vorgegeben wird
Übungsgeräten aus roter Eiche gab es keine sichtbaren Ausrüstungsutensilien.
Einmal ist Eiche nicht rot, ich vermute rot bemalte Eiche, aber wie will sie dann erkennen, dass darunter Eichenholz ist. Und andererseits, kann ein Waffenständer viel sein: Was steckt drinn? Speere, Gewehre, Bögen, Hellebarden?

lg
Bernhard

 

Hallo Bernhard,

schön, wieder einen Kommentar von Dir zu lesen. Hat mich sehr gefreut, dass Du auch in den dritten Teil reingeschaut hast.

Spannungstechnisch hältst du den Leser immer bei der Stange, nur zum Schluss die Szene mit dem toten Jungen, da konnte ich nicht mitfühlen und da verstand ich auch nicht, warum es für Lenka eine so schwere Prüfung sein sollte.

Ja, das habe ich auch schon aus einigen anderen Kritiken rausgehört. Die Totenmeditation ist vielleicht ein Punkt, an dem sich die Geister scheiden. Das muss ich so akzeptieren.

Das Training ist zu wenig spezifisch dargestellt.

Um ehrlich zu sein, ich hätte das Training am liebsten viel genauer gezeichnet, aber das geht wahrscheinlich für viele Leser am Kerninteresse vorbei. Ich versuche, da eine Balance zu wahren.

Insgesamt wirkt dieser Teil hier mehr wie das Kapitel eines Romanes. Eines den ich gerne weiterlesen würde.

Freut mich natürlich, dass die ganze Sache Dein Interesse geweckt hat, aber ich höre da auch den Kritikpunkt heraus, dass dieser Teil keine ganz stringent abgeschlossene Geschichte ist, sondern eben Teil eines Größeren. Damit triffst Du auch meine eigenen Zweifel. Ich versuche zwar eine möglichst homogene Einzelgeschichte zu schreiben, aber mittlerweile ist da eben auch einiges aus den anderen Teilen, das mitschwingt. Mal sehen, wie sich das in den anderen Teilen entwickelt.

Deinen Hinweis zum Raumzentrum lasse ich mir durch den Kopf gehen. Und zur Roteiche:

Einmal ist Eiche nicht rot, ich vermute rot bemalte Eiche, aber wie will sie dann erkennen, dass darunter Eichenholz ist. Und andererseits, kann ein Waffenständer viel sein: Was steckt drinn? Speere, Gewehre, Bögen, Hellebarden?

Viele Übungsgeräte in den Kampfkünsten sind aus japanischer Roteiche. Dass ich die Übungsgeräte nicht genauer benannt habe, trifft wahrscheinlich wieder Deinen Kritikpunkt zu fehlenden Details. Ich denke mal darüber nach, ob ich das noch genauer schildere.

Vielen Dank für Deinen Kommentar, Bernhard!

Beste Grüße
Achillus

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Achillus,

vielen Dank für diese bemerkenswerte Kurzgeschichte. Sie hat einen differenzierten Kommentar verdient. Einleitend möchte ich anmerken, dass die Form Deines Textes (Sprache, Konstruktion, Stil) ein hohes Niveau erreicht. Den Aufbau betrachtend, stehen Längs- und Querspannung in einem ausgewogenen Verhältnis. Das Leitmotiv erschafft eine zweite Ebene, wodurch die Handlung, die in der Auseinandersetzung mit Grenzüberschreitungen steht, philosophischen Inhalt in den Fokus rückt. Ein großes Kompliment an Deine Fähigkeit in die Tiefe zu gehen.

"Gérôme ist ein sehr harter Mann", sagte Sundberg und schlug seinen Mantelkragen hoch. "Und wenn ich hart sage, dann meine ich, er ist ein Monster."
Lenka zuckte mit keiner Wimper. "Nicht das einzige in diesem Laden."
Sundberg lächelte, drehte sich abrupt um und ging zum Wagen. Bevor er in den Fond des schwarzen Mercedes stieg, schaute er noch einmal zurück und sagte: "Halten Sie durch."

Wenn ich mich richtig erinnere, hast Du mal gesagt, dass es nicht elegant ist, eine Kurzgeschichte mit einem Dialog zu beginnen. Doch mir gefällt der erste Absatz Deines Textes gut. Ich frage mich sofort: Wer ist Gérome? Warum ist er Monster? Und: Wer ist diese Frau, die nicht mit der Wimper zuckt, wenn von einem Monster die Rede ist? Welchen Charakter hat sie? Und was hat dieser Sundberg damit zu tun?
Auch wenn ich noch nichts über das Leben der Figuren weiß, entsteht trotzdem ein erstes Profil, das mein Interesse weckt.

Lenka beobachtete, wie sich die roten Lichter ihren Weg durch die Finsternis bahnten und dort, wo der Waldrand wie eine schwarze Mauer bis in den Himmel aufragte, verschluckt wurden.

Das passt nicht ganz zum ersten Absatz, finde ich. Du beginnst mit einem reduzierten Schreibstil und jetzt bin ich auf einmal in einem Märchen? Das reißt mich raus. Ich würde das kürzer und reduzierter formulieren. Wie sich "die Lichter den Weg durch die Finsternis bahnten und dann dort, wo der Waldrand wie eine schwarze Mauer bis in den Himmel aufragte, verschluckt wurden", will ich mir selber vorstellen. Es baut mehr Spannung auf, wenn Du eine Formulierung wählst, die dem Leser ermöglicht, die eigene Phantasie einzusetzen.

Die Stille dieses Ortes war bedrückend. Lenka wusste, dass man sie irgendwo im norddeutschen Flachland abgesetzt hatte, wahrscheinlich in der Nähe der polnischen Grenze. Sie holte tief Luft, ergriff ihre Sporttasche und ging durch das offenstehende Tor.
Das Gehöft bestand, so weit Lenka in der Dunkelheit erkennen konnte, aus drei Gebäuden in u-förmiger Anordnung. Die beiden Nebengebäude, vermutlich Scheune und Werkstatt, wirkten heruntergekommen und baufällig, doch das Haupthaus schien in recht passablem Zustand zu sein. Über der Eingangstür schwamm eine Laterne wie eine Signalboje in windstiller See. Lenka ging über den Hof und betrat das Haus.
Die untere Etage bestand aus einem einzigen, schlicht eingerichteten Raum, dessen Zentrum ein Cafétisch und zwei rustikale Ledersessel bildeten. Im hinteren Bereich, in einem schwach beleuchteten Winkel der Wohnküche, saß Phillipe Gérôme über eine Zeitung gebeugt und las. Auf dem Feuerherd neben ihm brodelte Wasser in einem Kessel.

Sehr gut, durch Deine Ortsbeschreibung finde ich mich als Leser schnell zurecht. Ein heruntergekommenes Gebäude ist allerdings meistens baufällig, diese Verdoppelung würde ich auflösen. Und "über der Eingangstür schwamm eine Laterne wie eine Signalboje in windstiller See", ist mir wieder zu märchenhaft, was ja grundsätzlich nicht zu verwerfen ist, es passt nur nicht zum Rest der Beschreibung, finde ich.
Was mir an diesem Abschnitt gut gefällt ist, wie ich als Leser von der geographischen Lage über die örtliche Umgebung zur Location gelange und schließlich in der unteren Etage über die Zimmerbeschreibung auf Gérome stoße. Toll!

Lenka schloss die Tür, stellte ihre Tasche ab und sagte: "Guten Abend, Monsieur Gérôme!"
Einen Moment lang schien es, als hätte er sie nicht gehört, doch dann sagte Gérôme, ohne von seiner Lektüre aufzublicken: "Zieh dich aus."

Gut, baut Spannung auf.

Lenka starrte ihn an. Sein Alter war schwer zu schätzen, er mochte fünfzig sein, vielleicht war er älter.
"Ich glaube, Sie verwechseln mich mit jemandem", sagte Lenka. "Carl Sundberg schickt mich. Ich bin hier wegen des Intensivtrainings."
Gérôme würdigte sie noch immer keines Blickes. Er erhob sich, machte einen Schritt hinüber zum Herd und nahm den Kessel vom Feuer.
Lenka beobachtete ihn. "Haben Sie gehört, was ich …"
Gérôme hatte eine Blechdose aus dem Wandschrank genommen und hantierte jetzt mit einem Thermometer.
"Tja, also diese Scheiße brauche ich nicht", sagte Lenka und zog ihr Telefon aus der Jackentasche. "Ich rufe Sundberg an und kläre das."
Aus den Augenwinkeln verfolgte sie, wie Gérôme das heiße Wasser in eine Kanne mit Seitengriff goss. Er strich den Ärmel seines Pullovers zurück und schaute auf die Uhr an seinem Handgelenk.
Kein Netz, blinkte es auf dem Display von Lenkas Handy. Sie biss auf ihre Unterlippe. Sekunden vergingen, Gérôme rührte sich nicht.

Diese erste Begegnung zwischen den Protagonisten, die inhaltlich angespannte Situation, kombiniert mit dem Verrichten trivialer Handlungen von Gérome, ist ein gelungener Aufbau von Spannung. Lenka kann nicht weg. Das Monster hat sich noch nicht entpuppt. Was passiert?

Lenka drehte sich um und griff ihre Tasche. "Okay, das war's für mich. Schönen Abend noch."
Als sie die Tür öffnete, sagte Gérôme mit leichtem Akzent: "Carl Sundberg hat mir uneingeschränkte Freiheit in der Wahl meiner Methoden zugesichert."
Lenka fuhr herum. "Und das heißt?"
Gérôme starrte noch immer auf seine Uhr. "Das heißt, wenn ich sage Zieh dich aus, dann tust du es und hältst die Fresse."

Spätestens nach diesem Absatz findet eine Identifikation mit den Figuren statt. Ich verbünde mich mit Lenka und empfinde Verachtung für Gérome. Schreibtechnisch ist das gut konstruiert, denn je früher ich mich mit den Figuren anfreunde oder auch anfeinde, desto mehr will ich über sie erfahren.

Für einige Augenblicke schien es nur ein Geräusch zu geben - den Klang des Tees, der in eine Schale floss.

Toll! Baut Stimmung auf. Und Beklemmung.

"Wenn du nicht tust, was ich dir sage, dann bist du raus aus dem Programm."
Drauf geschissen, wollte Lenka sagen. Aber sie schwieg. Vielleicht, weil sie in diesem Programm die einzige Chance sah, ihrer elenden Vergangenheit zu entkommen. Vielleicht, weil die Arbeit für Sundberg versprach, das Rätsel um den Tod ihres Vaters zu lösen. Vielleicht, weil das beachtliche Einkommen, das sie nun verdiente, ihr ermöglichen würde, ein neues, besseres Leben aufzubauen, für sich selbst und für ihre Tochter Lisa.

Viel Information. Ich habe mich gefragt, ob es auch reichen würde, nur einen Grund zu nennen. Wobei alle drei Gründe spannend sind, was natürlich eine noch stärkere Identifikation mit Lenka bewirkt. Die hier genannten Gründe werden aber (zumindest in dieser Geschichte) nicht aufgelöst. Und deshalb denke ich, dienen sie als biographische Eckpunkte?

Gérôme stellte die Teeschale auf ein Tablett. Lenka begann, sich auszuziehen. Es überraschte sie nicht, dass Sundberg einen Psychopathen gewählt hatte, um sie ausbilden zu lassen. Alles in Sundbergs Welt hatte pathologische Züge. Doch dieser Franzose schien ein besonderer Fall zu sein.

Dass der Franzose ein besonderer Fall ist, das ist mir (als Leser) bereits klar. Und Lenka weiß das auch. Es erklärt sich aus der bisherigen Beschreibung. In Kombination mit der Info, dass alles in Sundbergs Welt pathologische Züge hat, wird das besondere Profil scharf. Ich würde diese Formulierung streichen.

Als Lenka ihren Slip auf den Boden fallen ließ, ging Gérôme, das Tablett auf spitzen Fingern, an ihr vorbei und sagte: "Verstaue die Kleidungsstücke in deiner Tasche."
Lenka betrachtete ihn genauer. Mit seinem kurzgeschnittenen, silbern schimmernden Haar, dem Fleece-Pullover und dem sonnengebräunten Teint wirkte Gérôme wie ein rüstiger Pensionär vom Typus Segler – ein Mann, der es gewohnt war, Probleme jeder Art mit den eigenen, harten Händen aus der Welt zu schaffen. Hinter den Gläsern seiner stahlgefassten Brille verhüllte etwas Unbekanntes, ein physisches Leiden oder eine Form des Wahnsinns, den Blick der dunklen Augen.

Diese Beschreibung ist mir zu wenig prägnant. Einerseits erzeugst Du damit gewiss ein Profil. Andererseits könnte das kürzer und präziser ausfallen, dann würde ein schärferes Bild entstehen. Zum Beispiel würde ich nur ein (prägnantes) Adjektiv für die Frisur wählen und nicht zwei. Dann würde ich mich entscheiden, welche Formulierungen den gewählten Typus unterstützen. Ist der Fleece-Pullover aussagekräftig? Wenn ich "Typus Segler" lese, dann taucht in meiner Vorstellung bereits ein sonnengebräunter, rüstiger Pensionär auf. Es schwächt eher ab, wenn Du verschiedene Formulierungen wählst, um die gleiche Sache auszudrücken. Besser wäre eine Formulierung, die so prägnant ist, dass ein unverwechselbares Bild entsteht.
Dass Gérome "das Tablett auf spitzen Fingern trägt", finde ich prägnant, aber es passt meines Erachtens nicht ganz zu der Beschreibung eines Mannes, "der es sich gewohnt ist, Probleme jeder Art mit den eigenen, harten Händen aus der Welt zu schaffen."
Der letzte Satz ist mir zu überladen. "Stahlgefasste Brille", okay, meinetwegen. "Dunkle Augen hinter der stahlgefassten Brille." Hm. Nun gut. Aber dann noch "eine Mischung aus Wahnsinn und/oder physischem Leiden" dazu? Und das eingebettet in "etwas Unbekanntes?" Ein wenig überdosiert, wie ich finde. Reduzierter, dafür prägnanter würde zu einer kompromisslosen Figur wie Gérome besser passen, finde ich.

Während Lenka in ihrer Sporttasche wühlte, um Platz zu schaffen, ließ Gérôme sich in einem der Sessel nieder. Tablett und Teeschale hatte er vor sich auf den Tisch gestellt.
"Okay, was jetzt?" Lenka stand nicht zum ersten Mal nackt vor einem Mann. Doch als Gérôme den Kopf hob und sich ihr zuwandte, spürte sie die Schärfe dieses Blicks so intensiv, dass sie instinktiv zurückwich. Ohne die Augen von ihrer Gestalt zu lassen, ergriff Gérôme die Teeschale, führte sie zu den schmalen Lippen und trank. Lenka spürte, dass dieser Mann nicht von Begehren getrieben wurde. Er betrachtete sie - so, wie ein Schächter das Tier musterte, bevor er sein Messer schwang.

Zum Beispiel in diesem Absatz finde ich die Beschreibung von Gérome (bis auf den letzten Satz) sehr prägnant. Und auch viel schlichter, als im vorangegangenen Absatz. Die Schärfe seines Blickes, mit dem er Lenka intensiv mustert (nachdem er sie zuvor beinahe ignorierte) und nicht von ihrer Gestalt lässt, während er die (triviale) Handlung ausführt, die Teeschale zu seinen schmalen Lippen zu führen, erschafft ein klares Profil. Ich empfinde Ekel, Beklemmung und äußerstes Unbehagen, wenn ich mir diese Szene vorstelle. Hier bringst Du genau das zum Ausdruck, was Du im Absatz zuvor zu beschreiben versucht hast: Dass dieses Monster mit großer Wahrscheinlichkeit gefährlich, wahnsinnig, krank ist.
"Er betrachtete sie - so, wie ein Schlächter das Tier musterte, bevor er sein Messer schwang." Diesen Satz würde ich weglassen, er wirkt wie eine Zusammenfassung für den dummen Leser und schwächt meines Erachtens die Spannung, die Du gerade aufgebaut hast, eher wieder ab.

"Bisher haben – einschließlich dir – sieben Personen das Training für Sundbergs Spezialprogramm begonnen", sagte er mit einer ungewöhnlich dunklen Stimme. "Fünf sind gescheitert, und du bist Nummer sechs. Deshalb werde ich dich Six nennen." Er zischte es. Sssiesssss.

Ja, schön! Wenn dieser Absatz aus der Stille kommt, nachdem er die Teeschale zu seinen schmalen Lippen geführt hat, dann hast Du darin den Schlächter, der das Tier mustert, bevor er das Messer schwingt. Ob es allerdings eine "ungewöhnlich dunkle Stimme" sein muss, mit der Gérome spricht, stelle ich mal in Frage. Ich würde eine prägnante Beschreibung der Stimme bevorzugen, wenn Du die schon dazu nimmst. Wie klingt denn seine Stimme genau, wenn sie so ungewöhnlich ist? Und was heißt in diesem Kontext "dunkel?"

"Sie täuschen sich", sagte Lenka. "Sie haben keine Vorstellung davon, was ich aushalten kann."
Gérôme lachte auf. Es war ein raues, böses Lachen.
"Sag mir, Six, weshalb bist du hier?"
Lenka zögerte kurz, dann sagte sie: "Ich werde das Training absolvieren und in Sundbergs Programm kommen. Das ist der Plan."
"Das ist der Plan", wiederholte Gérôme. Er stellt die Schale auf den Tisch, erhob sich und machte ein paar Schritte auf Lenka zu.
"Dreh dich um, Six."
Einem Mann wie Gérôme den Rücken zuzuwenden, kam einer Mutprobe gleich. Lenka erschauerte und spürte, wie ihr Herz gegen die Brust hämmerte, als Gérômes Atem über ihren Nacken strich.
"Du hast keine Vorstellung davon, worauf du dich einlässt", hörte sie seine Stimme direkt an ihrem Ohr.

Spannende Szene. "Einem Mann wie Gérome den Rücken zuzuwenden, kam einer Mutprobe gleich", würde ich weglassen. Wenn ich mir vorstelle, ich wäre Lenka (und das stelle ich mir in diesem Moment vor) würde ich mich davor hüten, diesem Mann den Rücken zuzuwenden. Und als "der Atem über den Nacken streicht", da weiß ich, dass Lenka es trotzdem getan hat!

"Steh auf! Hoch mir dir, Six! Hoch, hoch, hoch!" Lenka fühlte, wie jemand ihr Handgelenk packte und zog. Einen Moment lang drehte sich die Welt, rollte und schaukelte, bis Lenka begriff, dass Gérôme sie auf dem Rücken über den Boden schleifte. Es war dunkel, stockfinster, sicher mitten in der Nacht. Noch bevor sie ganz wach war, hatte sie sich herumgedreht, kam auf die Knie und sprang auf.
Gérôme zog sie vorwärts, schleuderte sie durch die konturlose Schwärze und stieß ihr in den Rücken. Achtung! Hier musste die Treppe kommen. Lenkas nackter Fuß trat ins Leere, und schon stolperte sie ein paar Stufen hinab.
"Geh weiter! Geh weiter!", schrie Gérôme und trieb sie mit Schlägen und Tritten vor sich her. Auch in der unteren Etage herrschte undurchdringliche Finsternis. Lenkas Erinnerungen kamen zurück. Gérôme hatte ihre Tasche weggeschlossen und ihr dann das kleine Zimmer im zweiten Stock gezeigt, in dem sie in den nächsten Wochen leben würde. Der winzige Raum enthielt nicht mehr als eine Futton-Matte, auf der Unterwäsche und Trainingssachen bereit lagen.
Gérôme zog sie aus dem Haus. Lenka spürte die Kühle des feuchten Bodens unter ihren Füssen. Sie taumelte durch die Nacht, unfähig zu denken, nur darauf aus, nicht wieder zu stürzen. Doch das war unmöglich. Sie strauchelte und schlug der Länge nach hin. Gérôme trat nach ihr. "Weiter! Weiter!"
Und so begann Lenkas Training mit einem Marsch durch die Finsternis, der ahnen ließ, was sie hier erwartete. Während Gérôme sie als Fotze, Versagerin und Pétasse beschimpfte, ihr zwischen die Schulterblätter boxte und in ihre Beine trat, während sie stürzte, sich die Hände und Knie zerschrammte, während sie sich das Kinn anschlug und von Gérôme an den Haaren gezogen wurde, bis sie winselte, wurde ihr klar, dass dieser Mann tatsächlich eine Bestie war.
Als über den Feldern das erste Licht des Tages schimmerte, kehrten sie zum Haus zurück. Lenka sank auf die morgenfeuchte Erde und weinte. "Wasch dich. Wechsle deine Kleidung. Wir essen in zehn Minuten", sagte Gérôme.

Aha, ein Sadist. Eindrucksvolle Szene. Dass Lenka nicht weiß, wie ihr geschieht, wird in diesem Abschnitt gut aufgezeigt. Ich leide mit ihr und ich empfinde Mitgefühl, als sie nach dieser Nacht zu Boden sinkt. Ich wünsche, dass sie von diesem Ort flieht. Ich verstehe, dass sie bleibt. Ich weiß, dass sie nicht gehen kann. Dieses Programm ist ihre Chance. Aber vielleicht auch ihr Verderben. Sehr gut konstruiert, weil inhaltlich eine große Ambivalenz besteht.
Ich habe fett markiert, wo ich Kritik anbringen möchte. Ich verstehe einerseits, da Du aus Sicht der Lenka schreibst, dass Du mehrfach die Nacht, Finsternis, Dunkelheit erwähnst, durch die sie stürzt, strauchelt, stolpert, fällt. Andererseits strengt es mich an, wenn ich in einem Abschnitt mehrfach lese, wie dunkel es nun ist. Außerdem ist "Finsternis" meistens "undurchdringlich." Und "Schwärze", ist meistens "konturlos", sowie es "mitten in der Nacht" oftmals "stockfinster" ist. Verdoppelungen würde ich vermeiden.
Das gilt auch für das "erste Licht des Tages", das auf den Morgen hinweist und die "morgenfeuchte Erde", die ebenfalls auf den Morgen hinweist und die mir außerdem ein wenig zu schwulstig ist.

Die Lektion des Vormittags bestand in einer zermürbenden geistigen Ausdauerübung. Gérôme hatte sie, eine Decke und ein dickes Kissen unter dem Arm, in den Garten hinter dem Haus geführt. Er wählte einen Platz nahe einer Hecken-Wicke, breitete die Decke aus und sagte: "Das Kissen dient nicht deiner Bequemlichkeit. Es richtet dein Becken beim Sitzen auf. Schau her, dies ist die korrekte Technik."
Dann ließ er Lenka auf dem Kissen Platz nehmen. Er verbesserte ihre Haltung, korrigierte sie mit schmerzhaften Griffen.
"Konzentriere dich auf die richtige Sitzposition, und beobachte das Kommen und Gehen des Atems." Lenka hörte den Kies des Gartenweges unter seinen Schritten knirschen, und dann wurde es still.

Dieser Absatz wirkt erst mal wie eine Erlösung. Keine Schläge, nur Sitzen und Stille. Obwohl angedeutet wird, dass der kurze Friede bald durch eine zermürbende geistige Ausdauerübung beendet wird, flüchte ich mich mit Lenka in diesen Moment der Ruhe. Schön, ich bin voll und ganz in die Geschichte eingestiegen...

Anfänglich entspannte sie das Sitzen. Den Blick auf die Ranken, Blätter und Blüten der Wicken gerichtet, erholte sich ihr Körper von den Torturen der Nacht. Doch dieser Friede währte nicht lange. Lenka wurde unruhig. Die Meditation begann, sie anzustrengen. Die Pflanzen verschwammen vor ihren Augen, und bald war es mit der Konzentration vorbei: Lenka verbrauchte ihre Kräfte im Kampf gegen die erzwungene Versteinerung – sie wollte aufspringen, sich schütteln und die Arme strecken. Sekunden dehnten sich zu Minuten, die Schmerzen in Schulter und Rücken wurden unerträglich. Sie wusste nicht, wie lange sie so gesessen hatte. Es mochte eine Stunde gewesen sein, vielleicht waren es zwei.
Als ihr Widerstand zusammenbrach und sie vornüber sank, um ihre Schultern zu entspannen, fuhr ein Schlag wie ein Peitschenhieb auf sie nieder. Lenka schrie auf und warf sich herum. Gérôme starrte sie mit einem irren Funkeln hinter den Gläsern seiner Brille an. In seiner Hand schwang das Seil, mit dem er zugeschlagen hatte. "Du kannst nicht laufen, kannst nicht sitzen", sagte er mit einem Ausdruck äußerster Verachtung. "Sag mir, Six, wozu bist du gut?"

...umso belastender, dass auch das Stillsitzen eine schmerzhafte Erfahrung wird. Der erste Absatz ist nachvollziehbar, vom Schreibstil her reduziert und klar beschrieben, was inhaltlich gut passt. Ich fokussiere mich zusammen mit Lenka auf die letzten Kräfte, um die Übung zu schaffen und die Schmerzen auszuhalten. Entsprechend schockiert mich der zweite Absatz. Ein Hieb mit dem Seil. Als ob es nicht gereicht hätte letzte Nacht. Klar, von diesem Monster darf man sicher keine Gnade erhoffen. Aber beim Meditieren geschlagen zu werden, ist nicht unbedingt das, was man nach der vorangegangenen Nacht erwarten würde. Und dann noch die Frage: "Wozu bist du gut? Du kannst nicht laufen, nicht sitzen." Da erwacht in mir der blanke Hass für diese abscheuliche Figur.

Am Nachmittag dieses Tages folgte Lenka Gérôme in das verfallene Gebäude zur Linken des Haupthauses. Als sie die Tür hinter sich geschlossen hatte, begriff sie, dass das heruntergekommene Äußere der ehemaligen Scheune die Tarnung einer geräumigen Trainingshalle darstellte: Das kakaofarbene Holz des Bodens bestand aus Dielen, die man mit großer Sorgfalt abgeschliffen, versiegelt und poliert hatte.
Lenka sagte staunend: "Was ist das hier? So eine Art Kungfu-Dōjō?"
Gérôme ignorierte ihre Fragen, zog seine Schuhe aus und durchquerte die Halle, während Lenka sich weiter umschaute. Auch Stützpfeiler und Wandverkleidungen waren mit Holz in dunklen Tönen konstruiert worden. Außer einigen Waffenständern mit Übungsgeräten aus roter Eiche gab es keine sichtbaren Ausrüstungsutensilien.
"Worauf wartest du, Six? Komm her, aber putz dir vorher die Füße ab!"

Aha, eine Trainingshalle. Jetzt bekommt das Szenario einen Rahmen. In Kombination mit der morgendlichen Meditation: Vielleicht ein verrückter Kung Fu Meister mit sadistischen Ambitionen?
Schön, wie hier die Umgebung beschrieben wird, gute Abwechslung.

Die Methode, die Gérôme in der Trainingshalle anwendete, basierte auf einem simplen Drei-Schritte-Programm, das aus Demonstration, Korrektur und Praxis bestand. Alle Übungen, die Lenka an diesem Nachmittag erlernte, waren Variationen eines einzigen Themas.
"Es gibt nur ein wahres Maß", sagte Gérôme. "Wie effizient kann ein Mann oder eine Frau das eigene Körpergewicht stützen und bewegen."
Dann sah er an Lenka herab. "Für dich stehen die Chancen diesbezüglich schlecht, denn du bist schwach und fett."
In den drei Stunden dieser Trainingseinheit trieb Gérôme Lenka an die Grenzen des Zusammenbruchs. Während sich vor der Scheune der Tag dem Abend entgegen neigte, durchlebte sie ein Martyrium aus Liegestützen, Kniebeugen und Bauchpressen. Lenka keuchte, stöhnte, schrie und wimmerte. Gérôme überwachte ihre Bewegungen, schrie ihr ins Gesicht und schlug sie mit dem Seil. Als sie beim Abendessen Mühe hatte, die Teeschale zum Mund zu führen, sagte Gérôme erneut: "Weshalb bist du hier, Six?"

Eine Methode, die auf einem "simplen Drei-Schritte-Programm basiert und aus Demonstration, Korrektur und Praxis besteht", ist zwar eine gute Idee, aber hätte ich keine langjährige Trainingserfahrung, könnte ich damit vermutlich nichts anfangen.
Danach wiederholen sich die Strapazen für Lenka in einer anderen Form. Weil zwischen mir und Lenka bereits eine starke Identifikation besteht, nimmt mich das mit.

In dieser Nacht träumte sie von ihrer Tochter. Sie sah Lisa vor sich, streichelte ihr blondes Haar und … fuhr in die Höhe, als ein glühender Schmerz über ihren Rücken jagte. "Hoch mit dir, Garce! Los, los!"

Der Kontrast zwischen dem Traum mit ihrer Tochter, der Zärtlichkeit, die sie teilt und dem schmerzhaften Aufwachen, wirkt brutal. Gut konstruiert!

Wäre ihr in dem Moment, als sie am Abend zuvor todmüde und zerschlagen auf die Futton-Matte gesunken war, der Gedanke gekommen, gegen einen zweiten Nachtmarsch zumindest psychologisch gewappnet zu sein – immerhin wusste sie, was ihr auf den mondlosen Feldern blühte – sie hätte sich nicht mehr täuschen können.

Ich musste diesen Satz zweimal lesen, um ihn zu verstehen. Er ist sehr lang und verschachtelt. Ich würde das überarbeiten.

Gérome hetzte sie über rissige Äcker, prügelte sie durch Dickicht und Dornengestrüpp. Er schien darauf versessen, sie winseln zu hören. "Weshalb bist du hier?", schrie er wieder und wieder. "Wozu bist du gut, Six?" Doch in Lenka war etwas erwacht, dass (hier nur ein „s“) sich immer dann in ihrem Leben zeigte, wenn die Welt verschworen schien, sie zu demütigen. Es mochte Stolz sein oder eine Art sinnlosen Trotzes.
Und so konnte sie zwar nicht verhindern, dass sich Gérôme an ihren Qualen weidete – sie spürte seine Erregung, wenn er den Stiefel in ihren Rücken stieß – aber sie versagte ihm die Genugtuung ihrer Kapitulation.

Schön, ich erfahre etwas über Lenkas Charakter. Wie sie mit der Situation umgeht. Das lässt hoffen, dass sie das Trainingsprogramm übersteht.

Das morgendliche Sitzen verbrachte Lenka im Zustand tiefer Agonie. Weder die blühenden Wicken noch die Sonnenstrahlen auf ihrer Haut konnten sie trösten. Es fehlte ihr die Kraft, den Schmerzen in den Kniegelenken mehr entgegenzusetzen als ein leises Wimmern. Und obwohl sie Gérôme weder hörte noch spürte, wusste sie, dass er hinter ihr stand und darauf lauerte, das Seil zu schwingen. Schließlich kam der Moment, in dem ihr Gérômes Prügel als das geringere Übel erschien. Doch das war ein Irrtum.
Ingrimm und Ekel verzerrten Gérômes Gesicht, als er Lenka mit wütenden Hieben durch den Garten peitschte. "Du verschwendest meine Zeit", brüllte er, heiser vor Zorn. "Du verschwendest meine Zeit!"

Die tiefe Agonie, in die Lenka beim morgendlichen Sitzen verfällt, baut ein wenig Distanz auf zu den Torturen der vergangenen Stunden. Das wirkt wie eine kurze Verschnaufpause (für Lenka und auch für mich). Wie nervenzermürbend, dass ich mit Lenka aus dieser Distanz zurück in die schmerzhafte Realität gerissen werde.

In den ersten Wochen schrumpfte Lenkas Leben zu einer Lektion im Aushalten und Überdauern. Sie lernte, Gérômes Raserei zu ertragen, wenn er sie nachts durch die Wildnis jagte. Sie entwickelte die Technik, in Gedanken an ferne, friedvolle Orte zu reisen, während Gérômes Seil schwirrte und er ihre Arme und Schenkel schlug, bis sie sich dunkel färbten. Eine morbide Sehnsucht nach Verausgabung trieb sie in die Trainingshalle, und so seltsam es ihr selbst erschien – das von Gérôme verordnete Krafttraining erfüllte sie mit Befriedigung, denn sie verbesserte sich von Tag zu Tag, und sie spürte, wie sie allmählich stärker wurde.
Sie sprachen nur selten miteinander. Wenn er sie nicht beschimpfte, erteilte Gérôme Anweisungen, die knapp und präzise ausfielen. Neben dem täglichen Training bestanden Lenkas Verpflichtungen darin, ihre Kleider zu reinigen, Haus und Trainingshalle zu putzen sowie bei der Zubereitung der Mahlzeiten zu helfen. Hin und wieder befahl ihr Gérôme, die Trockentoilette zu säubern. Lenka hasste diese Arbeit und betrachtete sie als Demütigung, denn sie erforderte das Ausleeren des Fäkalienkübels in eine übelriechende Sickergrube weitab vom Haus.
Drei Mal am Tag - vor dem Frühstück, während der Mittagspause und nach dem Abendessen - widmete sich Lenka ihren Verletzungen. Gérôme zeigte ihr, wie man Abschürfungen reinigte und mit einer Salbe auf Aloe Vera-Basis behandelte. Blutende Wunden wurden mit Pflastern oder Mullkompressen versorgt. Am meisten setzten ihr Prellungen und Zerrungen zu, die von Gérômes Misshandlungen, aber auch von Stürzen und von den Überlastungen des Krafttrainings herrührten. Lenka lernte, wie sie die Schmerzen durch Massagen und Einreibungen aus Kampferöl lindern konnte. Eines Tages lag ein gerupftes Huhn auf dem Tisch im Garten. Gérôme hielt eine ledernes Futteral in der Hand. "Das ist ein chirurgisches Besteck", sagte er. "Heute üben wir das Vernähen von Wunden."
Irgendwann begann Lenka, sich auf Gérômes nächtliche Überfälle vorzubereiten. In der zehnten Nacht erwartete sie ihren Peiniger und rannte so schnell vor ihm durch die Dunkelheit, dass es schien, als hätte Gérôme Mühe, mit ihr schrittzuhalten. Erst als sie schon beinahe den Hof erreicht hatten, brachte er sie wütend mit einem Seilwurf zu Fall. Er trat nach ihr, doch sie rappelte sich auf und lief weiter.
Während des morgendlichen Sitzens im Garten kämpfte sie gegen die Schmerzen, mit denen ihr Körper sie quälte. Sie fand heraus, wie sie durch tiefes Atmen die Verkrampfungen in Rücken und Schultern lösen konnte, und bald bemerkte sie auch, dass es einen Zusammenhang zwischen Atmung und Gefühl gab: Nichts erleichterte so sehr wie ein Seufzen, und all die seelischen Torturen, denen sie hier ausgesetzt war, wurden erträglicher, wenn es ihr gelang, sich so sehr in das Kommen und Gehen des Atems zu versenken, dass der Rest der Welt für einige Augenblicke verschwand.

Natürlich lässt sich für Lenka hoffen, dass diese höllischen Qualen ein Ende haben werden. Dass sie nicht nur das Resultat eines sadistisch veranlagten Verrückten sind. Und wenn doch? Wer ist dieses Monster? Was ist Sinn, Zweck, Motivation dieser Vorgehensweise? Da klafft ein Abgrund, in den der Leser mitgerissen wird. Ich ringe um Verstehen. In jedem Fall aber lässt der letzte Absatz die Frage aufkommen, welche Möglichkeiten es gibt, mit Schmerzen umzugehen und da wird es sehr spannend. Lenka steigt aus der Opferrolle aus. Sie übt das Aushalten, Ertragen und Überdauern. Sie entwickelt durch das Training körperliche und mentale Stärke, lernt Techniken der Schmerzregulierung und bildet eine Psyche aus, die sie gegen nächtliche Überfälle und demütigende Übergriffe wappnet.

Doch Gérôme ließ die Anpassungsbemühungen seiner Schülerin nicht unbeantwortet. Eines Nachts änderte er seine Taktik. Lenka hatte geahnt, dass dieser Moment kommen würde, aber als es soweit war, kostete es sie fast das Leben.
Während ihres irrwitzigen Nachtlaufs trieb Gérôme sie auf unbekanntes Terrain. Der Untergrund wurde feucht und dann morastig. Lenka glitt aus und rutschte in den Schlamm. Sumpfland, schoss es durch ihren Kopf.
"Hoch mit dir, Con!", schrie Gérôme. "Lauf, lauf!"
Doch das Laufen im Morast kostete Kraft, und da sie nicht über Gérômes unheimliche Nachtsichtfähigkeiten verfügte, stürzte sie häufiger als bisher. Jedes Straucheln wurde mit Prügel bestraft. Lenka stolperte, rutschte, glitt und taumelte durch den nächtlichen Sumpf, und erst, als sie durchnässt vor Kälte schlotterte, hustete und nach Luft rang; erst, als der Moder zwischen ihren Zähnen knirschte, begriff sie, dass Gérôme es darauf anlegte, sie im Moor zu ertränken. Wieder und wieder stieß er sie ins Wasser, drückte ihren Kopf in die schwarze, eiskalte Brühe, trat ihr seitlich in die Beine, bis sie röchelnd vor Schmerz und Entsetzen im Schlamm versank.
Doch gegen ihren Wunsch, loszulassen, um endlich und endgültig frei zu sein, um zu versickern und in der schwarzen Erde davon zu rinnen, bäumte sich ein Wille in ihr auf, drückte den zerschlagenen Körper aus dem Moor und ließ sie weiterlaufen, ohne Denken, ohne Fühlen. Zurück im Hof, strauchelte sie mit den letzten Schritten, stürzte und prallte gegen die Mauer der Scheune.
Als sie erwachte, rann warmes klares Wasser ihren Leib hinab. Sie kauerte auf den Fliesen des Duschraumes, und Gérôme stand über ihr, ein Medic-Päckchen in der Hand. Er stellte das Wasser ab und sagte: "Trockne dich ab, und versorge deine Verletzungen. Dann geh schlafen. Du hast den Rest des Tages frei."

Puh, harte Kost. Wohl verdiente Pause. Spannender Moment in der Story. Das Aufgeben steht dem Weiterkämpfen gegenüber. Lenkas Kompromisslosigkeit wird klar. Sie ist kein Opfer. Ihr Motiv zwingt sie zu diesen Handlungen, die sie in gewisser Weise akzeptiert, weil sie keine Wahl hat. Sie steht einem eiskalten Gérome gegenüber, der keine Gnade kennt, kein Mitgefühl empfindet und dem es offensichtlich völlig gleichgültig ist, ob ein Mensch leidet, ob er stirbt oder überlebt. Doch so sehr Lenka davon traumatisiert sein mag, bleibt ihr unbeugsamer Wille (den sie durch diese Situationen kennenlernt) davon unberührt. Interessanter Punkt!

Nacht für Nacht träumte Lenka jetzt von ihrer Tochter. Die Sehnsucht nach Lisa wurde unerträglich. "Kann ich sie besuchen?", fragte sie Gérôme eines Morgens beim Essen.
"Sicher. Du kannst jederzeit gehen, Six. Aber dann komm nie wieder!"
Die Härte dieses Mannes irritierte sie. Lenka begann daran zu zweifeln, dass er ein Mensch war. Sicher, er besaß einen menschlichen Leib, ein menschliches Erscheinungsbild. Aber selbst das änderte sich eines Tages: Es mochte am permanenten Schlafmangel liegen, an dem durch Beschimpfungen und Schmerzen ausgeübten Druck, doch Lenka hielt jene plötzliche, furchteinflößende Wahrnehmungsstörung für Klarsicht: Tauchte Gérôme am Rand ihres Blickfeldes auf, dann setzten all die Grausamkeiten, die er Lenka angetan hatte – all das Schlagen, Schreien und Peitschen, selbst der Blick aus seinen schmalen Augen, das Fauchen und das Zähnefletschen - das Bild eines Höllengeistes zusammen, so wie Lenka es aus den Fabelbüchern ihrer Kindheit kannte. Erst wenn sie ihn direkt anblickte, verflüchtigte sich die Schreckensvision.

Das ist furchtbar. Und man kann es sich gut vorstellen nach so vielen Tagen Folter. Klingt nach einer ausgewachsenen Traumatisierung. Authentische Beschreibung.

Nach zwanzig Tagen erweiterte Gérôme das Ausbildungsprogramm. Neben Nachtlauf, morgendlichem Sitzen und dem Krafttraining am Nachmittag hatte Lenka jetzt Abend für Abend eine Einführung in Gérômes Kampftraining zu absolvieren. Er behauptete, die Techniken, die er lehrte, gingen auf ein altes System zurück - die Palast-Faust.
"Jeder ausgebildete Kämpfer kennt drei Distanzen", sagte er und schob sie in der Trainingshalle in eine Ecke. "Fuß, Faust und Ellbogen." Lenkas Atem ging schnell und stoßweise, als Gérôme sich an sie presste und in ihr Ohr flüsterte: "Aber es gibt noch eine vierte Distanz." Falls sich Lenka noch hin und wieder gefragt hatte, ob Gérôme tatsächlich das Reptil war, dass er zu sein schien, dann wurde diese Frage jetzt geklärt. Ohne die Hände, den Kopf oder die Knie zu benutzen, brachte er sie mit einer Serie abrupter Schulter-, Brust- und Beckenstöße unter seine Kontrolle. Lenka ballte die Fäuste, schlug, trat, biss und kratzte, aber der Gewalt, die von Gérômes zerstörerischem Körper ausging, hatte sie nichts entgegen zu setzen. Sie war in eine Schrotmühle geraten - Gérôme schüttelte sie, rammte, walzte und zerschredderte ihren Leib.
Hin und wieder verließ Gérôme das Gehöft. In einem Kombi, den er im Gebäude zur Rechten des Hauses geparkt hatte, fuhr er nach dem Frühstück davon und kehrte – den Kofferraum voller Lebensmittel - erst zurück, wenn es bereits dunkel wurde. Lenka widmete sich auch an diesen Tagen ihrem Training - ein Verhalten, von dem sie selbst nicht wusste, ob es als Gehorsam oder Fleiß zu deuten war.

Diesen Absatz würde ich kürzen. Er zeigt zwar weitere Aspekte des Ausbildungsprogramms auf, aber betrachtet man die Technik "Palast-Faust, drei/vier Distanzen, Fuß, Faust und Ellbogen, Brust, Beckenstöße, etc.", dann klingt das für den Laie bestenfalls exotisch, ich bezweifle aber, dass er etwas damit anfangen kann. Von den Auswirkungen des Trainings erfährt man hier auch nichts Neues, außer das Lenka aus Gehorsam oder Fleiß trainiert, wenn Gérome nicht da ist.

"Weshalb bist du hier, Six?" Diese Frage hörte sie nun immer häufiger, und da es schien, als erwarte Gérôme wirklich eine Antwort, sagte sie eines Abends in der Trainingshalle: "Ich will raus aus meinem alten Leben. Ich will Geld verdienen und meiner Tochter das geben, was sie verdient." Gérôme hatte ihr zugehört. Er sah sie an, schüttelte den Kopf und sagte: "Trainiere weiter."
Bei einer anderen Gelegenheit sagte Lenka: "Sundberg hat die Möglichkeiten, den Tod meines Vaters aufzuklären. Wenn ich für ihn arbeite, werde ich erfahren, was damals geschah." Gérôme spuckte in Sand. "Kümmere dich um den Abwasch, Six."
Lenka ließ nicht locker. "Ich will mir beweisen, dass ich mehr kann, als ich bisher zustande gebracht habe."
"Nein, nein, nein!", schrie Gérôme und schlug ihr auf den Kopf. "Weshalb bist du hier?"

Hier bekommt Gérome ein neues Gesicht und die Story eine zweite Ebene, die zuvor an manchen Stellen bereits durchschimmerte. Die Frage "weshalb bist du hier?", stellt er nicht zum ersten Mal. Und er stellt sie immer wieder. Könnte die Frage eines Zen-Meisters sein, der versucht seinen Schüler in den Wahnsinn zu treiben. Es ist ja bekannt, dass in den japanischen Zen Klöstern Schüler so lange in den psychischen Zusammenbruch getrieben wurden, bis sie plötzlich Erleuchtung erlangten. Wer ist also Gérome?

Als Basisübungen der Palast-Faust entwickelte Gérôme für Lenka ein Programm, das – wie er sagte - darauf abzielte, die Struktur ihres Körpers neu zu organisieren: "Du hast deine Wirbelsäule durch das Tragen von High Heels ruiniert. Titten und Arsch zu zeigen, wird dich aber nicht retten."
Er stellte sie auf ein Wackelbrett und ließ sie über Balken balancieren. Nach und nach reduzierte er Lenkas Krafttraining und ersetzte es durch immer umfangreichere und komplexere Gleichgewichtsübungen.
Allmählich durchschaute Lenka das System. Gérôme handelte keineswegs rein impulsiv. Er folgte einem Muster, hatte einen Plan. So wie er das Balancetraining auf den Körperkraftübungen aufbaute, so bereitete er nun die nächste Stufe vor.
Als sie am Ende der vierten Woche die Halle betrat, pendelte ein leichter Sandsack unter einem Galgen.
"Schlage nicht mit der Faust", sagte Gérôme. "Schlage mit dem ganzen Körper." Mit dem Finger zeichnete er an ihr eine Linie nach, die im Fußballen ihren Ursprung hatte und dann über Bein, Becken, Rumpf, Schulter und Arm bis zu den Knöcheln ihrer Hand verlief.
"Schlage mit dem ganzen Körper", sagte er noch einmal.
Während Lenka jetzt allabendlich gegen die Lederhaut des Sandsacks schlug und das Blut ihrer Knöchel durch die Bandagen sickerte, wurde ihr selbst bewusst, wie stark sie sich bereits verändert hatte. Das Erdulden körperlicher Qualen war ihr beinahe zur Routine geworden. Schmerz, das war nun eine Übung. Gérôme hetzte sie nachts noch immer über die Felder und durch den Wald. Er stieß sie in den Sumpf, er warf sie zu Boden. Doch die aufgerissenen Hände, das angeschlagene Kinn und die geprellte Schulter – das alles war jetzt nicht mehr als ein natürlicher Bestandteil des Trainings. Lenka blutete, schrie, weinte, stöhnte. Dann ging sie in den Duschraum, versorgte ihre Wunden und bereitete anschließend für Gérôme und sich das Frühstück zu, als sei dies der normale Lauf der Dinge.
Auf Gérômes Frage, weshalb sie hier sei, wusste sie keine vernünftige Antwort mehr. Sie versuchte es mit: "Ich habe ein Talent für diesen Job." Gérôme nannte sie Idiote und ging davon. Lenka probierte: "Weil ich skrupellos bin, also genau das, was Sundberg braucht." Gérôme winkte ab. "Weil ich nicht weiß, was ich sonst tun soll!" "Débile!"

Dieser Abschnitt ist kampftechnisch für Fachinteressierte spannend. Aber auch hier stellt sich mir die Frage, wie es dem Laie damit geht?
Zwei Dinge sind hier allerdings vom Inhalt her wichtig: Das Kampftraining folgt einem System. Also hat Gérome doch einen Plan, er ist nicht nur ein verrückter Sadist. Und Lenka hat inzwischen Fähigkeiten entwickelt, die ihre Wahrnehmung verändern. Einerseits ist fraglich, ob sich diese Frau jemals von diesen Erfahrungen erholen wird. Andererseits lässt ihr Umgang mit der Situation grundsätzlich die Frage aufwerfen, welche Möglichkeiten der Mensch hat, um mit schmerzhaften Erfahrungen umzugehen. Der Horror und Schrecken steht der Frage gegenüber, welche Ressourcen erschlossen werden können, um aus einer qualvollen Erfahrung etwas zu machen, das die Persönlichkeitsreifung vorantreibt.

Schließlich begann Gérôme, Lenka in die Taktik des Zweikampfes einzuweisen. Er lehrte sie einfache Bewegungskombinationen, die Schrittmanöver, Körperdrehungen und Finten sowie verschiedene Schläge, Stöße, Blöcke und Griffe umfassten.
"Es geht nicht darum, möglichst viele Varianten zu kennen", erklärte er. "Suche oder provoziere die Situation, in der die Techniken funktionieren, die du perfekt beherrschst."
Mit dem Beginn des Zweikampftrainings geriet Lenka erneut in die Krise. Gérômes Übergriffe besaßen bislang einen scheinbar beliebigen Charakter, doch nun nahm er sie aus der Perspektive des Kämpfers gezielt aufs Korn. Er wich ihren Schlägen durch Pendelbewegungen aus und rammte sie mit seiner Schulter. Er blockierte ihre Kniestöße und schmetterte sie zu Boden. Lenka setzte alles daran, ihren teuflischen Feind und Meister zumindest ein einziges Mal im Kampf zu treffen. Doch es war aussichtslos.
Im Verlauf der ersten Wochen dieser neuen Trainingsphase schmolzen Lenkas Rundungen dahin. Ihr Körper wurde schwer und hart. Sie bearbeitete den Sandsack mit Fäusten, Knie und Ellbogen. Sie lernte, ihre Füße einzusetzen, trat und hämmerte gegen das Leder, bis Gérôme den leichten Sandsack gegen einen schwereren ersetzte.

Aha, ein Meister also. Ansonsten ist hier wieder viel Fachinformation zu finden, was ich als Kampfkunstinteressierte natürlich nicht missen möchte. Mehr dazu zum Schluss meines Kommentares.

Das abendliche Zweikampftraining beschäftigte Lenkas Gedanken Tag und Nacht. Im Duschraum starrte sie minutenlang mit offenen Augen in den Strahl des Wassers, um das Blinzeln zu überwinden. In der Mittagspause schlich sie in die Trainingshalle und färbte Sandsäcke und lederumwickelte Holzpfosten mit ihrem Blut. Während sie nachts auf Gérôme wartete, übte sie die Schrittarbeit der Palast-Faust.
Sie begann, Gérômes Kampfweise genauer zu beobachten. Sie bemerkte, dass er die Linksauslage bevorzugte und stellte ihre eigene Kampfstellung auf die rechte Seite um. Sie entschlüsselte sein Primärverfahren, das aus Abwehr, Konter und einem Körperrammstoß bestand, den er gewöhnlich beendete, indem er sie an den Haaren packte und gegen einen Sandsack, eine Wand oder einen Pfosten stieß. Deshalb lernte sie, mit Finten anzugreifen, gegen die es keine sinnvolle Abwehr gab. Sie entwickelte einen wirkungsvollen Gegenkonter, und als sie eines Tages im Ausrüstungsraum eine Pflanzenschere entdeckte, schnitt sie ihr Haar bis auf die Kopfhaut ab. Und obwohl all diese Bemühungen ihr eigentliches Ziel verfehlten – es gelang Lenka niemals, weder jetzt noch später, Gérôme hart im Kampf zu treffen – so halfen sie doch, die Demütigungen ihres Lehrers zu ertragen.

Ich würde gern mehr über die Blickweise erfahren, mit der ein Krieger kämpft. Du schneidest einige Themen an, (wie Lenka das Blinzeln zu überwinden versucht, wie sie unermüdlich übt, wie sie beginnt den Gegner zu studieren, um sich besser wehren zu können, usw.), was sehr spannend ist. Doch was ist Sinn und Zweck eines solchen Trainings? Welche Fähigkeiten werden dabei ausgebildet?

Gegen Ende ihres zweiten Trainingsmonats, sie hatte jetzt sechzig Tage bei Gérôme verbracht, unterlief Lenka ein katastrophaler Fehler. Beim morgendlichen Essen bemerkte sie, dass Gérômes Blick auf ihren Brüsten ruhte, über die sich straff ihr T-Shirt spannte. Sie lehnte sich zurück und betrachtete ihn einen Moment lang. Dann zog sie sich das Shirt über den Kopf, schleuderte es ihm ins Gesicht und sagte: "Ist Glotzen alles, was du fertigbringst?"
Als sie sah, wie Gérôme seine Brille abnahm und die stählernen Bügel zusammenklappte, lief ein Schauer über ihren Rücken. Noch viele Jahre später verfolgte diese Geste sie in ihren Träumen. In Lenkas Vorstellung verdichtete sie sich zum Symbol des Terrors, zu einer Chiffre namenlosen Schreckens.

Diesen Abschnitt finde ich problematisch. Dass "sexuelle Belästigung" bisher nicht thematisiert wurde, jetzt aber plötzlich auftaucht, ist psychologisch unglaubwürdig. Auch, dass darauf keine weiteren Annäherungsversuche folgen, wirkt von der Konstruktion her unpassend. So als würde das vorfallen müssen, damit Gérome einen weiteren Grund hat, um Lenka zu demütigen.

Stunden nach diesem Versuch, Gérôme zu manipulieren, zu provozieren, Widerstand zu üben oder was auch immer es gewesen sein mochte, kam Lenka im Morast der Sickergrube zu sich - nackt, blutend und mit Kot beschmiert; ein vor Schmerzen bebendes Bündel aus Fleisch und Knochen. Vielleicht war der Umstand, dass sie noch lebte, ein Hinweis auf einen Rest an Skrupel, den Gérôme bewahrt hatte. Doch Lenka hätte nicht darauf gewettet: Als sie im Duschraum in den Spiegel blickte, erkannte sie ihr Gesicht nicht mehr.
Tage- und nächtelang litt sie unter Qualen, gegen die ihre Atemtechniken machtlos blieben. Sie versorgte die Blutergüsse, Platzwunden und das eingerissene Augenlid. Sie bandagierte ihre gebrochenen Rippen. Sie vernähte den großen Riss auf der Innenseites ihres Schenkels; von welcher Waffe er stammte, fand sie nie heraus. Doch der Schmerz wollte ihren Körper nicht verlassen. Er durchdrang und umhüllte sie. Er folgte ihr bei jedem Schritt, er wurde zum Teil ihrer Persönlichkeit, und eines Tages, als ihr Blick erneut ihr Spiegelbild traf und sie ihren elenden, gepeinigten Leib betrachtete, wusste sie es: Das ist es. Was ich bin. Und schon immer war. Schmerz.

Dieser Abschnitt ist düster. Ein großes Kompliment an Deine Fähigkeit so zu formulieren, dass beim Lesen Gefühle entstehen. Schmerz, Traurigkeit, Resignation, Ekel, Hass, Agonie, nur um ein paar Gefühle zu nennen, die auftauchen.

Im August kam Sundberg zu Besuch. Als Lenka ihm auf dem Hof entgegenging, blieb er stehen und sagte: "Oh, mein Gott."

Auch hier: Der Satz von Sundberg "oh mein Gott", sagt in diesem Kontext mehr als 1000 Worte. Kompliment.

Lenka hatte ihr Training wegen der gebrochenen Rippen und ihres allgemein katastrophalen Zustandes für eine Woche unterbrechen müssen. In dieser Zeit verzichtete Gérôme darauf, sie zu quälen und stellte sie sogar von ihren häuslichen Verpflichtungen frei. Während der gemeinsamen Mahlzeiten streifte er sie gelegentlich mit einem prüfenden Blick, sagte aber nie etwas. Lenka wusste, dass er ihre Genesung überwachte. Als er sie eines Morgens beim Sitzen im Garten antraf, sagte er nur: "Heute Abend machen wir mit dem Training weiter."
In den Wochen vor Sundbergs Besuch stellte Gérôme die Module der Ausbildung um. Statt des Wildnislaufes stand nun Schwimmen auf dem Programm. In der ersten Nacht dieser neuen Trainingsphase führte Gérôme Lenka zu einem im Wald verborgenen See, und während dieser kurzen Wanderung geschah etwas Seltsames.
"Du solltest nicht allzu viele Hoffnungen in Sundbergs Projekt setzen", bemerkte Gérôme und schaute vom Weg hinauf zu den Sternen.
"Warum sagen Sie das?"
"In Sundbergs Welt ist nichts so, wie es scheint."
Darauf wusste Lenka nichts zu antworten, und auch für Gérôme schien die Angelegenheit erledigt. Lenka brauchte einige Minuten, bis sie begriff, dass dies der erste Wortwechsel zwischen ihnen war, der einem echten Gespräch nahe kam.
Das Schwimmtraining würde ihr vor allem in einer Hinsicht wertvolle Dienste leisten, erklärte Gérôme. "Du lernst das Atmen."
Lenka schaute auf den im Sternenlicht glänzenden Spiegel des Waldsees, zog ihre Kleider aus und folgte Gérôme in das Wasser. Diesen Mann nackt zu sehen, löste ein merkwürdiges und unbegründetes Gefühl der Vertrautheit aus. Sein Körper trug die Zeichen eines gewaltsamen Lebens. Das schwache Leuchten der reflektierenden Wasserfläche ließ Narben und schlecht verheilte Verletzungen erahnen.
"Es gibt nur einen Schwimmstil, der sich für dieses Training eignet", sagte Gérôme, schöpfte Wasser und ließ es über seinen Körper rinnen. "Du wirst diese Technik nicht kennen. Schau her."
Gérôme schob sich flach ins Wasser und glitt geräuschlos dahin. Er drehte sich auf die linke Seite und zog erst den rechten und dann den linken Arm gestreckt an den Körper heran. In der letzten Phase rollte er wieder herum, führte beide Arme nach vorn, und der Zyklus begann von Neuem.
"Jetzt versuche es, Six", sagte Gérôme, und Lenka tauchte in den See.
Während Gérôme ihre Bewegungen korrigierte, fühlte sie, wie das Leben in ihren Körper zurückkehrte. In den vergangenen Wochen hatte sie sich, ohne es zu bemerken, in Stasis begeben – der Stillstand ihrer vitalen Energien, Gefühle und Empfindungen mochte eine Konsequenz der tödlichen Bedrohung durch ihren dämonischen Lehrmeister sein; jetzt strömte das Leben zurück in ihren Leib, und sie konnte nicht anders, als zu lachen.
"Atme unter Wasser aus, Six, und in der Seitenlage ein. Hey, was ist so lustig? Ach, ich verschwende meine Zeit mit dir!"

Dieser komplette Abschnitt ist aus verschiedenen Gründen spannend.
Einem Gesicht aus Härte, Hässlichkeit und Schmerz, stellst Du einen Moment der Nähe zwischen den Protagonisten gegenüber. Durch den Wortwechsel über Sundberg auf dem Spaziergang zum See, entsteht eine plötzliche Vertrautheit zwischen Lenka und Gérome. Die Konstruktion des Textes ist an dieser Stelle beachtlich. Das nächtliche Training, das auf den Wortwechsel folgt, das Lachen von Lenka, der Spiegel des Waldsees, die Narben an Géromes Körper, das geräuschlose Dahingleiten im Wasser; diese ganze Situation ist ein Moment von Schönheit in einem Leben aus Schmerz. In dieser Szene liegt so viel Unausgesprochenes, so viel Sehnsucht nach menschlichen Grundbedürfnissen, ohne, dass Du das erwähnst. Gut konstruiert!

Das Schwimmtraining blieb nicht die einzige Neuerung. Gérôme begann, Lenka in ein umfangreiches Programm von Dehnungsübungen einzuweisen, die er mit Atemtechniken kombinierte. "Du bist zu steif", sagte er. "Nimm das Wasser als Vorbild. Sei, wie Wasser."
Die Auswirkungen dieser Trainingsumstellungen waren bemerkenswert. Schwimmen, Meditation, Yoga und Zweikampf bildeten jetzt die vier Himmelsrichtungen in Lenkas Welt, und Wasser wurde zwischen diesen Polen zum verbindenden Element. Das Mysterium des Fließens und Strömens und der Wunsch, die Qualitäten des Wassers ganz in sich aufzunehmen, beschäftigten Lenka nun Tag und Nacht.
Diese Entwicklung hatte einen heilenden Effekt. Lenka begann, ihre Schmerzhülle abzustreifen. Das Trauma ihres Zusammenstoßes mit Gérôme verblasste. Noch immer setzte er ihr während des Kampftrainings übel zu. Noch immer war sie gezwungen, Tag für Tag ihre blutenden Wunden und Prellungen zu versorgen. Doch das alles erschien jetzt in einem anderen, milderen Licht, und Lenka gab sich der Täuschung hin, sie hätte das Tal des Schreckens endgültig hinter sich gelassen.

Ich würde gern mehr über die Qualitäten erfahren, die sich Lenka durch das Schwimmtraining aneignet. Und darüber, wie diese Qualitäten ihre Blickweise verändern. Dass das Trauma ihres Zusammenstoßes mit Gérome nach so kurzer Zeit schon verblasst, halte ich aus psychologischer Sicht für unglaubwürdig, auch wenn es auf den Leser eine entlastende Wirkung ausübt.

"Sie sehen schlimm aus", sagte Sundberg. "Entschuldigen Sie, aber …" Er schien wirklich erschüttert. Lenka winkte ab. "Naja, das Gröbste habe ich wohl hinter mir."
Mit einer Bewegung des Kinns zum Haus hin fragte Sundberg: "Ist er da?"
"Nein, er ist heute früh weggefahren, um ein paar Angelegenheiten zu regeln. Kommt erst heute Abend zurück."
"Okay, dann …" Sundberg drehte sich um und gab ein Zeichen in Richtung des schwarzen Mercedes, der vor dem Hof auf dem Schotterweg parkte. Lenka spürte, wie ein Ruck durch ihren Körper ging, als sich die Tür des Fonds öffnete und ihre Tochter aus dem Wagen sprang.
Mit dem hellen, klaren Gesicht von Lisa kehrte die Welt zurück zu Lenka. Es war, als hätte sie drei Monate lang auf einem fremden Planeten gelebt, in einer Welt jenseits des Styx, doch als sie das Lächeln ihrer Tochter sah, erinnerte sie sich daran, dass Leben auch Freude war, Liebe, Lachen, Zärtlichkeit und Hoffnung.
"Komm her, meine …" Lenka versagte die Stimme. Sie sank auf die Knie, streckte die Hände aus und konnte es nicht erwarten, ihre Tochter zu umarmen. Lisa rannte über den Hof, zögernd erst, dann im vollen Spurt. Sie rief etwas, aber Lenka hörte sie nicht. In ihrem Bewusstsein war nur Platz für diese eine Wahrnehmung, dieses eine Bild und Symbol des Glücks – der Blick ihrer Tochter, ihr lächelnder Mund, ihr blondes in der Sommerluft fliegendes Haar. Lisa warf sich in die Arme ihrer Mutter. "Wo sind deine Haare, Mami? Was ist mit deinem Gesicht?"
"Ist alles okay, meine Kleine, alles okay."
Sundberg stand dabei und betrachtete schweigend das Lachen und das Weinen, die Küsse und die Tränen.

Schöne, berührende und aus meiner Sicht authentische Szene.

Es war ein Tag, der verging wie ein Traum. Lisa verlangte, alles zu sehen, und Lenka zeigte ihr das kleine Zimmer mit der Futton-Matte, den Trainingsraum und die Sandsäcke, den Meditationsplatz an der Wicken-Hecke. Lisa staunte, wusste nicht, was sie davon halten sollte und schaute an ihrer Mutter hoch, die sich so sehr verändert hatte. "Fährst du mit uns nach Haus, Mami?", fragte sie immer wieder, und an Lenkas Wangen flossen die Tränen herab.
Später, es war bereits Nachmittag und Lisa spielte zwischen Blumen und Apfelbäumen, saßen Lenka und Sundberg am Gartentisch und tranken Tee.
"Ich weiß, wie schwer das hier ist", sagte Sundberg.
Lenka beobachtete lächelnd ihre Tochter und sagte: "Wirklich? Ich glaube nicht."
Sundberg griff in seine Sakko-Tasche und holte ein Päckchen Zigaretten hervor. "Wollen Sie?", sagte er, und hielt Lenka das Päckchen hin.
Lenka starrte auf die Packung und sagte: "Ich hatte nicht mal die Kraft, das Rauchen zu vermissen."
"Nehmen Sie eine", forderte Sundberg sie auf.
Während er Lenka Feuer gab sagte er: "Haben Sie mit dem Schwimmtraining begonnen?"
Lenka schaute wieder zu ihrer Tochter und nickte.
"Dann dauert es nicht mehr lange", sagte Sundberg. "Ich kenne Gérômes Programm. Es folgt noch ein letztes Modul."
"Und kennen Sie ihn selbst auch?", fragte Lenka und inhalierte mit geschlossenen Augen.
"Sie meinen, ob ich ihn …"
"Ich meine, ob Sie wirklich wissen, wer dieser Mann ist!"
Sundberg zögerte einen Moment lang. Dann sagte er: "Man kann es sich leicht machen und ihn als einen Verrückten betrachten, als einen Wahnsinnigen mit einer Methode, die funktioniert."
Lenka schlug die Hände vor das Gesicht. "Sundberg, ich kann es nicht mehr hören – eine Methode, die funktioniert. Ist das Ihr heiliges Mantra?"
Sundberg schwieg.
"Und was ist, wenn ich es mir nicht leicht machen will?", fragte Lenka. "Was ist, wenn ich ihn nicht als Verrückten betrachten will? Als was sehen Sie ihn?"
Sundberg setzte die Teeschale an die Lippen und trank.
"Was ist er?", fragte Lenka noch einmal.
"Fragen Sie nach meiner persönlichen Meinung, Lenka?"
"Ja. Ja."
Sundberg stellte die Schale zurück und sagte: "Ich betrachte ihn als das ganz Andere, als das Fremde."
"Das Fremde", wiederholte Lenka und schüttelte den Kopf. "Ist ja eine Wahnsinns-Erklärung."
Sundberg zuckte mit den Schultern. "Sie haben mich gefragt", sagte er. "Ich möchte Ihnen aber dringend raten, nicht über Phillipe Gérôme nachzudenken. Das ist nicht Ihre Aufgabe. Konzentrieren Sie sich auf das Training, Lenka."
Lisa kam herbeigelaufen. In ihrer kleinen Hand hielt sie ein paar Blumen, Gräser und Zweige, die sie gesammelt hatte. Sie schmiegte sich an Lenkas Knie und hielt ihr den Strauß entgegen. "Sei nicht mehr traurig, Mami", sagte sie. Es war die Geste eines fünfjährigen Mädchens, das die Qualen ihrer Mutter instinktiv verstand.
Der Abschied war bitter, aber Lenka passte einen günstigen Moment ab. Als Lisa am frühen Abend in ihren Armen schlief, sagte sie: "Sie sollten jetzt fahren. Sie wird nicht aufwachen."
Sundberg nickte.
Und wieder drehte er sich noch einmal um, bevor er in den Wagen stieg. "Lisa ist in guten Händen", sagte er. "Machen Sie sich keine Sorgen. Achten Sie auf Gérôme", fügte er nach einem Zögern hinzu. "Er hat noch ein As im Ärmel."

In dieser Szene liegt ein solides Gleichgewicht zwischen Inhalt, Dialog und Handlung vor. Die Mischung aus Distanziertheit zu Sundberg, dem Rätsel Gérome und der Nähe zur Tochter, baut Spannung auf. Es wird die Frage gestellt, ob Gérome in dieser Story überhaupt als Mensch interpretiert werden soll? Es stellt sich die Frage, ob jemand, der so unmenschlich beschrieben wird, ohne Gefühl, ohne Mitgefühl, ohne Gnade, ein eiskaltes Monster, überhaupt ein Mensch sein kann? Aber wenn er kein Mensch ist, was ist er dann? Für einen Psychopathen liegt kein griffiges Motiv vor.
Auf der Metaebene ließe sich diese Figur durchaus als eine Art manifestierte Horrorvision interpretieren, als etwas, dass eine Persönlichkeit an den Rand des Erträglichen treibt. Auf dieser Ebene spielt sich auch die philosophische Frage "weshalb bist Du hier?" ab. Die Qualitäten, die Lenka letztendlich durch die Begegnung mit Gérome ausbildet, (Unerschütterlichkeit, Beharrlichkeit, Mut, Disziplin, Gelassenheit, Furchlosigkeit) sind aus dieser Perspektive gesehen, sehr spannend. Denn letztendlich bildet sie diese Qualitäten nur aus, weil sie die Schmerzen (die physischen und die psychischen) mit denen sie konfrontiert wird, lernt zu ertragen, zu überwinden, zu transformieren.
Wer oder was ist Gérome aus Deiner Sicht?

Das letzte Modul in Gérômes Ausbildungsprogramm begann mit einem Knall. "Eine Feuerwaffe ist ein garstiges Ding", sagte Gérôme, nachdem er die Pistole geholstert und Lenka mit einer Geste aufgefordert hatte, den Gehörschutz abzusetzen. "Eine Feuerwaffe unterscheidet nicht zwischen dir und deinem Feind. Deshalb darfst du niemals unaufmerksam sein. Verstehst du das, Six?"
Zu Lenkas Überraschung hatte sich das dritte Gebäude des Hofes - die vermeintliche Werkstatt und Garage – als Schießanlage mit geräuschgedämmten Splitterschutzwänden und einer mechanischen Fallscheibenkonstruktion entpuppt.
"Wir beginnen mit dem Trockentraining", sagte Gérôme und nahm eine schwarze Pistole von einem Haken an der Wand. "Das ist eine tschechische Armeepistole. Ich zeige dir, wie man sie hält."
"Ich hatte schon eine Einweisung", sagte Lenka.
"Das weiß ich", erwiderte Gérôme. "Ich kenne deine Akte, habe von deinen Einsätzen gelesen – Koljakov und Šimánek, nicht wahr?"
Lenka nickte.
"Was du noch nicht begriffen hast, Six, ist der Sinn dieser Ausbildung", fuhr Gérôme fort. "Das hier ist keine Vorbereitung für den Außendienst als Geheimdienstnutte."

Da wird wieder eine Frage auf der zweiten Ebene aufgeworfen. Wenn sie nicht für den Geheimdienst ausgebildet wird, wofür dann?

Die Stunden zwischen Mittagspause und Abendessen wurden nun gleichmäßig in fortgeschrittene Nahkampfpraxis und Feuerwaffentraining aufgeteilt. In den Zweikampfübungen plagte Gérôme Lenka erneut mit seinen Drills zur vierten Distanz – Griff- und Hebeltechniken, Zwingen, Würfe und Fixierungen, Bodenkampf. Er ließ sie aus allen erdenklichen Positionen und in dutzenden verschiedener Situationen kämpfen: stehend auf einem Bein, liegend auf dem Bauch, mit den Händen auf dem Rücken, im und unter Wasser, kopfüber hängend, sitzend auf einem Stuhl und hockend unter einem Tisch.
Das Pistolentraining begann mit Übungen zum Halten, Holstern und Ziehen der Waffe. "Was nutzt es, präzise zu schießen, wenn du nicht dazu kommst, deine Pistole zu ziehen", sagte Gérôme. Lenka versuchte es mit Holstern verschiedener Form und Materialen. Im Laufe von hunderten von Wiederholungen bildeten sich Schwielen an ihrer rechten Hand. "Gut so", sagte Gérôme. "Du wirst schneller." Ein Gürtelholster aus Kydex lag ihr besonders, und Gérôme schenkte es ihr. Eine Woche darauf begann das Abzugstraining. In ihren Träumen hörte sie Gérôme: "Drücke das Züngel gerade nach hinten." "Benutze das erste Glied, nicht den ganzen Finger!" "Nach dem Schuss geh zurück zum Trigger-Reset. Nein, nicht so. Das ist zu weit. Von vorn, Six, von vorn."

In diesem Abschnitt ist eine Veränderung in der Beziehung zwischen den Protagonisten zu beobachten. Indem Du vorwiegend das Handwerk beschreibst und wie Lenka trainiert, wird der Fokus klar, den sie sich durch das harte Training erarbeitet hat. Das Verhältnis zwischen Lenka und Gérome ist nun charakterisiert durch die Beziehung zwischen einem Trainer/Lehrer/Meister, der lehrt und einer Schülerin, die lernt.

Noch immer schwammen sie jede Nacht. Noch immer setzte sich Lenka nach dem Frühstück auf das Meditationskissen, beobachtete das Kommen und Gehen des Atems, lauschte dem Summen der Insekten, betrachtete die Blattadern der Pflanzen zu ihren Füßen. Noch immer absolvierte Lenka ihr Yoga-Programm. Noch immer lieferte sie sich mit Gérôme verbissene Zweikämpfe in der Trainingshalle. Und da sie glaubte, dass sie das Prinzip dieser Ausbildung jetzt verstanden hatte, wurde sie unaufmerksam und vergaß Sundbergs Warnung.
Gérôme hatte angekündigt, dass sie an diesem Abend mit dem Schießtraining beginnen würde. Das monotone Trockentraining war vorbei. Als sie wie üblich nach dem Schwimmen in der Küche stand, um das Frühstück zuzubereiten, griff Gérôme ihr in den Arm. "Wir beginnen heute mit etwas anderem", sagte er und führte sie in den Garten.
Der Tag war noch jung, die ersten Strahlen der Septembersonne tanzten zwischen den Bäumen. Lenka sah Gérôme erwartungsvoll an. Er erwiderte ihren Blick, und dann sagte er leise: "Je suis désolée, Six." Mit einer Geste wies er in Richtung des Feldes. "Geh den Gartenweg entlang, bis du zu diesen Büschen dort am Acker kommst."
Lenka spürte das Hämmern ihres Herzens. "Und was dann?", fragte sie mit belegter Stimme.
"Du wirst es sehen, Six."
Der kurze Spaziergang führte durch den Garten hindurch, Lenka war den Weg zum Feld so oft gelaufen, heute wurde er zu einem Gang in die Dunkelheit. Anfangs hielt Lenka es für einen Trick Gérômes, eines seiner üblichen Manöver der Einschüchterung. Doch mit jedem Schritt spürte sie es deutlicher, dieses Mal war etwas anders: Dort am Feldrand, hinter den Büschen lauerte der Abgrund, lauerte das Entsetzen. Es war ein Angriff ihres Lehrers, so zwingend und unerbittlich, dass selbst ihm - dem Teufel Gérôme – davor graute; Je suis désolée. Es tut mir leid, Six.

Hier wird zu Beginn deutlich, dass Lenkas Wahrnehmung sich im Laufe der Ausbildung verändert hat. Lenka hat Fähigkeiten entwickelt, die ihr dabei helfen, das harte Training mit mehr Gelassenheit hinzunehmen. Sie ist von äußeren Einflüssen unabhänigiger geworden. Es ist anzunehmen, dass sie mit dieser Psyche eine neue Herausforderung meistern wird. Schreibtechnisch ist es Dir gut gelungen, dem Leser diese Illusion Stück für Stück zu nehmen und ihn zur Einsicht zu zwingen, dass nach all den Qualen noch etwas Neues kommen kann, das außerhalb des Vorstellbaren liegt.

Als sie den Klang schwärmender Fliegen hörte, wurden ihre Knie weich. Als der Geruch der Verwesung in ihre Nase stach, verdunkelte sich die Sonne. Als sie den kleinen Menschenkörper sah, der zwischen Blumen und wildem Roggen auf der rissigen Erde lag, sank sie auf die Knie. "Nein", sagte sie tonlos.
Ein Pochen in den Schläfen kroch sie noch ein Stück. Ihre Finger krallten sich in die Erde, ihre Zähne gruben sich in die Lippe, bis sie blutete. Weiter konnte sie nicht.
"Du musst es dir ansehen", hörte sie Gérômes Stimme direkt hinter sich. Aber Lenka bewegte sich nicht mehr. Sie starrte in den Abgrund. Vor ihren unbewegten Augen weitete sich der Blick in ein Land aus Asche. In der Ferne stiegen Flammen vor einem glühenden Horizont empor.
"Sieh es dir an", sagte Gérôme und packte sie an den Handgelenken. Er schleifte sie hinüber zum Feld. "Nein", flüsterte Lenka mit letzter Kraft. "Bitte, bitte nicht."
Gérôme nahm ihren Kopf zwischen seine Hände. "Du kannst mich nicht zwingen, das anzusehen", wollte Lenka sagen, aber es quälte sich nur ein animalischer Laut aus ihrer Brust.
Sie schloss die Augen, presste die Lider zusammen, entschlossen, niemals wieder einen Lichtstrahl hereinzulassen. Und Gérôme hockte hinter ihr, und er hielt ihren Kopf. Er begann, auf sie zu einzureden. Da er französisch sprach, verstand Lenka ihn nicht. In ihrer Wahrnehmung bewegte sich Gérômes Stimme durch die Finsternis, die sie selbst war. Es war eine angenehme, beinahe schöne Stimme. Sie öffnete Lenkas Augen.
Vor ihr lag der nackte Körper eines etwa achtjährigen Jungen. Sie konnte das Gesicht nicht erkennen, der größte Teil des Schädels war zertrümmert. Und obwohl Lenka unter einem Gedanken der Erleichterung erzitterte – nein, dies hier war nicht ihre Tochter – packte sie nun das Grauen dieses Anblicks: nichts war so tot, wie ein totes Kind.
Sie schlug nach Gérôme, aber er ließ sie nicht los. "Schau es dir an, Six", sagte er, und seine Stimme klang brüchig.

Dieser Abschnitt ist bemerkenswert. Was Du beschreibst, wie Du es beschreibst und wie diese Prüfung in die Story eingebettet ist, ist großartig. Die Idee der Todesmeditation gefällt mir persönlich sehr gut, auch wenn sie in dieser Konstruktion ethische Fragen aufwirft. Spannend daran ist der Aspekt, dass Lenka hinschauen muss. Dadurch wird der Leser in die psychologische und philosophische Auseinandersetzung mit dem Thema Tod und Vergänglichkeit mit hineingezogen. Beachtliche Konstruktion.

In ihrer Jugend hatte Lenka alles probiert – Alkohol, Kokain, Speed, Ecstasy, Mescalin, Acid, Heroin. Jahrelang hatten Bad Trips sie gegen die Klippen des Horrors geschmettert, und irgendwann glaubte sie, jede Facette von Panik und Wahn zu kennen. Doch erst die kleine Leiche am Feld hinter dem Garten ließ sie die letzte Grenze überschreiten. Es war, als müsse etwas in ihr unter diesem Druck zerplatzen. Es war, als wölbte sich die Erde über ihren Kopf.
"Du wirst jeden Tag hierher kommen und sitzen", sagte Gérôme, doch Lenka verstand den Sinn dieser Worte nicht. Mechanisch folgte sie ihm in die Trainingshalle und führte die Übungen des Yoga-Programms aus. Mechanisch wusch sie sich im Duschraum unter eiskaltem Wasser. Mechanisch war alles, was sie tat: gehen, den Tisch decken, essen, Geschirrspülen, gegen den Sandsack schlagen. Am Abend reichte Gérôme ihr zum ersten Mal eine geladene Pistole – mechanisch schoss sie, mechanisch wechselte sie das Magazin. Als sie in der Nacht durch den Waldsee schwamm, spürte sie nicht die Kälte das Wassers und nicht das Brennen ihrer Muskeln.
Am folgenden Tag führte Gérôme sie wieder zum Feldrand, ließ sie vor der Leiche niedersitzen und sagte: "Schau es dir an, Six, und dann sag mir, weshalb du hier bist."
Lenkas Blick ruhte auf dem toten Kind. Aber er war blind. Unter dem Anprall dieser Erfahrung war Flucht die einzige Option. In ihren Gedanken lief Lenka über morgenfeuchtes Gras. Sie betrachtete den Mond und summte ein Lied aus ihrer Kindheit. Doch sie wusste, dass sie sich hier nicht ewig verstecken konnte.
Am vierten Tag betrachtete Lenka den kleinen toten Körper, und es war ein Massaker. Fliegen hatten ihre Eier abgelegt. Ihre Larven bohrten sich durch die verwesende Haut, die zu kochen schien, so viele mussten es sein. Aaskäfer und Ameisen wimmelten überall. Der die Spätsommerluft verpestende Geruch war unbeschreiblich.
"Das ist obszön", schrie Lenka Gérôme entgegen, als er sie abholte. "Du missbrauchst ihn!" Sie weinte und schlug nach Gérôme. "Du missbrauchst ihn!"

Die Reaktion von Lenka auf das Erlebnis ist trefflich beschrieben und psychologisch sehr glaubwürdig. Sie dissoziiert sich von allen Gefühlen und verrichtet jede Handlung mechanisch, was auf ein traumatisches Erlebnis natürlicherweise folgt. Durch die erneute Fragestellung, "weshalb bist du hier?", wird deutlich, dass diese "Prüfung" auf einen innerpsychischen Aspekt hinweist, der in einem philosophischen Kontext steht. Gut und spannend konstruiert.

Im Laufe der folgenden Tage trat eine Veränderung ein, die Lenka so irritierte, dass sie glaubte, sie verliere den Verstand. Während ihrer täglichen Übungen begann sie, sich nach dem toten Jungen zu sehnen, und immer wenn sie zu ihm zurückkehrte, hoffte sie, dass ihm in ihrer Abwesenheit nichts zugestoßen war. Sie vermutete, dass Gérôme die Leiche irgendwie vor den Tieren des Waldes schützte. Vielleicht benutzte er eine Plane oder ein Drahtgeflecht.
Tag für Tag kam sie nun zum Gebüsch, unter dem der kleine Körper lag, und nur ein Rest an Vernunft bewahrte sie davor, den Jungen in einer Aufwallung von Kummer und Mitgefühl in die Arme zu nehmen. Sie beobachtete, wie sich das Gewebe von Haut und Muskeln zersetzte, wie die Sekrete des toten Leibes den Boden verseuchten und die Pflanzen ringsum sterben ließen.
Tag für Tag holte Gérôme sie nach dem Sitzen ab und fragte: "Weshalb bist du hier?" Lenka hatte längst begriffen, dass sich diese Frage nicht auf das Gehöft bezog, ja nicht einmal auf ihren Job bei Sundberg. Warum bist du hier?
Und während Lenka im Nahkampftraining lernte, alle möglichen Gegenstände als Waffen einsetzen – Stöcke, Messer, Flaschen, zusammengrollte Zeitungen, Seile, Schraubenzieher -, während sie in der Schießausbildung Kaliber für Kaliber meisterte – von einer zweiundzwanziger Randfeuerpistole bis zum Drei-Null-Acht Sturmgewehr – lebte ein Teil von ihr bei dem toten Kind im Feld.
Längst hatte sie die Frage hinter sich gelassen, was dem Jungen zugestoßen sein mochte und ob Gérôme etwas damit zu hatte. Längst hatte sie ihren Ekel vor dem Zerfließen des Menschenleibes überwunden. Alles was sie jetzt noch wünschte, war bei diesen kümmerlichen Überresten zu sitzen und daran zu denken, dass dies einmal Lachen war und Weinen und Baden im Meer und das Umarmen der Mutter. Und im Zuge dieses Sitzens veränderte sie sich ganz und gar. Vor ihren Augen lösten sich Bänder und Sehnen. Vor ihren Augen dörrten Knorpelfasern und Gelenke. Vor ihren Augen blichen Knochen. Warum bist du hier?

Ein interessanter Punkt, der hier auf der zweiten Ebene in den Fokus gerückt wird, ist die Frage nach Anhaftung. Lenka sehnt sich nach dem toten Kind, obwohl der Junge nur noch aus kümmerlichen Überresten besteht. Dieses absurde Szenario lässt Fragen entstehen wie: An welchem Punkt der Identifikation (mit einem Mensch, mit einer Empfindung oder mit einem Objekt) beginnt Anhaftung? Und was bleibt, wenn nichts bleibt?

Es überraschte Lenka nicht, als Gérôme eines Morgens sagte: "Der Junge ist fort. Ich habe ihn begraben." Sie hatte ihm längst Lebewohl gesagt. Sie hatte ihm gedankt und versprochen, niemals zu vergessen. Warum bist du hier?
Etwa eine Woche später holte Sundberg sie ab. Als sie sich vor dem Haus von Gérôme verabschiedete, sagte er leise: "Das war nur die Basis-Ausbildung. Mehr konnte ich dir in vier Monaten nicht beibringen."
Lenka nickte, drehte sich um und ging vom Hof.

Der trockene Schluss auf den vorangegangenen Text, passt gut. Er lässt den Leser gewissermaßen mit all den ungelösten Fragen zurück. Vielen Dank, lach.

Abschließend möchte ich noch ein paar Gedanken zu Deiner Kurzgeschichte mitteilen.
Ich kritisierte die Absätze, die den technischen Bereich des Trainings tangieren. Ich stellte in Frage, ob der Laie mit Deinen Formulierungen etwas anzufangen weiß und schlug an manchen Stellen eine Kürzung vor.
Grundsätzlich denke ich, dass die verschiedenen Disziplinen, über die Du schreibst (Kampftraining, Meditation, Schwimmen, Schießen) für jeden Leser spannend sein können (für den Laie genauso wie für den Experten). Doch in der von Dir gewählten Form sprengen sie das Format einer Kurzgeschichte. Würdest Du aus dieser Kurzgeschichte einen Roman schreiben, dann würde ich keinesfalls eine Kürzung vorschlagen, sondern Dir empfehlen, die Unterschiede zwischen den Disziplinen herauszuarbeiten.
Identifikation mit einem Handwerk, mit einer Kunst, mit was auch immer, geschieht selten über fachliche, technische Hinweise. Um uns in einer Geschichte mit etwas zu befassen, das uns fremd ist, brauchen wir Identifikation. Und um die entstehen zu lassen, braucht es Inhalt, der uns bewegt und Raum. Du hast vier verschiedene (exotische) Disziplinen gewählt, von denen jede einzelne ein ganzes Buch füllen könnte. Ich wünschte diese Story in einem Roman, damit das Format dem wertvollen Inhalt gerecht würde.
Es spricht schon für eine besondere Fähigkeit, dass es Dir innerhalb dieses Formates trotzdem gelungen ist, die unterschiedlichen Fäden in einen Strang zusammenzufassen und das Gefüge inhaltlich in einen philosophischen Kontext zu stellen. Es ist Dir gelungen in psychologische Bereiche der Figuren vorzudringen, psychodynamische Strukturen zu beleuchten und diese in den Kontext der Persönlichkeitsreifung zu stellen.

Vielen Dank Achillus, es war mir eine große Freude, mich mit Deinem Text zu befassen.

Mit liebem Gruß
Penthesileia

 

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