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Der Hahn ist tot
Zur Beerdigung des Altbürgermeisters Arnold Kofler waren alle aus dem Dorf gekommen. Wie eine Schar verirrter Krähen hockten sie in den Kirchenbänken, und immer mehr Leute drängelten nach vorne: ein krächzender Schwarm, der den Sarg aus hellem Pappelholz umringte und ihn zu überrennen drohte.
Nach der Messe hielten der Jungbürgermeister, der Volksschuldirektor und der Polizeihauptmann nacheinander eine Rede und der Pfarrer lupfte schon seinen Hintern vom Sessel, um alle endgültig in Frieden zu schicken, da erhob sich eine schlanke Gestalt in der ersten Reihe. Die junge Frau in Blazer und Bleistiftrock schritt die Stufen zum Rednerpult empor.
Köpfe reckten sich. Irritiertes Räuspern ertönte. Wer wollte so kurz vor dem Totenschmaus noch eine Rede halten?
Der Pfarrer stand ganz auf und warf einen fragenden Blick zum Chorleiter, doch der zuckte die Schultern. So ließ der Pfarrer seinen Hintern wieder auf den Sessel sinken.
„Die Renate ist`s, seine Enkelin“, flüsterte die Müller-Zenzi der Tirler-Mitzi zu. „S`ist heute morgen aus Amerika eingeflogen.“
„Der Franziska ihr uneheliches Kind.“
Beide Frauen nickten wissend.
Renate Kofler hielt einen Augenblick inne, strich sich eine hellbraune Strähne aus dem Gesicht und schaute in die Runde. Die Krähenschar blickte gespannt zu ihr hinauf. Auch in den hinteren Reihen waren Renates ebenmäßige Gesichtszüge zu erkennen. Schön war sie immer schon gewesen, schon als Kind, wie sich einige wehmütig, andere neidisch, erinnerten.
„Arnold Kofler ...“, begann sie. Das Mikrophon quietschte grell. Sie verstummte und wandte den Kopf. Der Pfarrer trippelte herbei, mit hochgezogenen Schultern und zum Gebet gefalteten Händen, die er nur auseinandernahm, um das Mikrophon einzustellen.
„Arnold Kofler war ein außergewöhnlicher Mensch. Er wusste, was er wollte und ließ sich nicht gerne Vorschriften machen. Wahrscheinlich war er deswegen als Kind ein rechter Lausebengel. Er streifte lieber im Wald umher, als die Schulbank zu drücken. Eines Tages fing er einen Laubfrosch und ließ ihn im Klassenzimmer frei. Als die Lehrerin das Quaken des gequälten Tieres hörte, wusste sie sofort: Das muss Arnold gewesen sein.“
Verhaltenes Gelächter erklang. Nur der Pfarrer runzelte die Stirn.
Mit klarer Stimme fuhr Renate fort: „Trotzdem war Arnold ein erstklassiger Schüler, der sich durch eine schnelle Auffassungsgabe und große Führungskompetenz von den anderen abhob. So war es nicht verwunderlich, dass er schon mit neun Jahren der Hauptministrant wurde, mit elf der Musikkapelle beitrat und mit achtzehn schließlich zum Kapellmeister gewählt wurde. Das Führen war ihm in die Wiege gelegt worden, wie auch der Dirigentenstab.“
Wieder nickten alle zustimmend. Ja, der Kofler Arnold, das war ein Mann gewesen.
„Mit 19 lernte er auf dem Karner Kirchtag die Toldrer Herta kennen. Er war ein fescher Jungbauer mit dreißig Stück Vieh; und sie eine fleißige Bauernmagd mit zwei kräftigen Händen. Die beiden gefielen sich auf Anhieb und schon nach wenigen Monaten fasste sich Arnold ein Herz und fragte Herta, ob sie seine Bäuerin werden möchte. `Ich dachte schon, du fragst nie`, antwortete sie nur.“
Wieder lachten einige. Bloß seine Witwe schluchzte laut auf und rieb sich mit einem Spitzentaschentuch über die Augen.
„Es verging kaum ein Jahr, und der erste Sohn erblickte das Licht der Welt: Karl. Danach folgten Franziska und Anton, dann Benedikt, Helene, Paula und Stanislaus, jeweils im Jahresrhythmus. Der Raschatscher-Hof war immer von fröhlichen Kinderstimmen erfüllt und der Pfarrer musste gewiss nie den langen Weg vom Dorf auf sich nehmen, um den Kofler Arnold daran zu erinnern, fruchtbar zu sein und sich zu vermehren, so wie es in der Bibel steht.“
Keiner sagte etwas. Das Gesicht des Pfarrers erstarrte zu einer Maske. Nur die Leute aus der ersten Reihe konnten sehen, dass er die Hände so verkrampft gefaltet hatte, dass die Fingerknöchel weiß hervortraten.
„Mit dem Haus voller Kinder hatte die junge Bäuerin alle Hände voll zu tun, während Arnold Kofler die Felder bestellte, sich um das Vieh kümmerte und nebenbei die Musikkapelle führte. Die Geschäfte auf dem Hof liefen prächtig und mit gerade neununddreißig Jahren wurde mein Großvater einstimmig zum Bürgermeister gewählt. Als der damalige Pfarrer vom Ausgang der Wahl hörte, brummte er nur: `Wer denn sonst.`“
Einige klatschten, ließen nach einem energischen „Schscht“ des Pfarrers ihre Hände jedoch sinken.
„Mit großer Weitsicht führte Arnold Kofler die Geschicke dieses kleinen Dorfes und er hatte für jeden ein offenes Ohr. Ob bei der Überschwemmung vor zweiundzwanzig Jahren, bei der fast alle Häuser bis in den ersten Stock überflutet wurden oder beim Brand im Widum, der Bürgermeister war stets zur Stelle. Ohne viel Aufhebens half er, wo er nur konnte.“
Zustimmendes Gemurmel ging durch die Reihen.
„Auch als seine Tochter Franziska bei einem tragischen Unfall ihr Leben lassen musste, erklärte sich Arnold Kofler bereit, ihre Tochter Renate, mich, bei sich aufzunehmen wie sein eigenes Kind.“
„Von wegen Unfall. Tabletten hat`s g´nommen“, zischte der Müller-Sepp.
„Und trotzdem liegt`s auf geweihtem Boden“, stimmte der Tirler Schorsch zu.
„Dank Arnold Kofler und seiner Frau Herta hatte ich nach dem plötzlichen Tod meiner Mutter ein Dach über dem Kopf und im Laufe der Zeit die Möglichkeit, die Oberschule in Bozen und danach die Universität in Berlin zu besuchen. Dank der Unterstützung meines Großvaters durfte ich die Fachausbildung zur Kinderärztin in den USA absolvieren, wo ich seit einigen Jahren praktiziere.“
„Der Arnold hätte sie auch auf`n Nordpol geschickt, wenn er nur gekonnt hätte“, meinte der Tirler-Schorsch.
„Hauptsache, weit weg!“
„Die Renate wusste ja von jeder seiner G´schichten“, raunte der Müller-Sepp. „Ich hab` gehört, er hat`s auch bei ihr probiert. Und nicht nur einmal.“
Das Kopfschütteln seines Nachbarn ließ ihn verstummen.
Renate fuhr fort: „Für all das muss ich meinem Großvater Arnold Kofler dankbar sein. Ohne seine Hilfe wäre ich nie soweit gekommen. So manch einer Versuchung hat auch Arnold Kofler nicht widerstehen können, vor so manchen Sünden ist er nicht verschont geblieben, aber er hat versucht, alles auszugleichen durch seine finanzielle Großzügigkeit, die bis nach seinem Tod anhält. Für den Rest, für den wird er dem Herrgott Rechenschaft ablegen. Möge er ruhen in Frieden.“
Alle hielten den Atem an, als Renate Kofler vom Rednerpult herunterstieg und mit starrem Blick durch den Mittelgang hinausschritt. Das Klacken ihrer Stöckelschuhe auf dem Marmor hallte, dann fiel die Kirchentür mit einem Krachen ins Schloss.
In die Stille hinein sagte die Tirler-Mitzi: „Tot ist er. Jetzt tut er keinem mehr was, der alte Gockel.“