Was ist neu

Hannah

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20.12.2002
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Hannah

Hannah


Doo-doo-Doo-doo-Doo-doo …!

Snacks


Vor Hannah hatte mich noch keine verlassen. Nicht wirklich. Wir gingen einfach auseinander, bis irgendwann der Punkt erreicht war, an dem man sich nicht mehr hören und spüren konnte. Dann sah einer über die Schulter und rief: Ich mach Schluss! Und noch war aber nicht Schluss. Der Spruch musste wiederholt werden, fünf, sechs, sieben, acht Mal, wie eine Zauberformel, die erst nach und nach ihre Kraft entwickelt. Vielleicht auch, weil wir Angst hatten, der Partner sei bereits zu weit weg, um es zu hören.
Ich mach Schluss!
Was?
Ich mach Schluss! Hörst du? Schluss!
Hast du Schluss gesagt?
Ja!
Komm mal bisschen näher.
Schluss! Schluss! Schluss!
Ich versteh dich nicht!
Etwas Drama gehört auch dazu, klar. Und dann wollen die Leute natürlich wissen, wer wen verlassen hat. Da war ich großzügig. Sie dürfte immer die Person sein, die ging, die unzähmbare Gestalt, die kometenhaft davonzog, während ich den Anschein machte, einem schwarzen Loch gleich in mich selbst zu versinken. Das sagte ich auch: Weißt du, wenn es dir so leichter fällt, können wir es ruhig so machen, dass ich am Ende der Verlassene bin, und du die Schlussmacherin. Ich komme damit klar.
Das hörten sie allerdings überhaupt nicht gern. Eine meinte mal zu mir, sie würde gleich kotzen, wenn ich nicht sofort damit aufhöre, mich in diese Jesus-Pose zu werfen. Und ich frage auch noch dumm: Jesus-Pose? Und sie: Als könntest du allen Ernstes völlig selbstlos die ganze Bürde unserer kaputten Beziehung auf dich nehmen!
Das war schlagfertig von ihr, muss ich schon sagen.
Trotzdem fand ich mein Angebot großzügig.
Und ein bisschen dramatisch eben. Ein bisschen Drama gehört einfach dazu. Wenn zum Schluss keine pathetischen, überdrehten Sprüche fallen, wenn kein Leid sichtbar wird - dann fehlt einfach was. Vielleicht sogar Respekt. Denn was am Ende nicht wehtut, kann doch auch am Anfang nicht so viel wert gewesen sein. No pain, no gain gilt auch in der Retrospektive.
Doch bei Hannah war es so: Sie hat gar nicht Schluss! gesagt. Sie hat etwas völlig anderes gesagt. Sie kam sonntagmorgens in die Küche, während ich Tee trank und vor dem Laptop saß, und sah total sexy aus. Sie trug keinen BH, kleine süße Nippel drückten sich durch ein lässiges weißes Schlafoberteil, das zu groß war und viel Haut zeigte. Ihre Schultern glänzten glatt und lecker, und sogar die Jogginghose hatte etwas Sexy-Verschlafenes an sich. Was sie wohl darunter trug? Das Schöne an Jogginghosen: Die kann man total schnell runterschieben. Ich hatte Hannah letzte Nacht nicht gesehen, weil sie von der Geburtsparty einer Freundin spät nach Hause gekommen war. Ihre WG war vor sechs Wochen aufgelöst worden und nun wohnte sie bei mir, bis sie eine neue fand.
Oder vielleicht zogen wir zusammen in eine Wohnung? Wir hatten vor kurzem darüber gesprochen, so wie man über die Namen zukünftiger Kinder spricht: ironisch, scherzend, wir gingen Szenarien durch und lachten. Und doch war das Gespräch viel mehr als nur Spaß, wir begaben uns auf eine große Ideenspielwiese, tasteten uns gegenseitig ab und sahen in einen weiten, geheimnisvollen Himmel.
Hannah kam in die Küche und im ersten Moment dachte ich natürlich nichts. Ich lächelte müde und streckte mich, wie man sich vielleicht nur am Wochenende strecken kann, die Hände weit über den Kopf und mit vorgewölbter Brust. Hannah lehnte sich gegen den Kühlschrank, verschränkte die Arme und sah mich an, voller Ernst. Ich runzelte die Stirn und brachte die Hände wieder nach unten. Und dann sagte sie: „Ich habe jemanden kennengelernt.“
Dazu muss man wissen: Wenn ich sonntagmorgens in der Küche vor dem Laptop sitze und Tee trinke und dazu noch ausgeschlafen bin, das ist praktisch der ausgeglichenste Moment, in dem man mich überhaupt vorfinden kann. Und so sagte ich zunächst nichts. Ich nahm sogar einen Schluck Tee und kam mir cool dabei vor. So wie Altkanzler Schmidt vor Antworten in aller Ruhe einen Zug nimmt, so wie De Niro die Mundwinkel weit nach unten zieht und ein paar Mal beleidigt nickt, so wie Jack Nicholson dich erst mit einem irren, leeren Blick ansieht, ehe er zu einem Grinsen ansetzt und was Zynisches sagt - so trank ich einen Schluck feinsten schwarzen Darjeeling-Tee von den weiten Hügeln Indiens. Und musterte die Hannah. Die zwar keine Tränen in den Augen hatte, aber für ihre Verhältnisse schon ziemlich angespannt aussah. So ließ ich alles Zwischengetöse weg und ging gleich zum Wichtigsten über: „Hattet ihr schon Sex?“
Und sie nickte. Einfach so. Sie nickte! Ohne Schluchzen, ohne Tränen, ohne langes Zögern, ohne überhaupt den Blick von mir abzuwenden. Gott! Hätte sie doch ein bisschen verschämt den Kopf nach unten sacken lassen. Oder zumindest etwas Zögern vor dem Nicken eingeschoben. Aber nein. Sie nickte einfach.
Da nahm ich gleich wieder einen großen Schluck Darjeeling-Tee. Und kam mir überhaupt nicht mehr cool vor.
„Es tut mir leid“, sagte Hannah, noch immer an den Kühlschrank gelehnt, noch immer total zum Anbeißen. Mir fiel auf, dass ihr langes braunes Haar sexy-zersaust war – woran lag das? Am Schlafen? Wann war sie nochmal heimkommen? Unwillkürlich fragte ich mich, ob man den Feind noch an ihr riechen konnte. Ein Scheißgedanke. Ich seufzte so schwer ein Mensch nur seufzen kann. Und sie seufzte auch. Immerhin: ein gemeinsames Seufzen. Ein Stück Anerkennung für die Schwere der Situation. Für einen ganz kurzen Moment war ich ihr dankbar dafür.
Dann fragte ich sie, ob ihr neuer Liebhaber Vegetarier sei.
„Was?“
„Ist er Vegetarier?“
Sie rückte vom Kühlschrank weg und warf ihr niedliches kleines Gesicht in Wutfalten. Gut so! Ärgere dich! Ich hab Recht, nicht wahr?
„Das hat wirklich nichts damit zu tun …“
Ich ließ mich nach hinten in den Stuhl fallen, klappte mit Gewalt den Laptop zu und schob den Tee von mir weg.
„Du willst mich doch verarschen!“

Vor zwei Tagen hatten wir uns gestritten. Wegen Vegetarismus, wie man so schön sagt. Hannah hatte ein komisches Buch gelesen, sich eine Doku reingezogen, drei Peta-Werbungen zu viel gesehen, und war dann irgendwie zu dem Schluss gekommen, Tiere Essen sei Mord.
Wir saßen zusammen beim Türken an einem kleinen Tisch, die Wände waren orange, es roch nach Baklava, Fett und Tee. Ich aß einen Döner, und sie nibbelte an einer Falafel in einem weißen Sommerkleid.
„Was soll das heißen, Tiere essen ist Mord?“, fragte ich.
„Nun …“, begann sie mit einem Unterton, der wohl die Banalität der folgenden Aussage hervorheben sollte. „Tiere leben! Und wenn man sie tötet, dann leben sie nicht mehr. Das nennt man Mord.“
„Aha …“, sagte ich, während ich zu einem großen, gezielten Biss ansetzte. Beim Döneressen versuchte ich immer, möglichst geschickt vorzugehen. Das heißt: So reinbeißen, dann man nicht nur Fleisch in den Mund bekommt. Aber auch nicht nur Kraut. Und wenn's geht, die richtige Menge Sauce. Wenn man dann noch ein Stück Tomate erwischt, hat man den perfekten Dönerbiss, der beim Kauen maximale Freude bereitet.
Sie nahm einen Schluck Bionade und sah mich an, während ich kaute. Ich ließ mir Zeit, wischte etwas Sauce mit dem Handrücken vom Mundwinkel weg und sagte dann: „Aber ich töte Tiere nicht, ich esse sie nur. Das ist doch ein Unterschied.“
„Ja, genau das hat man im Dritten Reich auch gesagt. Ach, ich bringe diese Menschen doch nur von A nach B, was dann passiert, hat doch nichts mit mir zu tun, ich bin doch nur der Fahrer. Nein, nein … die Fahrer waren genauso dran beteiligt. Und du bist auch dran beteiligt.“
Dazu sagte ich erstmal nichts.
„Ich verstehe nicht, warum du dir diese Doku nicht anschauen kannst“, sagte sie, „wirklich, ich versteh's einfach nicht.“
„Die eine über Massentierhaltungen?“
„Genau die.“
„So was verdirbt mir doch nur die Laune, Schatz …“
„Genau deswegen solltest du sie dir anschauen! Wäre das wirklich so schlimm? Wenn du einmal zur Abwechslung etwas Sinnvolles schaust? Statt immer diese Serien.“
„Du meinst wie Tatort?“
„Ich schaue genau einmal die Woche Tatort. Einmal. Aber das kannst du natürlich auch nicht verstehen.“
„Nicht wirklich …“
Sie wandte den Blick ab und zog ein genervtes Eigentlich-ist mir-diese-ganze-Unterhaltung-viel-zu-blöd Gesicht. Obwohl völlig klar war, dass sie kurz davor stand, sich total in diese Unterhaltung reinzusteigern.
„Komm schon, Babe …“ Ich fasste nach ihrer schönen schmalen Hand, und sie zog sie aber gleich zurück. Das überraschte mich. Ihr Zyklus mal wieder? Stand der Mond komisch? Das Wetter?
„Das nervt mich einfach“, sagte sie. „Wie du dich anstellst.“
„Ich ess grad nur einen Döner, Schatz. Und jetzt soll ich mich für den Holocaust entschuldigen, oder was?“
„Ich hab ja nicht gesagt, dass du ein Nazi bist. Ich sage nur, dass du wie einer argumentierst.“
Jetzt war ich auch genervt. „Weißt du … ach … überleg dir doch, was du sagst! Menschen essen seit Tausenden von Jahren Fleisch, auf der ganzen Welt ist das Kultur. Nein, was sage ich, das ist Biologie! Und du willst das verbieten? Wie krass bist du drauf? Und dann kommst du mir auch noch mit Nazis? Das ist alles so … so spießig auch. Spießiger noch als Tatort schauen.“
„Wenn du nur einmal die Doku sehen würdest …“
„Es geht doch nicht um die Doku! Mir ist schon klar, dass Massentierhaltung nicht schön ist. Ich find's doch auch nicht schön.“
„Aber du willst nichts dagegen tun.“
„Babe …“
„Die Welt wäre so viel besser und gesünder, wenn alle weniger Fleisch essen würden, Marc. Nein, hör mir einfach zu jetzt. Lass mich ausreden. Das wurde alles berechnet. In Brasilien holzen sie Regenwälder ab, um Getreide anzubauen. Meinst du, die hungrigen Kinder, die in den Slums direkt nebenan wohnen, bekommen davon was ab? Nein, man mästet damit Kühe, die geschlachtet und nach Europa versandt werden, damit wir uns mit Cheeseburgern vergiften können, die ein Euro kosten. So pervers ist das. Aber dir ist das natürlich egal, Hauptsache, du bist ein richtiger Mann, der richtiges Fleisch von richtig toten Tieren isst.“
„Ich bin ein blutrünstiger, fleischfressender Macho. Du hast es endlich erfasst.“
„Ich hab's schon immer gewusst.“
Ich biss in den Döner und ließ ihn mir schmecken.
Sie beäugte mich. „Das ist wirklich so ein Konstrukt, das in deinem Kopf wohnt, nicht wahr? Richtige Männer essen richtiges Fleisch! Arrarrarr …“
„Also … Fleisch essen ist auf jeden Fall sexier als kein Fleisch essen.“
„Siehst du!“ Sie lächelte, als hätte ich gerade die eigene Position verraten.
Ich zuckte mit den Achseln. „Es ist halt so.“
„Ha! Und du glaubst, das kommt jetzt sexy, so wie du gerade Döner isst?“
„Mmmm …“ Ich legte den Döner hin und nahm einen Schluck Ayran. „Jetzt den Essvorgang an sich vielleicht nicht unbedingt. Aber es geht ja um die Einstellung: Wenn jemand sagt: Mir ist völlig egal, wie geil etwas aussieht und schmeckt und duftet, das werde ich trotzdem niemals anfassen – was sagt das über einen Menschen aus? Über seine Art? Willst du wirklich mit einem Vegetarier ins Bett? Wenn man schon die Wahl hat?“
„Ich esse doch auch kein Fleisch. Und ich vermisse es auch gar nicht.“
„Ja … und du bist trotzdem sexy, die Ausnahme bestätigt die Regel. Aber vermisst du wirklich kein Fleisch, oder behauptest du das nur? Schon mal einem Menschen begegnet, der seit Jahren keinen Sex mehr hatte und von sich behauptet: Das ist eine Qual, die mich jeden Tag zerfrisst? Nein, sie sagen alle: Ach, das fehlt mir ja gar nicht. Die ganzen Christen, die Moralprediger … ist doch genau dasselbe. Weil Christen niemals Sex haben, soll auch kein anderer Sex haben. Und wehe, einer hat sogar guten Sex! Dafür kommt man direkt in die Hölle. Ist alles ein und dasselbe …“
„So ein Stuss!“
„Und bei dir jetzt - es tut mir leid, wenn ich das sagen muss, Superbabe – ist es ganz genau so. Da liegt dieses jämmerliche Veggiezeug vor dir auf dem Tablett - und du wärst vielleicht sogar zufrieden damit. Aber dann siehst du, wie ich diesen animalischen saftigen Döner verspeise, und das macht dich völlig kirre. Und drum soll ich in Zukunft keinen Döner mehr essen. Weil es dich verunsichert.“
Sie sagte nichts, sah mich nur an.
Ich lehnte mich zurück und grinste ein bisschen. „Willst du nicht mal probieren?“ Ich hielt den Döner nach oben.
„Du bist so ein Idiot.“
„Ach komm, Babe …“
„Nichts Babe. Du redest Müll. Und du weigerst dich einfach, dich als Mensch mit Verantwortung wahrzunehmen, ja, als jemand, dessen Handeln Konsequenzen hat, auch in einem globalen Kontext. Mir ist egal, wie spießig das klingt. Und wenn ich deine Sprüche mit dummen Naziausreden vergleiche, ist es nicht okay. Aber es ist offenbar völlig okay, wenn du meine Bitte, einen Dokumentarfilm anzuschauen, mit der missionarischen Eifer irgendwelcher von dir erfundenen Christen verknüpfst, die sämtlichen Menschen auf Erden den Sex ausreden wollen.“
„Ganz so hätte ich das jetzt nicht zusammengefasst, aber … jo.“
Sie wandte den Blick ab, sah aus dem Fenster.
„Hey …“, sagte ich.
Aber sie wollte mich nicht ansehen.
„Ich muss zum Seminar“, sagte sie nach einer Weile.
Sie stand auf und schlang ihren Hipsterbeutel auf die Schulter. Mit dem Aufdruck: Deine Mutter ist auch aus Fleisch.
Ich glaube, das war mir erst in diesem Moment aufgefallen.
Sie sah auf mich herab. Irgendwie nachdenklich.
Eigentlich verabschiedeten wir uns immer mit einem Kuss.
„Bis später“, sagte sie.
„Ja … bis später.“

„Du willst mich doch verarschen!“
Ich bildete mir ein, sie würde gleich etwas sagen wie: Selber schuld. Wenn du keine Schwulen magst, bekommst du einen schwulen Sohn. Wenn du Rentner ärgerst, wirst du später mal alt und bitter. Und wenn du Tiere isst, setzten dir Vegetarier Hörner auf. Das ist Gerechtigkeit.
Aber das sagte sie nicht. Sie stand einfach da und schwieg. Mit einem zerknirschten Ausdruck im Gesicht, der da gar nicht hinpasste, hatte sie doch ein ausgesprochen schönes und gewinnendes Gesicht, eines, das der Zerknirschung praktisch nicht fähig war. Es war niedlich, so wie alle Frauengesichter irgendwie niedlich sind, aber auch offen und stark, mit Wangenknochen, Kinn und klaren Augen. Und jedes Mal, wenn sie lächelte, kamen tolle Zähne zum Vorschein, die Luft knisterte, und irgendwo auf der Welt schaffte es eine Babyschildkröte ins Meer.
Wo war dieses Lächeln nur?
„Ja, und jetzt?“, fragte ich in die Stille hinein. „Hast du dir dabei auch was gedacht?“
„Ich kann zu Ina ziehen, bis ich was find. Bei ihr ist auch Platz.“
So weit hatte sie also schon gedacht.
Ich biss mir auf die Unterlippe, starrte vor mich hin, und spürte, wie mein Puls in die Höhe schoss.
Sie war doch verrückt geworden.
„Es tut mir leid“, sagte sie erneut. „Aber vielleicht ist es auch besser so. So kannst du in Ruhe fürs Examen lernen, und ich … “
„Und du bist mich los.“
„So ist es nicht. Es ist nur, ich wollte das nicht, aber … es ist halt passiert.“
Es ist halt passiert.
Eine Million Sätze, Gesten, Umarmungen, Küsse, Geschenke und dann: Sorry. Gestern im Café. Es ist passiert.
„Was ist das für ein Typ?“, fragte ich.
„Er ist …“ Sie seufzte. „Muss das sein?“
„Ich weiß es nicht.“
Ich wusste es wirklich nicht. Was muss schon sein? Keine Ahnung, was in solchen Situationen muss.
„Er heißt Alex. Er ist Student.“
„Und?“
„Nichts und. Er ist … normal einfach. Es ist ja nicht wegen ihm … nicht nur. Bei uns ist es nicht mehr so wie früher, Marc. Wir streiten uns so viel. Findest du nicht?“
Wir streiten uns viel. Es ist nicht mehr so wie früher.
„Na gut“, sagte ich, obwohl natürlich gar nichts gut war. Warum sagte ich das? Und gleich hinterher: „Dann ist es halt so.“
Und sie nickte wieder. Dieses elende Nicken. Wo sie mir doch so gerne widersprach. Für ihr Leben gern widersprach sie mir. Und jetzt: kein Widerspruch mehr.
Dann ist es halt so. Mehr wollte sie gar nicht.
Ich stand auf und wollte gehen, musste aber vorher noch an ihr vorbei. Und das in meiner engen Küche. Ich ging praktisch auf sie zu, wie schon tausend Mal zuvor. Sie machte einen kleinen Schritt nach rechts und drehte sich zur Seite. Und blickte dabei nach unten. Und presste die Lippen ganz fest aufeinander. Ich blieb neben ihr stehen und sah auf sie herab, auf ihr schönes Profil. Ihre Augen konnte ich nicht sehen, nur die Wimpern, die hübsche Nase, das volle Haar, die glatten Schultern. Wie scheiße war doch diese Distanz, die sie mir aufzwang. Und wie unglaublich schmerzhaft. Und sie blieb wirklich hart. Sie spannte sich an wie eine in die Ecke gedrängte Katze, legte die Hand auf den kalten Herd, sah zu Boden und wollte unbedingt, dass ich weitergehe. Jetzt. Ich sollte verschwinden!
Da wäre ich fast ausgerastet. Da hätte ich sie auch anschreien können. Da hätte ich sie auch packen und schütteln können. Ich sah auf sie herab, blieb noch kurz stehen, und ging dann weiter.

Ich stecke mir Kopfhörer in die Ohren, stellte den Ipod auf Shuffle und legte mich aufs Bett. Mein Zimmer war voll mit ihrem Zeug: Bunte Tücher, Uniskripte, Kosmetikzeug, Safran-Foer, Hesse, DFW.
Ich schloss die Augen und shuffelte und shuffelte und shuffelte. Mir gefiel irgendwie nichts.
„Tja …“, dachte ich immer wieder. „Tja …“
Und: Bleib cool. Und: Shit happens. Und: So ist's Leben. Und: Alles Schlampen außer Mutti. Und: There are plenty more fish in the sea. Und: Kein Alkohol ist auch keine Lösung.
Als hätte irgendwer mein ganzes Innenleben in einen verdammten Twitterthread verwandelt.
Und wie ich so dalag, fand ich das furchtbar. Dass ich so hilflos war und mir so wenig einfiel. Dass ich so dumm war und dies nicht hatte kommen sehen. Das war fast furchtbarer, als von einem Vegetarier Hörner aufgesetzt zu bekommen. Naja, fast. Das mit den Hörnern war schon ziemlich scheiße.
Aber gut …
Shit happens!
Ich fand mich erbärmlich. Und während ich mich erbärmlich fand, fragte ich mich, ob sich erbärmlich finden eigentlich dasselbe ist wie erbärmlich sein.
Früher war es besser. Wir streiten uns so viel.
Wo waren wir schief gelaufen? Hätte ich mir die Doku reinziehen sollen? Es kotzte mich an. Ein Scheißvegetarier. Er ist normal, hatte sie gesagt. Als gäbe es normale männliche Vegetarier. Weibliche vielleicht, okay, aber doch keine männlichen! Kann mir doch keiner erzählen!
Wo waren wir schiefgelaufen?
Ich fragte mich, ob ich Hannah irgendwie aus den Augen verloren hatte in letzter Zeit. So weit das überhaupt möglich war, wenn man sich fast jeden Tag sah.
Aber vielleicht.
Vielleicht war es früher wirklich anders.

Wir lagen bei ihr im Bett und hörten Death Cab for Cutie.
„Ich hab eine Idee“, sagte sie.
„Ich auch.“
„Okay, du zuerst.“
„Ich finde, wir könnten als Bonnie und Clyde gehen.“
„Nein …“
„Warum? Wär doch stylisch.“
„Das ist total abgedroschen.“
„So abgedroschen ist es nicht.“
„Doch, Jan und Lena sind letztes Jahr als Bonnie und Clyde gegangen.“
„Scheiß auf Jan und Lena. Wir machen das viel cooler. Überleg mal, ich könnte einen grauen Anzug und einen Hut tragen, so wie die Gangster aus den Zwanzigern; Clyde hatte außerdem immer einen Zahnstocher im Mund. Und du könntest Faye Dunaway sein, mit einem Beret und einer Bluse und einem langen Rock und einer blonden Perücke. Und dann kaufen wir uns Spielzeugpistolen und rauben die Bar aus. Nehmen alle Vodka-Flaschen mit und so. Das wäre doch cool.“
„Du weißt, Clyde war impotent.“
„So genau müssen wir es nicht nehmen …“
„Hmja …“ Sie streckte sich zwischen den Laken. „Aber ich dachte eher an was anderes.“
„Was?“
„Die Schöne und das Biest.“
Ich verzog das Gesicht, und sie lachte laut auf.
„Die Schöne und das Biest ist genauso abgedroschen“, sagte ich.
„Aber es passt sooooooooo gut!“
„Na komm … so hässlich bin ich doch gar nicht.“
„Ich hab mir überlegt, bis dahin schneidest du deinen Bart einfach nicht mehr …“
„Es sind noch zwei Wochen bis dahin.“
„Und dann finden wir ein Yeti-Kostüm für dich.“
„Ein Yeti-Kostüm?“
„Ja!“ Sie warf sich an mir. „Und wir schminken deine Augen. Ganz Dunkel, weißt du, so richtig grotesk! Und schmieren dir Blut vielleicht in den Bart …“
„Also …“
„Und ich bin dann einfach nur schön!“ Sie grinste breit. „Ich dachte da an was ganz Elegantes. Vielleicht nehme ich die Perlenkette von meiner Mutter. Und stecke die Haare hoch. So wie Audrey Hepburn! Ach … das wird ganz toll, Schatz, ganz toll!“

„Hey, wach auf.“
„Mmmm …“
„Marc, wach auf!“
„Was denn?“
„Da ist was.“
„Wo ist was?“
„Hier drin! Im Zimmer!“
„Bei uns oder wie?“
„Hör mal!“
„Scheiße, was ist das?“
„Ich glaube, es lebt!“
„Mach mal Licht an.“
„Mach du Licht an!
„Wah …“ Ich sprang aus dem Bett und rannte zum Lichtschalter.
„AHHHHHHHHHHHH!!!“
„Scheiße!“
„Da! Da! Sie ist hinter dem Schrank!“
Ich sprang zurück ins Bett, und sie klammerte sich an mich. Einen Moment lang war alles still.
„Ich hab doch gesagt, das Hotel ist scheiße“, sagte sie.
Wir stellten uns aufs Bett, starrten auf den Schrank und horchten.
„Hast du schon von den Ratten gehört, die nachts in Krippen stiegen und Babys fressen?“, fragte ich.
„Nein …“
„Solche Ratten gibt es hier. Und ich glaube, das ist so eine.“
„Hör auf.“
Ich wog den Kopf hin und her. „Ich weiß nicht, schwierig.“
„Was denn?“
„Wenn sie hinter dem Schrank lebt, da komm ich nur schwer hin.“
Sie seufzte. „Ich glaube, wir müssen morgen auschecken.“
„Ja …“
„Komm, legen wir uns wieder hin.“
„Okay.“
„Lass das Licht an.“
Wir legten uns hin und ließen das Licht an.
„Ich kann so nicht schlafen“, sagte sie.
„Ich auch nicht.“
„O je …“ Sie kuschelte sich ganz eng an mich. „Ich mag keine Ratten.“
„Das ist irgendwie süß, wie du das machst.“
„Ja?“
„Ja, schon.“
Sie kuschelte sich noch enger an mich, drückte den Kopf unter mein Kinn.
Ich fing an, sie zu begrapschen, fasste nach ihrem Hintern und so.
„So kann ich keinen Sex haben, Schatz.“
„Warum nicht?“
„Das geht einfach nicht. Hörst du das? Da raschelt's schon wieder.“
„Ich höre nichts …“
„Nein, nein, das geht nicht. Ich denke die ganze Zeit, die Ratte springt ins Bett und beißt mir ins Gesicht.“
„Na gut, aber … vielleicht hat das auch was Aufregendes an sich?“
„Nein.“
„Mmm … sicher?“
„Ja … ich bin mir ziemlich sicher … mmmmm … jaaaa … sicher, sicher … Schatz!“
„Was denn?“
„Da ist sie wieder!“
„Ich bring sie um!“
„Was? Nein …“
Ich ging ins Klo und kehrte mit einem Besen zurück. „Die Ratte stirbt!“
„Nein! Schaff sie nur hier raus. Nicht töten! Nur rausschaffen!“
„Komm, hilf mir mit dem Schrank.“
„Nicht töten, Marc!“
„Das Tier frisst Babies, Hannah, es verdient den Tod.“
„Nein, nein, komm …“ Sie glitt in Unterwäsche aus dem Bett und trat zu mir.
„Hannah …“
„Du erwischt sie doch eh nie. Komm, Schatz …“ Sie griff nach dem Besen, schmiegte sich an mich, sah nach oben. „Komm zurück ins Bett …“


Das konnte sie nicht machen.
Ich stand auf und ging zurück in die Küche.
Sie saß mit angezogenen Beinen am Tisch und starrte auf ihr Smartphone. Und wie sie mit interessiertem Blick drauf rumtippte, packte mich die Gewissheit, dass sie mit dem Feind kommunizierte.
„Und … was schreibt der Vegetarier?“
Sie sah hoch. Blinzelte. Blickte zur Seite und strich eine braune Strähne aus dem Gesicht. Und sah mich wieder an. „Weißt du, ich finde das schon erstaunlich.“
„Was denn?“
„Wie aufmerksam du bei so Dingen auf einmal bist.“
„Bei so Dingen?“ Ich schüttelte fassungslos den Kopf. „Ich dachte, du spielst die ganze Zeit Candy Crush.“
Sie verzog den Mund.
„Leg das Handy weg“, sagte ich.
Sie blickte kurz aufs Display, zögerte, sah wieder zu mir.
Bin kurz weg, Feind, Kussi-kuss!
Das wollte sie noch schreiben, bevor ich sie gleich ablenkte, das wussten wir beide, und das konnte sie einfach nicht bringen.
Sie legte das Handy auf den Tisch, seufzte und verschränkte die Arme.
„Marc, ich weiß nicht, was du …“
„Ich will nur reden“, sagte ich.
„Ich kann dir nur sagen, dass es mir leidtut. Wirklich. Mir fällt das auch schwer. Ich hoffe, du denkst nicht, ich bin voll die Schlange und betrüge dich schon seit Monaten hinter deinem Rücken. So ist es nicht. Wirklich nicht.“
„Aber du hast mich betrogen.“
Sie nickte.
„Gestern Nacht?“
Dieses Mal zögerte sie tatsächlich vor dem Nicken. Aber sie nickte, und ich spürte meinen Puls wieder in die Höhe schnellen. Ich hätte den Feind direkt töten können und sie am besten gleich mit, aber ich war nicht nur wütend.
Ich hatte auch Angst. Richtige Angst.
„Das heißt, du warst gestern gar nicht auf einer Geburtstagsparty?“, fragte ich.
„Doch, war ich …“
„Und er auch?“
„Ja.“
„Und dann seid ihr zusammen zu ihm?“
Sie nickte.
„Und warum bist du dann hierher zurück?“
Sie seufzte. „Marc, bitte …“
„Ja tut mir leid, wenn ich das fragen muss! Ich komme mir einfach verarscht vor. Wie soll ich mir das vorstellen? Da habt ihr Sex, ihr liegt so im Bett, es ist drei Uhr morgens, und dann sagst du: Ach, mir fällt gerade ein, ich muss noch schnell mit meinem Freund Schluss machen! Bis später! Warum bist du nicht einfach dort geblieben?“
„Weil ich dir gesagt hatte, dass es nicht spät wird.“
„Weil du …“ Ich runzelte die Stirn.
Und auf einmal hatte sie Tränen in den Augen.
„Ich wollte nicht, dass du dir Sorgen machst“, sagte sie.
„Ich mache mir Sorgen“, sagte ich.
„Ich …“ Sie senkte den Kopf und kämpfte mit den Tränen. „Ich musste es dir einfach sagen. So konnte es nicht weitergehen.“ Sie griff nach dem Handy und stand auf.
„Bleib sitzen, Hannah.“
„Marc …“
„Bitte. Bleib sitzen.“
Sie wischte die Tränen aus den Augenwinkeln und schüttelte den Kopf. „Es tut mir leid.“
„Wie lange kennst du diesen Typ?“
„Es geht nicht so lang.“ Sie seufzte. „Marc, bitte …“
„Was denn? Was? Ich will's doch nur verstehen. Setz dich hin und erklär's mir. Erklär's mir und ich lass dich gehen.“
Sie lehnte sich an die Wand. „Wir unternehmen weniger. Du bist nicht mehr so, wie früher, und ich vielleicht auch nicht. Wir leben irgendwie nebeneinander. Und mit ihm ist es anders. Wir lachen viel.“ Sie zuckte mit den Achseln, als könnte sie mit dieser kleinen Scheißbewegung einen Strich drunter ziehen.
Ich schloss für einen Moment die Augen und atmete durch.
Sie lachen viel, dachte ich.
Der Vegetarier und sie, sie lachen.
Worüber, verdammt nochmal?
Die Vorstellung machte mich irgendwie fertig. Dass Hannah so viel ohne mich lachte. Und schon war ich bereit, mich wieder ins Bett zu legen. Oder mich zu erhängen oder einfach nur zu schreien.
Ich sagte einfach nichts mehr, und sie ging.

Wenig später hörte ich, wie sie mich verließ, wie sie Hesse und DFW zusammenklaubte, wie sie die bunten Tücher zusammenfaltete, wie sie Reißverschlüsse rauf und runter riss und atmete und schwirrte. Das hielt ich nicht lange aus. Ich verließ die Wohnung, setzte mich vor Tonis und ließ die Sonne auf meinen Kopf brutzeln. Der Kellner kam, und ich bestellte eine Pizza Hawaii, die ich nicht essen konnte. Keinen Bissen bekam ich runter. Die Halbe lief dafür wie geschmiert. Die zweite Halbe auch. Mir ging's danach nicht besser. Ich beobachtete die frischen Paare, wie sie kichernd durch die Stadt gingen, und prophezeite ihnen einen kurzen Sommer, einen bewölkten Herbst und einen depressiven Winter. Ich sah die jungen Frauen in Röcken vorbeihüpfen und bekam fürchterliche Lust, sie alle zu verführen, sie verliebt zu machen, ihnen das Blaue vom Himmel zu lügen, schmutzige Dinge mit ihnen anzustellen und mich nie wieder zu melden - einfach so, aus Protest. Aus Protest gegen das Versprechen, das jeder von ihnen innewohnte, das in jedem Grübchenlächeln steckte und in jedem wippenden Schritt, in jeder gefärbten Strähne und in jedem gepiercten Ohr, dieses Versprechen, das Glück hieß und so unendlich verlogen war.
Es war schon sieben, als ich heimkehrte. Ich warf einen Blick in mein Zimmer, sah die gähnende Leere, ging gleich wieder in die Küche und drehte das Radio auf.
Wenig später kam Luca nach Hause, mein Mitbewohner und Chemiestudent im dritten Semester.
„Oh Mann …“, sagte er. Er ging gleich zum Kühlschank und holte ein Bier raus. „Willst auch eins?“
„Ja.“
Er setzte sich mir gegenüber, wir stießen an, und das kalte Bier schmeckte hervorragend.
„Okay …“, sagte er, und er fuhr mit einer Hand durch seine Wuschelfrisur und atmete voll durch. „Wir sind zum See gefahren, ich hab's echt gemacht, wie besprochen. Wir saßen auf einer Decke, neben uns Cracker, Trauben, Wein und drei verschiedene Käsesorten, das war super, Laura mag Camembert, und dann …“ Er nahm wieder einen Schluck, einen viel zu großen, sodass sich sein ganzes Gesicht dabei verzog und er kurz die Augen schließen musste. „Wir haben ewig geredet, wirklich ewig! Sie hat mir so viele Sachen erzählt und ich habe die ganze Zeit zugehört, und dann war es irgendwann ganz still, Seestille, das war richtig schön, und wir sitzen nebeneinander und blicken aufs Wasser, und sie streckt die Beine von sich und wippt mit dem rechten Fuß, und ich denke mir: Jetzt kann ich sie küssen. Ist schon das dritte Date, das muss gehen. Wie du gesagt hast, muss einfach. Und ich war echt kurz davor, wirklich, ich wollte es machen, und dann … also dann … dann schaut sie aufs Wasser und sagt voll verträumt: Ohhh … wenn ich all diese Schwäne sehe, mit den weißen Federn und den langen Hälsen und den starken Flügeln, das macht mich richtig an. Das sagt sie einfach so. Die Schwäne machen sie an! Und ich so wie bitte?, und sie bricht in Gelächter aus, hält sich am Bauch fest und rollt sich ins Gras. Hey … die Frau ist so heftig, Marc, so heftig! Und jetzt haben wir uns immer noch nicht geküsst. Ich weiß nicht, ich finde die Lücke einfach nicht. Ist schwierig. Hey, ist alles okay mit dir? Du siehst nicht gut aus.“
„Hannah hat mich verlassen.“
„Was?“
„Sie hat schon ihre Sachen gepackt, sie ist weg.“
Er suchte einem Moment lang nach der Verarsche in meinem Ausdruck. Dann stand er tatsächlich auf und sah in meinem Zimmer nach.
„Was ist passiert?“, rief er durch die Wohnung. „Marc!“
Er eilte zurück und sah mich entsetzt an.
„Sie hat jemanden kennengelernt“, sagte ich. „Einen Student. Einen Vegetarier.“
Er legte die Hand auf die Stirn setzte sich langsam hin. „Nein …“
„Wusstest du schon davon?“, fragte ich.
Anhand seiner Mimik – er verzog das Gesicht, als hätte ich ihm in die Eier getreten – wusste ich sofort, dass dem nicht so war. Und schon tat mir die Frage leid. Aber ich musste sie einfach stellen. An dem Tag fühlte sich alles möglich an.
„Wenn ich so was gewusst hätte, Marc, das hätte ich dir doch auf jeden Fall gesagt.“
„Ich weiß, ich weiß … so meine ich das nicht. Ich meine nur: Ist dir vielleicht etwas Komisches aufgefallen in letzter Zeit? Hat du etwas gesehen oder gespürt, seit Hannah hier wohnt? Oder vorher schon?“
Er sah nach oben, kniff angestrengt die Augen zusammen und fuhr mit der Hand über sein junges Gesicht.
„Gar nichts? Sie hat gemeint, wir leben nebeneinander. Hat das so gewirkt?“
„Also manchmal warst du da, manchmal war sie da, und manchmal wart ihr zusammen da … “
Ich unterdrückte ein Augenrollen. „Sonst irgendwas?“
„Manchmal kam sie in die Küche und sagte Hallo. So ganz knapp, weißt du? Hallo. Mehr nicht, nur Hallo. Da hab ich auch Hallo gesagt. Und dann hat sie etwas aus dem Kühlschrank geholt und ist gleich wieder gegangen. Sie hat nicht traurig gewirkt, wie sie Hallo gesagt hat, aber ich kann auch nicht sagen, dass sie voll glücklich dabei ausgesehen hat.“
Ich seufzte. „Dir ist also gar nichts aufgefallen.“
„Letzte Woche haben wir doch noch alle zusammen gegessen, Marc. Hannah hat diesen Curry mit Kokosmilch gemacht, das war schön.“
Die Erinnerung drückte mich in den Stuhl zurück.
„Bist du dir sicher?“, fragte er. „Dass es wirklich vorbei ist?“
„Ich kann's auch nicht fassen“, sagte ich.
„Aber so schnell? Es muss doch irgendwas gewesen sein?“
„Wir haben uns ein bisschen mehr gestritten als sonst, aber … ich weiß es nicht. Ist es anders geworden zwischen uns? Etwas vielleicht. Aber das ist doch normal nach zwei Jahren, oder? Es bleibt ja nicht ewig so wie in den ersten zwei Monaten.“
„Meine längste Beziehung ging vier Wochen, also … ja.“
Wir nahmen beide einen Schluck Bier.
„Vielleicht habe ich Hannahs Idealismus unterschätzt“, sagte ich. „Das ganze Weltverbesserungszeug. Vielleicht meint sie das wirklich ernst und will einfach was anderes.“ Ich zuckte mit den Achseln. „Oder sie hat sich einfach in diesen Vegetarier verliebt? Einfach neu verliebt und das war's? Sie hat gemeint, sie lachen viel.“
„Sie lachen viel?“ Das gab Luca zu denken. „Hat sie auch gesagt worüber?“
„Genau das habe ich mich auch gefragt! Genau das Gleiche! Hast du schon mal einen Vegetarier mit Humor getroffen?“
„Hmmm …“
„Es gibt keine Vegetarier mit Humor, Luca. Wer Humor hat, schafft es nicht, etwas so Grundlegend-Schönes wie Essen in ein megaenges Korsett zu zwingen, das aus jedem Beisammensein eine Umständlichkeit macht, über die nicht gelacht werden darf.“
„Und dann gibt es noch die Veganer.“
„O Gott, fang jetzt bloß nicht mit Veganern an …“
Luca fing nicht damit an, und im Radio spielten sie Hey Jude. Es war komisch, aber für einen Moment hätte ich schwören können, dass Paul McCartney direkt zu mir spricht. Wir lehnten uns zurück, hörten zu und tranken.
„Naja“, sagte ich nach einer Weile. „So ist halt das Leben, was?“
Er nickte. „Ich glaube, ich werde Laura niemals küssen.“
„Ach, Quatsch, Luca!“
Er schüttelte den Kopf. „Ich war heute alleine mit ihr am See. Wenn nicht da, wann dann? Beim Abschied gab es auch einen Augenblick, wo ich dachte: okay … jetzt vielleicht. Aber dann hab ich's irgendwie versaut. Und jetzt waren es drei Dates.“
„Wie alt ist sie?“
„Achtzehn.“
„Und du?“
„Neunzehn.“
„Da gilt die Drei-Date-Regel nicht.“
„Aber Hannah hat doch auch gesagt …?“
Ich schüttelte den Kopf. „Wir haben euer Alter vergessen. Die Drei-Date-Regel kommt aus den USA, und in den USA darf man erst ab einundzwanzig Alkohol trinken. Und solange kein Alkohol im Spiel ist, greift die Drei-Date-Regel nicht.“
„Aber wir haben Wein getrunken.“
„Aber ihr seid unter einundzwanzig.“ Ich zuckte mit den Achseln. „Eine Regel ist eine Regel, Luca.“
„Hmm … ja.“ Er kratzte mit dem Daumen am Bieretikett. „Aber es ist halt so kompliziert … wirklich. Glaub mir, das ist schräger als du denkst. “
„Das glaube ich dir schon, aber guck mal, Frauen, die solche Sprüche raushauen, wenn alles still wird …“ Ich zuckte mit den Achseln. „Sie weiß doch auch nicht, was sie machen soll, Mann. Sie hat doch auch keine Ahnung.“
„Glaubst du?“
„Ich kenn sie jetzt nicht, aber ich gehe jede Wette mit dir ein, dass sie ein ganz normales verwirrtes Mädchen ist.“
„Laura ist schon speziell.“
„Klar, natürlich, sie ist speziell … aber halt auch normal.“
„Naja, vielleicht versuche ich es nochmal.“
„Unbedingt, Mann.“
Er kratzte weiter am Bieretikett. „Und was ist mit dir und Hannah? Ihr wart doch so ein cooles Paar, Marc, vielleicht ist es ja nur eine Phase?“
Ich seufzte schwer. „Es klang schon ziemlich endgültig.“
„Was ist passiert, als sie es dir erzählt hat? Hast du sie angeschrieen, weil sie fremdgegangen ist?“
„Nein, nein …“ Ich schüttelte den Kopf. „Vielleicht hätte ich das tun sollen, aber … nein. Ich hab nur gefragt, warum.“
„Aber hast du dann auch wirklich alles versucht? Wenn ich mir vorstelle, ich wäre zwei Jahre mit einer Frau wie Hannah zusammen … da ist es doch nicht so schnell vorbei.“
Ich nahm einen Schluck Bier und fand, dass er gar nicht mal so unrecht hatte.
„Hast du ihr gesagt, dass du sie liebst?“, fragte er.
Ich schüttelte den Kopf.
„Liebst du sie?“
„Also heute Morgen war's noch so.“
„Dann solltest du etwas tun, um sie kämpfen vielleicht? Ich hab sonst nicht so viel Ahnung, aber … vielleicht ist das eine gute Idee?“
„Naja“, sagte ich. „Ich hab dich bestimmt schon Unsinnigeres sagen hören.“
Er lächelte.
Ich stand auf und ging zum Kühlschrank. „Noch eins?“
Wir stießen an, und das frische Bier schmeckte wieder hervorragend, wie mit Tigerblut gepanscht.
„Ihr wart wirklich so cool, Marc. Wirklich. So cool …“
„Ja, wir waren schon cool …“
„Letztes Jahr, als ihr als die Schöne und das Biest auf den Medizinerfasching gegangen seid, das war voll geil.“
Ich lachte bittersüß, und im Radio spielten sie Wonderwall.
Die Zeit verstrich.
„Es ist schon komisch“, sagte ich. „Schon komisch. Es ist so schnell gegangen mit Hannah, und jetzt, wo ich dieses Bier trinke und dieses Lied höre, kann das gar nicht sein. Ich hab immer noch das Gefühl, dass wir ein Paar sind, dass wir zusammengehören, wir beide, Marc und Hannah.“
Luca nickte.
„Das ist wie in diesem Song. Ich glaube nicht, dass irgendwer auf der Welt so viel für Hannah empfindet wie ich in diesem Augenblick. So geht’s mir auch. Vielleicht sage ich ihr das. Vielleicht mach ich das noch … ja, das sollte ich wirklich tun …“
Luca saß da und hörte einfach zu.
„Was macht eigentlich gerade deine Schwanenfrau?“, fragte ich. „Wo ist sie jetzt?“
„Sie trifft sich mit den Freundinnen, sie schauen gemeinsam Tatort. Heute kommt die letzte Folge vor der Sommerpause.“
„Tatort?“
„Ja.“
„Hast du gerade wirklich Tatort gesagt?“
„Ja, hab ich … warum?“
„Hat sie auch gesagt, wo sie Tatort schaut?“
„Weiß ich nicht mehr genau, ich glaub …“
„Im Munros? Schaut sie im Munros?“
„Ja, genau, Munros, das hat sie gesagt.“
Ich drückte die Hände gegen die Schläfen und schloss für einen Moment die Augen. Eine Erkenntnis bahnte sich an, etwas Ungeheuerliches.
„Was ist los?“, fragte Luca.
„Hannah schaut auch im Munros Tatort.“
Er sah mich an.
„Verstehst du denn nicht?“, sagte ich. „Das heißt, dass sie beide dort sind, am Tatort … O Gott!“
„Was? Was ist los?“
Ein Gefühl, als hätte mir jemand den Bauch aufgeschlitzt. „Er ist auch da.“
„Das weißt du doch nicht …“
„Doch, doch, das weiß ich. Hannah geht jeden Sonntag ins Munros. Und ich bin nie mitgegangen, nie, ich hab mich immer geweigert, und dann ist sie immer voll spät zurück. Weißt du noch? Wir haben uns immer in die Haare gekriegt, ich hab gesagt, was guckst du den ganzen Sonntag so einen Scheiß an, und sie hat gesagt: Pschhhhht, Pschhhhht, wenn du nicht mit willst … Pschhhhht, Pschhhhht, sie hat doch immer gehisst, Pschhhht, Pschhhht, und dann haben wir uns gestritten, wegen Massenphänomenen und Qualitätsfernsehen und so, und hinterher waren wir schlecht gelaunt. Und dabei ging es unterschwellig die ganze Zeit um etwas ganz anderes! Sie hat dort jedes Mal diesen Typ gesehen, jeden beschissenen Sonntag, Woche für Woche für Woche … O Gott! Der Vegetarier ist nicht nur Vegetarier, Luca, er ist auch noch Tatort-Gucker.“ Ich schlug beide Hände auf den Kopf und zerrte an meinen Haaren. „Wie kann sie mir das antun?“
„Scheiße …“
„Aber das kann doch kein Zufall sein! Das kann doch alles kein Zufall sein …“ Ich führte die Flasche zum Mund, saugte das Tigerblut herunter. „Sie sind jetzt beide dort, überleg dir das mal, Luca. Beide. Die Schwanenbraut und Hannah, sie sitzen in einem Raum und schauen gemeinsam Tatort an. Weißt du, was das heißt?“
„Nein …“
„Wir gehen da jetzt hin.“
„Hä? Wie? Warte …“
„Nein, nein, nichts warten!“ Ich stand auf und knallte beide Hände auf den Tisch.
„Was sollen wir dort machen?“
„Dü küsst die Schwanenbraut, und ich hole mir Hannah zurück. Genau so machen wir das, Luca. Genau so machen wir das!“
„Ich weiß nicht …“
„Haha! Was gibt’s da zu wissen? Was gibt’s da zu wissen? Das passiert einfach!“
„Marc …“
„Auf geht’s, Mann. Ich sage Hannah, dass es niemand auf der Welt gibt, der so viel für sie empfindet wie ich in diesem Augenblick, und du sagst der Schwanenbraut, dass sie geküsst gehört. Und dann läuft das.“
„Meinst du?“
„Na klar, was ist schon das Herz einer Frau?“
„Äm …“
„Los, Luca!“

Auf dem Weg zur Tür blieb er vor dem Spiegel stehen. Er fuhr mit der Hand durch sein Wuschelhaar und rückte sich zurecht. Ich stellte mich neben ihn, kraulte meinen Bart und nickte wie De Niro. Wir lachten beide. Luca trug eine kurze Khaki-Hose und ein blaues Hemd. Ich hatte das Übliche an: Jeans, Chucks und irgendein T-Shirt - heute ein Weißes mit dem Batman-Logo auf der Brust. Das fand ich super.
„Weg-Bier“, sagte ich. „Wir brauchen Weg-Bier.“

Wir gingen nach draußen und fühlten uns tatvoll und prächtig. Der Heidelberger Sonnenuntergang ist ein Traum. Die Zeit im Zustand des Zerfalls erfasst, die Welt im Kampf mit der ureigenen Rotation, der Himmel als Schlachtfeld. Dazu Studentenstadtluft: Frisch und fein wie in einer tibetischen Teestube. Herb und dunkel wie im Londoner Untergrund. Antiker Schweiß strömte von den Pflastersteinen, Schweinsbraten verführte in die Fachwerkgaststätten, Schokolade floss in den Cafés und aus den Bars wehte Drachenatem - das ist eine ganz besondere, von unterdrückten Trieben schwül geheizte Abendessenz, mehr Energie als Duft, mehr Leben als Sterben, mehr Hannah als Später. Unsere Wg-Lage: genial. Nur zwei Gassen von der Unteren Straße entfernt, dem Epizentrum des Drachenatems. Wir bogen da ein und gingen an der legendären Destille vorbei, der coolsten Bar der Stadt, nur hundert Meter von der längsten Einkaufsstraße Deutschlands entfernt. Ich liebe Heidelberg.
„Wir bleiben locker“, sagte ich. „Wir sehen uns das an, bleiben locker, und schlagen dann zu wie Viper. Bleiben aber locker …“
„Locker“, sagte Luca.
„Genau“, sagte ich. „Locker.“
Wir stießen an.


Wir spazierten bis zur Alten Brücke, ich nickte dem Heidelberger Affe zu, dann gingen wir ein Stück am Neckar entlang und bogen in eine Seitenstraße, die in einem großen Hof mündete. Er war mit Kies bedeckt, in dessen Mitte spritzte ein Brunnen, und hier und dort wuchsen kleine Palmen aus Tontöpfen. Es gab auch Stoffstühle, Sonnenschirme, eine lange Sommerbar und Holztische, an denen ein paar Medizinstudenten in Polohemden saßen und Mojitos tranken. Ganz hinten leuchtete in hellweißen Buchstaben Munros. Das Gebäude war groß, häufig fanden dort auch Podiumsdiskussionen und Poetry Slams statt. Durch die Panoramafenster sah ich bereits die Leinwand flackern. Die Tatort-Gucker saßen mit dem Rücken zum Hof auf kleinen Hockern, ganz in dem Krimi vertieft.
Wir blieben in sicherer Entfernung hinter dem Brunnen stehen und tranken unser Bier.
„Und jetzt?“, fragte Luca. „Wir können da nicht einfach reinlaufen.“
„Wie lange geht der Scheiß?“
Luca sah auf sein Handy. „Ist fast vorbei, etwas Action noch, und in zehn Minuten gibt's die Auflösung.“
„Ich muss da jetzt reingehen“, sagte ich.
„Vielleicht warten wir, bis die Sendung vorbei ist“, sagte er. „Sie bleiben doch alle noch eine Weile da und diskutieren über die gesellschaftliche Relevanz der Folge. Vielleicht warten wir das ab und schlagen dann zu … wie Viper!“ Er lächelte.
„Verarscht du mich?“
„Nein, nein …“ Er lächelte immer noch.
„Ja, lach nur. Wenn du die Schwanenfrau heute Nacht nicht küsst, vergebe ich dein Zimmer an eine Filmstudentin.“
„Das kannst du gar nicht.“
„Doch, doch, ich kann.“ Ich trank das Bier leer, stellte die Flasche auf den Boden ab und marschierte in Richtung Tatort-Hölle.
„Du hast doch gesagt, locker bleiben!“, rief er mir hinterher.
„Ich bin locker.“

Auf dem Weg zur Tür fing mein Herz wild zu schlagen an. Wut und Angst und Tigerblut mischten sich mit solcher Heftigkeit, dass ich kurz stehen bleiben und durchatmen musste. Wenn ich gleich durch die Tür ging und Hannah sah, wenn dieser Typ wirklich neben ihr saß …
Ich musste es sehen.
Ich ging langsam rein. Sie sahen alle nach vorne, völlig fixiert auf die Leinwand. Munros war keine echte Studentenbar, auch wenn sie gerne diese Klientel bediente, zumindest nicht nach meiner Auffassung. Es roch zu sehr nach Geld darin, zu sauber und farblos. Ein Beamer hing von der Decke. Ein polierter Chromtresen stand zu meiner Linken. Schwarzumrahmte, schwarz-weiß-Bilder von supercoolen, superschlanken Kate-Moss-Models blickten von der Wand. Die Mitarbeiter trugen weiße Hemden und schwarze Schürzen und waren alle jung und heiß. Niemand rauchte. Ein paar Leute standen an einer runden Stehbar in der Nähe und knabberten an Salzstangen. Ich stellte mich hinter sie und sah nach vorne.
Ein kleiner dicker Kommissar rannte gerade durch Münster mit einer Pistole in der Hand. Er stolperte über den Bordstein, fiel auf den Gehweg und fluchte vor sich hin. Der halbe Laden gluckste vor Freude.
Wo war Hannah?
Ich spähte mit pochendem Herzen durch die Menge. Zwölf perfekte Reihen mit je acht Hockern – kein Platz unbesetzt. Keiner saß komisch da. Keiner drehte sich zu mir um. Alle saßen gerade, alle starrten nach vorn. Der dicke Kommissar versuchte über einen Zaun zu klettern, schaffte es gerade so und gab wieder einen launischen Spruch von sich. Die Menge lachte.
Da.
Sie saß in der vorletzten Reihe, ganz außen rechts, keine vier Meter von mir entfernt. Ihr Lachen klang vertraut, unendlich vertraut.
Der Typ, der neben ihr saß und mit ihr lachte, musste der Feind sein.
Er hatte sehr kurzes, sehr ordentliches, sehr blondes Haar, und ein frisch rasiertes, irgendwie glatt gelecktes, ausdrucksloses Gesicht. Seine Lippen waren schmal, und eine schwarze Nerdbrille saß auf einer kleinen Nase. Er trug ein enges rot-blau-kariertes Holzfällerhemd, dunkelblaue Jeans und neu-modische braune Lederschuhe. Obwohl er saß, konnte ich sehen, dass er nicht größer als ich war. Und ganz sicher nicht kräftiger. Er war schlank. Einfach nur schlank. Mittelgroß und schlank.
Ich weiß nicht genau, was ich erwartet hatte. Aber nicht ihn. Ich hatte irgendwie einen imposanten Kerl im Kopf gehabt, einen mit großen Händen und keine feine Nase. Einen Ruderer oder einen Ringer oder einen Schwarzen vielleicht. Wobei das natürlich auch nicht wirklich gepasst hätte. Gibt es schwarze Vegetarier?
Ich stand da und konnte mich nicht bewegen. Seine ganze Erscheinung brachte mich durcheinander, traf mich an empfindlichen Stellen, bedeutete nichts Gutes. Verzweiflung regte sich in mir. Ich hatte nicht vorgehabt, den Feind zusammenzuhauen, nicht wirklich, nicht konkret … einigen wir uns auf nicht bewusst, doch spätestens jetzt wusste ich: Das war keine Option. Nicht mit der Nerdbrille da. Er kam bestimmt aus guten Verhältnissen, er mochte den Tatort und er hatte eine spitze Nase - da hätte ich doch gleich die übelste Anklage am Hals. Das war einer, der sich gern für intelligent hielt. Der gewisse Dinge besser-wusste als ich. Der keine Macken hatte. Der BWL oder so studierte. Der Hannah doch unmöglich so viel zum Lachen bringen konnte. Aber offenbar mit ihr schlief.
Hass flammte in mir auf, unmenschlicher, wahnsinniger, purer Hass.
Warum, Hannah?
Sie saß weiter außen, von mir aus gesehen hinter dem Feind. Ich lehnte mich vor und sah ihr Profil, die leckeren Schultern, das volle Haar …
Ich rückte von der Stehbar weg, ging aus der Deckung, fühlte mich wie ein Soldat, traute mich in den Gang.
Und kam nicht weit.
Ihre schöne schmale Hand lag auf seinem Schoß. Und er hielt sie fest. Er hielt ihre Hand fest. Das war wohl etwas, auf das ich hätte gefasst sein müssen. Trotzdem wurde ich im ersten Moment nicht schlau daraus. Ich kam einfach nicht klar damit. Ich musste an eine Beerdigung denken. An eine Beerdigung in der Kirche. Wenn man nach vorn schaut und dem Pfarrer zuhört, wenn man traurig und einsam ist, wenn nichts mehr geht, dann legt man die Hand auf den Schoß des Partners, und er hält sie fest. Er hält sie fest und man fühlt sich weniger allein, man kann wieder atmen und die Welt ist wieder ertragbar. Dann ist sie wieder in Ordnung, und man kann wieder atmen. Und man kann wieder atmen. Und man kann wieder atmen …


Der Heidelberger Himmel kann auch kalt, dunkel und leer sein.
Ich lehnte mich gegen den Brunnen, sah nach oben und sagte nichts. Luca musterte mich kurz und sagte ebenfalls nichts.
„Tja …“, sagte ich nach einer Weile.
„Er ist da?“
Ich nickte.
„Und … was ist das für einer?“
„Nerdbrille, blond, so groß wie du …“
„Wie alt?“
„Keine Ahnung, 23, 24 …“ Ich zuckte mit den Achseln. „So wie Hannah und ich.“
Luca nickte, und hinter mir plätscherte der Brunnen. Ich sah nach unten, steckte die Hände in die Hosentaschen und schob ein bisschen Kies mit den Füßen hin und her, versuchte einen kleinen Berg zu formen.
Bald kamen die ersten Tatort-Gucker raus, im Gespräch vertieft, lachend. Die Musik wurde aufgedreht, Elektro schoss durch den Hof, und schlagartig war die Atmosphäre eine andere.
Luca sah mit großen Augen in die Menge, trat von einem Fuß auf den anderen und erstarrte plötzlich, wie vom Schlag getroffen. Er lächelte, fuhr mit einer Hand durch sein Wuschelhaar, wusste nicht wohin mit den Händen, fuhr wieder mit der Hand durch sein Wuschelhaar.
Die Schwanenfrau kam auf ihn zu.
Sie nippte an einem Glas Weißwein und grinste und sah zu Boden und warf den Kopf zurück und blondes Haar flog durch die Luft und sie lächelte. Ein vollbusiges, achtzehnjähriges, gebräuntes, Wangen-Baby-Speck-besitzendes, grünes-Sommerkleid-und-Festivalbändchen-tragendes, übermütiges kleines Vollweibchen.
„Luca! Hiiiiiiiiiii! Was machst du hier?“
„Hi, Laura. Hey! Ja, ich … also … ich …“ Und schon wurde er rot.
Sie sah ihn, abwartend, mit offenem Mund, total gespannt auf seine Antwort.
„Naja … ich dachte halt … weil … es war halt so, dass …“
„Wir hatten Durst“, sagte ich.
Das kleine Biest wandte sich mir zu. Und sah mich tatsächlich so an, als nähme sie mir das nicht ab, als genüge ihr die Antwort nicht.
Ich schenkte ihr ein ganz kleines Lächeln und sonst nichts.
Einen Moment lang hielt sie meinem Blick stand. Dann sah sie nach unten, legte die Hand auf die Brust und brach in Gelächter aus. Richtig laut. Luca lachte auch. Haha. Beide zusammen jetzt. Sie schaukelten sich hoch und kriegten sich fast nicht mehr.
Das war einer dieser Momente, wo man merkt, dass man nicht mehr achtzehn ist.
„Das ist Marc“, sagte Luca, nachdem sie sich beruhigt hatten. „Marc: Laura.“
Ich schüttelte ihre Hand, lächelte ein bisschen freundlicher und ging.


Ich lehnte mich mit dem Rücken gegen die Sommerbar, bestellte ein Bier und sah auf den immer voller werdenden Hof.
Hannah fand ich nirgends. Vielleicht war sie noch drin. Oder schon gegangen?
Welten lagen zwischen diesen beiden Möglichkeiten. Wenn sie weg war, war sie wirklich weg, das spürte ich, dann war die Sache gelaufen. In der Hinsicht gab es keinen Morgen.
Aber wenn sie noch hier war … nun, dann hatte ich noch eine Chance. Keine besonders gute, das musste ich mir eingestehen, aber ich hatte eine. Der Feind mochte ein glattgebügelter Schwiegermuttertraum sein, aber auch nur ein Typ. Wahrscheinlich war er nett, ein netter Typ, der Tatort guckte und kein Fleisch aß und eine Nerdbrille trug. Die Welt ist voller solcher Typen. Drauf geschissen. Sollen sie doch die Welt vererben, sich die neueste ökofreundliche E-Klasse holen und dafür sorgen, dass eine Fleischsteuer eingeführt wird. Mir doch scheißegal. Mir war alles egal. Solange sie die Hände von Hannah ließen.
Ich wusste, dass ich eine Chance hatte. Das wusste ich einfach …
Ich trank mein Bier leer, bestellte ein Neues, spähte angestrengt in die Menge, spürte jede einzelne Minute an mir vorbeistreichen wie ein Fingerzupfen am Herzen - und fand sie. Sie stand beim Brunnen in einem großen Kreis von etwa zehn Leuten.
Ein Mal tief Luft holen. Etwas Tigerblut runterhauen. Sich auf sich selbst besinnen.
Und los geht's.
Ich nahm mein Bier, marschierte los und drängte mich in den Kreis, in diesen heiligen Clusterfuck, wo man den Tatort mit ironisch-kritischer Distanz sezierte, Banalitäten wie Weihrauch von sich gab und jederzeit aussah, als würde man an einem pseudoalternativen Style-Krieg teilnehmen. Alte Jeansjacken, gepflegte Bärte, Nerdbrillen, Hippie-Kopftücher, Second-Hand-Hosen, 200-Euro-Schuhe, Gypsy-Ketten … alles war dabei.
„Ich muss mir dir reden, Hannah.“
Es wurde ganz ruhig in dem Kreis.
„Jetzt“, fügte ich noch hinzu.
Sie stand neben dem Feind und sah natürlich gut aus, Style-Krieg hin oder her. Sie hatte schwarze Leggings an, diese sexy Wahnsinnsdinger, die einfach nur alles betonen, wie eine zweite schwarze Haut. Darüber wedelte ein ultrakurzer Stofffetzen, im Grunde ein Alibi-Rock, einer mit einem altmodischen Omablumen-Muster drauf, so bisschen punkig. Dazu bronzefarbener Lippenstift und hübsche Slipper mit goldener Schnalle. Sie trank einen Schluck Rotwein und sah mit blauen Augen zu mir auf.
Neben ihr stand der Feind und funkelte mich von hinter seiner Brille an.
Ich sah ihm direkt in die Augen. Drei, vier, fünf Sekunden lang. Er schluckte, blinzelte, versuchte locker auszusehen, scheiterte kläglich. Als nächstes war der Kumpel dran, der neben ihm stand. Dann die komischen Öko-Tussis …
Ich nahm sie alle ins Visier, einen nach dem anderen. Sollte doch einer was sagen, komm schon, sag doch einer mal was!
Hannah sah nach unten und seufzte. Sie seufzte und dachte nach, während der Fokus der Gruppe langsam von mir auf sie rückte – schließlich lag der Ball bei ihr. Nach einer langen, heftigen Stille, sah sie mich endlich an, mit einem launischen Ausdruck im Gesicht, den ich gut kannte: die Brauen hochgezogen und den Mund zur Seite geschoben.
Das klingt jetzt völlig absurd, aber da musste ich fast lachen.
Ja, Superbabe! Du musst jetzt mitkommen! Anders läuft das hier nicht …
Sie sah den Feind an. Und er nickte, ganz ruhig, selbstsicher, fast schon gönnerhaft. Ich hasste ihn für dieses Nicken. Hannah spazierte aus dem Kreis, und ich folgte ihr. Wir gingen ein gutes Stück durch den Hof, weg von der Menge. Sie blieb stehen und drehte sich in der Dunkelheit. Etwas Licht von der Bar schien auf ihr Gesicht.
„Hannah, du machst einen Riesenfehler“, sagte ich. „Einen Riesenfehler.“
Sie sah mich nur an.
„Du kannst mich doch unmöglich wegen dieser Nerdbrille verlassen.“ Ich gestikulierte wild in seine Richtung. „Das geht einfach nicht!“
„Du kennst ihn doch gar nicht.“
„Was gibt’s da zu kennen? Guck ihn dir an! Ist er reich?“
„Er ist nicht reich …“
„Dann macht das aber wirklich gar keinen Sinn.“
Sie seufzte. „Ich wusste, dass du hier auftauchen würdest …“
„Du Hellsichtige.“
„Marc …
„Was studiert er denn?“
„Jura.“
Jura …
Ich schüttelte den Kopf. „Du mit einem Juristen?“
Sie rollte die Augen. „Und du immer mit deinem Schubladendenken … Ich mach Kulturwissenschaft, na und? Du studierst Sport und Englisch auf Lehramt – willst du darauf reduziert werden?“
Wie sie ihn verteidigte gegen mich!
Ich sah ihr in die Augen. „Hannah, schau mal, ich … ich glaube einfach nicht, dass es irgendwen auf der Welt gibt, der so viel für dich empfindet, wie ich es tue. Das glaube ich einfach nicht.“
Sie runzelte die Stirn. „Hast du das von irgendeinem Lied?“
„Ach komm …“ Ich drehte mich zur Seite und kämpfte gegen den Impuls an, einfach zu gehen. Aber ich konnte jetzt unmöglich gehen. Ich wandte mich ihr wieder zu. „Ich liebe dich, Hannah.“
„Marc … du bist betrunken.“
„Ist doch wurscht.“
„Nein, das ist nicht wurscht. Du hast dich betrunken und dir komische Gedanken gemacht und dich da voll reingesteigert. Schau mich nicht so an, ich kenn dich.“
Ich fasste nach ihrem Arm, versuchte sie zu greifen. „Schatz …“
Sie ging weg, verzog das Gesicht. „Hör auf.“
„Was soll ich machen, Hannah?“
„Nichts …“
„Sag, was soll ich tun? Ich schau mir auch die Doku an, wirklich!"
„Marc …“
„Ich ess auch mal ne Falafel!“
„Marc …“
„Ich geh auch Tatort mit dir gucken und versuche an den richtigen Stellen zu lachen!“
„Marc, es funktioniert einfach nicht. Du wirst das schon selber merken. Warum schläfst du nicht einfach eine Nacht drüber? Dann können wir nochmal reden … okay?
„Okay?“ Ich schüttelte fassungslos den Kopf. „Nein, das ist nicht okay.“
Sie widersprach nicht. Sie stand einfach da, das linke Knie vorgeschoben, die Arme verschränkt.
Ich senkte den Kopf. Mir fiel nichts mehr ein. Ich war am Ende meiner Möglichkeiten, am Ende meiner Kräfte auch. Einfach nur am Ende.
„Marc, wir sprechen uns morgen, okay?“
„Leb wohl, Hannah.“
Jetzt setzte sie doch zum Widerspruch an. Ein Ruck ging durch ihren Körper, sie hob die Hand, machte den Mund auf - und zögerte.
Wenn ich gehen sollte, musste sie mich schon gehen lassen.
Leb wohl …
Ich glaube, an einen Abschied dieser Art hatte ich den ganzen Tag über kein einziges Mal gedacht. Aber nun war der Satz gefallen, und … war es nicht so? Ich war doch kein Typ, der sich irgendwo mit der Exfreundin und ihrem Neuen blicken ließ.
Wir würden nie wieder kuscheln, nie wieder zusammen in den Urlaub fahren, uns nie wieder verkleiden, uns nie wieder über Tiere und Tatort und Schubladendenken streiten … es war vorbei.
Vielleicht ist das auch ihr erst in diesem Moment bewusst geworden. Etwas Härte wich aus ihrem Gesicht, die Art Härte, die bei Frauen erst auffällt, wenn sie nicht mehr da ist. Sie trat vor, nahm meine Hand, und ich sah in diese Augen, die ich so sehr vermissen würde. In diesem Moment fühlte es sich wie früher an, ich drückte ihre schöne schmale Hand und fragte mich, ob ich nicht doch noch etwas sagen wollte! Irgendwas! Jetzt oder nie! Eine letzte Umarmung vielleicht!
Aber ich ließ es sein, und sie machte auch nichts mehr, und ich ließ ihre Hand los, und sie ging in der Dunkelheit davon.


„Das geht nicht, Luca.“
Ich saß auf dem Boden, ganz am Rande des Hofs, wirklich in der dunkelsten, hintersten, elendesten Ecke, wo man normalerweise nie im Leben gefunden werden kann.
Irgendwie hatte Luca mich trotzdem gefunden.
„Wir können noch nicht gehen“, sagte ich. „Du hast sie nicht geküsst.“
„Ich hab morgen früh Vorlesung und …“
„Und?“
„Heute ist schlecht, es sind voll viele Leute da.“
„Luca, wenn du wüsstest, wie krass du mich fertigmachst …“
„Ich weiß, dir geht’s nicht gut, Marc, aber …“
„Ich versteh dich einfach nicht. Willst du sie eigentlich küssen oder nicht?“
„Natürlich, aber …“
„Ich hab euch vorhin beobachtet, das sieht doch gut aus, sie fasst dir die ganze Zeit an den Arm und lacht.“
„Das macht sie nicht nur bei mir so …“
Gut, das konnte natürlich sein.
Ich stand auf. „Wo ist sie jetzt?“
„Da hinten.“
„Komm, wir schauen uns das an.“
„Marc …“
„Wir schauen nur.“
Sie stand mit fünf Freundinnen im Kreis, immer noch am Weißwein trinken, noch immer gut gelaunt, ein kleines, hüpfendes, lachendes, Energiebündel.
„Und?“, sagte Luca.
„Ich finde, sie sieht tatsächlich so aus, als hätte sie so viele Hormone im Blut, dass sie kaum noch zwischen einem Schwan und einem Mann unterscheiden kann.“
Er verzog den Mund.
Ich klopfte ihm auf die Schulter. „Das ist doch was Gutes, Mann. Das ist doch auch was Gutes … also ich kann dich auf jeden Fall verstehen.“
Er nickte irgendwie leidvoll.
„Fassen wir mal zusammen, Luca. Sie ist achtzehn, sie ist single, sie ist angetrunken, sie ist scharf, du hast heute den halben Tag alleine mit ihr am See verbracht, wir haben gleich Zwölf und kein anderer Typ steht grad in der Nähe - ist das die aktuelle Lage?“
Er nickte. „Im Großen und Ganzen.“
„Boah, ich fang gleich an, dich zu beneiden. Okay, pass auf: Willst du es jetzt machen, oder nicht? Ich habe den ultimativen Move für dich, wirklich den ultimativen Move.“
„Aber ich hab mich halt schon verabschiedet, verstehst du? Ich hab ihr gesagt, dass ich gehen muss. Wenn ich jetzt zurückkomme … das ist doch komisch.“
„Das ist perfekt!“
„Aber …“
Ich seufzte. „Luca, hast du schon mal von der Friend Zone gehört?“
„Hab ich.“
„Das ist die Hölle auf Erden, Mann. Wenn du da reingerätst, bei der Frau, das ist wie Folter. Und ich bin jetzt ganz ehrlich mir dir: Du schlitterst im Augenblick gerade so dran vorbei. Noch bist du nicht drin, aber ich sehe die Gefahr bei dir schon. Ich sehe sie.“
Er machte ein langes Gesicht.
„Aber … das passt schon. Das passt schon. Du musst halt irgendwann ein Zeichen setzen, am besten letzte Woche schon, aber heute Nacht ist perfekt, guck mal, wie schön es hier ist, perfekt, perfekt, perfekt … hörst du zu?“
Er hörte zu.
„Okay, pass auf: Zuerst musst du sie von ihren Freundinnen wegführen. Du gehst rüber, ganz unauffällig, kommst so von der Seite an, und sagst: Ich muss dir noch was sagen. Komm mit. Das sagst du ein bisschen leiser, sodass nur sie es hören kann. Und dann geht sie auch mit. Du bist der Mann, vergiss das nicht. Wenn du komm mit sagst, gehen sie auch mit. Dann bringst du sie irgendwo hin, wo es dunkel ist, da bei der Palme vielleicht, dort sieht euch niemand. Du bleibst dort stehen und drehst dich ihr zu. Und dann wird sie dir ganz sicher in die Augen schauen, denn sie wird wissen wollen, was du jetzt sagst. Sie wird voll gespannt sein. Und du erwiderst ihren Blick und sagst einfach Folgendes: Laura, ich fand den Tag so schön mit dir, ich kann ihn einfach nicht enden lassen, ohne dich zu küssen. Merk dir den Satz: Laura, ich fand den Tag so schön mit dir, ich kann ihn einfach nicht enden lassen, ohne dich zu küssen. Und das war's schon. Der Rest ergibt sich.“
Er sah über den Hof, dachte nach. „Und du glaubst, das klappt?“
„Ich hab noch nie erlebt, dass das nicht klappt.“
Er dachte immer noch nach.
„Seh's so“, sagte ich, „das Einzige, was du verlieren kannst, ist ne Ein-Weg-Fahrt zur Friend Zone. Und gewinnen kannst du ziemlich viel.“

Ich wartete draußen auf ihn, in der Gasse vor dem Hof.
Es dauerte lange.
Endlich kam er raus, irgendwie locker, mit etwas Swag im Gang, die Arme schwangen mit – ich wusste sofort, dass es geklappt hatte.
„Du Tier!“, rief ich ihm zu.
Er strahlte. „Ja, also …“ Er lachte. „Hammer-Move, Marc!“
„Haha! Ich hab's dir doch gesagt: das klappt immer.“
„Echt Hammer-Move …“
Wir spazierten davon, und er ging neben mir her, als hätte er Jetpacks in den Fußsohlen.
Ich lachte. „Flieg nicht davon.“
Er strahlte nur, konnte gar nicht mehr aufhören damit.
„Krass“, sagte ich. „Was hat sie denn mit dir gemacht?“
Er strahlte nur.
„Hast du ihr an die Titten gefasst?“
„Nein.“
„Nicht mal aus Versehen gestreift oder so?“
„Nein, nein …“
„Boah, du hast ja voll die Selbstbeherrschung!“
Er lachte, hob die Brauen an und sagte: „Aber die sind echt ziemlich groß …“
„Du hast sie angefasst!“
Er grinste und grinste.
„Alter …“ Ich lachte.
Er holte sein Handy raus, sah nach unten, blieb plötzlich stehen. „Was meinst du?“, sagte er. „Soll ich mich heute Nacht noch melden? Oder erst Morgen?“
„Puh … keine Ahnung. Ist das jetzt anders mit Smartphones? Morgen vielleicht? Ach, macht doch keinen Unterschied. Irgendwann bald.“
Er nickte. „Ich schreib ihr nachher kurz.“
„Jo …“
Wir gingen ein Stück am Neckar entlang.
„Weißt du“, sagte ich, „ab jetzt wird das alles eine große Spazierfahrt. Du hast jetzt den schwierigsten Teil hinter dir, und alles, was fortan mit Laura passiert, wird total einfach werden, total einfach …“
Er nickte und schwebte einfach weiter. Ich fand das lustig, dass er die Ironie in meiner Stimme gar nicht mitbekam, dachte aber zugleich, dass es vielleicht gut war, wenn er sie nicht hörte. Und dass ich das vielleicht gar nicht hätte sagen brauchen.
Dann blieb er aber doch stehen und sah mich an.
„Das tut mir echt leid mit Hannah“, sagte er.
„Ich weiß“, sagte ich. „Ich weiß …“ Und auf einmal wurde es ganz still um mich rum. Eine Stille legte sich auf meine Brust, schwer wie der Tod, und ich bekam keine Luft mehr. Ich wusste nicht, was dagegen tun, also zuckte ich schnell mit den Achseln und sagte: „Shit happens.“
Er nickte. „Ja, shit happens.“
Und schon war die Stille weg, und mir ging es wieder besser.
„Hast du Hunger?“, fragte ich.
„Und wie!“
„Meinst du, der Döner bei der Post hat noch offen?“
„Das wär jetzt so geil.“
„Machen die nicht um eins zu?“
Er holte sein Handy wieder raus. „Wir haben jetzt fünf vor eins …“
Wir sahen uns an.
„Komm“, sagte er, „das schaffen wir noch.“

 

Hey :)

Jetzt hab ich doch ein bisschen ausgeholt … ist natürlich die Frage, ob ich das richtig verstanden hab. :)

Nein hast Du nicht. Du hast mich komplett - aber sowas von - missverstanden. Ich habe meine! Lesart beschrieben und eine Lesart ist keine Kritik. Ich werte damit die Geschichte nicht ab. Meinst du, ich hätte gern gelesen drunter geschrieben, wenn mich der Typ da die ganze Zeit angekotzt hätte?

Ja, du erwartest da was ganz anderes von ihm.

Nein, tue ich nicht. Wo steht das? Ich sage nur, wenn er dies und das denkt, nachdem dies und das, dann ist es für ihn nicht der super Verlust. Daran ist nichts negatives, ich werte nicht ihn als Person, sondern es sagt für mich etwas über die Beziehung der beiden. Und da muss man jetzt kein furchtbares Frauenbild drauftopfen, in welchem Frauen die Abschaffung der Männlichkeit fordern.

Was wäre dir denn da eingefallen an der Stelle? Sie sagt nicht: Ich mach Schluss, sondern: ich schlafe mit einem anderen - was erwartest du da von einem Mann, wenn er damit überfallen wird? Eine Liebeserklärung? Solle auf die Knie gehen und sich dafür entschuldigen?

??? Was soll die Frage? Es geht nicht darum, was ich erwarte.

Werden Frauen nie verlassen oder wehgetan? Die Texte fehlen? Es schreiben doch immer die Männer über so was, ist auch komisch.

Tom (und garantiert noch mehr Geschichten hier und jeder gefühlte Scheiß Chick-Lit beginnt damit und Sybille Berg mag ich nicht, aber es gibt sicher Romane von Frauen, in denen das thematisiert wird) ... worüber reden wir hier eigentlich verdammt?

Hier ist es im Grunde umgekehrt und du willst ja trotzdem, dass Ben auf die Knie geht und alles versucht und Herz offen und Liebe und die Beziehung retten. Und das macht er später sogar!, aber man nimmt das nicht ernst, man glaubt ihm nicht, Generalverdacht.

Spätestens hier wurde es mir echt zu blöd. Will ich das, ja? Warum sollte ich? Weil ich eine Frau bin und wir Frauen das eben so wollen? Glaubst Du eigentlich selber, was Du da schreibst?

Ich bin komplett verwirrt und frag mich, ob wir beide tatsächlich den Kommentar des anderen auch nur irgendwie verstanden haben. Ich deinen jedenfalls nicht. Und Du mich auch nicht. Belassen wir es dabei.

Beste Grüße, Fliege

 
Zuletzt bearbeitet:

Ja, interessantes Timing. Also ich hatte das alles schon gelöscht, und zwar wirklich ganz kurz bevor du darauf geantwortet hast, oder währendessen wahrscheinlich. (Jetzt hab ich wieder was geändert) Ich hatte echt lange nicht geschlafen und das sind dann so völlig überreizte Kommentare und ich steigere mich leicht rein. Das fühlt man sich trotz Müdigkeit ganz klar im Kopf, aber die Sicht ist dann beschränkt. So in der Menge fand ich das als Antwort jetzt auch unverhältnismäßig, drum hab ichs gelöscht. Ich verstehe, dass du dann auch bisschen verwirrt bist. Das war natürich viel Projektion, wobei meine Projektion darin bestand, mir deine Projektion vorzustellen und sie quasi mit meiner zu vergleichen und zu sezieren. Das ist dann auch ein bisschen komisch, wenn man das so hinschreibt.

 

Hallo zash!

Sorry für die Verspätung. Hab mich über deinen Kommentar gefreut.


Die ganze Veggie-Nazi-Diskussion führte ich auch vor nicht all zu langer Zeit. Finde ich super, dass du die hier gebracht hast...

cool


Ganz besonders gefiel mir das hier...

Wir gingen nach draußen und fühlten uns tatvoll und prächtig. Der Heidelberger Sonnenuntergang ist ein Traum. Die Zeit im Zustand des Zerfalls erfasst, die Welt im Kampf mit der ureigenen Rotation, der Himmel als Schlachtfeld. Dazu Studentenstadtluft: Frisch und fein wie in einer tibetischen Teestube. Herb und dunkel wie im Londoner Untergrund. Antiker Schweiß strömte von den Pflastersteinen, Schweinsbraten verführte in die Fachwerkgaststätten, Schokolade floss in den Cafés und aus den Bars wehte Drachenatem - das ist eine ganz besondere, von unterdrückten Trieben schwül geheizte Abendessenz, mehr Energie als Duft, mehr Leben als Sterben, mehr Hannah als Später.
Das hat sich sehr schön lesen lassen und ich musste irgendwie durchgehend grinsen. (Keine Ahnung, ob das hier schon erwähnt wurde, habe mir Seite 2 der Kommentare nur semi-halbherzig durchgelesen, aber ich glaube, dass die Londoner Underground weiblich ist.)
Vor Kurzem war ich selbst in Heidelberg und ich glaube, dass ich da an besagtem Brunnen rumsaß. Ist das der mit Blick zur Burg (oder Schloss) hoch? Egal...


Freut mich, dass der Absatz gelobt wird. Da saß ich auch verhältnismäßig lange dran, und währenddessen dachte ich immer wieder so: Alter, was machst du? Weil mit einer Stadtbeschreibung punkten … sonst langweilen mich so Stellen auch schnell. Aber hier hats gepasst vom Gefühl her und dann gefiel es mir auch. Freut mich, wenn das ankommt! Ja, das ist glaub mit Blick auf Burg.

Die ganze Sache mit dem Tatort fand ich auch sehr gelungen. Da konnte ich schön mit dem Protagonisten fühlen. Hier (Bamberg, auch Studentenstadt) gibt es auch so eine Studentenkneipe in der Tatort auf einer Leinwand ausgestrahlt wird und ich bin da mal rein, weil ich vollkommen davon überzeugt war, dass die das nur so zum Spaß anschauen; um sich etwas drüber lustig zu machen eben, weil es in Sachen "Krimiserie" na nun wirklich eher unterste Schublade ist, verglichen mit anderen vorhandenen Serien. Alles in Allem wurde ich recht schnell der Theke verwiesen, weil ich mich mit meiner Begleitung unterhalten habe. Das hat mich in so vielerlei Hinsicht verstört...

Ja, komisches Phänomen ... also ich beobachte das wie mein Prot hier auch eher von außen, ich seh das so und ja … so GANZ hab ichs immer noch nicht verstanden, und sonst nähert man sich einem Thema ja beim Schreiben, ich hab mir hierfür ein paar Tatorte reingezogen und ein paar Artikel über das Phänomen gelesen, kam auch erst im Spiegel als Titelstory, hab mit paar Leute veruscht drüber zu reden … und ja … so richtig verstehe ich glaub immer noch nicht. Ich kann auch nur sagen: Ist ein Gruppenphänomen, hat mir Zueghörigkeit zu tun, ein gemeinsames Gesprächsthema, bei uns gabs ne Zeit, da war Basketball voll in in unserem Kaff, und dann war die Halle plötzlich voll, weil die Halle voll war, weil man dort halt Leute getroffen hat und so. Heißt ja auch: Man geht in die Vorlesung, um Leute zu treffen. Irgendwie denke ich, bei Tatort ist es auch so. Nur: so Sachen lutshcen sich dann auch schnell aus, und dann ist was anders plötzlich wieder in … das geht jetzt schon ne Weile mit Tatort.

Auch sehr gut hat mir der Umgang der beiden männlichen Teilnehmer der Geschichte miteinander gefallen. Ich weiß nicht, wie du dir deren Beziehung vor der Erzählten Geschichte vorgestellt hast, aber für mich hatte es den Eindruck, als ob die beiden durch ihre 'Frauenprobleme' zusammengeschweißt wurden. Zwei verschiedene Altersstufen mit ihren eigenen spezifischen Problemen. Der eine eine Art Mentor für den anderen - was ist schon ein einfacher Kuss, wenn man mal 25 - 26 ist? Fand ich sehr gut.

Ja cool, ich seh das ähnlich.

Ich glaube das einzige, was mich etwas gestört hat war, dass ich Ben irgendwie arschlochhaft fand. So als hätte er - wie es schon gesagt wurde - die Interessen von Hannah nicht wirklich ernst genommen. Klar, war sie wohl manchmal ne Zicke... was solls. Alles gleich so negativ und nervig zu betrachten fand ich etwas zu viel. Das ganze fand ich aber nur 'schlecht', weil ich mir gewünscht hätte, Ben als netten Typen zu sehen, weil der Anfang 'seiner' Geschichte echt gut war.

Ja, kann ich auch irgendwie verstehen.


Alles in Allem: Daumen hoch.

Freut mich! Vielen Dank, Zash!


MfG,

JuJu

 

Hey Juju,

wurde schon so viel geschrieben und gelobt, dass ich mich kurz fasse:

Was mir immer wieder an Deinen Stories auffällt, ist, dass Du die Dinge wirklich zeigst. Da wird nichts kurz erzählt und abgetan. Besonders die Dialoge bringst Du immer perfekt und eben so lang wie sie sein sollten. Das sind so Sachen, um die sich ganz viele herumdrücken oder es gar nicht bemerken, weil sie lieber in ihrer ichbezogenen Gedankenwelt bleiben (da schließe ich mich auch selbst ein). Ich finde schon, dass man sich da eine Scheibe von Dir abschneiden kann.
Wobei natürlich klar ist, dass man auch eine andere Art von Kurzgeschichten schreiben kann, so Peter Stamm-mäßig, wo die Dialoge zwei, drei Zeilen kaum jemals überschreiten.

Tja, und sonst?

Wo waren wir schief gelaufen? Hätte ich mir die Doku reinziehen sollen?

Hahaha ! Super!


Und mit ihm ist es anders. Wir lachen viel.“ Sie zuckte mit den Achseln, als könnte sie mit dieser kleinen Scheißbewegung einen Strich drunter ziehen.
Ich schloss für einen Moment die Augen und atmete durch.
Sie lachen viel, dachte ich.
Der Vegetarier und sie, sie lachen.

Auch das finde ich groß :)

Beste Grüße, T.

 

Hey T Anin!

Was mir immer wieder an Deinen Stories auffällt, ist, dass Du die Dinge wirklich zeigst. Da wird nichts kurz erzählt und abgetan. Besonders die Dialoge bringst Du immer perfekt und eben so lang wie sie sein sollten. Das sind so Sachen, um die sich ganz viele herumdrücken oder es gar nicht bemerken, weil sie lieber in ihrer ichbezogenen Gedankenwelt bleiben (da schließe ich mich auch selbst ein). Ich finde schon, dass man sich da eine Scheibe von Dir abschneiden kann.

Das ist ein großer Lob, das freut mich. Mir machen Dialoge ehrlich gesagt auch immer besonders Spaß, ich finde sie auch dankbar für einen Autor, es gibt irgendwie immer eine Grundspannung zwischen zwei Menschen, das ist gewissermaßen, auch wenn es hochtrabend klingt, die Urspannung, das macht uns zu Menschen, der Kontakt zu anderen Menschen, und dann lässt man einfach zwei Menschen aufeinanderlos und zapft ihre Grundspannung ab, da halt ich mich gerne auf. Das ist nicht so wie: Beschreibe jetzt die Landschaft, dass dir der Leser nicht einschläft und nicht banal schreit. Hier beschreibe mal wieder einen Sonneuntergang, sag irgendwas von wegen orange und purpur, sag irgendwas Frisches. Gott. Mich freuts hinterher immer, wenn ichs hinkrieg, ich kann dem schon was abgewinnen, aber das sind auch häufig Situationen, wo ich vor dem Blatt sitze und mir die Eier kratze und dann denke ich auf einmal: ich brauch jetzt dringend einen Kaffee. Dialoge sind dann viel spaßiger.

Peter Stamm hab ich ein paar mal angelesen im Buchladen, glaube ich, bin da nie sehr weit gekommen, der ist doch vom Stil her so richtig karg und so, kann das sein? Ich denk dann immer: Wenn man alles so weit runterfährt, dass fast nix mehr übrig bleibt ... dann macht man auch keine "Fehler", dann ist alles ganz still und makellos und steril und keiner sagt was Falsches und hauptsache Stille und nichts greift daneben, und dann, auf einmal, ein schönes Bild, das aus der Stille herausbricht, eine besondere Geste und bäm ... alle Zeit-Feuillitonisten liegen platt. Oder so. Vielleicht ist Stamm auch toll, keine Ahnung, kenn ihn nicht wirklich. Ich denke bei Dilaogen ist es eig. immer gut, wenn man die Filter raushaut, zumindest zu Beginn, da den ungefilterten Mensch durchlassen, mit alles menschlichen Schwächen und so, auf die Leute eingehen, sich das vorstellen, ihnen alles zugestehen, ungefiltert, es sind doch nur Figuren, da kann man doch richtig spielen und Spaß haben. Aber jetz laber ich wieder.

Vielen Dank, T Anin, hat mich sehr gefreut!

MfG,

JuJu

 

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