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Der nicht!

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23.10.2008
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Der nicht!

Der nicht!

Die Jungs stehen in kurzen Hosen am Straßenrand, lässig gelehnt an ihre Räder. Zimtkaugummis machen die Runde. Was tun mit dem Nachmittag? Man spielt eine Weile im Staub mit den Autos, fährt Kreise und produziert Unfälle.

Doch nach ein paar Minuten unterbricht Kai das Treiben der anderen, die noch auf den Knien hocken. Das ist langweilig! Lasst uns was anderes machen. Sie ziehen weiter durch die Hitze, vorbei an Gärten, einem Tennisplatz, in einen Wald. Die Häuser der Stadt sieht man vor hier aus nicht mehr. Sven hat Böller dabei, die ganzen Hosentaschen sind damit vollgestopft. Die ersten fliegen im hohen Bogen zwischen die Bäume. Die Explosionen hallen wunderbar durch das Waldstück und sie lachen über jeden einzelnen Knall. Ihre Hände riechen nach Schwarzpulver, als die letzte Packung aufgebraucht ist.

Also zurück zur Straße. An der Kreuzung beim Kiosk steht der dicke Steffen und schleckt an einem Wassereis. Der steht auch in der Schule immer alleine in der Ecke. Steffen kommt angeschlurft, in langer Hose, sein neues Fahrrad neben sich. Der Metallic-Lack funkelt in der grellen Sonne. Darf ich mitspielen? Er blickt mit großen Augen erwartungsvoll in die Runde. Was für Kuhaugen der hat, denkt Kai. Du spinnst wohl, lacht er dann und macht dann ein ernstes Gesicht, während er sich zu den anderen dreht. Der nicht! Dann überlegt er aber. Steffens Eltern haben in der Stadt ein Geschäft, da gibt es Süßigkeiten und Spielsachen. Aber Kai möchte eigentlich nicht mit Steffen spielen. Den anderen wäre es egal. Heiko sagt: Wieso nicht? Kai stellt sich dicht vor Steffen. Na gut, von mir aus. Aber wir spielen, wie ich es will. Niemand widerspricht. Steffen lächelt und reckt die Arme empor; eine kurze, kaum sichtbare Geste.

Im Eiltempo wird zur alten Brauerei gefahren, ein verzweigtes, längst verlassenes Backsteingebilde am Waldrand. Der Schornstein ist schon von der Hauptstraße zu sehen. Die Jungs sind oft hier. Eine staubige Allee führt direkt hin, schnurgerade auf das Gebäude zu. Im Hof davor ein Bagger, über und über bedeckt mit Rost und kleinen Pflanzen, die Scheiben eingeschlagen. Überall eiserne Maschinen, Kessel, allerhand interessanter Schrott, der seit Jahren still vor sich hindämmert. Die hohen Wände des einstmals prächtigen Hauses schlucken viel von der Sonne, es ist hier angenehm kühl. Einen Moment stehen alle vor dem mächtigen, dunklen Giebel der Industrieruine und starren andächtig nach oben. Niemand sagt etwas. Den Weg durch den zugemauerten Eingang an der Seite kennen sie nur zu gut. Ein kleines Loch haben sie sich durch die dicken Steine geschlagen, schon vor langer Zeit; ihre kleinen Körper passen mühelos durch und selbst Steffen ist mit einem Satz im Gebäude.

Drinnen ist es erstaunlich hell, von überall her fällt das Sonnenlicht auf den braunen, modrigen Boden. Das Dach hat viele Löcher. Die Fenster im ersten und zweiten Stock sind nur zum Teil zugemauert. Man durchstöbert in Ruhe die Ruine, wühlt in alten Holzkisten und untersucht lange verlassene Schreibtische. Die Räume sind alle viel größer als ihr Klassenzimmer. Im Keller gibt es einen Gewölberaum, in dem dutzende Schaufensterpuppen stehen, von Spinnweben eingehüllt. Die Kinder spüren beim Anblick einen lustvollen Schauer.

Im zweiten Stock ruft Kai plötzlich alles zusammen, er wirkt wieder ernst. So, wir spielen jetzt Geiselnehmer. Steffen ist die Geisel. Warum nicht? Mit den Knallpistolen veranstalten sie ein Mordstheater, rennen durch die gewaltigen Räume, verstecken sich hinter Fässern, herabgestürzten Balken und Schutt und schießen, was das Zeug hält. Nur Steffen steht gefesselt mit einem Kabel an einen alten Kran aus rostigem Stahl. Kai hat es mit seinem Taschenmesser extra zurecht geschnitten. Um die Augen haben sie Steffen ein altes Stofftuch gebunden. Aber immerhin darf er mitspielen. Selig lauscht er dem Lärm der anderen, auch wenn der Knoten ihm wehtut. Bestimmt darf ich gleich auch mal schießen, denkt er. Einen Stock tiefer kniet Kai sich plötzlich hin. Er hält sein Feuerzeug an einen hoch aufgetürmten Stapel mit trockenen Stoffballen, Pappe, Holzresten und allerhand Plunder. Der steht wie ein staubiger Berg mitten im Raum. Es wird schlagartig still, das helle Knallen der Spielzeugwaffen verstummt. Die anderen blicken Kai ungläubig an. Das ist nicht gut, sagt Michael halblaut. Meine Mutter hat gesagt, wenn … Halt`s Maul, du Bettnässer, zischt Kai und schlägt Michael mit der flachen Hand auf den Hinterkopf. Wieder blitzt das Feuerzeug in seiner Hand auf. Ein lautes Zischen fährt aus dem Abfallberg und die Jungs springen erschrocken zurück. Da steht der ganze Stapel im Nu in Flammen. Das Zeug muss schon Jahre hier gestanden haben, denn es brennt wie Zunder. Kai ist selber überrascht und lässt das Feuerzeug fallen. Das Zischen ist nach einigen Sekunden schon zu einem Rauschen geworden. Die Flammen spiegeln sich in seinen großen dunklen Augen, feuerglühende Teilchen schwirren umher. Feine Rauchschleier verteilen sich im Raum und ziehen bis unter die hohe Decke. Sie poltern alle die breite Holztreppe hinunter, durch die Halle mit den Karofliesen an den Wänden, zwängen sich durch das kleine Loch in der Mauer, raus zu den Fahrrädern, in die Freiheit.

Es geht zurück durch die Allee, die Gesichter sind rot und verschwitzt, die Haare sind wirr und riechen nach Feuer. Sie treten fest in die Pedalen und stürzen davon. Hinter ihren Rädern steigen kleine Staubwolken vom Boden auf. Sven ist der einzige, der stehen bleibt und sich noch mal umdreht. Er sieht, wie aus den Fenstern der alten Brauerei zäher Qualm aufsteigt. Die anderen sind schon fast vorne an der Straße. Die Sonne ist mittlerweile ganz klein und rot geworden. Es ist spät. Mit einem Ruck dreht er sich nach vorne und tritt hastig, immer schneller.

Er will die anderen nicht verlieren.

 

Hey Torqueflite,
ich habe deine Geschichte echt genossen. Irgendwie hatte ich beim ersten Lesen das Gefühl sie spielt in den Fünfzigern, beim zweiten Mal fiel mir auf, dass mich nichts außer dem Sprachduktus darauf gebracht haben könnte. Ich glaube der Eindruck entstand mit diesem Satz hier

Was tun mit dem Nachmittag?
Der hat mich irgendwie an Heimatfilme mit Heinz Ehrhardt erinnert. Seltsam. So jetzt aber zu Konkreterem.
(..)fährt Kreise und produziert Unfälle.
Produziert ist so ein unhandliches Wort. Darüber bin ich gestolpert.
An der Kreuzung beim Kiosk steht der dicke Steffen und schleckt an einem Wassereis.
Toller Satz.
Er blickt mit großen Kuhaugen erwartungsvoll in die Runde.
Im restlichen Text berichtest und bewertest Du nicht. Das macht sicher die Kraft des Textes mit aus. Hier brichst Du damit, wenn Du "Kuhaugen" schreibst und Steffen negativ charakterisierst. Das funktioniert nur, wenn es Kai denkt, finde ich.
Steffens Eltern haben in der Stadt ein Geschäft, da gibt es sogar Spielsachen.
Das denkt Kai, und trotzdem zündet er Steffen am Ende an. Das passt für mich nicht zusammen. Und ist auch mit Grund für meine Hauptkritik an deinem Text. Das Ende kommt zu unmotiviert und plötzlich. Ich finde, du müsstest vorher subtil andeuten, dass Kai ein Teufel ist und vielleicht auch einen Grund für sein Verhalten hat. Nur unterschwellig, aber so, dass im Leser schon ein ungutes Gefühl entsteht, bevor sich das Ende im Nu so aufplustert.
Überall eiserne Maschinen,
Das ist mit dem "über und über" im Satz davor ein bisschen viel "über".
untersucht lange verlassene Schreibtische
Kann missverständlich sein. Untersuchen sie lange die verlassenen Schreibtische, oder sind die Schreibtische lange verlassen? Vielleicht "längst verlassene Schreibtische"?
gefesselt mit einem Kabel an einen alten Kran aus rostigem Stahl.
Steht er an einem alten Kran und ist gefesselt, oder ist er an den Kran gefesselt? Da dein Text ja ohne Rechtschreibfehler daherkommt (der Wahnsinn übrigens!), denke ich letzteres. Ist trotzdem ein stilistisch schwieriger Satz, weil du ja "gefesselt" und "steht" nah beieinander haben willst, aber man eigentlich "mit einem Kabel" vor "gefesselt" lesen möchte.
Selig lauscht er dem Lärm der anderen, auch wenn der Knoten ihm wehtut.
Wunderbar!
Noch eine Frage: Warum ist es Sven, der stehen bleibt und sich umdreht? Den hattest Du nur durch seine Böller näher beschrieben, oder?
Der finale Satz ist natürlich auch der Hammer. Und zu guter Letzt: Ich weiß, es ist sicher ein bewusst gewähltes Stilelement, aber ein paar Absätze hätten dem Text gut getan.
Vielen Dank für Deine Kunst!

 

Hallo Torqueflite,

mir hat deine Geschichte ebenso gefallen. Du schlägst einen interessanten Erzählton an, der eine eigentümliche Stimmung und Spannung erzeugt. Ich glaube, dass du das auch ganz bewusst so gemacht hast.
Im Gegensatz zu Tashemetum, bin ich der Meinung, dass der Text ein gutes Beispiel dafür ist, dass man sich auch mithilfe anderer Instrumentarien einem Thema nähern kann; würde beinahe behaupten, dass es dir - in dem Fall - gelungen ist, dich positiv von anderen (neueren) Texten abzuheben; interessanterweise ordne ich, ähnlich wie Herr Lichterloh, das Geschehen automatisch früheren Zeiten zu. Ob das jetzt an der Erzählweise liegt oder an der Jungengeschichte an sich?

Ich schreib' mal mit, was mir so ein-/auffällt:

Was tun mit dem Nachmittag? Man spielt eine Weile im Staub mit den Autos, fährt Kreise und produziert Unfälle. Doch nach ein paar Minuten unterbricht Kai das Treiben der anderen, die noch auf den Knien hocken.

MMn solltest du Allgemeinplätze streichen - also die Frage; und beim: "Man spielt ..." näher ran und die Jungen spielen lassen.

Die Explosionen hallen wunderbar durch das Waldstück und sie lachen über jeden einzelnen Knall. Ihre Hände riechen nach Schwarzpulver, als die letzte Packung aufgebraucht ist.

Also, in meinem Kopf konntest du Bilder erzeugen, ich konnte mir die Rabauken gut vorstellen und ihre schmutzigen Lausbubenhände riechen.

An der Kreuzung beim Kiosk steht der dicke Steffen und schleckt an einem Wassereis. Der steht auch in der Schule immer alleine in der Ecke.

Ginge auch mit weniger Klischee, finde ich, könntest abspecken.

Dann überlegt er aber. Steffens Eltern haben in der Stadt ein Geschäft, da gibt es sogar Spielsachen. Aber Kai möchte eigentlich nicht mit Steffen spielen.

Das ist schon ein Früchtchen, so berechnend auch. Vielleicht könntest du den noch abgezockter "bösreifer" zeichnen, indem er nicht mit Spielsachen - okay, der soll halt noch Kind bleiben, verstehe ich -, sondern was anderem liebäugelt (Knaller, Heftchen, Süßkram). Ist aber nur so ein spontaner Gedanke beim Mitlesen von mir.

Steffen lächelt und reckt die Arme empor; eine kurze, kaum sichtbare Geste.

Schon tragisch, auch später, als er dem Treiben selig lauscht ... Das hast du toll, mit ein/zwei Pinselstrichen, hinbekommen.

Die hohen Wände des einstmals prächtigen Hauses schlucken viel von der Sonne, es ist hier angenehm kühl. Einen Moment stehen alle vor dem mächtigen, dunklen Giebel der Industrieruine und starren andächtig nach oben. Niemand sagt etwas. Den Weg durch den zugemauerten Eingang an der Seite kennen sie nur zu gut.

Ja, gut geschrieben, diese Lost Places können schon beeindrucken, aber werden da echt die Eingänge und z. T. die Fenster zugemauert. So ein Aufwand?

Ein kleines Loch haben sie sich durch die dicken Steine geschlagen, schon vor langer Zeit; ihre kleinen Körper passen mühelos durch ...

Natürlich haben sie das, die Strolche, also mich holst du mit deiner Geschichte schon ab.

Im Keller gibt es einen Gewölberaum, in dem dutzende Schaufensterpuppen stehen, von Spinnweben eingehüllt. Die Kinder spüren beim Anblick einen lustvollen Schauer

Warum nicht einfach: Im Gewölbekeller stehen dutzende Schaufensterpuppen ...
Bei denen bin ich übrigens hängen geblieben, wieso denn Schaufensterpuppen in einer ehemaligen Brauerei? Um lustvollen Schauer zu erzeugen? Okay.

Warum nicht? Mit den Knallpistolen veranstalten sie ein Mordstheater ...

Auch hier würde ich die Frage streichen. Da ich mich kurz gefragt hatte, ob die Knallpistolen bereits aufgetaucht waren, erlaube ich mir, den Artikel zu streichen, dann muss ich weniger nachdenken und runder klingt's für mich auch. Ist aber - wie alles andere von mir -, klar, rein subjektiv.

Das Zeug muss schon Jahre hier gestanden [gelegen] haben, denn es brennt wie Zunder

Der Stapel steht im Raum, okay, Zeug liegt für mich aber rum.


Ja, dann fackelt alles ab, wohl auch der Steffen, der sich so gefreut hat, endlich mal mitspielen zu dürfen.
Mir hat noch etwas die Erkenntnis der Jungs gefehlt - mit Sven ist mir zu wenig -, dass da jetzt was ganz Schlimmes passiert ist. Ja, sie rasen, treten in die Pedalen, schneller und schneller, weg, weit weg, aber bisschen mehr hätte mir noch gefallen.

Trotzdem, guter Text, der neugierig auf mehr von dir macht. Deine beiden anderen Texte habe ich auch gelesen, da sehe ich auch Potential darin, die sind aber nicht frisch genug zum Kommentieren, finde ich :).

Danke für's Hochladen

hell

 

Danke an euch drei Mitstreiter und für eure ehrliche und gute Kritik! Es ist bekanntermaßen immer schwierig, so ein seinem eigenen Saft zu brodeln und daher freue ich mich über das präzise Feedback. Es freut mich auch, dass der Text durchaus Gefallen findet. Ich war mir vor allem bezüglich der Überschrift sehr unsicher und nach wie vor halte ich sie für nicht ganz so glücklich.

Ein paar Dinge werde ich auf jeden Fall zeitnah und gerne übernehmen.

Zum Thema Absätze: Ich hatte die Geschichte ursprünglich MIT Absätzen geschrieben, fand es dann aber beim Lesen etwas "übertrieben", diesen eher kurzen Text so zu einzuteilen. Aber ich stehe dem offen gegenüber und werde noch mal Absätze einfügen.

Richtig interessant ist, dass ihr darauf gekommen seid, dass das Setting in der Vergangenheit angesiedelt ist. Das war pure Absicht. Als jemand, der in den 70er- und 80er-Jahren aufgewachsen ist, wollte ich mal eine KG aus dieser Epoche kreieren. Übrigens sind viele Elemente autobiografischer Natur, natürlich nicht das fiese Ende, aber die Szene ist mir nicht so fremd. Als Kinder haben wir tatsächlich in so einer alten Brauerei gespielt, mit zugemauerten Fenstern und den Schaufensterpuppen im Keller .... ;-)

Grüße

Torqueflite

 

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