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Straßburg

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21.07.2014
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Straßburg

Straßburg
Gitte hasste ihren Mann. Sie hasste ihn für sein notorisches Fremdgehen, für das er sich nicht mal mehr eine Ausrede einfallen ließ. Sie hasste ihn für seine Art, Gitte zu rufen, wenn er sie suchte. Sie hasste ihn für so viele Dinge, die er tat und auch nicht tat, und sie hasste sich dafür, weil sie nicht imstande war, diesen Mann zu verlassen, den sie schon lange nicht mehr liebte.
„Wo ist denn schon wieder der Straßburg-Reiseführer? Menschenskinder, muss man denn in diesem Haushalt immer alles suchen!? Gi-i-tt- e!“ Manfred schrie von der Veranda des ersten Stockes hinunter in den Flur, wo sich seine Frau gerade den Übergangsmantel anzog. Sie hob verzweifelt beide Hände in die Höhe und rollte die Augen. „Er ist hier! Ich habe ihn dir schon längst bereit gelegt. Er liegt auf der Kommode.“ „Na, dann kann’s ja endlich losgehen“, donnerte es von oben herunter.
Gereizt lenkte Manfred den schwarzen Mercedes aus der Garage. Er ließ Gitte einsteigen, startete mit quietschenden Reifen. Nach kurzer Zeit erreichten sie die Autobahn.
Manfred hatte die Angewohnheit, sich nicht anzuschnallen. Vor einigen Jahren hatte er einen Unfall gehabt, bei dem er unverletzt blieb, weil er keinen Gurt angelegt hatte und auf den Beifahrersitz ausweichen konnte. Unverzichtbar für ihn allerdings war die klassische Musik. Die Wanderjahre von Liszt waren zu hören und das Paar hing seinen Gedanken des gerade erst begonnen Tages nach.
Gitte hatte sich nach langer Zeit gewünscht, wegzufahren. Sie schlug Straßburg vor. Nicht allzu weit, aber es sollte kein alltäglicher Ort sein. Manfred war alles andere als ein Romantiker, aber zu einem Tagesausflug musste man ihn nicht überreden. Er plante die Route, schaute nach einem geeigneten Parkplatz in der Nähe der Innenstadt – den Rest überließ er der Spontaneität seiner Frau.
Gitte wollte mal wieder das französische Lebensgefühl spüren, das ihr im Alltag immer wieder verloren ging. Sie war Halbfranzösin, lebte aber seit ihrer Hochzeit in Deutschland und war so gut hier wie in Frankreich zu Hause. Sie wohnte so nah an der französischen Grenze, doch Verwandte hatte sie keine mehr in Frankreich. Bei dem Gedanken an Straßburg merkte sie, wie lange es her war, dass sie in ihrem Heimatland war. Ihre Eltern, die im Elsass gelebt hatten, sind vor vielen Jahren kurz hintereinander gestorben. Eine glückliche Ehe? Sie konnte es nicht sagen. Wahrscheinlich genauso unglücklich wie ihre eigene. Gitte nahm vieles hin, worüber sie sich schon Jahre ärgerte und betrachtete ihren Mann mit Argwohn. Er schien sie zu ignorieren, machte Termine ohne sie, flog allein in den Urlaub und beauftragte seine Sekretärin, an Gittes Geburtstag Blumen zu kaufen. Bei Tisch gab es nichts, was auf eine Verbundenheit der Seelen hindeutete, und im Bett gab es schon lange keine aufregenden Nächte mehr. Gitte war für die Ordnung im Haus zuständig, für die gebügelten Hemden in seinem Schrank und für das Essen, auf das Manfred Wert legte. Die Aufgaben waren klar verteilt, die Gefühle behielt jeder für sich. Beide existierten neben dem anderen und ihre Blicke trafen sich selten. Seit wann war das so? War es jemals anders gewesen? Das war eben ihr Leben und sie konnte nicht umhin, an diesem Ort zu bleiben, bei diesem Mann, der nichts mehr mit ihr teilte als eine Fassade, die sie beide aufrechterhielten.
Hinter der französischen Grenze präsentierte sich die Straßburger Vorstadt wenig einladend. Gitte hatte sie nicht so in Erinnerung und sie schaute nach Vertrautem, Bekanntem. Ein herausgeputzter, amerikanischer Schauspieler lächelte ihr von der Rollreklame einer Bushaltestelle entgegen. Auf einer las sie: Leben. Sterben. Wiederbeginnen. Wie pathetisch, dachte Gitte. Als hätte man ein zweites Leben nach dem Tod. „Gib mir eine Zigarette aus dem Handschuhfach“, riss Manfred sie aus ihren Gedanken. „Wir sind gleich da. “

Der Platz Kléber lag in der Nachmittagssonne. Die Menschen standen um eine Wasserstelle, die mal hier mal da einen Wasserstrahl unvermittelt in die Höhe spritzen ließ. Kinder mit hochgekrempelten Hosenbeinen machten sich einen Spaß daraus, über die Löcher in Erwartung des heraufschießenden Strahls zu hüpfen. Eltern saßen auf Bänken, ihr Blick halb auf ihre Kinder gerichtet, halb haftend an den sich immer gleich über den Platz bewegenden Menschen.
Gitte und Manfred saßen in einem Café auf dem Platz. Die geschäftige Bedienung hielt ein Tablett auf Schulterhöhe, wischte nachlässig über den kleinen runden Tisch vor ihnen und nahm ungeduldig die Bestellung auf. Am Nachbartisch saß eine Gruppe von Männern und Frauen, die offensichtlich einen gemeinsamen Ausflug in dieser Stadt machten. Ihre Stimmung war ausgelassen und Gitte hörte mal wieder ihre Muttersprache.
„Fait pas trop chaud et pas froid, hein? Mets-toi là, ma chérie“ , sagte ein Mann und schob einen Stuhl zur Aufforderung neben sich. Und dann ein weiterer Gesprächsfetzen: „C’est juste à côté. J’y suis allée à pied.“ Während Gitte diesem alltäglichen Gespräch lauschte, schweifte ihr Blick selbstvergessen zu einem elegant gekleideten Mann in der Mitte des Cafés. Sein dunkles Haar war mit Gel nach hinten gekämmt. Er schaute aufmerksam zu ihr herüber und hatte sie wohl schon etwas länger beobachtet. Nun lächelte er und hob die Augenbrauen, als wollte er sie zu einem Kaffee einladen. Gitte war irritiert und nahm mit Manfred das Gespräch über seine Eindrücke der Stadt auf. Er fühlte sich sichtlich wohl an diesem Platz und genoss es, in der Sonne zu sitzen. Er wollte sich noch einen zweiten Café bestellen.
„Ich habe in der Seitenstraße ein schönes Kleid gesehen. Ich würde gerne noch mal hingehen und nach meiner Größe fragen.“ Gitte sah Manfred von der Seite fragend an.
Dieser las die Getränkekarte und reagierte nicht. Dann unternahm sie einen zweiten Versuch:
„Lass uns doch in anderthalb Stunden wieder hier treffen. Du kannst in Ruhe deinen Kaffee trinken, die Zeitung lesen und die Sonne genießen. Und ich gehe in der Zwischenzeit Kleider einkaufen.“
Manfred blickte von unten herauf, eine tiefe Stirnfalte im Gesicht: „Schon wieder ein neues Kleid? Dein ganzer Kleiderschrank ist voll von Kleidern, die du noch nie getragen hast. Ich frage mich, wann du die alle anziehen willst?“
„Kleider kann man nie genug haben. Das siehst du doch an Marlene.“ Sie erwiderte genervt seinen Blick, verabschiedete sich und verschwand in der breiten Fußgängerzone.
Sie bog in eine kleine Gasse und betrachtete die Häuser links und rechts. Sie hatte sich getäuscht. Hier war nicht das Geschäft, das sie suchte. Sie schaute sich um und ging wieder auf die Hauptstraße. Sie hatte die Orientierung verloren und fluchte, dass sie nicht den Stadtplan mitgenommen hatte, der nun in Manfreds Jackentasche steckte. Plötzlich flüsterte jemand etwas in ihr Ohr:
„Darf ich Sie ein Stück begleiten, Madame?“ Es war der Herr, der ihr vorhin im Café aufgefallen war. Er stand, einen Arm galant geöffnet nun neben ihr und in seinen Augen erkannte sie den auffordernden Blick, der sie schon auf dem Place Kléber verwunderte. Ohne eine Antwort gegeben zu haben, liefen schon beide in die gleiche Richtung. Der Mann, dessen Charme sie umspülte wie eine laue Brise, erzählte so selbstverständlich wie freundschaftlich über Straßburg. Er lebte mit dieser Stadt und seinen Menschen, die erst das aus ihm machten, was es ist. „Ein wunderbarer Ort zum Träumen und Leben. Wo gibt es das schon? Aber verzeihen Sie! Ich habe mich noch nicht vorgestellt: Ich heiße Pierre Dinkstetter und ich bin verwoben mit dieser Stadt wie ein Perserteppich mit seinen Fäden. Aber - wenn ich fragen darf - wie ist Ihr Name, Madame?“ Er blieb interessiert stehen.
„Ich bin Gitte. Eigentlich Brigitte, aber mein Mann nennt mich Gitte.“
„Das ist ein wundervoll melodischer Name mit weiblicher Note. Kommen Sie, ich möchte Ihnen was zeigen, wenn Sie erlauben.“ Er nahm seinen Schritt wieder auf und legte führend seinen Arm um ihre Schultern. Gitte fügte sich dieser Geste ohne zu zögern oder zu fragen, ob es richtig wäre, mit diesem Fremden zu gehen. Es fühlte sich schon fast wie Vertrauen an, ja und auch ein wenig Abenteuer, das Gefühl, das sie nun fortzog.
Nach einem Fußweg von wenigen Minuten bog Pierre in eine kleine Gasse, in der mehrere Restaurants mit rot-weiß karierten Tischdecken den Geruch von Flammkuechle und Backoeffe verbreiteten. Am Ende der Gasse war plötzlich eine Tür, recht unauffällig, auf der ein Schild mit dem Wort Personnel stand. Sie öffnete sich unter Pierres Handbewegung fast wie von selbst und Gitte trat in einen von einem schweren Vorhang verdunkelten Windfang, der das Sehen unmöglich machte. Dann schritt sie in einen Raum, der wie ein Vorplatz anmutete und zu einem der vielen Zimmer führte, auf deren Tür Pierre schon zusteuerte. Er öffnete sie und eine ganze Spiegelfront mit Glühbirnen beleuchtet nahm fast den ganzen Raum ein. Auf dem Ablagetisch standen ungeordnet Schminkstifte und Pudertöpfchen, Pinsel und Abschminktücher waren über den Tisch verstreut. An der gegenüberliegenden Wand offerierten Kleiderstangen ihre überquellenden Ware: Es waren lange Kleider aus schwerem Stoff und brokatbesetzten Jacken, die einen muffigen Geruch aushauchten, näherte man sich ihnen nur genug. Es gab keinen Zweifel: Sie befanden sich in der Umkleidekabine eines kleinen, von außen unscheinbaren Theaters. „Hier ist mein Reich“, schwärmte Pierre und streifte mit seinen Händen gestenreich durch den Raum. „Hier leide und lache ich, streite und liebe ich, hier sterbe ich, um wieder aufzuerstehen. Hier findet das Leben statt und - hier.“ Pierre machte eine kleine Pause, führte eine Hand auf sein Herz und beendete mit kindlicher Freude den Satz. Beeindruckt war Gitte, von diesem Ort und diesem Herrn, und wusste nicht, wie ihr geschah. Pierre nahm sie überraschend am Arm und zog sie in den Vorraum: „Kommen Sie mit, Sie werden staunen.“ Und schon standen sie vor einer Flügeltür, die sich nach beiden Seiten öffnete und Gitte dachte nur noch an die Zeit, die vergangen war und die sie noch haben werde, bevor Manfred im Café auf sie wartete. Noch eine Stunde, aber dennoch: Was erwartete sie in diesem Raum hinter der Tür? Ging sie nicht zu weit mit diesem Mann an einen unbekannten Ort zu gehen? Bevor sie sich diese Fragen beantworten könnte, öffneten sich auch schon die Türen und gaben den Blick frei in einen Theatersaal, dessen Ausstattung wie ein stummes Zeugnis vergangener Aufführungen vor ihr lag. Kein Mensch war anwesend, nur die in düsteres Licht getauchte Bühne ließ die Lebendigkeit erahnen, die ihr innewohnte, wenn Künstler sie betraten. Auf einer Chaiselongue lag nachlässig hingeworfen ein Pelz. Pierre steuerte mit Gitte auf den Treppenabsatz zu, der zur Bühne führte, machte unvermittelt einen Kniefall, und öffnete den Arm zur Bühne mit gesenktem Haupt und stieß aus: „Voilà, Madame, montez sur scène et dites-moi, puis-je vous appeler Vanda, ma chère?“
„Si vous voulez, appelez-moi Vanda“ und während sie diese Worte aussprach, stieg Gitte weihevoll erhaben Stufe um Stufe hinauf, steuerte auf die Pelzstola zu und legte sie sich um die Schulter. Sogleich setzte sie sich auf die Chaiselongue und befahl in strengem Ton: „Enlevez-moi les chaussures!“ Wie auf diese Aufforderung gewartet, gab Pierre zurück: „A votre service, Madame!“ Er bückte sich nach Art eines Dieners und zog ihr die Schuhe aus. Dabei strich er sanft über ihre Füße, als wolle er sie streicheln. Im Ton einer stolzen Diva befehligte sie:
„Arrêtez! Donnez-moi un verre d’eau. Il fait très chaud ici."
Gitte legte sich auf die Chaiselongue und fächerte sich mit der Hand Luft zu. Pierre kam mit einem Glas Wasser hinter der Theaterkulisse hervor und überreichte es ihr ehrergeben mit einem „A votre service, Madame“ . „Ça fait du bien“ , stöhnte Gitte und nach einer Pause: „Tenez!“ , hielt sie Pierre forsch das Glas entgegen, holte aus ihrer Handtasche einen kleinen Spiegel und einen Lippenstift. Sie zog den Deckel behutsam ab, drehte den roten Stift aus dem Gewinde und zog mit übertriebenem Gestus ihre Lippen nach. Im Spiegel prüfte sie sie, presste die Lippen gegeneinander und ließ die Schminkutensilien nachlässig in ihre Tasche fallen. Gitte lag nun mit leicht gespreizten Beinen auf der Chaiselongue, der Pelz bedeckte nur unzureichend das Dekolleté, indessen hier und da Pierre ein flüchtiger Einblick gewährt wurde. Mit einem frivolen Blick stieß sie ein unvermitteltes „Embrassez-moi“ aus. Sofort ließ sich Pierre vor ihr sinken und machte Anstalten, sich ihrem roten Mund zu nähern, da wurde er mit einem kräftigen Stoß gegen die Brust weggestoßen. Angewidert drehte Gitte ihren Kopf zur Seite. Ihr verächtlicher Blick sollte Pierre gelten, doch im gleichen Moment öffnete sich mit einem lauten Schlag die Flügeltür und herein kam ein Bediensteter des Theaters, der mit leerem Blick durch den Saal und auf die Bühne schaute.
„Entschuldigen Sie bitte. Ich wusste nicht, dass hier noch eine Probe stattfindet. Die nächste Vorstellung findet in einer halben Stunde satt. Bonne soirée, Monsieur, Madame!“, leierte der Mann im monotonen Stil herunter mit einer angedeuteten Verbeugung und verließ, ohne eine Antwort abzuwarten, den Saal.
Entgeistert warf Gitte den Pelz von sich und schlüpfte hastig in ihre Schuhe. Wie ein Schulmädchen, das man beim Rauchen in einem Hinterhof ertappt hatte, ließ sie Pierre auf der Bühne stehen, rannte den Treppenabsatz hinunter und stürzte aus dem Theatersaal durch den dunklen Vorhang, der sie auf die Straße spuckte. Benommen taumelte sie in die Gasse, geblendet vom hellen Sonnenlicht und suchte nach Orientierung. Das Straßburger Münster schlug sechs Mal.
Wieder bei Sinnen fragte Gitte Passanten auf der Straße nach dem Place Kléber. Dort angekommen sah sie aus der Ferne auch schon ihren Mann mit der Bedienung scherzen. Schnellen Schrittes trat Gitte an den Tisch, Manfred bemerkte sie im letzten Augenblick.
„Ohne Einkaufstüten?! Sag bloß, du wirst im Alter vernünftig. Ich habe es dir ja schon immer gesagt, Mädchen, du hast alles, was du brauchst.“
„Ich habe gerade was Interessantes erlebt“,
„Was wirst du schon erlebt haben? Da bin ich ja mal gespannt.“
Mit einer abwinkenden Handbewegung legte er die Münzen für seinen Kaffee auf den Tisch. Sein Gesicht verfinsterte sich.
„Komm, lass uns fahren. Ich hab genug französische Lebensart genossen.“ Er stand auf und schlug die Richtung zum Parkplatz ein, wo der Wagen stand.
Gitte folgte ihm. Wortlos.
Im Auto fröstelte es ihr. Ein seltsamer Ausflug in ihr Heimatland. Sie fuhren gerade vorbei an den grauen Hochhäusern der Vorstadt und auch das Werbeplakat mit dem Slogan Leben. Sterben. Wiederbeginnen fiel ihr wieder ins Auge. Komisch, auf der Hinfahrt konnte sie mit diesen drei Worten nichts anfangen. Nur wenige Stunden später füllten sich diese mit Inhalt und schienen bedeutungsvoll für ihr Leben.
Noch lange hinter der französischen Grenze dachte sie über die Erlebnisse des Tages nach. Sie saß aufrecht in ihrem Sitz, den Blick klar und ruhig nach vorne gerichtet. Das Auto beschleunigte auf einer breit ausgebauten Allee und Gitte sah die Bäume am Straßenrand immer schneller an sich vorbeifliegen. Mit der leisen, klassischen Musik im Ohr bohrte sich ihr Blick durch die vorbeirauschende Landschaft und verlor sich in der Ferne. So blieb sie einen Moment lang, bis sich ihre Hand aus dem Schoß löste und ruckartig ins Lenkrad fasste. Das Auto reagierte sofort. Es verließ die Straße und knallte mit einem dumpfen Schlag gegen einen breiten Baumstamm. Dann war Stille.
Manfred war sofort tot. Gittes Blick wurde von den aufgeschlitzten Ledersitzen angezogen, auf denen das Blut herunterrann. Sie selbst konnte sich kaum bewegen. Nach einigen Minuten hörte sie entfernt eine Krankenwagensirene. Bis zur Ankunft des Wagens genoss sie die Stille. Es war eine friedliche Stille.

 
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Hallo federleicht,

Herzlich willkommen hier. Schöne Geschichte, für mich kurzweilig und flüssig erzählt. Du hast sie aber leider keiner Kategorie zugeordnet. (Z.B. Gesellschaft oder seltsam oder so). Dies könntest du sicherlich gemeinsam mi einem Moderator noch nachholen. Ist m.E. empfehlenswert, da viele Leser und Kritiker bestimmte Kategorien bevorzugen.

Einige Punkte fallen mir auf:
Komma

Sie hasste ihn für seine Art (,) Gitte zu rufen

Der grosse schwarze Mercedes Kombi fuhr surrend aus der Doppelgarage. Der Wagen glitt auf die Autobahn. Manfred hatte die Angewohnheit, sich nicht anzuschnallen.
Für mich zu beladen und glatt, und auch irgendwie zu selbsttätig, ohne Fahrer? Außerdem ist ein Kombi immer gross, der Hinweis darauf ist überflüssig. Der Hinweis, dass Manfred sich nicht anschnallt, löst sich ja bei der Schluss-Szene auf. Auch der Hinweis auf die Doppelgarage ist m.E. nicht wichtig,ist allenfalls ein Indiz für Wohlhabenheit der Protagonisten.
Besser:
Gereizt lenkte Manfred den schwarzen Mercedes Kombi aus der Garage. Er liess Gitte einsteigen, startete mit quietschenden Reifen. Nach kurzer Zeit erreichten sie die Autobahn.

Ein Kombi weist in aller Regel auf folgendes hin:
-eine Familie mit Kindern?
-berufliche Nutzung des Fahrzeugs (Transport etc.)
-Hobby Nutzung (Fahrrad\Surfbrett etc.
In der Geschichte wird auf nichts dergleichen Bezug genommen. Wäre als Fahrzeug für die Geschichte nicht ein normaler PKW oder ggf. ein Kabrio angebracht? Die Protagonisten gehören ja wohl der gehobenen Mittelschicht an (DINK, double income no kids?)

Ungewöhnlich finde ich, dass Manfred zwar die Route plant, die Ausgestaltung in Straßburg jedoch der Spontaneität seiner Frau überlässt. Hier scheint mir irgendwo ein Bruch in der Logik vorzuliegen. Auch ein wirklich französisches Lebensgefühl in der museal gestalteten Innenstadt Strassburgs mit den vielen Touristen nehme ich dir nicht so ganz ab. Aber das ist mein persönlicher Eindruck von vielen Besuchen her. Da müsste man schon weiter nach Metz oder Nancy.

Am Place Kleber wurde ich dann restlos hilflos in Bezug auf Manfred. Fährt er wirklich nach Strassburg, um sich dort in ein Café zu setzen, und auf Gitte zu warten, die Einkäufe tätigt? (Ich hätte gesagt, Gitte, fahr alleine oder nimm eine Freundin mit.) Aber es ist ja Manfred, und es ist deine Geschichte.

Die Entführung Gittes in das Theater erscheint mir wie ein Traum, die Wendung gefällt mir sehr gut. Es hat etwas abenteuerliches, heimliches, an sich. Gittes erste Flucht aus der realen Welt ihrer von vielen Qualen und Zwängen geprägten Ehe. Ein hübscher Einfall. Die abrupte Auflösung, das brutale Erwachen aus diesem Traum gefällt mir jetzt weniger. Hier hätte man die Auflösung vielleicht offener gestalten können? Ist aber Geschmackssache.

Tja, und dann die unerwartete Wendung im letzten Abschnitt, Gittes zweite Flucht. Hier setzt bei mir das Begreifen erst sehr langsam ein und erfordert bei mir, Passagen vom Anfang nochmals zu lesen. Mag sein, dass ich zwischendurch unkonzentriert war. Wie dem auch sei, die Wendung gefällt mir persönlich sehr gut, wenn auch in ihrer Konsequenz etwas zu überzogen und von der Realität zu weit entfernt. Ich sehe es so, dass Gitte schon durch ihre Ehe psychische Probleme hat, ohne dass dies explizit erläutert wurde. Kann aber durchaus in der Phantasie des Lesers geklärt werden. Sie hätte sch nicht scheiden lassen können?

Wortwahl und Grammatik ist für mich bis auf ein paar Kommafehler sehr gelungen und ich habe die Geschichte gerne gelesen.

Ich würde mich freuen, noch mehr von dir zu lesen.
Liebe Grüsse
Jeanmarie Malte

 

Hallo jeanmarie malte,

vielen Dank für deine konstruktive Kritik. Du hast absolut recht. Über die Wirkung des Autos habe ich mir wenig Gedanken gemacht. Deine Erläuterungen überzeugen mich.
Französisches Lebensgefühl und Straßburg, da gibt es bestimmt gelungenere Schauplätze. Ich dachte während des Schreibens über Paris nach, fand das aber zu klischeebeladen und habe mich auch wegen der schnelleren Erreichbarkeit von Deutschland aus auf Straßburg konzentriert. Ich bin mir aber bewusst, dass man mit französischem Savoir-vivre durchaus andere Städte als das deutsch-geprägte Elsass assoziiert.

Das unerwartete und realitätsferne Ende, wie du es schreibst, ziehe ich dennoch einem Ausgang mit Scheidung vor. Ich hatte erst den Gedanken, dass Gitte am Ende einfach davonläuft, fand das aber zu wenig dramatisch, um nicht zu sagen langweilig. Ich wollte schon den Leser mit einem kleinen Schockeffekt aus der Geschichte entlassen.
Mir fallen meine Kommafehler gar nicht auf. Könntest du mir sie nennen?
Danke übrigens auch für deinen Hinweis mit der Unterkategorie. Ich werde künftig darauf achten.

Viele Grüße

federleicht

 

Ja, selbst ein frankophiles Leben ist nicht leicht,

und damit herzlich willkommen hierorts,

federleicht!
Ganz so federleicht ist die Geschichte ja gar nicht. Wusst’ doch immer schon, dass Strassbourg seit den Straßburger Eiden ein gefährlich’ Pflaster ist und noch jüngst - wie zur Bestätigung in einer Schlacht um Sauerkraut, Wurst und Fleisch nebst ausgiebigem Biergenuss und Calvados - die folgende Woche für mich gelaufen war. Aber ich will zu dieser potenziellen Motiv-Beschaffung für einen kollektiven Selbstmord, der dann auch noch sehr einseitig endet, noch ein paar handwerkliche Bemerkungen machen. Da ist zunächst die Zeichensetzung

Sie hasste ihn für seine Art[,] Gitte zu rufen, wenn er sie suchte.
Die Infinitivgruppe, die von einem Substantiv abhängt, muss mit Komma abgetrennt werden; meine Empfehlung: wegen der Vielzahl an Ausnahmen (gleich kommt auch noch das leidige „um“) von der Befreiung von der Kommasetzung bei Infinitiv“sätzen“ die alte Regel anwenden. Das Komma kann gelegentlich, muss aber nicht weggelassen werden.

Ici l’um

…, hier sterbe ich[,] um wieder aufzuerstehen.

Sie hasste ihn für so viele Dinge, die er tat und auch nicht tat[,] und sie hasste sich dafür, …
Wie im richtigen Leben haben selbst Relativsätze Anfang und Ende. Den Anfang hastu ja gemacht … Und hier nochmals
Gitte nahm vieles hin, worüber sie sich schon Jahre ärgerte[,] und betrachtete ihren Mann mit Argwohn.
Bei Tisch gab es nichts, was auf eine Verbundenheit der Seelen hindeutete[,] und im Bett gab
Benommen taumelte sie in die Gasse, geblendet vom hellen Sonnenlicht[,] und suchte nach Orientierung

Der große[,] schwarze Mercedes …
Bloße Aufzählung ist durch Komma zu trennen, selbst bei (gleichrangigen) Adjektiven (nicht aber von „abhängigen“ wie etwa „einem sehr schwarzen M.“
Kommt noch mal vor
Ein herausgeputzter[,] amerikanischer Schauspieler …
Mit der leisen[,] klassischen Musik im Ohr …

Verwechselung des Numerus

… und das Paar hing [seinen] Gedanken des gerade erst begonnen Tages nach.
Ein Paar ist – obwohl es ja exakt zwei sind – immer Einzahl (im Gegensatz zum „paar“, das allemal die Zweisamkeit überschreitet); ist ein historisches Überbleibsel des alten Dual, das nicht nur westgermanische Zungen kennen (im Bairischen noch ein wenig mehr vorhanden als im nhd.)

Hier wird’s Reflexivpronomen verwechselt

… und Gitte sah die Bäume am Straßenrand immer schneller an [sich] vorbeifliegen.

Hier würd ich den Konjunktiv empfehlen, nicht nur, weil’s indirekte Rede ist, sondern auch noch einen Wunsch ausdrückt
Gitte fügte sich dieser Geste ohne zu zögern oder zu fragen, ob es richtig war, mit diesem Fremden zu gehen.
Und zwar eher noch Konj. II („ob es richtig wäre“), statt des gemäßigteren „sei“.

Einmal schnappt die Fälle-Falle zu

Dann schritt sie in eine[n] Raum, der wie ein Vorplatz anmutete …

Klingt etwas ungelenk
Sofort ließ sich Pierre vor ihr sinken und machte …
Mir fällt nur eben nix anderes dazu ein …

Bissken Flüchtigkeit

„Wo ist denn … Gi-i-tt- e!‘“
Warum anderthalb Gänsefüßchen am Ende der wörtl. Rede?

Fait pas trop chaud et pas froid, hein ?
Keine Leerstelle vorm “?” – gilt auch nachher furs Komma …

Hier ist was (vermutlich ein „und“) vergessen worden

… sagte ein Mann schob einen Stuhl zur Aufforderung neben sich.

Hier will der abschließende Punkt ausbüchsen …
„ … Hier findet das Leben statt und - hier“.

Je ne parle pas …
„Arrêtez! ... Il fait très chaud ici. »
… leierte der Mann im monoton[…]en Stil …
… und stürzte aus de[m] Theatersaal durch den …

Alles kein Beinbruch, zudem bin ich kein Freund von Schubladen und dem dadurch begrenzten Denken (fall grundsätzlich und bewusst raus).

Bin gespannt wie’n Flitzebogen auf Deinen nächsten Auftritt,

sagt der

Friedel

 

Hallo Friedel,

vielen Dank für deine Mühe, meine ganzen Kommafehler und sonstigen Fehler aufzuzeigen. Eine gute Gelegenheit meine Kommaregeln-Kenntnisse wieder auf den neuesten Stand zu bringen. Ich gehe gleich mal in die Überarbeitung.

Viele Grüße
federleicht

 

Hallo und herzlich Willkommen Federleicht,

so liest sich auch diese Geschichte - vom Stil her jedenfalls. Unterschwellig entsteht eine Beklommenheit, die sich im Laufe der Geschichte intensiviert und im letzten Absatz zur Fassungslosigkeit umschlägt. Ein starkes Debüt auf jeden Fall. Mit der abrupten Wende verlangst du natürlich viel vom Leser. Muss man den gleich zu so drastischen Mitteln greifen?, kann ich mich fragen. Muss und will ich aber in diesem Fall gar nicht. An vielen Stellen, vor allem als sie den Fremden in das Theater folgt, erscheint doch alles sehr wie im Traum. Der Unfall kommt da einer Art erwachen gleich. Wie oft liest man denn: Ich zwickte mir in den Arm, um mich davon zu überzeugen, dass ich nicht träumte. Deine Prota greift eben zu härteren Maßnahmen.

Gut, dass du dir die Mühe gemacht hast, die Kommafehler auszumerzen. Mir hat die Schreibe echt zugesagt, hab aber trotzdem ein paar Anmerkungen:

Er ließt Gitte einsteigen, startete mit quietschenden Reifen. Nach kurzer Zeit erreichten sie die Autobahn,
Bei "ließ" hat sich ein T eingeschlichen. Nach Autobahn sollte ein Punkt stehen.

sie schaute nach Vertrautem, Bekanntem.
Würde mich für hier für eines entscheiden, wirkt so doppelt gemoppelt.

Am Ende des Gässchens
Ich kann mir vorstellen, was du damit bezwecken willst. Ich war auch erst letztens im kleinen elsässischen Städtchen Colmar unterwegs. Dort habe ich mich auch kurz in den schmalen Gängen verloren, aber diese Verniedlichung der Gasse, erscheint mir an dieser Stelle übertrieben.

dem Theatersaal durch den dunklen Vorhang, der sie auf die Straße spuckte.
Passt natürlich in dieses Traumhafte, aber an sich finde ich es immer komisch, wenn Dinge etwas tun. Ein spuckender Vorhang? Na ja, das ist Geschmackssache, für mich zu poetisch.

„Ohne Einkaufstüten?! Sag bloß, du wirst im Alter vernünftig. Ich habe es dir ja schon immer gesagt, Mädchen, du hast alles, was du brauchst.“
„Ich habe gerade was Interessantes erlebt“,
„Was wirst du schon erlebt haben? Da bin ich ja mal gespannt.“
Der Dialog wirkt etwas hölzern, finde ich. Es schmeißt auch irgendwie das Bild von Manfred total über den Haufen. Anfangs kommt er wie ein Tyrann rüber, dann wie ein zahnloser Tiger, der eigentlich nur seine Ruhe haben will. Natürlich kann völlige Resignation und Gleichgültigkeit auch sehr verletzend sein. Nur weiß ich wirklich nicht, wie dieser Typ jetzt eigentlich tickt. Vielleicht wäre ein wenig mehr "show don't tell" besser gekommen.

stieg Gitte weihevoll erhaben Treppe um Treppe hinauf,
Müsste das nicht Stufe um Stufe heißen? Vorher sprichst du nämlich nur von einem kleinen Treppenabsatz.

Na ja, Kleinigkeiten, die der Geschichte keinen großen Abbrauch tun. War auf jeden Fall in der Kürze angenehm zu lesen.
Gitte hat den Pathos des Pfarrers "Bis das der Tod euch scheidet" wohl etwas zu ernst genommen.

Viele Grüße

Hacke

 

Hallo Hacke,
danke für deine Anmerkungen. Ich habe einiges schon eingepflegt. Ja, überzeugende Dialoge zu schreiben find ich immer ein bisschen schwierig. Mag auch sein, dass Manfred nicht griffig rüberkommt.
Was das Ende anbetrifft: In der Realität hätte ich auch Scheidung vorgezogen, in der Fiktion ist mir das Dramatische näher.

Viele Grüße
federleicht

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Feder leicht,

"Straßburg" hat doch etwas von einer wirklich guten Geschichte. Wegen deiner Kommata hat ja nun Friedrichard ausführlich und kompetent geantwortet.

2 Dinge fallen mir noch auf, ohne dass sie eigentlich korrigiert werden müssen:
1. Offiziell wird immer vom Straßburger Münster gesprochen, nicht vom Dom.

2.

Die Menschen standen um eine Wasserstelle, die mal hier(,) mal da(,) einen Wasserstrahl unvermittelt in die Höhe spritzen liess
lässt mich gedanklich irgendwo hin und her pendeln zwischen einer Wasserstelle in der Sahara und einem Geysir in Island. Wären nicht Wasserspiele angebracht? Muss aber nicht sein. 2 Kommata gehören m.E noch gesetzt nach meinem Bauchgefühl. (Ich setze Kommata nur nach Bauchgefühl. Vielleicht sollte ich mir die Grammatikregeln mal wieder rein ziehen.)
;)
Dir noch viel Kreativität hier und anderswo

liebe Grüsse
JMM

 

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