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Demos

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15.03.2008
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Demos

Eingekesselt. So fühlt sich das also an. Menschen stehen dicht an dicht. Kein Schritt möglich, egal in welche Richtung. Tristan steht zwischen zwei geparkten Autos, wegen der Idee, dass man dort nicht so einfach zu Boden getrampelt werden kann. Stellt sich auf die Zehenspitzen und sucht nach dem Mädchen, mit dem er Sekunden vorher noch sprach. Die trägt Black Jeans und schwarzen Windbreaker und ist als Schwarzgewandete unter Schwarzgewandeten im Unbunten verschwunden. Er macht sich Sorgen und wünscht, ihre zarte Körperlichkeit möge nicht unter die Räder der Massenmaschinerie geraten. Mehr kann er gerade nicht tun, also. Weitersehen.
Links von ihm, direkt unter der Eisenbahnbrücke: Eine Staffel Fußsoldaten in dichter Formation, die an eine Phalanx erinnert. Fast bewegungslos, inmitten eines Freiraum-Radius'. Dort ist Platz, der ihnen fehlt. Auf der rechten Seite wird die Straße von einer noch größeren Zahl Polizisten in Vollschutz gesperrt. Die stehen vor einem Lastkraftwagen mit Wasserwerfer, der bei Demos stets von dieser Seite kommt, weil seine Aufbauten zu hoch sind für die Eisenbahnbrücke. Oh Mann, denkt Tristan, was für ein Auflauf. Es braucht einige Momente, bis er in Zeit und Raum orientiert ist.
Sie zogen mit dem Haupttross der Demonstranten, nahe an der Spitze, durch drei Straßen der Schanze, um gegen die polizeilichen Kontrollen zu protestieren, die von Aktivisten als racial profiling etikettiert wurden.
In der dritten Straße, ungefähr unter der S-Bahn-Haltestelle Sternschanze, waren sie auf Polizisten getroffen, die dort die Straße abriegelten. Kurz standen sich beide Gruppen gegenüber ohne dass etwas geschah. Dann kam das Feuerwerk. Polen-Böller und Bengalos tauchten die Nacht für lange Minuten in unruhig flackerndes Rot. Die Sprechchöre klangen wütender, wurden lauter. [um Europa keine Mauer, Bleiberecht für alle und von Dauer!] Bald wurden die Sprechchöre von einem Steinwerfer unterstützt: er stand, warf und traf einen Polizisten an der Schulter, der zu Boden fiel. Ihm wurde aufgeholfen, seine Kollegen hakten sich bei ihm unter und brachten ihn weg. "Beamter verletzt!" Kurz nach diesem Ruf spurtete die Phalanx los, zum optischen Mittelpunkt der Demo. Traf dort auf vermummte Schwarzgewandete, die zu sechst ein Plakat trugen. Einen Plakatträger erwischte ein Knüppelschlag an der Schulter, als er gerade mit einem Böller hantierte. Den nächsten Schlag fing sein Nachbar mit seinem Körper ab. Als ihn der Knüppel traf, schrie er wütend auf, ließ das Plakat los und stolperte unwillkürlich ein paar Schritte nach hinten. In die entstandene Lücke drängten weitere Einsatzkräfte im Vollschutz, tackelten die Aktivisten weg und knüppelten bei Widerstand. Ein paar Widerständige wurden aus der Kernmasse gezogen und abgeführt. Wenn sie sich wehrten, verschwanden ihre Körper unter den Körpern von Bullen. Die taten alles, um die Demonstrierenden zu Boden und unter Kontrolle zu bringen. Ein paar Aktivisten liefen zu den ungleichen Kämpfen, mischten sich ein und kassierten dafür schnelle harte Schläge von den ausführenden Kräften der unsichtbaren Hand. Die meisten Demonstranten aber entfernten sich vom Kampfplatz und sahen zu, dass sie Land gewannen. Verfolgt von den Einsatzkräften, die nachsetzten und die Demonstranten noch schneller die Straße hinunter drängten, als die ohnehin schon flohen.
"Zurück, zurück!", rief jemand. "Hier gibts Prügel!!" Die Demonstranten rannten die Straße hinunter, fort von den maskierten Uniformierten. Die nur ein paar Reihen weiter hinten Stehenden hatten nicht sehen können, was die Flucht auslöste, aber niemand blieb stehen, alle flohen im Sog der Angst die Straße hinunter, bis jemand das gleiche rief, "Zurück! Zurück!", aber die andere Richtung meinte. Und die Fließrichtung der Masse drehte, wollte in die andere Richtung, woher sie gekommen war, aber dort stand nach wie vor die Polizeiphalanx, und die sah nicht aus, als wollte sie weichen. So drückte die Dynamik aus zwei Richtungen auf die Masse und stauchte sie zusammen.
Da stehen sie jetzt, eingekeilt. Ohne dass jemand wüsste, was zu tun wäre. Tristan sieht sich um. Angespannte Gesichter, Pärchen halten einander fest. Ein großer Typ erklärt lachend, das hier sei immer die Straße, in der die Schanzendemos gestoppt würden, und immer kämen die Wasserwerfer von der anderen Seite, weil sie unter der Brücke nicht hindurchpassten. Sie stehen und warten. Es entsteht etwas Raum, gibt wieder Luft zum Atmen. Zwei Leute tragen ein Fahrrad hoch über den Köpfen durch die Masse, sieht sinnlos aus, fühlt sich surreal an. "Sanitäter!" Von der anderen Seite kommen zwei Sanis und gehen Richtung Polizeiphalanx. Tristan sucht wieder nach dem Mädchen, aber keine Chance.
Er fühlt sich hilflos und denkt, es ist möglicherweise genau das Ziel des Einsatzes, ihnen dieses Gefühl zu vermitteln. Um Mittelstandskids einzuschüchtern. Menschen, die sich den Protesten aus Sympathie für die Lage der Flüchtlinge oder wegen des Eventcharakters anschlossen. Um ihnen zu zeigen: das ist kein Spaß. Und es gibt einen anderen Preis zu zahlen als nur den Eintritt für eine Party, wenn mensch bei Demos mitläuft, die von Autonomen mobilisiert wurden. Die immer mal wieder in Straßenkämpfe münden. Von den letzten acht Demos im Oktober und November ist es bei dreien zu brutalen Schlägereien gekommen. Und Tristan, der vorher Menschen suspekt fand, die Bullen sagten, hält die Bezeichnung 'Polizist' für eine Exekutivkraft, mit der Freund-und-Helfer-Konnotation, für immer weniger angemessen. Zu viel war in den letzten beiden Monaten geschehen, zu oft wurde er Zeuge von unverhältnismäßiger Gewalt. Aus welchem Grund man auch dabei ist: wer dabei ist, gehört aus Sicht der Exekutive dazu.
Die Masse verliert an Dichte, der Kessel wird gelockert. Ein ganzer Schwung verlässt den Schauplatz. Tristan sucht sich seinen Weg, sucht nach den Freunden, mit denen er herkam. Auf der anderen Straßenseite, vor dem McDonalds, dessen Glasfassade jetzt ein neongrüner Schriftzug wider den kapitalistischen Realismus ziert, sitzt eine kaffeebraune Punkerin im Schneidersitz und dreht eine Zigarette. Neben ihr spielt ein Schoßhund, entspannt wie am sonnigen Sonntagnachmittag auf der Hundewiese. Dabei sind sie mitten im Niemandsland, zwischen der Phalanx und den Schwarzgewandeten. Tristan geht so nah an die Phalanx wie er es wagt, und versucht etwas zu entdecken. Aber er entdeckt nichts, und er weiß auch nicht, was er sucht. Dafür sieht er extra lang und genau hin, als könnte er auf diese Art seine ziellose Unruhe besiegen. Oder als gäbe es etwas zu erkennen, das diese Situation beeinflusst. Tristan schlendert ratlos in Richtung Wasserwerfer, sieht den Filmer, dessen Flüchtlingsdokumentation sie vor Kurzem während der Refugee Film Nights zeigten, mit seiner Kamera über die Straße streifen. Vor dem Wasserwerfer spricht ein Demonstrant mit einem Polizisten. Der Polizist sagt, er wünsche der Senat fände eine andere Lösung, und dass er solche Einsätze nicht möge. Erwarte aber kein Mitgefühl von seinem Gesprächspartner. Sein Gesprächspartner sagt, er sei dankbar, dass die Bullen die Straßen sicherten und wie wichtig eine funktionierende Polizei für die Sicherheit auf den Straßen sei. Tristan glaubt ein zorniges Funkeln in den Augen der Einsatzkraft aufblitzen zu sehen, als er 'Bulle' hört. Tristan spürt selbst einen Anflug von Übelkeit, als er die Umtitulierung von Bulle auf Polizist in nur einem Satz mitkriegt. Der Typ klingt auch wie ein Besoffener, der sich besonders viel Mühe gibt, geradeaus zu sprechen und seinem Gegenüber zu gefallen. Einer von denen, die schnurgerade über Schlangenlinien gehen.
Dort, wo der Kessel sich öffnete, trifft Tristan den Ehemann seiner Geliebten. Der weiß das natürlich, sonst hätte Tristan sich nie darauf eingelassen, und, nach einem Jahr Laufzeit sieht es aus, als funktionierte diese menage a trois. Die beiden sind in der Sankt Pauli Church aktiv, wo das Refugee Welcome Center eingerichtet wurde. Geben Deutschunterricht, helfen beim Kochen für vierzig Personen, sammeln Spenden, machen Nachtwachen. Sie begrüßen sich mit einem breiten Grinsen, haben sich aber sonst nicht viel zu sagen. Tristan bekommt einen Zettel in die Hand gedrückt, liest ihn ... 040 – 324 87 887 / Informationen des EA-Hamburg / Notiere die Nummer des Ermittlungsausschusses auf dem Arm. Beobachtest du eine Ingewahrsamnahme oder Festnahme oder bist du selbst betroffen, melde dich oder die Person möglichst zeitnah beim EA. / Auf der Demo / Aktion ist es äußerst sinnvoll, immer mit der Bezugsgruppe zu gehen und für diese Gruppe ein Kennwort als Rufnamen auszumachen, um sich in unübersichtlich gewordenen Situationen schnell wieder sammeln zu können und verloren gegangene Personen gleich bemerken zu können. Für den Fall von Ingewahrsamnahmen ist es sinnvoll, die Nachnamen und Geburtsdaten der Leute aus deiner Bezugsgruppe zu kennen. ... und geht weiter.
Trifft jemand anderen, mit dem er das Kino für die Filmnächte fit machte. Tristan kennt nur seinen Nachnamen, sein Rufname, "Hey Mell". Der suche ein Mädchen, klein und braunhaarig, schwarze Klamotten. "Witzig!", ruft Tristan. "Bisschen genauer?" Haselnussbraun. "Alles klar! ich ruf an, wenn ich sie sehe." Die Straße ist voller Grüppchen, viel lautes Gerede. Die Luft summt vor Spannung, aber die Gesichter sind jetzt entspannt, gelöst. Festivalatmosphäre. Immer noch ratlos, was jetzt zu tun sei, schlendert Tristan wieder zurück, bis unter die Brücke. Er kann ja schlecht jemand fragen, was sie jetzt tun sollen. Denkt er. Wenn das eine Party wäre, würde er gehen, aber das ist keine Party, auch wenn es sich zwischendurch so anfühlt. Er spricht mit einem kleinen Blonden, der ebenfalls ratlos wirkt. Fragt ihn, was er hier tut, warum er da ist. Spürt den Trieb, ihn auf seine blassen Lippen zu küssen. Kiss me like a stranger. Nach ein paar gewechselten Sätzen werden sie unterbrochen. Rufe und Schreie, jemand kreischt. Wieder wogt die Menge gegen ihn und schiebt Tristan auf die Phalanx zu. Er greift nach dem Arm des Jungen, möchte nicht schon wieder jemand an die Menge verlieren. Dafür werden sie jetzt gemeinsam auf die Phalanx zugeschoben, die unverrückbar steht wie eine bronzene Skulptur. "Pferde!", ruft der Blonde und zupft an seinem Arm. Tristan dreht sich um. Eine Pferdestaffel sucht und findet ihren Weg durch den amorphen Körper der Masse. Postiert sich vor dem McDonalds. Die Masse treibt Tristan weiter vor sich her, in eine etwas andere Richtung, er kommt den Pferden immer näher. 'Halt, Stopp!', ruft er, aber das hilft natürlich nicht. Er verliert den Jungen. Stemmt sich gegen die Triebkräfte, aber keine Chance. Die hinter ihm Gehenden, ihn treibenden, werden genauso getrieben. Viele angestrengte Gesichter, ein paar wirken panisch. 'Verdammt', denkt Tristan, nur noch Zentimeter von einem riesigen Pferd entfernt. Die Masse drückt weiter. Der vermummte Reiter beobachtet ihn genau. 'fuck, was soll die Reiterstaffel hier?' Tristan will zurück, ein paar Meter zwischen sich und die Viecher bringen, aber da ist kein Durchkommen. Wieder Rufe, diesmal aus der Wasserwerferrichtung. Rufe, die bald von Geschrei und Gebrüll übertönt werden. Jemand stimmt einen neuen Sprechchor an. Der handelt nicht mehr von der Freiheit für Asylsuchende, sondern vom Kampf gegen Staatsmacht und Polizeigewalt. Immer mehr stimmen ein, überstimmen das Gebrüll. Die Sirenen auf dem Dach des Wasserwerfers jaulen das erste Mal an diesem Abend. Vor der Phalanx knallen Böller. Einer explodiert mittendrin, aber niemand tritt aus der Formation. Tristan erdrängelt sich einen Weg, er ist immer noch in der ersten Reihe, direkt vor den Pferden, die jetzt Ziel für die Böller werden. Eins wird von einem Knaller erwischt, der zwischen den Vorderläufen explodiert. Es schnaubt und tänzelt, bleibt ruhig, bleckt aber die Zähne. Tristan sieht lange gelbe Hauer. 'Weg hier', denkt er und macht die letzten Meter, bis vor ihm keine Pferde mehr sind, sondern nurmehr Zaun. Er greift nach den Streben und zieht sich hoch. Sieht von hier, dass der Kessel wieder geschlossen ist. Vor dem Wasserwerfer prügeln sich welche. Aus der gleichen Richtung kommen Bullen, die mit Pfefferspray auf Demonstranten zielen und abdrücken. In der Querstraße sind viele Balkone besetzt. Auf einem stehen schöne junge Menschen in 30er-Jahre-Klamotten mit langstieligen Gläsern zwischen den Fingern, zeigen auf verschiedene Punkte in der Masse, unterhalten sich angeregt, lachen manchmal.
Aus der anderen Richtung wird ein einzelner Streifenwagen von einem Bullen die Straße hochgefahren, steuert auf die Mitte der nun lose verteilten Masse, fährt vielleicht 30 Stundenkilometer. Die meisten machen den Platz frei, hasten zu den Bürgersteigen, aber ein paar Schwarzgewandete bleiben stehen. Einer stellt sich direkt auf den Mittelstreifen, breitet die Arme aus, blickt auf einen Punkt in der Luft über dem schnell näherkommenden Einsatzwagen, als ginge ihn die physische Präsenz des Wagens nichts an, als kommuniziere er mit einem riot god, von dessen flammender Hand er sich geschützt fühlt. Nur noch Sekunden. Der Wagen wird nicht langsamer, der Aktivist bleibt stehen. Alle Augen auf sie. Wer blufft, wer wird geblufft? Frontalaufprall.
Kurz davor. Steigt der Bulle in die Eisen, bremst ruckartig und wird in den Gurt gedrückt. Der Aktivist rührt sich nicht, verändert die Haltung kein bisschen. Für den Moment passt das überhebliche Siegergrinsen seiner Superheldenmaske von Vendetta.
Schnell nähern sich andere Aktivisten, die nicht den Schutz des Bürgersteigs suchten und auf der Straße blieben, im Angesicht des Fahrzeugs, aber hinter dem riotgod-believer. Keine Sirenen, keine Sprechchöre, keine Böller. Es ist still auf der Straße. So still wie es nur sein kann, wenn sich zwei so große Menschenmengen gegenüberstehen. Der Bulle lässt das Fenster runter, lehnt sich aus dem Wagen und schreit den Aktivisten an, was der Scheiß soll, warum er den Weg nicht freigemacht habe, was ihm verdammt noch mal einfalle, er solle sich auswei...
Da, die schnelle Bewegung. Einer der Aktivisten zieht etwas aus dem Hosenbund, holt aus und schleudert es im selben Schwung auf den Fahrer. Der schreit und hält die Hände vor's Gesicht, Tristan glaubt Blut zu erkennen, das zwischen seinen Fingern fließt. Jetzt gibt der Aktivist seine Pose auf, sieht zu den anderen Schwarzgewandeten, zeigt auf einen Punkt in der Demosmasse und rennt darauf zu, die anderen folgen ihm. Der Körper der Masse öffnet sich und absorbiert die vier. Schon ist von ihnen nichts mehr zu sehen.
Tristan erspäht ein Loch im Kessel. Er springt von seinem Aussichtspunkt, setzt die Kapuze ab, quert die Straße und schlüpft durch den Polizeikordon. Eine knappe Minute später geht er an der Flora vorbei, wo sie vor eineinhalb Stunden starteten. Die Gedanken tosen in seinem Kopf, keine Chance, da jetzt Ruhe reinzubringen. Hier ist nichts zu spüren von dem Krawall zwei Straßen weiter. Von weitem sieht er Joker mit seiner Töle um die friedlichen Blocks ziehen, durch die leeren Straßen, wenige Meter von dem Trubel entfernt. Er überlegt, wo die nächste Haltestelle der Öffentlichen ist, stellt fest, auf dem richtigen Weg zu sein, geht weiter, merkt, wie schnell er immer noch ist und verkürzt die Schrittlänge, schließlich bin ich nicht auf der Flucht, denkt er, ich habe nichts verwerfliches getan, nicht mal was verbotenes, es gibt keinen Grund zu fliehen, ich bin doch nicht auf der Flucht.

 
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Da wird dein Text einfach so nach hinten durchgereicht, ohne dass sich wer findet, der was dazu zu sagen hat? Finde ich schade, Kubus, noch dazu, weil du für mich immerhin zum Urgestein hier gehörst. (Na gut, vielleicht stammst du nicht gerade aus dem Präkambrium des Forums, aber zumindest aus dessen Mesozoikum.)

Warum? Ist der Text etwa nicht massenkompatibel, ist er zu unbequem? Weil interessant finde ich ihn allemal. Und er hat ja auch genug Ingredienzien, die ihn lesenswert machen: gesellschaftspolitische Brisanz und Relevanz, eine spannende Handlung und eine ganz starke, sehr persönliche, eindrückliche und unmittelbare Sprache. Ich empfand den Text als sehr bildgewaltig und packend, also im Wortsinn packend, mich förmlich hineinziehend ins Geschehen, in dieses klaustrophobische Getümmel, also das gelingt dir schon sehr gut, die Atmosphäre dieser Ausnahmesituation zu vermitteln.
Vermutlich ist der Text keine Kurzgeschichte im klassischen Sinn, er hat eher den Charakter einer Reportage. Das ganze erinnert mich ein wenig an Hunter S.Thompsons Gonzo-Journalismus (auch wenn es nicht aus der Ich-Perspektive erzählt ist.) Obwohl sich der Protagonist um möglichst objektive Wahrnehmung bemüht, liest man aus jedem Satz seine Subjektivität und Betroffenheit heraus. Und genauso wie Gonzo-Journalismus streng genommen nicht als Journalismus gilt, sondern als Literatur, ist auch dieser Text Literatur für mich, gute Literatur zumal. Zuordnung zu einer Gattung jetzt hin oder her. In Wahrheit gehen mir diese Klassifizierungen ohnehin sonst wo vorbei, so gesehen funktionierte der Text für mich einwandfrei.
Das ist halt so ein Text, den man in fünf Minuten gelesen hat und dann gut eine Stunde drüber nachdenken kann. So was mag ich.

offshore

 

hi cube,

also, man merkt auf jeden Fall, da war schon mal einer Steineschmeißen!:D Nee, mal im Ernst: der Text fängt das gut ein, dieses Demogefühl, und auch diese Unentschiedenheit, die man dabei verspürt. Einerseits ist es total wichtig und seriös, dann ist es aber auch immer wieder kurz davor, zu einer riesigen Party zu werden. Also, so in meiner Jugend war ich ein richtiger Demotourist, war ja in der DKP und dann vor allem nach Berlin zur LL, das war schon immer ein Ritual. Bus gemietet, dann da hin, und immer gab es auf die Fresse. Das hat sich nicht geändert, denke ich. Die Polizisten, die auf Demos stehen, haben da auch selten Bock drauf, müssen sich anrotzen und beleidigen lassen, und wenn sie mal austeilen, dann sehen es direkt alle und es wird gefilmt. Ich finde, der Text macht ihn dieser Richtung alles korrekt, da ist man nach dem ersten Absatz im flow, man liest ihn dann so durch. Ich habe beim Lesen (achtung namedropping) öfters an Stewart Home denken müssen, weil du manchmal so Neologismen hast, wie riotgod-believer, und das macht der auch genauso, alles so fast ein wenig drüber, schon auf dem Weg zur Satire, aber immer noch echt und ernst. Die ausführenden Kräfte der unsichtbaren Hand - spielst du damit auf den Terminus von A. Smith an, die unsichtbare Hand des Marktes? Das würde nicht so ganz passen, das liest sich auch zu umständlich, finde ich.
Ein Plot im klassischen Sinne fehlt. Ich fände es hier wirklich gut, eine Rahmenhandlung vorzufinden. Er sucht dieses Mädchen, und er findet sie auch, und dann erleben sie diese Demo gemeinsam, da könnte man viel reinpacken, auch durch Dialog. Hier entlässt du uns genauso wie den Prot, so als Touristen, der geht dann einfach wieder raus, umme Straßenecke, und alles ist peace und er sucht die Öffentlichen. Dieser totale Wahnsinn, das in dem einen Straßenzug der Bär los ist, und ein paar Straßen weiter sitzen die Leute im Garten und grillen und sehen Fussball. Das kommt schon durch, klar, aber ich finde, du könntest hier locker das Dreifache an Text bringen, ohne das es langweilig wird, ganz ehrlich.

Also, gerne gelesen.

Gruss, Jimmy

 

Der Polizist sagt, er wünsche der Senat fände eine andere Lösung, und dass er solche Einsätze nicht möge.

Ja, da hat ernst wieder mal früher reagiert als ich mit der durchschnittlichen einen Stunde/Tag. Und, claro hat er Recht. Aber irgendwie hab ich nach dem ersten Lesen das Gefühl (weiß aber noch nicht warum), dass „Krupp“, „Treiben“ und jetzt „Demos“ nicht nur wegen der ein- bis zweisilbigen, also wortkargen Titel zusammenhängen – schau’n wir mal,

altes Haus,

das letzte Mal, das ich – freilich auf ganz andere Weise als hier, wo mir der Anlass verschwiegen erscheinen will - in einen Kessel geriet, war bei einer Demo in Solingen, wo seinerzeit rechte Vögel die Antwort zu ihrer selbstgestellten Frage, was Juden von Türken unterscheide, wörtlich nahmen und ein von Türken bewohntes Haus abfackelten. Am Ende der Demo gingen Türken und Kurden aufeinander los ... Aber das ist über zwanzig Jahre her und heute brauch ich auf hundert Meter auch keine elf Sekunden mehr. Das einleitende Zitat gibt heute noch die Meinung damaliger Bereitschaftspolizisten wieder, die ja ganz bewusst nicht aus der Umgebung von Solingen stammten.

Paar Kleinigkeiten für heute, zunächst Satzzeichen wie

Kurz standen sich beide Gruppen gegenüber[,] ohne dass etwas geschah.
Tristan geht so nah an die Phalanx[,] wie er es wagt, …
Tristan glaubt[,] Blut zu erkennen, ...
Hier versucht der abschließende Punkt der wörtlichen Rede zu entkommen …
"Hey Mell".
& hier müsste das erste Wort (selbst im engl. GROß beginnen)
'[F]uck, was soll die Reiterstaffel hier?'
Demo[…]masse,
wobei mir nun die Mehrzahl im Titel erst auffällig wird …

Dazu dann beim nächsten Mal vom

Friedel

 

BITTE! BITTE! MACHT ABSÄTZE!
Ich kann den U-Boot-Bunker an Text einfach nicht mehr lesen! Ich krieg nen Blutrausch. Wenn ich meine Texte schreib, muss ich auch vermehrt Absätze machen, trotz Serifenschrift, die ja bedeutend lesbarer ist.

Danke!
Morphin

 
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moin ernst, wird der Text halt nach hinten durchgereicht, wer so wenig kommentiert wie ich, kann sich darüber nicht beschweren. lange Mitgliedschaft sollte da keine Rolle spielen. :-) die Anzahl der Kommentare, die man bekommt, ist ja erfahrungsgemäß mit der eigenen Aktivität beim Kommentieren verbunden. und ich sahne ja hier nur Pros und Kontras ab, ohne andere Texte zu besprechen. dass sich dann doch noch welche fanden, die dem Text was abgewinnen, freut mich sehr.
und dass du beide Teile wahrnimmst finde ich hier wichtig - das Bemühen um Objektivität bei gleichzeitiger Betroffenheit. ist ein sehr persönlicher Text fast ohne Stilisierungen. in diesen Demos Ende letzten Jahres erlebte ich fast alle Akteure als Kippfiguren, nirgendwo eine klare Zuordnung bzw Parteinahme möglich, weil alle Beteiligten miese moves machten.

sieh an, jimmy war in der DKP. dafür hat sich das Posten ja schon mal gelohnt. das mit der unsichtbaren Hand habe ich nachträglich reingelegt, so was ist dann ja manchmal wie so ein frankensteinsches Gliedmaß und fügt sich nicht so wirklich organisch ein, gut gesehen und danke, ich kuck mir das noch mal an.. im Zweifel fliegts, im Zweifel für den Originalflow.
ja, das ist ein guter Punkt mit den Polizisten, die von allen Seiten Keile kriegen - und dann erwischt das teils auch sicher welche, die aus Idealen heraus diesen Job wählten. Menschen die unter Umständen bereit sein müssen, ihre Körper einzusetzen, was schon mal eine ziemlich krasse Anforderung ist. wobei bestimmt auch einige zu diesen Einsätzen gehen, die Bock auf Schlagen haben. well, ist von außen schwer einzuschätzen. jedenfalls ist diese generelle Dämonisierung der Exekutive durch die Linke so eine ärgerliche Kinderperspektive.
ja, ne Rahmenhandlung, das würde sicher Spaß machen. aber dann würde der Fokus vom Demogeschehen genommen. also die story ist jetzt so, aber ich nehme das als input mit. Danke fürs Feedback!

tach Friedel, biste deiner Stunde pro Tag Regel immer noch treu. find ich jut. Anlass für die Demos waren die Versuche von Aktivisten, dem Hamburger Senat den Willen des Staatvolkes deutlich zu machen - den 300 Lampedusianern Asyl und also Lebensperspektiven zu bieten. die strandeten hier am vorübergehenden Endpunkt einer potentiell tödlichen Odyssee Anfang 2013. monatelang gabs mindestens eine Demo in der Woche, die teils heftig ausarteten. in dem Kontext ist in Hamburg das viertelüberspannende Gefahrengebiet eingerichtet worden. die beschriebene Demo war aber davor. auf deine Connection der Texte wäre ich ja gespannt. erst mal mach ich mich mal auf Satzzeichenjagd. danke fürs Vorbeischauen.

Hi Morphin, in dem Text sind doch Absätze. ist ja auch ein kurzes Stück, also die optische Anmutung halte ich für zumutbar.

 

Hallo Kubus,
mir gefällt diese Strukturlosigkeit, diese zwischendurch eingeführten Hinweise auf ein Leben, das fast so durcheinander ist wie das Treiben vor der Flora. Gut eingefangen!
Tja, kann man denn da eine richtige Kurzgeschichte draus machen? Wozu? Da würde etwas ganz anderes entstehen.

Gruß Set

 

Hi, Setnemides,

hier ist mir ein Feedback von vor zwei Jahren entgangen, ich hab das nicht mitgekriegt. wird an der seltenen Foren-Aktivität damals gelegen haben. war auch viel los in meinem HH 2014.

mich freut besonders dass dir der vorliegende Text so reicht, dass du keine klassische Kurzgeschichte einforderst, wie wir sie hier ja meistens schreiben und lesen. ich mag diese klassischere Konzeption ja auch schreiben und lesen, aber diese Darstellung wie hier vorliegendend halte ich für manche Situationen angemessener. das 'gut eingefangen' freut mich freilich ebenfalls. das ist toll, wenn so eine atmosphärische Übertragung gelingt. ich lege ja auch relativ viel Wert auf Atmo. Danke, Set.

Grüße durch die Jahre,
Kubus

 

In der Querstraße sind viele Balkone besetzt. Auf einem stehen schöne junge Menschen in 30er-Jahre-Klamotten mit langstieligen Gläsern zwischen den Fingern, zeigen auf verschiedene Punkte in der Masse, unterhalten sich angeregt, lachen manchmal.

Demos -

merkwürdig, und zugleich gut in allem Zufall, dass Du erst jetzt auf Sets Beitrag antwortest,

Kubus,

da Flüchtlinge in der Willkommenskultur patizipieren zu Geflüchteten, weil die Endung -ling eine Verniedlichung darstelle, wie beim Frühling, Lehrling und folglich am schlimmsten beim Winzling. Bekloppte überall und aus dem Kongress der Weißwäscher wird der der Weichspüler. Aber hätte jemand je gehört von einem "Kessel" wider die neuen Kreuzritter und -frouwelins?, von denen in den letzten Jahren der titelgebende Plural nicht nur zur montäglichen Straßenreinigung des ehrwürdigen Dresden das Wort „Volk“ (= demos) in den Mund genommen und ausgespien wird, als hätten sie es abonniert und patentrechtlich für sich absichern lassen.

Der Dämon, der einen dazu treibt, hat eine gemeinsame Wurzel wie das Volk. Daimon - zunächst die göttl. Macht und das Geschick, das einen trifft, gehört - „vermutlich“, so der Herkunftsduden* - mit einer Grundbedeutung ‚Verteiler, Zuteiler‘ des Schicksals zu griech. daiesthai ‚[ver]teilen' und steht dann in einem Zusammenhang mit demos, eigentlich „Abteilung“, gemeinhin aber „Gebiet, Gau, [einfaches] Volk“. Dass das nhd. „Volk“ aus der „Gefolgschaft“ gebildet wurde und „Deutsch“ einfach nur die „Sprache des Volkes“ ist und sich aus dem lat. theodiscus (= zum Volk gehörig) entwickelte zur theodisca lingua, der amtlichen Bezeichnung der germanistischen Dialekte auf dem Boden des Reiches des großen Karl. Die Schleifung der theodisca lingua begann im Volk selbst mit dem Adjektiv Þeodisk (da noch mit auf deutscher Zunge heutigentags i. d. R. misslingendem ti-aitsch) im Gegensatz zum walhisk, dem Welschen, den romanischen Sprachen, ahd. diutisc usw. bis mhd. diutsch. Die Erben des altniederfränkischen haben die iu Kombination umgekehrt, sind aber dafür von den Angelsachsen zu Dutch verkürzt worden.

Wie zum Teufel kommen aber die Bengalos zu ihrem Namen? Nicht erst seit der Begegnung mit Shimona Sinhas „erschlagt die Armen!“ halt ich Bengalen fü ausgesprochen friedfertige Leute.

Aber war ich beim ersten Durchgang mit Blindheitgeschlagen?

Kurz standen sich beide Gruppen gegenüber[,] ohne dass etwas geschah.
Der Polizist sagt, er wünsche[,] der Senat fände eine andere Lösung, und dass er solche Einsätze nicht möge.
Tristan glaubt[,] ein zorniges Funkeln in den Augen der Einsatzkraft aufblitzen zu sehen, als er 'Bulle' hört.

Und ein schöner Gegensatz zu den Jungen und Schönen auf Balkonien des einführenden Zitats:
Der vermummte Reiter beobachtet ihn genau. '[F]uck, was soll die Reiterstaffel hier?'
Er überlegt, wo die nächste Haltestelle der Öffentlichen ist, stellt fest, auf dem richtigen Weg zu sein, geht weiter, merkt, wie schnell er immer noch ist und verkürzt die Schrittlänge, schließlich bin ich nicht auf der Flucht, denkt er, ich habe nichts [V]erwerfliches getan, nicht mal was [V]erbotenes, es gibt keinen Grund zu fliehen, ich bin doch nicht auf der Flucht.

Was einem nach mehr als zwo Jahren so für Gedanken kommen ...

Tschüss

Friedel

* Duden B. 7, Stichwort, „Dämon“ und „demo…, Demo...“, das Stichwort „demolieren“ lass ich mal rechts liegen!

 
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hey, Friedrichard,

Demos -

merkwürdig, und zugleich gut in allem Zufall, dass Du erst jetzt auf Sets Beitrag antwortest,


erfreulich und kein Zufall, dass du den Bezug herstellst. die ganze Scheiße ist schon seit Jahren absehbar, ich hab vor nem halben Jahr, nach Schwerin, aufgehört drüber zu reden. nicht weil man sich als Kassandra lächerlich macht und nervt. drauf geschissen. sondern weil es nichts bewirkt, wahrscheinlich sogar kontraproduktiv ist.

da Flüchtlinge in der Willkommenskultur patizipieren zu Geflüchteten, weil die Endung -ling eine Verniedlichung darstelle, wie beim Frühling, Lehrling und folglich am schlimmsten beim Winzling.

intressant. noch nie so gelesen und gesehen. erweitert meinen Horizont. ich habs mir anders erklärt: Flüchtlinge sind noch auf der Flucht, werden von Menschen oder Umständen oder sich selbst gejagt. Geflüchtete sind irgendwo angekommen, wo es weniger schlimm ist, oder haben keine Kraft mehr, weiter zu fliehen und nicht den Mut zu sterben. also versuchen sie irgendwo zu bleiben. sie flüchten nicht, sondern sind geflüchtet.

Demos und Daimon also. was Gemeinschaft kann, wozu Gesellschaft fähig ist. muss mich konzentrieren, um deine Spur nicht im etymologischen Dickicht zu verlieren, lohnt sich aber. der Exkurs erinnert mich an den Janusköpfigen, an Masse und Macht, daran, dass Verrücktheit bei Individuen eine Ausnahme ist, aber bei Massen die Regel. ich halte die Hufeisentheorie zwar für Bullshit, aber was hier seit Jahren zwischen pseudo-rechts und pseudo-links abgeht, fickt den Kopf nur anders.

danke für die offenen Augen, Friedel, und deinen Besuch.

Kubus

 
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Nur ganz kurz,

altes Haus,

der Flüchtling schaut, dass er ein Diplom bekomme, um Partizip zu werden als diplomierter Geflüchteter und nicht unbedingt als Neueingebürgerter zu partizipieren. Pizza und Dönner haben wir schneller geschluckt, als den Itakker und den Sohn Osmans.

Fliehen, floh, geflüchtet. Da ist auch die Folge "gehen, ging, gegangen" drin, wenn das Diplom verweigert wird und der Flüchtige in das sichere Herkunftsland zurückgeschickt wird. Frau Slomka hat mal unseren hugenottischen Innenminister gefragt, ob den Afghanistan ein sicheres Herkunftsland sei und brachte den Spätgeborenen einer Flüchtlingsfamilie aus unserem westlichen Nachbarn in Verlegenheit, zugeben zu müssen, dass von den über dreißig Provinzen Afghanistans ganze zwo befriedet wären, was man getrost auch anzweifeln darf.

Tschüss

Friedel

 

hallo, Ihr Haarspalter,
wie wäre es denn anstelle von "Geflüchtetem", der schon angekommen zu sein impliziert, was man ja hierzulande jahrelang nicht wissen kann, die Ankunft bleibt reversibel, von "Flüchtendem" oder "Fliehendem" zu sprechen? Alle Achtung vor dem Versuch, es in unserer Sprache zu fassen, denn der "Flüchtling" gefällt mir alle mal besser als der "Migrant", der doch, wenn ich mich richtig entsinne, nur ein "Wandernder" ist - nicht verkleinernd verniedlicht, sondern verharmlost ob seiner wahren Beweggründe, die Heimat zu verlassen.
Schön ist auch der Gleichklang von "demos" als Volk und "Demos" als verkürzte Form des Plural von "Demonstration", was ja aus dem Lateinischen und offensichtlich aus einer ganz anderen sprachlichen Wurzel stammt. Das "demos" geht auf die "Demos", sehr schön. Hoffentlich in eigener Sache, nicht verführt von "daimon".
Das sollte nicht davon ablenken, dass es hier um eine Geschichte mit "Lokalkolorit" geht, um die ganz spezifische Stimmung im Schanzenviertel. Es ist nicht so berühmt wie Kreuzberg, kennt es eigentlich jemand außerhalb Hamburgs?

Gruß Set

 
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Wer kennt denn nicht das Schanzenviertel???

Frage für realitätsnahe stories auf WK, die in der Schanze oder andern quartieren spielen.
also Autorenkollegen, Hutwechsel, eure Meinung als Leser ist gefragt: lässt sich die Schanze als bekannt voraussetzen? wäre etwas mehr Beschreibung, mehr erklärung, näherbringen von atmo eurer meinung nach sinnvoll für Geschichten, die dort spielen? bzw in anderen Quartieren mit anderem sound.. oder findet ihrs besser wenn so geschrieben wird, als würde das alles bekannt sein. würd mich intressiern, wär input fürs design der nächsten geschichten.

Restantwort später, grad Feierabend. muss erst mal kotzen gehen. Arbeitsmarkt in Ostdeutschland ist unglaublich. Menschen zweiter Klasse, kein Scheiß.

 
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Hi, Set, Friedel,

die Bezeichnung Flüchtender trifft es in meinen Augen am ehesten. denn sie sind hier nicht angekommen, und es sieht auch nicht aus, als würden sie ankommen. wir haben in Schwerin einer jungen syrischen Familie, Frau mit Risikoschwangerschaft, in Rekordzeit eine Wohnung mit Ersteinrichtung verschaffen können. drei Wochen von Antragstellung bis zum Bezug. die haben seitdem immerhin ein Nest, das Baby ist wohlauf, später kamen per Familienzusammenführung noch Brüder und der Großvater dazu. ein Erfolg. aber sie sind hier fremd, sie fühlen sich fremd, sie wurden bedroht, beleidigt, angespuckt. Menschen verlassen die Bahn, wenn sie einsteigen. wer weiß, ob aus Angst oder um die Ablehnung zu zeigen. passiert nicht jeden Tag, aber immer wieder. sie sorgen sich, fürchten um ihr Baby, darum, wie es aufwachsen wird. sie spüren die Ablehnung, der Osten ist so voller Hass und Angst; ich war erschüttert, als ich zehn Jahre später zurück kam und ein Jahr in Schwerin, der alten Heimat, zu leben versuchte. dabei geht es ihnen noch vergleichsweise gut, sie sind priviligiert. es ist natürlich anders als es in Syrien war, anders als auf ihrer Flucht über Mittelmeer und Balkanroute, aber sie leben noch immer in einer Atmosphäre der Angst. deswegen würde ich auch sagen: Flüchtende trifft es am ehesten.
Wir Westler sind Migranten, wenn wir wollen, die meisten Menschen aus anderen Weltgegenden, die fliehen mussten, bleiben meistens Flüchtende, ist mein Eindruck.
wobei es denen ja noch deutlich besser geht, als den schwarzafrikanischen Wanderarbeiter der Lampedusa-Gruppe, um die es sich in dieser Geschichte dreht. sie sind vom Nato-Krieg in Lybien vertrieben worden, waren nach dem Fall Gaddafis vogelfrei in Lybien, flohen nach Lampedusa, wurden in Lager in der Nähe von Mailand verfrachtet, dort von rassistischen Mobs durch die Straßen gejagt, und trotz aller Bemühungen um eine Gruppenlösung nie in Hamburg als Asylsuchende anerkannt. sie sind geduldet, seit mittlerweile mehr als drei Jahren. wurden als Thema vergessen, als Syrien aktuell wurde. haben außer dem fehlenden rechtlichen Schutzstatus aber auch einen ganz anderen kulturellen Hintergrund als viele Syrer, die ich kennenlernte. sie wirken viel verlorener, völlig perspektivlos. das ist noch eine andere Qualität von Schutzlosigkeit dieser Gruppe von Flüchtenden.

"die Ankunft bleibt reversibel"

Das "demos" geht auf die "Demos"

freut mich dass das rausgelesen werden kann.

Das sollte nicht davon ablenken, dass es hier um eine Geschichte mit "Lokalkolorit" geht, um die ganz spezifische Stimmung im Schanzenviertel.

stimmt schon. so was ist meiner Erfahrung nach nur in ganz wenigen Orten Deutschlands möglich, diese massive Unterstützung durchs Volk. mit dem wir monatelang mehrmals die Woche alle möglichen Aktionen pro refugees durchzogen, insgesamt uns mit dem harten Kern uns jahrelang für sie einsetzten. übrigens fast völlig erfolglos, der Senat hats nicht mal für nötig gehalten, uns ein fuck you zu geben. kein Kommentar, erfolgreich ausgesessen.
aber ich bevorzuge von Orten zu schreiben, die ich kenne, dafür muss ich vielleicht auf Allgemeingültigkeit verzichten. trifft nicht so viele Leser, kann aber mehr von dem, was ich in Literatur abgebildet haben will.

schön von dir zu hören, Set.

Fliehen, floh, geflüchtet. Da ist auch die Folge "gehen, ging, gegangen" drin, wenn das Diplom verweigert wird und der Flüchtige in das sichere Herkunftsland zurückgeschickt wird.

ja, da kann der Flüchtende auch noch zum Flüchtigen werden, der sich mglw der Abschiebung entziehen will. was für eine Existenz.

ich glaube dass viele das Schanzenviertel nicht kennen, Jim. einige kennen es dem Namen nach, wenige haben eine Ahnung davon, was da so geht. noch weniger haben ein echtes Gefühl für das spezifische Lebensgefühl auf den dortigen Straßen und Hinterhöfen, in den Bars und Freiräumen.
erinnert mich an deine Aussage letztens, dass doch jeder schon mal bei ner Nutte war, rosa Paste gezogen hat und in ner Kneipenprügelei war. Zuspitzung, klar, aber glaubste wirklich, das geht in die Richtung? hm.

Grüße,
Kubus

 

die Bezeichnung Flüchtender trifft es in meinen Augen am ehesten. denn sie sind hier nicht angekommen, und es sieht auch nicht aus, als würden sie ankommen.

Recht hastu,

Kubus,

selbst ein Peter Härtling (Flüchtling vor der Roten Armee) ist immer noch nicht angekommen, wie auch Abbas Khider nicht (vgl. "Es hört nicht auf", in Chrismon 08.2016, S. 24 ff.), was auch für Shumona Sinha ("Erschlagt die Armen!", Rezension hierors unter http://www.wortkrieger.de/showthread.php?59244-Erschlagen-wir-die-Armen!). Härtling hat seine Heimat in der Muttersprache. Für alle drei gilt, dass sie Fremde bleiben und ihren Landsleuten (Deutsche, Iraker, Inder/Bengalen hier in unserer schönen Republik wie in Frankreich (Sinha) fremd sind.

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Die Frage nach dem Schanzenviertel ruft eigentlich nach Satire. Lass ich aber mal, treib ja selbst Heimatliteratur im Sessel oder gar auf der Couch ...

Tschüss

Friedel

 
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Hi, Bea,

Vorab ein paar Kleinigkeiten und Gedanken zu deinem Text (Reportage), der mir in erster Linie wegen seiner Authenzität sehr gut gefallen hat.

Reportage würde ich diesen Text nicht nennen.

Ich würde es betonen. Ich will nämlich wissen, worum Menschen auf eine Demo gehen und wofür sie kämpfen und nicht lange danach suchen müssen. Von meinem Gefühl her, geht das Ziel unter.
Im Schanzenviertel ist es in den letzten Jahrzehnten oft so gewesen, dass man nicht genau erfuhr, worum es ging. Es schien eher eine Art Klassenkampf und für manche eine aufregende Abwechslung / Party zu sein: Autonomos, Hausbesetzter, Linke gegen Kapitalismus und Staat. Da flogen andauernd Pflastersteine, spiltterten Fenster, früher brannten noch Autos.

das empfinde ich heute häufig auch nicht anders. eher so, dass der Straßenkampftourismus mehr wird. nach Aussage alter Aktiver gehören viele der Kids, die bei Straßenkämpfen dabei sind, nicht zu linken Gruppierungen. haben wahrscheinlich Bock auf Adrenalin, auf Kampf, auf klare Verhältnisse.
ich verstehe deinen Punkt, aber vielleicht ist es gerade deswegen angemessen, wenn das Ziel nicht so schnell deutlich wird.

Daher finde ich es richtig, dass in deiner Geschichte einer der Demonstranten als erstes den Stein erhebt und wirft.

gut

als nur den Eintritt für eine Party, wenn mensch bei Demos mitläuft,
Mensch.

versuch den Satz mal mit dem Substantiv 'Mensch' zu lesen. 'mensch' hier als Substitut zum gebräuchlichen 'man'. eine der wenigen sprachlichen Eigenheiten der Genderbewegung, die ich für sinnvoll halte. fühlt sich nur seltsam an, weils ungebräuchlich ist.

Neben der Authenzität deiner Schilderungen wirkt hier die persönliche Betroffenheit Tristans – eine höchst interessante Stelle. Hier erfahre ich, wie sich Tristans Bild von der Polizei als Staatsmacht verändert. So ging es ja auch den friedlichen Bürgern aller Schichten in Stuttgart, als sie gegen den Bau des Bahnhofs demonstrierten. Da spürten Hausfrauen, Rentner, Schüler, wie brutal eine Demo ablaufen kann, wenn Wasserwerfer einem das Gesicht zerfetzen, Steine fliegen und Knüppel hemmungslos auf Körper dreschen.

gefällt mir, dass du es aufgreifst. das ist eine Stelle, die über das konkrete Erleben hinausgeht. und für mich ein echtes Thema. ohne Staatsgewalt geht es nicht, aber was, wenn die Exekutive gefährlich wird, und sie niemand im Zaum halten kann? was, wenn sie Recht beugt und bricht, ohne dafür zur Verantwortung gezogen wird. was macht das mit besagten bürgerlichen Menschen, die ihr Demonstrationsrecht wahrnehmen wollen, um als Staatsvolk auf ihre Meinung zu einem bedeutenden Ereignis hinzuweisen? damals waren auch viele, sehr viele Familien dabei, linksliberale, nur ein kleiner Kreis von Radikalen und Extremen. aber wer dabei ist, gerät schnell unter die Räder der Maschinerie.

Ich denke, der Hauptfocus und der Reiz deines Berichtes liegt in der Schilderung der Ereignisse und zwar von innen, von einem Beteiligten, der kein Radikaler zu sein scheint. Ich persönlich mag es, wenn ich die Situation auch auf andere (ähnliche) Situationen übertragen kann, sie also nicht 1:1 auf diesen Ort, in diesem Moment festgenagelt sind, sondern stellvertretend für andere. Die 1. Mai Demos in Kreuzberg waren (früher!) wesentlich brutaler. Andererseits kann deiner Authentizität ein bißchen mehr Atmo des Viertels nicht schaden. Im Gegenteil – ein paar Sätze zu den Bewohnern der Schanze (Multi-Kulti, Künstler, viele andere Nationalitäten, ... ) und dem so friedvollen Miteinander auf der Straße als kontrastierendes Element zur Demo wären bereichernd.

Danke für die Einschätzung! ich lasse das ein bisschen in mir arbeiten. ich finde es schwierig, mir hier eine klare Meinung zu bilden. was du schreibst, ist plausibel, nur wäre die Geschichte dann wohl wieder mehr als der schmale Ausschnitt mit Fokus auf Demo.

diese Demo war auch verhältnismäßig friedlich. die heftigen Demos kamen circa zwei Monate später.

danke für den Tipp mit 'Phalanx', 'Polizeiphalanx', wir scheinen auf manches einen ähnlichen Blick zu haben. störte mich auch bereits. ebenso wie 'Schwarzgewandete'. mal sehen, ob ich hier noch KLeinigkeiten berarbeite.

Danke fürs Feedback!

Gruß,
Kubus

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selbst ein Peter Härtling (Flüchtling vor der Roten Armee) ist immer noch nicht angekommen, wie auch Abbas Khider nicht (vgl. "Es hört nicht auf", in Chrismon 08.2016, S. 24 ff.), was auch für Shumona Sinha ("Erschlagt die Armen!", Rezension hierors unter http://www.wortkrieger.de/showthread...-wir-die-Armen!). Härtling hat seine Heimat in der Muttersprache. Für alle drei gilt, dass sie Fremde bleiben und ihren Landsleuten (Deutsche, Iraker, Inder/Bengalen hier in unserer schönen Republik wie in Frankreich (Sinha) fremd sind.

das finde ich erfreulich, Friedel, dass wir mit unserer Haarspalterei hier vorangekommen sind. wenn Wörter konkret gebraucht werden, können sie auch konkrete Begriffe bezeichnen. Ausdrücke finden für die vielen unterschiedlichen Lebenssituationen, denen Menschen ausgesetzt sind. so ist unsere Suche nach dem treffenden Begriff mehr als nur das Spiel dreier Schreiber, die Freude am Umgang mit Sprache haben, nämlich auch ein paar Schritte auf dem Weg, die Dinge so zu bezeichnen, wie sie sind bzw erlebt werden, und nicht, wie wir sie gern hätten oder sehen wollen.

Tschüß und bis bald!
Kubus

 

Der Moses Roman hierorts beginnt bei mir nicht mit einem Zitat von Sigmund Freud, sondern einer trefflichen Definition des Tschechen Karl Wolfgang Deutsch:

„Eine Nation ist eine Gruppe von Menschen, die durch einen
gemeinsamen Irrtum hinsichtlich ihrer Abstammung und
eine gemeinsame Abneigung gegen ihre Nachbarn geeint ist."​

In dem Sinne bis bald,

Friedel

 

Sehr schönes, sehr aktuelles Zitat! Da steckt auch schon die Deutung drin, dass eine Nation (anders als ein Stamm oder eine Volksgruppe) zustandekommt, indem wenige Mächtige Gebiete zusammenfassen und ihnen eine neue Identität verschreiben. Die muss wegen der inneren Schwäche, die dem künstlichen Zustandekommen folgt, natürlich exzessiv dargestellt werden. Die Projektion der inneren Widersprüche nach außen ist eine zwingende Folge; obendrein ist sie sehr nützlich. Das alles und noch viel mehr in so wenigen Worten zu sagen, ist schon beeindruckend.
Gruß Set

 

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