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Fünf Freunde

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19.08.2014
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Fünf Freunde

Zum zweiten Mal an diesem Morgen wache ich auf. Vor drei Stunden war ich bereits vom Vibrieren meines Smartphones geweckt worden. Im Halbschlaf hatte ich die Nachricht gelesen, das Smartphone dann, ohne zu antworten, wieder beseitige gelegt, mich umgedreht und weitergeschlafen. Es war noch nicht Zeit gewesen, aufzustehen. Jetzt aber ist diese Zeit gekommen. Ich schlage die Augen auf, 10:35 Uhr. Ich richte mich auf, schwinge die Beine über die Bettkante und schlurfe in die Küche. „Erst einmal eine Zigarette und einen Kaffee auf dem Balkon“, denke ich. Nachdem ich geduscht, mich angezogen und mir die Haare geföhnt habe, finde ich mich vor dem Spiegelschrank wieder. Ich öffne die Tür, greife zum Schminkbeutel und schließe die Tür wieder. Ich betrachte mein ungeschminktes Gesicht. Was ich sehe, gefällt mir. Entschlossen lege ich den Schminkbeutel zurück in den Schrank. Die heutige Reise erfordert keine Maske. Ich packe eine Flasche Wasser, Smartphone, Sonnenbrille und Schlüssel in meinen Rucksack und verlasse die Wohnung. Vor dem Haus steige ich ins Auto und fahre los.

Ich parke am rechten Seitenrand und steige aus. Nur mit Smartphone (zwecks Fotografierens), Zigaretten, Feuerzeug und Autoschlüssel bewaffnet ziehe ich los. Ich überquere den Parkplatz, gehe zu den Büschen am Rand und schiebe mich hindurch. Jetzt stehe ich auf einer Landstraße, vor meinem Auge erstreckt sich eine weite Landschaft aus Feldern. Hinten am Horizont kann ich Bäume erkennen. An der Art, wie sie gruppiert sind, kann ich ablesen, dass dahinter der Fluss liegen muss. Ich marschiere los. Die Sonne brennt auf mich herunter und schnell fange ich zu schwitzen an. Ungerührt laufe ich weiter, vorbei an Bauernhöfen und Pferdekoppeln, den Blick fest auf die Bäume am Horizont gerichtet. Nach etwa einer Stunde merke ich, wie mein Gehirn langsam zu kauen aufhört und das Kaugummi schließlich ausspuckt. Das Kaugummi der letzten zwei Tage: berufliche und häusliche Pflichten, die zu erledigen waren, Bücher, die ich gelesen hatte, das Auto, das repariert werden musste, Freunde, die mich beschäftigt hatten. Nur kurz betrachte ich das Kaugummi vor meinen Füßen – und laufe weiter. Eine seltsame, doch angenehme, Stille umgibt mich, die nur vom Zwitschern der Vögel, Sirren der Mücken und Brummen der Wespen unterbrochen wird. Ich bin allein.

Eine weitere Stunde später habe ich mein Ziel fast erreicht. Ich renne die letzte Anhöhe hinauf und lasse mich japsend ins Gras fallen. Jedoch verschnaufe ich nur kurz, wie magisch zieht es mich ans Wasser. Schnell erhebe ich mich wieder und wandere raschen Schrittes das letzte Stück an den Fluss hinunter. Dort entledige ich mich eilig meiner Schuhe und Socken, und wate ins Wasser hinein. Ich spritze Wasser auf meine Arme, in mein Gesicht und in den Nacken, genieße das kühle Nass in vollen Zügen. Dann lasse ich mich endlich am Ufer nieder. Eine Weile hatte ich reglos in der Sonne gesessen, als ich spüre, wie sie sich langsam nähern. Zuerst lässt sich die Gelassenheit links neben mir nieder, dann rechts die Zufriedenheit. Die Liebe umfängt mich sanft von hinten, während die Geborgenheit sich vorne in meine Arme kuschelt. Genauso, vertrauensvoll aneinander gelehnt, ich in ihrer Mitte, lassen wir die Zeit verstreichen und erneuern im gemeinsamen Sein unsere Bande.

Ich stehe auf. „Zeit für den Heimweg“, denke ich. Gemeinsam wandern wir zum Auto zurück. Während der Fahrt summen wir im Chor die Melodien mit. Zurück in der Wohnung springen wir unter die Dusche. Angezogen, mit geföhnten Haaren, finde ich mich wie zuvor am Morgen vor dem Spiegelschrank wieder. Ich öffne die Tür, greife zum Schminkbeutel und schließe die Tür wieder. Zum zweiten Mal heute betrachte ich mein ungeschminktes Gesicht. Was ich sehe, gefällt mir. Wenn ich ganz genau hinschaue, kann ich in meinen Gesichtszügen sogar meine vier Freunde erkennen. Ich trage etwas Wimperntusche auf und beschließe dann, es dabei zu belassen. Ich schaue auf die Uhr: 17:34 Uhr. Zeit für das Treffen mit meiner Freundin Susanne. Jetzt, da ich es von keinem anderen Menschen mehr verlange, da ich mir selbst zu geben imstande bin, wonach ich sehne – Gelassenheit, Zufriedenheit, Liebe, Geborgenheit – bin ich bereit für die Begegnung. Vergnügt pfeifend verlasse ich die Wohnung und mache mich auf den Weg in das Café.

 

Mahlzeit!

Fast schon transzendental. Wäre da nicht das Smartphone, wegen des Fotografierens. Dass sich überhaupt noch jemand hinauswagt in die durchstrukturierte Natur, um den Moment der Ruhe zu finden, ist ja schon eine Besonderheit heute. Zwar sagen manche, sie seien jeden Tag draußen, um zu joggen und so ... aber auch das dient einem Ziel (Fitness, Diät, Training).

A L L E I N E sein ist etwas völlig anderes. Nur in sich selbst ruhen eine ganz andere Disziplin. Eine verschwindende Disziplin. Meist bleibt immer irgendwo der Haken in der Zivilisation hängen, so wie hier das Smartphone.

Gelassenheit, Zufriedenheit, Liebe, Geborgenheit ... wenn man sich das nicht selbst geben oder sein kann, dann sollte man es sowieso nicht von anderen erwarten. Funktioniert nur temporär.

Gern gelesen.

Morphin

 
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Hallo Kiya!

Ob das per Definition eine Kurzgeschichte ist, mögen kompetentere Leser beurteilen. Jedenfalls schreit dein Text nach einer anderen Zeitform! Ich habe bereits nach den ersten Zeilen begonnen, dein philosophisch angehauchtes Werk im Präsens zu lesen. Hat mir gleich besser gefallen.
Die beiden Texte, die ich bisher von dir kenne, sind immerhin stilsicher und fehlerfrei verfasst. Fehlt nur noch ein tragfaehiger Plot.

Dennoch gern gelesen,
Manuela :)

 

Hallo Manuela,

Dank für das Feedback! Im Präsens ist eine interessante Idee. Ich werde den Text nachher mal umschreiben und es dann noch einmal lesen.
Auf alle Fälle sehr interessante Idee!!

Lieben Gruß
kiya1912

 

Hallo Kiya,

ich hab deine Zeilen sehr gern gelesen. Die innere Ruhe wiederfinden bei einem Ausflug in die Natur, ganz ohne Alltagsgeräusche und nur allein mit sich und seinen Gedanken, funktioniert bei mir auch hervorragend. Hab mich ein stückweit selbst erkennen können in deiner Geschichte.
Ich denke auch, dass dein Text im Präsens noch lebendiger wirkt.

Gruß von der Kellerassel

 

So, noch einmal danke für den Tipp mit dem Präsens. Habe den Text entsprechend geändert!

 

Hallo Maria,

danke für dein Feedback, und kein Problem, wenn du damit nichts anfangen kannst. :-)

Liebe Grüße

 

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