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Der Mann aus dem Wartezimmer

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21.08.2014
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Der Mann aus dem Wartezimmer

Es war schon viertel vor zwölf, dachte sich Pia als sie auf ihre Armbanduhr starrte.
Ihr Mann war jetzt eine geschlagene Stunde im Behandlungszimmer des städtischen Krankenhauses und es war nicht abzusehen, wann er dort wieder herauskommen würde.
Als die beiden vor zwei Stunden dort angekommen waren, hatte ihr Mann über starke Bauchschmerzen geklagt. Geradezu vor Schmerz gekrümmt hatte sie ihn in den Notfallbereich des Krankenhauses geschleppt. Außerdem war er glühend heiß gewesen. Er musste unwahrscheinlich hohes Fieber gehabt haben, aber die Zeit zum messen war in der Eile nicht da.
Es wird bestimmt der Blinddarm sein, ging Pia durch den Kopf. Sie tröstete sich mit dem Gedanken an eine routinemäßige Operation für jeden frischen Arzt und eine zügige Entlassung.

Ich frage mich, warum das so lange dauert. Die können mir doch wenigstens kurz sagen, was los ist. Oder was sie vor haben.
Pia versuchte die Ruhe zu bewahren. Sie blickte sich im Raum um. An diesem frühen Dienstag Mittag war nicht viel los in der Ambulanz. Ob es wohl Tage gibt, an denen man hier keinen Sitzplatz mehr bekommt, fragte sie sich. Vielleicht am Wochenende. Aber ganz bestimmt am Silvesterabend.

Eine Mutter mit Kind saß drei Stühle entfernt von ihr. Der kleine Junge hielt sich die Hand. Wahrscheinlich hatte er sich seine Finger irgendwo eingeklemmt. Oder verbrannt. Oder sonst irgendeinen Blödsinn angestellt, der dazu geführt hat, dass seine Mutter nun mit ihm in der Notaufnahme sitzt und womöglich ihren Job hat sausen lassen. Und selbst wenn nicht, hätte sie bestimmt Besseres zu tun gehabt, als ihre Zeit hier wartend neben ihrem unachtsamen Gör zu verbringen.
Pia ertappte sich und erschrak innerlich. Sie wollte sofort aufhören diese Gedanken fortzuführen.
Wenn sie doch nur schon mal etwas von ihrem Mann hören würde.

Sie blickte geradeaus und bemerkte, dass ihr ein älterer Mann gegenüber saß.
Sein Haar war weiß, aber für sein Alter noch recht voll. Tiefe Falten zeichneten sein Gesicht und zogen sich hinab bis zu den Mundwinkeln, welche sie geradewegs mit sich nach unten zogen.
Seine Augen konnte sie nicht erkennen. Er schien auf seine Schuhe zu gucken, oder auf irgendetwas auf dem Boden. Oder er dachte nach. Plötzlich blickte er auf und erwiderte Pias Blick.
Pia fühlte sich wie ein Kind, das bei einem Streich erwischt wurde. Sie erschrak und schaute schnell in eine andere Richtung.
Im Augenwinkel erkannte sie, dass der alte Mann seinen Blick noch immer nicht abgewandt hatte.

Bloß kein Gespräch. Jetzt quatsch mich bloß nicht an. Ist doch immer das gleiche. Ihr sucht solange nach den Blicken anderer, bis euch mal einer trifft und dann packt ihr sie aus. Eure Lebensgeschichte. In allen Einzelheiten. Dass das keiner hören will, daran habt ihr wohl noch nicht gedacht, oder?
Oh bitte, lass ihn von mir absehen und mich nicht ansprechen. Als hätte ich nicht schon genug Probleme. Mein Chef macht mir ohnehin die Hölle heiß, wenn er erfährt dass ich heute den ganzen Tag nicht da war. Und selbst wenn ich ihm sage, dass es meinem Mann schlecht geht, wird er mir nicht glauben. Schließlich war ich letzte Woche selbst krank geschrieben. Und es ist einfach so wie es ist. Mein Chef ist ein Arsch. Ein riesiges Arschloch.
Pia, die ihren Blick noch immer nicht aus der Schockstarre genommen hatte, merkte, dass sie schmunzeln musste. Sie vergaß kurz ihr Dilemma mit dem alten Mann und dachte an ihren übergewichtigen Chef und wie er sich regelmäßig vor seinen Angestellten aufgeplusterte.

Eigentlich müsste er hier sein. So oft wie er einen Tobsuchtsanfall erleidet und uns mit hochrotem Kopf anschreit. Wenn er seine Massen in Wallung bringt. Das kann doch nicht lange gut gehen. Und dann raucht er mindestens hundert Zigaretten am Tag. Dass er damit überhaupt sechzig geworden ist. Oder wie alt er auch immer ist.
Stattdessen muss ich Stefan herschleppen. Die Ruhe in Person. 34 Jahre jung und es gibt keinen, der mehr auf seine Gesundheit achtet. Er sollte nicht hier sein.

Pia bemerkte eine Bewegung im Augenwinkel, löste ihren Blick aber nicht.
Der alte Mann setzte zu einer Bewegung an. Er beugte sich vor.

Oh scheisse.

Pia sprang auf, visierte die Tür an und wühlte fahrig in ihrer Tasche herum. Ihr Handy kam zum Vorschein und sie begann augenblicklich darauf herumzutippen, während sie ein paar Schritte im Wartezimmer tat.

Versuche beschäftigt auszusehen. Du liest gerade eine ganz wichtige Nachricht und willst dabei keinesfalls gestört werden. Genau. Genau so sehe ich doch gerade aus. Hoffentlich.
Ich wusste es. Dass die nicht einfach mal für sich bleiben können. Dass die sich jedem mitteilen müssen. Ich muss doch auch nicht jedem Dahergelaufenen mein Leid klagen.
Bestimmt wartet er auf seine Frau, die wegen Verstopfung oder so in Behandlung ist.
Und bestimmt hat sie Vorrang und Stefan liegt mit entsetzlichen Schmerzen auf einer harten Liege und wartet seit zwei Stunden dass ihm geholfen wird.

„Florian bitte!“, rief eine Stimme aus dem Lautsprecher über ihren Köpfen.
Der kleine Junge, mit dem Handproblem sprang auf und sah seine Mutter fragend an.
„Komm, wir müssen da rein“, sagte sie während sie ihn anschob.
Florians Mutter warf Pia ein hastiges Lächeln zu während sie mit ihrem Sohn im Behandlungsraum verschwand.

Nun sind wir allein. Toll. Wie lange soll ich denn hier stehen und so tun, als ob ich etwas ganz Wichtiges lese. Kann denn nicht irgendein Notfall hereinkommen?

Pia machte ein paar Schritte und tippte dabei auf ihrem Handy herum. Sie ging eine Stuhlreihe weiter und setzte sich abrupt, in der Hoffnung, es würde danach aussehen, als hätte sie sich zufällig zwei Stuhlreihen weiter gesetzt.

Er sieht aus wie dieser komische Freund meines Vaters. Wie hieß er noch gleich? Ach, ist auch egal. Er war jedenfalls ein richtiger Widerling. Meine Mutter konnte ihn auch nicht ausstehen.
Er hat wirklich die gleichen Züge. Aber er kann es nicht sein. Ich glaube er ist schon vor Jahren gestorben. Hat sich wahrscheinlich tot gesoffen. Ob es sein Zwillingsbruder ist?

Pia blickte von ihrem Mobiltelefon auf und schaute auf die Uhr. Die Tasche langsam öffnend war sie im Begriff das Handy in wegzulegen.
Ihr Blick kreuzte dabei in keinem einzigen Moment den des alten Mannes.
Sie wusste nicht ob er sie noch anstarrte oder nicht. Aber das Risiko eines flüchtigen Blickes wollte sie nicht riskieren.

Aus den Lautsprechern unter der Decke dröhnte nun wieder die gleiche krächzende Frauenstimme wie bereits vorhin.
„Herr Opmann bitte in den Behandlungsraum!“


Wenn er jetzt auch im Behandlungsraum verschwindet, wo ist dann Stefan? Stapeln die da drinnen ihre Patienten oder ist er bereits entlassen worden und wartet zuhause auf mich? Während ich hier treudoof sitze und jede Minute um ihn bange.
Oder ist etwas passiert? Vielleicht haben sie ihn direkt auf die Intensivstation gebracht?

Der alte Mann bemühte sich hochzukommen und hielt sich dabei an der Lehne des anderen Stuhls fest. Langsamen Schrittes ging er zum Behandlungszimmer, öffnete die Tür trat ein.
Pia war sich sicher, dass der richtige Zeitpunkt gekommen war, sich nach ihrem Mann zu erkundigen.
Der kleine Florian war auch noch nicht zurückgekommen und so schloss sie darauf, dass die Patienten einen anderen Weg hinaus nehmen als hinein.
Aber ihr Mann wusste wo sie sich aufhielt. Und warum kam er dann nicht in den Wartebereich um sie zu holen?
Sie klopfte beherzt gegen die Scheibe der Theke, hinter der niemand zu sehen war.
Es verging eine Weile bis sie Schritte vernahm. Um die Ecke kam eine stämmige Krankenschwester mit kurzen, blonden Haaren.

„Ja?“
„Ich wollte mich nach meinem Mann erkundigen. Er ist nun schon so lange da drin und ich weiß noch nichts genaues“, druckste Pia herum.
„Bei ihrem Mann werden noch ein paar Untersuchungen gemacht. Er ist momentan in der Röntgenabteilung“, erwiderte die Schwester bemüht.
„Und wieso sagen sie mir das nicht?“
„Ähm... er.. er ist erst gerade dort hingebracht worden. Außerdem können sie da nicht mit rein. Da können sie genau so gut hier warten. Wir hätten sie schon informiert, wenn etwas gewesen wäre“, versuchte die Schwester sie zu besänftigen.

Pia sah davon ab eine größere Diskussion zu beginnen und drehte sich um.

„Sie können ihrem Mann aber gerne schon anmelden gehen. Er wird auf jeden Fall hier bleiben müssen. Allein schon wegen des Fiebers“, rief die Schwester während sie ein paar Unterlagen zusammensuchte.

„Hier bleiben? Das wird ihm gar nicht passen. Aber wenn das so sein muss?“

„Am besten fahren Sie auch kurz nach Hause und packen ein paar Dinge für ihren Mann ein. Utensilien für den Alltag, verstehen sie?“

„Ja, natürlich. Ich mache mich gleich auf den Weg. Wo wird er denn hinkommen?“, wollte Pia wissen.

„Auf Station B3“, erwiderte die Schwester. „Das ist im zweiten Obergeschoss. Wenn sie alles haben, melden sie sich kurz bei den Schwestern. Die können ihnen das Zimmer bestimmt schon sagen.“

„Ja, danke. Ich mach mich dann auf den Weg“, sagte Pia und griff nach ihrer Tasche. „Meine Handynummer haben sie, falls was ist, oder?“

„Ja, die haben sie uns schon gegeben. Machen sie sich keine Sorgen. Wir kümmern uns um ihren Mann.“


Eine knappe Stunde später befand sich Pia bereits wieder im Krankenhaus, nachdem sie alle Erledigungen in Windeseile gemacht hatte. Die Klinik lag aber auch nicht weit entfernt von ihrem Zuhause.
Nachdem sie in der Anmeldung alle nötigen Dinge für den Aufenthalt ihres Mannes geregelt hatte, ging sie in Richtung Station B3.
Jetzt hatte sie schon haufenweise Papierkram besprochen und Ausdrucke in der Hand, aber der Zustand ihres Mannes war ihr noch immer nicht bekannt, dachte Pia.

Auf der Station angekommen wurde sie direkt von einer Schwester in Empfang genommen, die ihr das Zimmer nannte und sie darauf hinwies, sie könne bereits alles auspacken und herrichten.
Pia klopfte an die Tür und trat, ohne abzuwarten, ein.
Ein großes Zimmer, dachte sich Pia, deren erster Blick zur Decke führte.
Hohe Decken. Architektonisch sind Krankenhäuser ja schon ein Hingucker.
Sie blickte sich um und stellte fest, dass es ein Zweibettzimmer war.
Das linke Bett war frei. Das wird dann wohl Stefans Bett sein.
Im rechten Bett lag ein älterer Mann. Es war nicht irgendein Mann.
Es ist der Mann aus dem Wartezimmer. Zufälle gibt es.
Sie faste sich verschämt in den Nacken und versuchte dabei nicht den Stapel an Unterlagen zu verlieren, den sie in der Hand hielt.

„Guten Tag“, warf sie in den Raum und lächelte dem alten Mann zu. Schnell wandte sie sich dem leeren Bett zu und legte die Tasche darauf ab. Sie hielt kurz inne.
Hat er jetzt auch guten Tag gesagt?
Sie legte ein paar Zeitschriften und ein Buch auf den Nachttisch. Dann sah sie sich suchend im Raum um bis sie den Fernseher in einem Regal über der Tür entdeckte.
Da wird Stefan aber beruhigt sein. Aber welches Krankenhaus hat denn heute keinen Fernseher?
Ihr Blick wanderte vom Fernseher hinunter zum alten Mann im Bett.

„Schauen Sie auch fern?“, fragte sie und bemühte sich zu lächeln.
Der alte Mann drehte sich um und zog seine Decke noch ein Stück höher. So hoch, dass nur noch sein Kopf hinausschaute. Er zeigte keinerlei Regung. Nicht ein Bisschen. Als hätte er überhaupt nicht mitbekommen, dass jemand im Raum etwas gesagt hätte.
Pia wusste nicht recht wie ihr geschah. Sie lächelte weiter und begann die Hemden und Hosen ihres Mannes auf dem Bett zu sortieren.

Welcher Schrank gehört denn wohl Stefan? Der mit dem grünen Punkt? Oder der mit dem roten Punkt? Ich könnte ja gucken in welchem Schrank der Alte seine Sachen untergebracht hat, aber das macht man nicht. Vielleicht spricht er dann wenigstens mit mir? Der spricht halt nicht mit jedem.
Naja, ist doch gut. Vorhin habe ich mir nichts sehnlicher gewünscht als dass er den Schnabel hält.
Aber auf eine Frage antworten könnte er schon. Hat ja auch etwas mit Respekt zu tun.
Oder ist er taub? Na klar! Er ist taub.
Aber er ist nicht blind. Er hätte wenigstens reagieren können.

„Welcher Schrank gehört ihnen?“, schoss es aus Pia heraus. Diesmal in etwas lauterem Ton.
Der alte Mann, der mit dem Gesicht zur Wand lag, zeigte keine Regung.
Er starrte die Wand an, blinzelte mit den Augen und schloss sie letzendlich.
Pia stand grübelnd mit zwei paar Hosen in der einen und ein paar Hemden in der anderen Hand da und wusste nicht weiter.
Sie ging beherzt zum Schrank und öffnete beide Türen. Die mit dem grünen Punkt und die mit dem roten Punkt.


Mit Erstaunen stellte sie fest, dass beide Schränke leer waren. Sie drehte sich um und hoffte, nicht dem mürrischen Blick des alten Mannes ausgeliefert zu sein.
Dieser ließ sich nichts anmerken und verharrte in seiner Position.
Sie schaute zum Bettende und zu seinem Nachtschrank. Dann auf den Tisch.
Es war nirgendwo eine Tasche oder ein Koffer zu sehen. Oder eine Tüte.
Vielleicht hatte er einfach noch nicht ausgepackt, war Pias erster Gedanke. Aber hier stand auch nichts was er hätte auspacken können.
Vielleicht bringt seine Frau ihm gleich was vorbei.Oder seine Kinder. Oder irgendwer.

Pia entschied sich für den Schrank mit dem roten Punkt und begann die Kleidung ihres Mannes dort einzuräumen.




Am nächsten Morgen sah die Welt für Pia schon ganz anders aus. In der Frühstückspause fuhr sie ins Krankenhaus um ihrem Mann einen kurzen Besuch abzustatten.
Es stellte sich heraus, dass er an einem „akuten Blinddarm“ litt und so wurde er noch am Abend operiert.
Pia betrat die Station und huschte vorbei am Schwesternzimmer. Ihre Pause dauerte 45 Minuten und deswegen wollte sie nicht so herumtrödeln.
Sie klopfte an die Tür und ging hinein.

„Hi!“, rief sie ihrem Mann entgegen.
„Hallo Schatz“, ich dachte du wolltest erst nach Feierabend kommen.“
„Ich wollte schon mal gucken wie es dir geht. Auf der Arbeit hätte ich ohnehin keine entspannte Pause gehabt. Also, wie geht’s dir?“
„Viel besser. Jetzt, wo das blöde Ding endlich raus ist. Ich hätte nicht gedacht, dass so etwas solche Schmerzen verursachen kann“, ihr Mann lachte.
„Ja, das muss ganz schlimm für dich gewesen sein, was?“, erwiderte ihm Pia, die ihren Blick längst von ihm abgewandt durch den Raum schweifen ließ und am Bett des alten Mannes von gestern Abend zum Stehen kommen ließ.

„Mein Fieber ist auch wieder runter. Die Schwester hat gerade eben gemessen“, meinte Stefan.
„Wo ist eigentlich dein Bettnachbar“, untergebrach ihn Pia, die noch immer in die andere Richtung blickte.

„Ich weiß nicht. Der hat Besuch oder so. Oder ist zu einer Untersuchung. Er war heute schon ziemlich früh weg und gestern Abend hab ich nicht mehr so viel mitbekommen.“

„Hast du dich mit ihm unterhalten?“, wollte Pia wissen.
„Nein, wie gesagt, ich war müde und ich war froh, dass ich nicht so eine Quasselstrippe auf dem Zimmer habe“, ihr Mann lachte herzlich.

Pia erwiderte sein Lachen mit einem Schmunzeln. „Das kann man wohl sagen. Ich war gestern Abend schon hier mit ihm allein. Er hat kein Wort mit mir gesprochen.“

„Vielleicht war er auch müde.“

„Ich denke eher, dass er taub ist. Nicht einfach schwerhörig. Nein, richtig taub. Aber unfreundlich noch dazu. Er wird ja gemerkt haben, dass ich was von ihm möchte. Aber er hat mich quasi ignoriert.“
Pias Mann zuckte mit den Achseln.
„Das ist immer das Gleiche“, fuhr Pia fort. „Die Alten meinen, sie wären einem überlegen und man müsse nur sie respektieren. Aber das gleiche erwarten wir ja wohl auch.“

„Reg dich nicht auf, Schatz“, entgegnete ihr Mann.


Am Abend klopfte Pia an der Tür zum Krankenzimmer erneut an diesem Tag. Heute früh hatte sie nur wenig Zeit mitgebracht.
„Hallo“, flüsterte sie in den Raum hinein, als hätte sie Angst bereits die Nachtruhe zu stören.
„Hallo Pia, hast du mir die Kekse mitgebracht? Sag mir bitte, dass du sie mitgebracht hast.“

Pia zog eine Schachtel mit Plätzchen aus ihrer Tasche und das Gesicht ihres Mannes erhellte sich augenblicklich.
Sie warf ein freundliches „Guten Abend“ in Richtung des alten Mannes.
Er antwortete nicht. Er blickte langsam weg, als Pia ihm ein herzliches Lächeln schenkte.
Sie ging auf ihren Mann zu um ihn zu begrüßen, konnte aber nicht umhin den Kopf heftig zu schütteln um dem alten Mann ihren Unmut über ein solches Verhalten zu demonstrieren.

Lass ihn taub sein wie er will. Die meisten können Lippen lesen. Und selbst wenn nicht. Ein nettes, offenes Lächeln sagt doch mehr als tausend Worte. Du blöder alter Zausel.

Pia setzte sich neben ihren Mann auf den Stuhl und schaute ihm dabei zu wie er sich einen Keks nach dem anderen einverleibte.

„Kannst du dich an den komischen Freund meines Vater erinnern?“, fragte sie ihren Mann.
„Dein Vater hatte Freunde?“, Krümmel fielen aus seinem Mund.
„Naja, nicht viele. Aber da war doch dieser Komische. Den kennst du auch noch. Bei seinen Geburtstagen war er immer da. Also die Letzten vielleicht nicht mehr. Aber vor ein paar Jahren.“
„Keine Ahnung Pia.“
„Der Mann nebenan sieht genau so aus. Genau so zauselig.“
Die Augen von Pias Mann wurden groß und er verschluckte sich an einem Keks.
„Pia!“, rief er.
„Was denn? Er ist doch taub.“
„Das weißt du doch nicht mit Sicherheit. Er schluckte hastig seinen Keks herunter und blickte zum alten Mann hinüber.“Es tut mir leid, meine Frau ist manchmal etwas direkt und blöd!“
Im Bett nebenan tat sich keine Regung. Der Mann blickte zur Zimmerdecke.

„Sag ich doch, dass der taub ist. Der hört nichts. Schon komisch, dass er sich dann erdreistet so unhöflich und frech zu sein.“
„Wieso ist er denn frech? Er hat doch nichts getan!“
„Genau. Das ist der Punkt. Er hat nichts getan. Normalerweise sollte man von einem Mann in seinem Alter von einer ganz anderen Schule ausgehen“, sagte sie, wobei ihr Tonfall von Wort zu Wort lauter wurde und ihr Blick immer weiter zum alten Mann wanderte.

Pias Mann lehnte sich zurück und nahm sich vor nur noch passiv an der Unterhaltung teilzunehmen.

„Ich erinnere mich noch gut an diesen alten, stinkigen Typen. Der hat nichts auf die Kette bekommen in seinem Leben. Seine Frau betrogen. Seine Kinder verdroschen. Wahrscheinlich auch seine Frau. Ich konnte nie verstehen, warum mein Vater sich mit so jemandem umgeben hat.“


Pia strich ihrem Mann ein paar Kekskrümel vom Pullover.
„Der war auch immer so unfreundlich. Da ist man in den Raum gekommen und hat gegrüßt und was meinst du? Was kam für eine Reaktion?“
Pias Mann schüttelte fragend den Kopf.
„Genau, nämlich keine! Weil diese Generation einfach unfreundlich und überheblich ist.“
Sie drehte sich zu dem alten Mann um.
„Und dieses Exemplar ist doch nicht anders.“
Ein Seufzer entglitt Pias Mann.
„Alles in Ordnung, Schatz?“, wollte Pia wissen, während sie ihm durchs Gesicht streichelte.
Er lächelte ihr zustimmend entgegen und wandte seinen Blick dann abrupt an. In Richtung alter Mann.
Dieser stand langsam und mühselig aus dem Bett auf.
Pia und ihr Mann schauten ungläubig durch den Raum, während der alte Mann das Zimmer wortlos verließ.

„Was war das jetzt?“, fragte Pias Mann.
Sie biss sich von innen fragend auf die Wange. „Er muss bestimmt zur Toilette oder so“, entgegnete sie ihrem Mann.




Am nächsten Morgen war Pia noch später dran als am Tag zuvor. Von ihrer 45-minütigen Pause hatte sie nur noch eine knappe halbe Stunde übrig.
Trotzdem wollte sie es sich nicht nehmen lassen, einmal bei ihrem Mann vorbei zu schauen.
Sie betrat das Zimmer und schloss die Tür hinter sich.
„Guten Morgen“, sagte sie als sie sich umdrehte und feststellte, dass das Bett ihres Mannes leer war.
Sie sah sich fragend um. Der alte Mann lag nach wie vor in seinem Bett. Die Kekse waren komplett aufgegessen. Die Zeitschriften nicht angerührt.
Da fiel ihr ein, dass er am frühen Vormittag zu einer Kontrolluntersuchung sollte.
Das hatte er ihr am Vorabend gesagt. Nur eine feste Zeit war nicht ausgemacht.

Dann ist er wohl zur Untersuchung. Hoffentlich gibt es jetzt keine Komplikationen mit der Naht oder so etwas. Ich hätte ihn zum Wochenende schon gerne wieder zuhause.

Ihr Blick wanderte zum Bett des alten Mannes. Er lag wie am Abend zuvor in seinem Bett.
Sie wollte ihn nicht direkt anstarren und schaute immer nur im vorbeigehen zu ihm herüber.
Der Schrank ihres Mannes stand offen und Wäsche lag davor.
Ach Stefan. Warum solltest Du hier auch anders sein als zuhause. Dann werde ich mal gucken, dass ich deinen Kram schon mal mitnehme.
Sorgfältig hob sie die Kleidungsstücke vom Boden auf.
„Ja, da guckst du, was?“, redete sie vor sich hin, dem alten Mann den Rücken zugewandt.
„Wenn man nett zu seinen Mitmenschen ist, dann bekommt man auch was zurück. Wenn man ein alter Stinkstiefel ist, dann kann man gucken wo man bleibt.“

Sie ließ ein Hemd fallen und begann zu lachen.
„Wenn du mich hören könntest. Wenn du mich hören könntest, dann würden dir jetzt deine faltigen, alten Ohren wackeln.“
Pia bekam sich vor Lachen kaum ein. Sie zog sich am Griff des Schranks hoch und warf den zusammengesuchten Haufen Wäsche aufs Bett.

Ich frage mal die Schwester ob sie mir sagen kann, wann Stefan fertig ist. Vielleicht kann ich ja auch bei der Untersuchung dabei sein.

Beim Verlassen des Zimmers ließ sie die Tür offen stehen und ging auf den Flur hinaus.
Mach doch die Tür zu, wenn du Privatsphäre haben willst. Gestern Abend konntest du noch ganz gut laufen. Hält ja auch fit so etwas.

„Entschuldigung!“, rief sie einer Schwester hinterher, die gerade die Station verlassen wollte.
„Ja?“, entgegnete ihr die Schwester, die auf dem Absatz kehrt machte.
„Ich wollte nur fragen ob mein Mann zur Untersuchung ist und ob ich vielleicht dabei sein kann. Er ist nicht auf seinem Zimmer, wissen sie.“

Die Schwester schaute sie ungläubig an.
„Sie waren im Zimmer?“
„Ähm... ja. Natürlich. Warum auch nicht?“, wollte Pia wissen. Sie konnte mit der frage überhaupt nichts anfangen.
„Wir dachten, sie melden sich vorher einmal beim Pflegepersonal. Also bevor sie ihren Mann besuchen. Dann hätten wir Sie.. ähm. Also, dann hätten wir Sie natürlich nicht in das Zimmer gelassen.“
Pia konnte spüren, wie ihr langsam die Farbe aus dem Gesicht wich.
„Warum? Warum sollte ich denn nicht in das Zimmer?“
„Wir haben den Toten noch nicht abholen lassen“, sagte die Schwester vorsichtig.
Oh Gott.
„Verstorbene bleiben ein paar Stunden auf dem Zimmer ehe wir sie abholen lassen. Das ist so üblich. Es hat sie offenbar auch niemand reingehen sehen.“
„Ähm... ich hatte es sehr eilig“, stammelte Pia.
„Es tut mir sehr leid. Möchten sie sich einen Moment setzen?“, fragte die Schwester sie.
„Mmhh, ja gerne“, antwortete Pia mit gesenktem Blick.

Die Schwester führte Pia zu einem Stuhl und legte ihre Hand auf die Schulter.
„Bleiben sie doch einen Moment sitzen. Ihr Mann ist schon eine Weile unten. Er kommt bestimmt gleich hoch. Es würde sich nicht lohnen jetzt runter zu gehen.“
„Ist gut, ja. Ich bleibe hier sitzen“, sagte Pia.

Die Schwester warf Pia einen letzten tröstlichen Blick zu und verschwand dann von der Station.
Pia blieb starr auf dem Stuhl sitzen und blickte ihre Schuhe an. Hinter ihr öffnete sich eine Tür und sie konnte Stimmen vernehmen. Es war ein Gespräch zwischen zwei Krankenschwestern.

„Rufst du an?, fragte die Eine.
„Kann ich machen. Ist die Zeit denn schon um?“
„Ja ja, passt schon. Ich will den Raum noch fertig kriegen heute.“
„Hat der Arzt schon die Angehörigen informiert?“
„Soweit ich weiß gibt es keine Angehörigen. Er war allein. Er hatte wohl niemanden.“
„Auch das noch!“, rief die andere der beiden in lautem Entsetzen.
„Ja, da hast du schon so eine beschissene Krankheit und dann ist da niemand auf der Welt, der dich auffängt.“

Pia spürte wie sie sich der Klos in ihrem Hals zu einem brennenden Etwas verwandelte.
Ein junges Mädchen, wahrscheinlich eine Auszubildende ging lächelnd an Pia vorbei in den Raum mit den beiden Schwestern und beteiligte sich umgehend am Gespräch.

„Wovon redet ihr?“, wollte sie wissen.
„Von Herrn Opmann“
„Woran ist er gestorben?“, wollte die Azubine wissen.
„Krebs“, seufzte die Eine.
„Krebs im ganzen Mundraum. Zunge, Kiefer, alles. Der konnte weder sprechen, noch den Mund bewegen. Das waren für ihn die größten Schmerzen.“„Mensch, was müssen das für Qualen gewesen sein.“
„Dabei war er ein wirklich herzensguter Mensch gewesen“, sagte die Eine.
„Ihr kanntet ihn länger?“, fragte das Mädchen.
„Ja, er war wegen seiner Krankheit schon lange hier in Behandlung. Er brachte uns immer mal wieder Geschenke vorbei. Er war immer freundlich und herzlich, so lange er konnte. So manch einer hätte das nicht gekonnt. Und das, obwohl er niemanden hatte. Er war Witwer.“
„Das hört sich ja schlimm an“, meinte das Mädchen traurig. „Auf mich hat er eher immer grimmig gewirkt. Und er hat nie gesprochen. Ich dachte immer, er versteht mich nicht.“
„Sprich du doch mal, wenn dein gesamter Mundraum auseinander fällt. Er hat alles verstanden. Was glaubst du wie schlimm das sein muss, wenn man mit jemandem sprechen möchte, es aber nicht kann.“
Die drei Frauen sahen betreten zu Boden. „Gut, dass er es geschafft hat“, sagte die Schwester.
„Dann mach schon mal die Kaffeemaschine an. Oh... die Tür ist noch offen.“
Die Schwester stieß mit der Hüfte gegen die Tür, die sofort ins Schloss fiel.

Auf der anderen Seite der Tür saß Pia.


Ende

 

Hallo Phil,

ich schon wieder!, aber keineswegs um Dich niederzumachen. Ich behaupte mal, jeder hierorts wird Dir helfen, auf die Beine zu kommen ... Ja, warten ist eine schlimme Sache, und die meisten Leute verlernen durch die neuen Medien – und sei’s ein einfaches Mobiltelefon – einfach, geduldig zu sein. Aber das wirstu mir nicht vorwerfen können, wenn jetzt auf diverse Schnitzer, die im Text stecken, hingewiesen wird. Ich hab mich a priori da auf zwanzig Hinweise festgelegt – es dürften aber noch einmal so viele darinnen stecken, wobei einiges sicherlich auf Flüchtigkeit zurückzuführen ist.

Was besonders auffällt – wahrscheinlich als ein Produkt der Schule – ist die Inflation von Hilfsverben, die hauptsächlich wegen der häufigen Verwendung zusammengesetzter Zeiten, vor allem des Plusquamperfekts - auftreten. Da werd ich nun nicht jeden Schnitzer heraussuchen, sondern nur, wenn gleichzeitig ein weiterer anzuzeigen ist. Ich denk, einen Teil der Arbeit kann man ruhig Dir überlassen … „Übung macht den Meister“ hat was wahres an sich.

Zwei Korrekturen sind am ersten Satz schon vorzunehmen:

Es war schon [V]iertel vor zwölf, dachte sich Pia[,] als sie auf ihre Armbanduhr starrte.
Da ist schon ein weiteres großes Problem angeschnitten: Die Kommasetzung. Da sind die ersten hundert Seiten des Rechtschreibdudens (wie überhaupt zur Rechtschreibung) ganz praktisch und ersparen den dreizehnhundert Seiten starken Grammatikduden. Der gäbe im Bett gelesen auch nur blaue Flecken ...

Ihr Mann war jetzt eine geschlagene Stunde im Behandlungszimmer des städtischen Krankenhauses und es war nicht abzusehen, wann er dort wieder herauskommen würde.
Der Satz ist bei Gott nicht falsch – aber die dt. Sprache ist derart flexibel, dass das Schema Subjekt-Prädikat-Objekt durchbrochen werden kann und nicht „Ihr Mann war … es war …“ zwanghaft beibehalten werden muss durch einfaches Möbelrücken (so will ichs mal nennen), also etwa so
Ihr Mann war jetzt eine geschlagene Stunde im Behandlungszimmer des städtischen Krankenhauses und [nicht abzusehen war (es)], wann er dort wieder herauskommen würde.
Das platzhaltende „es“ erweist sich gar als entbehrlich, kann sogar wegfallen, dass aus zwei Hauptsätzen einer werde.
Zudem könnte auch das „würde“ wegfallen, selbst wenn es sich im dt. immer mehr einschleicht und einschmeichelt, wir brauchen es viel seltener, als wir’s gebrauchen. Das sieht dann so aus:
…, wann er dort wieder herausk[äme].
Bedeutet zwei Wörter oder sieben Buchstaben gespart! Die Mutti zu Berlin dürfte auch an kleinsten Ersparnissen ihre Freude haben …

Dieser Satz behauptet nun in der Form, wie Du ihn aufführst

Geradezu vor Schmerz gekrümmt hatte sie ihn in den Notfallbereich des Krankenhauses geschleppt
dass die Frau sich vor Schmerzen krümme, weil sie ihren Mann schleppt … es wird aber der Mann – eingedenk des vorherigen Satzes – gemeint sein, der sich da krümmt.
Wie kommen wir da raus? Möbekrücken, empfehl ich, ggfs. einen Nebensatz bildend:
„Sie hatte ihn, der sich vor Schmerzen krümmte, …“

Der Satz will mir nun puren Unsinn vorgaukeln hinsichtlich der Frischlinge
Sie tröstete sich mit dem Gedanken an eine routinemäßige Operation für jeden frischen Arzt und eine zügige Entlassung
Wenn ich das Geheimnis aussperre, steht der Rest im falschen Fall (was er sicherlich auch mit frischem oder gestandenem Arzt wäre):
Sie tröstete sich mit dem Gedanken […] eine[r] routinemäßige[n] Operation […] und eine[r] zügige[n] Entlassung.

Oder was sie vor haben.
… vorhaben, ein Wort!

Pia versuchte[,] die Ruhe zu bewahren.
Relativsatz (zufällig mit Infinitivgruppe) und gleich noch mal:
Sie wollte sofort aufhören[,] diese Gedanken fortzuführen.

Hier ist nun das Komma entbehrlich (wird ja durch die Konjunktion ganz hervorragend ersetzt)
Er schien auf seine Schuhe zu gucken, oder auf irgendetwas auf dem Boden.
Und hier nochmals
Der kleine Junge, mit dem Handproblem …
auch ohne Konjunktion ...


…, wenn er erfährt[,] dass ich heute den ganzen Tag nicht da war.

Und es ist einfach so[,] wie es ist.
Oder, eher unwahrscheinlich, aber auch möglich
Und es ist[,] einfach so[,] wie es ist.
Was natürlich die Aussage ein wenig ändert.

Ohne Kommentar – reine Flüchtigkeit

… und wie er sich regelmäßig vor seinen Angestellten aufgeplusterte.
(waren wahrscheinlich zwo Satzmodelle im Kopf und stritten sich)

Infinitivsatz nach unvollständigem Hauptsatz (Ellipse)

Versuche[,] beschäftigt auszusehen.

„Während“ scheint Dir ein Problemkind zu sein
„Komm, wir müssen da rein“, sagte sie[,] während sie ihn anschob.
Florians Mutter warf Pia ein hastiges Lächeln zu[,] während sie mit ihrem Sohn im Behandlungsraum verschwand.

Ich glaube[,] er ist schon vor Jahren gestorben.

Nebenbei: Was sucht das „in“ darinnen?
… war sie im Begriff[,] das Handy in wegzulegen.

Sie wusste nicht[,] ob er sie noch anstarrte oder nicht.
Das Problem vom Anfang: Er tritt eben nicht die Türe ein, was ein Komma verhindert
Langsamen Schrittes ging er zum Behandlungszimmer, öffnete die Tür[,] trat ein.

… warum kam er dann nicht in den Wartebereich[,] um sie zu holen?

So, zwanzig sind voll!

Wenn’s Probleme gibt bei der Suche nach weiteren Schnitzern – ich lauf nicht weg,
sagt der

Friedel,
der noch’n schönes Wochenende wünscht!

 

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