Der Medizinmann und der Tod
Der Todesschrei eines Wüstenvogels gellt durch die Nacht, untermalt von einem tiefen Knurren und dem Knacken von Knochen. Das Mädchen am Feuer zuckt zusammen und blickt erschrocken auf. Der alte Medizinmann bleibt völlig regungslos sitzen, hebt dann schließlich langsam seinen Kopf und schaut dem Mädchen tief in die Augen.
„Eine Seele hat diese Welt verlassen und ist in die nächste eingetaucht, das ist alles Jasra“.
Dann senkt er langsam wieder seinen von langen grauen Haaren umrahmten Kopf und schaut regungslos in das Feuer. Die Flammen zeichnen eine zuckende Schattensilhouette seines mit Federn geschmückten Hauptes auf den trockenen Büschen hinter ihm. Das Mädchen schaut ihn mit weit aufgerissenen Augen an, mustert die regungslose Gestalt. Die graue von zahlreichen Zöpfen, Federn und Bändern durchzogene Haarpracht, die das tiefbraune, gegerbte Gesicht umspielt. Die unendliche Tiefe der schwarzen Augen, die die Flammen beobachten. Den von der Sonne verblassten Poncho, dessen düstere, gestickte Figuren und Zeichen noch sehr deutlich zu erkennen sind. Bis hinunter zu den hellen, abgewetzten Ledermokassins die einen Kontrast zu der erstaunlicherweise tiefschwarzen, weiten Hose bilden. Der Medizinmann sitzt im Schneidersitz, die Ellenbogen auf den Knien aufgestützt, die Fingerspitzen der kräftigen, wettergegerbten Hände liegen leicht aufeinander. Nicht die kleinste Regung geht von der hünenhaften Gestalt aus.
Schließlich hält es das junge Mädchen nicht mehr aus. „Was meinst Du? Was für eine andere Welt?“
Langsam hebt der alte Mann wieder seinen Kopf und schaut ihr in die Augen. Sie versucht seinen Blick zu erwidern, hat aber das Gefühl als würde sie tief hineingezogen. Sie droht in seinen schwarzen Augen zu versinken und die Welt um sie herum beginnt zu verblassen. Das Mädchen schüttelt heftig den Kopf.
„Was für eine Welt meinst Du?“, fragt sie erneut.
„Schau Dir den Sternenhimmel an…“. Der alte Mann hebt langsam seine linke Hand und macht eine weite Bewegung. Das Mädchen folgt der Bewegung über den von unzähligen Sternen übersäten Nachthimmel. Schließlich hält die Hand des alten Mannes inne und zeigt zu einem weit entfernten Punkt. „Schau hin!“
Das Mädchen folgt der Richtung seines ausgestreckten Fingers und plötzlich erscheint eine helle Sternschnuppe, die eine lange Bahn über den tiefschwarzen Himmel zieht und schließlich genauso plötzlich verschwindet wie sie aufgetaucht ist.
„Auch diese Schnuppe ist in eine andere Welt übergegangen, nur hinterlässt sie keine Spuren in der alten Welt. Das tun nur Lebewesen. Verstehst Du Jasra?“
Das junge Mädchen schaut ihn ein wenig verzweifelt an und schüttelt dann langsam den Kopf.
„Glaubst Du, kleine Jasra, dass dies die einzige Welt ist die es gibt?“
Sie zuckt die Schultern und schaut den alten Mann verunsichert an.
„Ja, warum nicht, ich meine ich kann nur diese hier sehen und spüren. Warum soll es noch eine andere geben?“
„Nicht nur eine, Jasra, viele, unendlich viele womöglich. Nur weil Du jetzt in diesem, Deinem Körper nur diese Welt hier spüren kannst, heißt das nichts. Denn Du bestehst nicht nur aus diesem Körper. Wobei dieser aber auch in dieser Welt bleiben muss. Anders als die Sternschnuppe oder Anderes das diese Welt verlässt. Nur Lebewesen hinterlassen Spuren, aber auch nicht alle. Manche verschwinden einfach, genau wie die Sternschnuppe.“
„Kann ich auch einfach verschwinden?“ Das Mädchen schaut den alten Medizinmann mit großen, leicht ängstlichen Augen an.
„Wenn Du alles richtig gemacht hast, ja!“
„Richtig? Ich will aber nicht verschwinden, ich bin gerne hier!“ Eine kleine Träne läuft über ihr Gesicht.
„Natürlich, Du wirst auch noch lange hier sein, solange Du willst. Aber wenn Du eines Tages weiterziehen willst und bereit bist eine neue Welt zu betreten, dann kannst Du diese verlassen.“
„Mit oder ohne Körper?“
Der alte Mann muss lachen, wird aber sofort wieder ernst als er ihren ärgerlichen Blick sieht. “Nun, wenn Du wirklich vorbereitet bist, dann kannst Du auch wechseln ohne eine Spur zu hinterlassen. Aber das passiert selten und nur den Lebewesen, die wirklich sehen und verstehen und bereit sind.“
„Aber wie kann ich denn wollen, wenn ich nicht weiß was mich in der anderen Welt erwartet? Und warum haben die Menschen so eine Angst davor? Und tut es weh? Dem kleinen Vogel eben hat es bestimmt wehgetan. Hat er das auch gewollt?“
„Ja, Jasra, das hat er!“
Sie schaut ihn verständnislos an, aber der Medizinmann schaut nur zurück und schweigt. Sein Gesicht wird von den Flammen, die sich in dem sanften, warmen Wind bewegen in ein Licht- und Schattenspiel getaucht. Schließlich hebt er langsam seine Hand und deutet auf einen Punkt hinter dem jungen Mädchen. Sie folgt mit Ihrem Blick der Richtung seines Fingers und entdeckt einen hellen, bläulich schimmernden Stern, der ihr vorher noch nie aufgefallen ist. Er sieht aus wie ein funkelnder Diamant und überstrahlt alle anderen Sterne in seinem Umfeld. Er ist wunderschön und erhaben.
„Was ist das für ein Stern? Ich habe ihn noch nie zuvor gesehen…“
Als sie sich wieder zu dem alten und weisen Medizinmann umdreht, ist er verschwunden.