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Bärenrennen

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21.08.2014
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Bärenrennen

Irgendwann mal vor einigen Jahren gab es mal eine Gesetzesänderung, die inzwischen zurückgeändert worden ist aber eine ganze Weile für Aufsehen und Diskussion sorgte.
Bis zu einer bestimmten Frist durfte jeder Bürger seine eigene Todesursache wählen. Entweder aus einem vorbestehendem Katalog von A wie Aalfraß (was soweit ich weiß niemand wählte) bis Z wie Zöliakie oder mit beigefügtem Motivationsschreiben und Antrag auf Sondergenehmigung aus eigen erdachter Ursache.
Wer die Frist verpasste und auch die Frist zur Fristverlängerung verpasste, der starb- wenn es soweit war- einfach an Koronarer Herzkrankheit.

Ich hatte damals gerade mein Jurastudium beendet aber noch keine Anstellung gefunden. Ich suchte auch nicht sehr sorgfältig denn nun da die wohlige Studienzeit vorbei war holten mich Zweifel über meine Berufswahl ein, die ich lange verdrängt hatte. Wannimmer ich mich in einer Kanzlei bewarb quälte mich der Gedanke ein leidenschaftsloser und verlorener Anwalt zu werden, der sein wahres Glück verpasste. Also schob ich die Bewerbungen auf und lebte stattdessen halbwegs sorglos in den Tag hinein. Ich hatte jedenfalls Zeit um mich um andere, wichtige Angelegenheiten zu kümmern und so sorgte ich dafür, dass meine ganze Familie rechtzeitig ihre Anträge ausfüllte.

Mein jüngerer Bruder war damals gerade erst neun Jahre alt und entschied von einer gigantischen Riesentitte erschlagen zu werden. Damals begeisterte diese Vorstellung seine kindliche Fantasie aber die Jahre vergingen und der pausbackige Junge wurde ein zierlicher Mann. Mein erwachsen gewordener Bruder glaubte nicht mehr an die monumentale Megabrust, die im richtigen Moment vom Himmel regnen würde um ihm sein Ende zu bereiten. In ihm keimte statt dessen der Gedanke, dass jede überdurchschnittlich gut behängte Frau ihn mit einer unglücklichen Bewegung im richtigen Winkel jederzeit vernichten konnte. Die Angst vor dicken Frauen wurde er nie wieder los.

Meine Mutter entschied an gebrochenem Herzen zu sterben. Sie sagte es sei weniger eine Entscheidung als ihr Schicksal.
An dem Tag hatte ich ihr zu erklären versucht, dass ich vielleicht nicht gleich Anwalt werden wollte wie mein Vater und Großvater, sondern erst ein wenig zu Reisen vorhatte um mich auf meine Musik zu konzentrieren.
Ich glaube es hatte damit zu tun.

Mein Vater verbrachte Wochen am Schreibtisch. Er notierte sich Prioritäten beim Sterben und suchte dann im Katalog nach etwas, dass möglichst viele davon abdeckte.
Es sollte schnell gehen, schmerzlos sein, mit kurzer Ankündigung für das Regeln letzter Angelegenheiten, trotzdem weitgehende Lebensqualitäten bis zum Schluss erhalten, höhere Inzidenz mit steigendem Alter haben und frei sein von stigmatisierenden Hautveränderungen wie Pusteln oder Ekzemen.
Mein Vater war etwas spröde, stets korrekt gekleidet. Ich erinnere mich nicht, ihn je etwas anderes tragen gesehen zu haben als einen Pullunder mit Krawatte sowie eine feingraue Hose. Selbst am Wochenende beim Frühstück nicht. Er ekelte sich vor Meeresfrüchten, Schweiß und Nacktheit, tadelte meine Mutter wenn sie beim Lachen aus Versehen grunzte und bestand auf getrennte Betten. Trotz all dem- nach wiederholter und wiederholter Überarbeitung seiner Prioritätenliste blieb ihm am Ende nichts anderes übrig als an einer Dauererektion zu sterben.

Ich selbst wählte mit geschlossenen Augen. Der erste Gedanken an den Tod sollte der Richtige, der für mich bestimmte sein. Eine Weile, so konzentriert ich die Augen auch geschlossen hielt und das Innere meiner Lider nach dem Tod absuchte sah ich gar nichts. Kein Bild, kein Gedanke. Ich atmete meditierend. Bilder aus meinem Studium erschienen. Meinem Zimmer, meiner noch fast ungetragenen Robe und ein paar halb vertrauten Gesichtern aus dem Hörsaal. Ich presste die Hände an meinen Kopf und drückte zu. Ich wollte irgendetwas sehen, dass mich töten konnte. Ich zwang mich zu einer wilden Gedankenspule heraus aus dem Hörsaal. Ein erstes Bild, schnell.
Ich sah Bären. Rennende, braune Bären, die einen Hügel -bewachsen mit dürrem trockenen Gras herab rannten.
Im Katalog fand ich nichts dazu, also füllte ich einen Antrag zur Sondergenehmigung aus.

Von dieser Zeit an lag meine Mutter sehr häufig im Sterben.
Vor allem wenn ich zu Besuch kam und gefragt wurde, ob ich nicht endlich einen Job gefunden hätte oder wenigstens eine Freundin. Ihr Zustand verschlimmerte sich drastisch bei jeder meiner vorsichtig verneinenden Antworten. Mein Vater musste sie mehrmals mit für den Not-fall verfassten Liebesgedichten reanimieren obwohl ihm das eigentlich sehr zuwider war.
Auch die Zeit zum Jahresende war besorgniserregend wenn mein Bruder und ich noch nicht rechtzeitig organisiert hatten ob wir über Weihnachten nach Hause kommen konnten. Mein Bruder studierte mittlerweile Aktmalerei in Übersee und schaffte es jedes Jahr erst in letzter Minute einen Flug zu bekommen um rechtzeitig zu Hause zu sein.
Eines Tages verloren wir sie beinahe tatsächlich als sie erfuhr, dass mein Bruder eine homo-sexuelle Beziehung begonnen hatte.
Er versuchte sich mit allen Mitteln zu erklären während meiner Mutter das Leben aus den Wangen wich. Erst als er schwor den Mann zu verlassen fühlte mein erleichtert seufzender Vater wieder einen Puls in ihrer blassen Hand.
Die Wahrheit war das nicht. In Übersee blieb er bei dem Mann, den er liebte, erwähnte ihn aber bei uns zu Hause nie wieder wenn meine Eltern in Hörweite waren.
Ein paar Jahre später trennten er und sein Freund sich wieder. Mein Bruder war nach dem Studium wieder in die Nähe unserer Heimat gezogen und die Distanz hielten beide nicht aus. Einige Monate sah ich meinem Bruder an wie ihm der Liebeskummer im Nacken die Schultern, den Kopf und die ganze Brust zur Erde drückte. Diese Trauer überwand er erst als er sich wieder verliebte. In ein zierliches Mädchen namens Lotta.

Die Frau, in die ich mich verliebte hieß Henni. Sie war die Süße in Person. Sie wurde meine Frau und wir bekamen zwei Söhne. Kaspar und Leon.
Es folgten ein paar unendlich glückliche Jahre, in denen alle Menschen die ich je liebte gleichzeitig am Leben waren.
Wenn wir an Weihnachten alle zusammen kamen um das Leben meiner Mutter zu retten und Lotta und Henni Bowle-trinkend ratschten und kicherten, mein Bruder ausgelassen mit meinen Jungs umhertobte und mein Vater anerkennend das Weihnachtsessen lobte, sodass meine Mutter vor Rührung in Tränen ausbrach, saß ich oft nur so da, wippte im Sessel und fühlte mich unendlich bärenfern.

Meine Eltern verließen uns beide am gleichen Tag. Mein inzwischen neunzigjähriger Vater kam eines Mittags plötzlich im Bordell um und meine Mutter fiel tot um als sie davon erfuhr. Damals war es Brauch drei Tage im Sterbebett aufgebahrt zu werden und als es Zeit wurde meinen Vater aus diesem abzuholen weigerte mein Bruder sich das Bordell zu betreten. Für ihn wäre es wie ein Spaziergang durch ein Feld voller für ihn tödlicher Sprengkörper gewesen
Mir kam es vor als seien die Bären gerade bis auf wenige Schritte an uns herangekommen und brüllten mir schon ihren feuchten, stinkigen Atem ins Gesicht. Ich wollte meinen Bruder keiner Gefahr aussetzten also ließ ich mich von Leon und Kaspar begleiten.
Lola, eine stark geschminkte Hure mit roter Perücke und beachtlichem Übergewicht war alles andere als begeistert von der tagedauernden Leichenschau in ihrer Pink-Pearl-Suite aber sie hatte wohl Mitleid mit uns und tröstete versuchte raukantig unbeholfen uns zu trösten „Sein Fortgehen war schön für ihn. Nur für die, die zurückbleiben ist‘s halt schlimm“.

Leon war kurz vor seinem Staatsexamen und Kaspar wurde Vater einer kleinen Tochter als Henni plötzlich krank wurde.
Wir machten uns keine sehr großen Sorgen denn Henni hatte damals in ihrem Antrag ent-schieden unter wolkenlosem Himmel, mit dem Frühlingssonnenschein im Gesicht einzuschlafen und nicht mehr aufzuwachen.
Wir achteten darauf sie bei schönem Wetter nie dem freien Himmel auszusetzten und glaubten so sei sie für immer sicher.
Nach zwei Jahren hatte sie eine Operation und mehrere Chemotherapien hinter sich. Sie war dünn geworden, ihr rundes, weiches Gesicht war in sich zusammen gefallen. Selbst Lachen tat ihr weh. Schmerzen, Husten und Luftnot folgten ihr überallhin.
Ich rief die Jungs an zu kommen. Kaspar brachte seine Frau und die kleine Hannah mit, mein Bruder besuchte uns mit Lotta und ihrem Sohn Felix.
Wir fuhren alle zusammen an den Strand. Es war Frühling und strahlendblauer Himmel. Die Kinder spielten, wir aßen Eis und suchten nach Sandkrabben. Alle erzählten alte Anekdoten und vor allem mein Bruder, der immer schon die besten Geschichten erzählt hatte brachte Henni zum Lachen.
Ich hielt sie im Arm bis sie eingeschlafen war und küsste ihre noch immer dichten, blonden Locken.

Danach wurde es sehr ruhig in unserem Haus. Ich entschied mich in Rente zu gehen, schloss meine Kanzlei und mit dem Ersparten begann ich meine Reisen.
Heute bin ich in Kanada. Ich habe gehört das sei das Land mit den meisten Bären und bin trotzdem geblieben.
Fortzugehen kann schön sein, nur das Zurückbleiben ist schlimm.

 

Hej Reich,

willkommen. :)

mir hat die Idee hinter der Geschichte gut gefallen. Dass man sich den eigenen Tod aussuchen kann, klingt absurd. Besonders schön ist das Bild vom Vater, der sich lange Gedanken macht, aber letztendlich zeigen alle Figuren, wie ihnen die Kontrolle, die sie scheinbar in die Hand bekommen, wieder entgleitet.
Für mich stellt das gut das Dilemma dar, in dem sich Menschen (vllt grundsätzlich) befinden, die es gewohnt sind, alles Mögliche zu kontrollieren und dann irgendwann sterben und jegliche Kontrolle aufgeben müssen.

Irgendwann mal vor einigen Jahren gab es mal eine Gesetzesänderung, die inzwischen zurückgeändert worden ist aber eine ganze Weile für Aufsehen und Diskussion sorgte.

Fortzugehen kann schön sein, nur das Zurückbleiben ist schlimm.
Für mich wird die Aussage ohne diesen Satz eher noch deutlicher.

Ich hab das Gefühl, dass Du Kommas nicht besonders magst. Da fehlen viele.

Ich wünsch Dir noch viel Spaß hier.

Gruß
Ane

 

Hallo Reich,
dass ist ja mal ein Start, willkommen im Forum. Ich fand den Text wunderschön. Erinnert mich ein bisschen an Geschichten aus einer Anthologie namens "Maschine of Death", in der die Todesart nach Entnahme eines Bluttropfens auf einem Zettel bekannt gemacht wird. Meist nur kryptisch und ungenau, mit viel Interpretationsspielraum. Das Wissen um den eigenen Tod birgt viele Möglichkeiten und Gefahren. Du hast einige gekonnt gestreift und charmant in Szene gesetzt, fast so als würde man die Wunderbare Welt der Amelie anschauen. Jedenfalls hat der Text bei mir eine vergleichbare Stimmung erzeugt.

Ein paar Anmerkungen gibt es jedoch:

und tröstete versuchte raukantig unbeholfen uns zu trösten
Ich denke mal "tröstete" ist zu viel.

Not-fall
Da kannst Du auch Notfall schreiben.

die einen Hügel -bewachsen mit dürrem trockenen Gras herab rannten.
Du machst häufig diese - Gedankenstriche, das sieht manchmal seltsam aus. Villeicht überprüfst Du das besser nochmal. Ist mir nur so aufgefallen, was das angeht bin ich kein Auskenner.

Das wars im großen und ganzen schon, freut mich die Geschichte gelesen zu haben.

Schöne Grüße

Lem Pala

 

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