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Hand angelegt

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10.02.2000
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Hand angelegt

Montag, vierzehnter Dezember, nur noch ein paar Tage bis Weihnachten. Das Wetter war nasskalt, sehr ungemütlich. Wie geschaffen für gute Depressionen. Und das näher rückende Weihnachten tat sein Übriges. Seit anderthalb Jahren war ich wieder alleine. Ab und an tauchte Renate in meinem Orbit auf und wir bauten uns für ein Wochenende ein heimeliges Nest aus Glück und Vertrauen. Eine Oase voller kleiner Wunder und heilender Wunden inmitten des wüsten Lebens.

Es war nicht nur der wunderbare Sex, es war diese immense Zärtlichkeit zwischen uns, die mich die Durststrecke bis zum nächsten Wochenende überleben ließ. Innerhalb dieser marginalen Höhepunkte meines Daseins, watete ich durch das tiefe Tal der Erkenntnis, dass unser aller Leben nicht länger dauerte, als das Zischen eines Wassertropfens auf einer glühenden Herdplatte. Mit dem Unterschied, dass manche von uns den Schmerz spürten.

Aber außer mir gab es durchaus noch mehr einsame Seelen in dieser Welt, die nicht so gut damit leben konnten. Dazu zählte ich auf jeden Fall unsere Büroangestellte. Sie war etwa drei oder vier Jahre älter als ich, hatte ein ziemlich verlebtes Gesicht, nicht unhübsch, nur eben gezeichnet für vierzig Jahre und nur dreißig alt. Sie war etwas korpulent und kleidete sich meistens mit weiten Blusen. Rubens hätte sie gemalt und ihre Figur wäre heute berühmt; ohne Zweifel. Was den meisten Frauen auf Rubens Gemälden fehlte, waren große Brüste. Auf seinen Bildern fand ich immer nur kleine Brüste, im Verhältnis zum Rest des Gemalten. Bei unserer Dame aus dem Büro war das nicht so. Ihre Brüste waren enorm.

Aber ich wollte ja nichts von ihr. Unser Kontakt war auf das Alltagsgeschäft beschränkt. Sie teilte uns mit, welcher Kunde nicht gezahlt hatte, und deswegen keine Ware mehr auf Lieferschein bekam, oder ich war bei ihr hinten im Büro, um Angebote zu kopieren. Man hielt ein Schwätzchen, fand sich nett. Das war's. Eines Tages meinte der Junior-Chef zu mir:
»Die hat's auf dich abgesehen.«
»Quatsch«, erwiderte ich. »Das wüsste ich aber.«
Ich nahm das nicht ernst. Aber im Laufe der Wochen bemerkte ich vermehrte Fragen von ihr nach meinem Befinden. Ob ich alleine wohnen würde? Ob sie mir ein Eis in der Mittagspause mitbringen solle? Ich blockte das immer so freundlich wie möglich ab.

Eines nachmittags begann ich mit dem Einräumen der Schraubenpakete und war gerade dabei, DIN 7985 oben im Regal zu verstauen, als sie auf der anderen Regalseite vorbei ging. Ich konnte sie von oben sehen. Sie blieb genau mir gegenüber stehen und schaute mich an.
»Gehen wir heute ins Kino?«, fragte sie urplötzlich.
Ich war wie vor den Kopf gestoßen. Mit allem, was es auf dieser Welt geben konnte, hatte ich gerechnet. Aber nicht mit diesem Satz.
»Ne, heute habe ich leider keine Zeit. Ich treffe mich mit den Jungs im Exil.«
Noch ein Regal weiter stand der Juniorchef auf der Leiter. Er hatte das natürlich gehört und mischte sich ein.
»Stimmt doch gar nicht. Heute Abend haben wir noch gar nix vor.«
Nachdem ich zum letzten Mal mit fünfzehn rot geworden war, passierte es heute, dreizehn Jahre später, wieder. Verdammt noch mal. Ich biss die Lippen zusammen. So ein Idiot.
»Ach so ist das«, sagte sie, und ging weiter.

Später trottete ich zu ihr wie weiland Heinrich der IV. nach Canossa, um mich zu entschuldigen. Sie war direkt, also musste ich es auch sein.
»Es tut mir leid. Eigentlich hätte ich sagen sollen, dass ich keine Lust hab.«
Sie sah mich für einen kurzen Augenblick abschätzend an.
»Du meinst, du hast keine Lust mit MIR ins Kino zu gehen.«
»Im Moment habe ich keine Lust überhaupt mit irgendjemand ins Kino zu gehen.«
»Aha.«
Sie fixierte mich wieder und fragte sich wohl, ob das nun die Wahrheit wäre.
»Aber mit den Jungs von vorne gehst du manchmal weg?«
»Ab und zu mit dem Juniorchef und der Calmbacher ist noch dabei. Aber sonst geh ich kaum noch weg.«
»Und was machst du die ganzen Abende in der Woche? Fernsehen?«
»Ich habe keinen Fernseher.«
»Das macht dich mir aber viel sympathischer. Liest du viel?«
»Wenn ich Geld hätte für Bücher, würde ich sicher viel lesen. Ich schreibe.«
»Du schreibst?«, fragte sie erstaunt. »Was schreibst du denn so?«
»Ach, dies und das. Kurzgeschichten, Gedichte, was mir so einfällt.«
Das Telefon klingelte. Ich atmete auf. Was für ein erlösendes Geräusch. Frauen, die sich für meine Schreiberei interessierten, waren mir nie ganz geheuer. Sie nahm das Telefonat an und ich verzog mich schnell aus dem Büro.

Ein paar Tage später kam sie auf mich zu und wollte wissen, ob ich ihr nicht beim Eisen-Vogt Holz für ihren Ofen holen könnte. Dort konnte man maschinell gespaltene Holzscheite als Sackware kaufen. Und da sie kein Auto hatte, willigte ich ein. Als Belohnung würde ich ein indisches Essen bekommen. Bei dem Wort „Essen“ machte es schon „Klick“ in meinem Kopf. In meinem Haushalt waren Lebensmittel eher unterrepräsentiert. Und immer nur Rotkraut mit Knäckebrot war recht einseitig. Ein gutes Essen sollte man nie ausschlagen.

Am besagten Montag machten wir zusammen Feierabend und fuhren rüber zum Eisen-Vogt. Ein Angestellter lud uns fünf Sack Holz in meinen Kadett-Kombi. Sie bezahlte, dann machten wir uns auf den Weg zu ihr nach Hause. Sie wohnte in der Westlichen, kurz vor der Alten Brötzinger Schule. Diese Häuserzeile zwischen der Kreuzung Antoniusstraße und der Einmündung der Maximilianstraße war beidseitig noch aus der Zeit des Jugendstils. Ein paar alte Häuser, die den Krieg überlebt hatten. Alt und ehrwürdig, dafür um so verwahrloster.

Sie wohnte im ersten Stock und ich trug einen Sack nach dem anderen vor ihre Wohnungstür. Der Boden im Treppenhaus war aus altem Waschbeton, in den feiner Split mit eingegossen war. Das Geländer war noch echt Guss und der hölzerne Handlauf durch den vielen Schweiß ganz dunkel. Ganz besonders witzig fand ich die Drehklingel, die in der Tür eingelassen war. Ich probierte sie sogleich aus. Es hörte sich an, wie eine alte Fahrradklingel und erinnerte mich an meine Kindheit in den 60ern, als ich bei Besuchen immer an diesen Klingeln drehen durfte.

»Was soll ich mit den Säcken machen?«, rief ich in den Flur.
»Lass sie grad stehen. Ich räum sie dann morgen rein. Komm ins Esszimmer.«
Ich schloss die Tür hinter mir und fand mich in einem großen, fast quadratischen Flur wieder. Der Boden aus kleinen, schwarzen und weißen Marmorfliesen, eingelassen in Mörtel, das Muster eines Schachbrettes, an den Flurrändern umrahmt von einem mäandernden Band aus schwarzen Fliesen. Ich ging in ein Zimmer rechts, das ich als Esszimmer identifizierte. Eine hohe Altbaudecke mit einem Stuckrand aus Gipsblumen und geschwungenen Linien. In der Mitte ein alter Tisch, an beiden Längsseiten stand je ein alter Stuhl mit hoher Lehne. Der Tisch war sehr geschmackvoll gedeckt. Tellerunterlagen aus einem blauen Stoff, dunkelgelbe Teller, blaue Kerzenständer mit gelben Kerzen. Das sah mir nach einer langen Vorbereitung aus. Es roch schon sehr köstlich nach Curry und Kreuzkümmel.
»Willst Du was trinken?«
Sie stand in der Küche. Ich beschloss, mir den Rest der Wohnung anzusehen.
»Ja, bitte, vielleicht einen Apfelsaftschorle?«
»Kommt gleich.«

Das Zimmer nebenan war mit dem Esszimmer durch eine hohe, doppelflügelige Tür verbunden. Die beiden Türhälften waren nicht in Scharniere gehängt, sondern ließen sich aufschieben. Ich nahm an, der anschließende Raum war das Wohnzimmer. Eine alte Couch stand darin, sehr alt, mit hohem, geschwungenem Rückenteil, beidseitig hohe Lehnen. Der Bezug sah jedoch sehr neu aus. Eine alte Anrichte, zwei kleine Eckvitrinen, ein kleines Couchtischchen. Und eine recht gute Anlage. Ich entdeckte einen alten Luxman Röhrenverstärker. Ich kniete mich vor das edle, silberne Gerät und fuhr mit der Hand über das kühle Metall. Dann schaltete ich ihn ein, damit die Röhren warm wurden.
»Du hast ja einen Luxman Röhrenverstärker. Das glaub ich ja nicht.«
Ich hätte nicht so laut reden müssen, denn sie stand plötzlich hinter mir mit einem Exportglas voll Apfelsaftschorle.

»Hier, du hast sicher ordentlich Durst.«
Ich nahm ihr das Glas ab und trank es gleich halb leer.
»Ja, den Luxman hab ich schon lange. Den hat mir mal ein alter Verehrer vermacht, bevor er starb.«
Ich schaute sie an.
»Sterben deine Verehrer öfter mal?«
Sie lachte. Ihr Lachen hatte etwas Derbes.
»Nein, nur der. Das Essen ist gleich fertig. Setz dich schon mal an den Tisch.«
»Soll ich was helfen reintragen?«
»Ne, lass mal, geht schon.«
Bevor ich mich setzte, durchsuchte ich noch ihre Plattensammlung. Einen CD-Spieler fand ich nicht, obwohl einige CDs auf dem Boden lagen. Aber unter ihren Platten gab es wirkliche Schätze. Ich legte eine Originalpressung der „London Sessions“ aus dem Jahre 1970 von Howlin' Wolf auf den Teller des Plattenspielers. Es war ein großer Dual, vom Feinsten. Der Luxman klickte, die Röhren waren warm und das Relais gab den Strom frei. Die Musik erklang, und ich setzte mich auf einen der beiden bequemen Stühle.

»Oh, du hast Howlin' Wolf aufgelegt. Du kennst ihn?«
»Aber ja, die „London Sessions“, mit Eric Clapton, Steve Winwood, Bill Wyman und Charlie Watts. Legendär.«
Sie kam mit einer Schüssel Reis und einer Flasche Pflaumenwein.
»Mh, Basmati-Reis. Bloß der Pflaumenwein ist nicht so ganz indisch.«
»Dafür schmeckt er gut.«
»Darf ich mir schon einschenken?«
»Aber sicher. Mir bitte auch einen.«
Ich öffnete die Flasche und schenkte uns beiden ein. Er war tatsächlich warm. Na ja, so wurde er ja schließlich auch getrunken.
Sie kam ein zweites Mal aus der Küche und stellte eine große Pfanne Gutriechendes mitten auf den Tisch.
»Ah! Curry, Kokosmilch, Ananas, Hühnchen, Erbsen, Ingwer und Koriander. Korrekt?«
»Stimmt.«
Ich hob mein Glas und prostete ihr zu. Sie setzte sich schnell und nahm ihres. Dabei sah sie mir in die Augen. Zu tief, wie ich fand. Da war etwas in diesem Blick, dass mich beunruhigte. Ich kippte den Pflaumenwein in einem Zug. Schon beim ersten Schluck war mir klar, dass ich nicht mehr nüchtern nach Hause kommen würde. Sie tat mir Reis und Curry-Hühnchen auf, sich selbst auch, dann aßen wir.

Es schmeckte wirklich ausgezeichnet. Ohne Zweifel war sie eine sehr gute Köchin. Zwischendurch stand sie kurz auf und zündete ein Räucherstäbchen an. Ich hatte nichts gegen Räucherstäbchen. Nur Moschus durfte es nicht sein. Davon bekam ich Kopfweh.
»Macht es dir Spaß im Geschäft?«, fragte sie unvermittelt.
»Ja, ist ganz lustig. Man darf halt keine hohen Ansprüche haben. Bedienen, kommissionieren, Waren einsortieren, ein ganz normaler Laden eben. Und dir?«
»Ach, es geht. Ich glaub, die Chefin kann mich nicht leiden.«
»Wie kommst du da drauf?«
»Sie hat manchmal so einen beißenden Spott drauf. Wenn ich ihrer Meinung nach was falsch mache, oder zu viele Fragen stelle.«
»Hm, sie ist schon siebzig und hat schon allerhand gesehen. Man kann ihr kaum noch ein X für ein U vormachen. Das kann natürlich schon manchmal ernüchternd sein.«
Sie hielt ihr Glas in beiden Händen und versenkte ihren Blick in den Pflaumenwein. Die Musik war aus und ich stand auf, um eine andere aufzulegen. Nach einigem Stöbern entdeckte ich „The Song Remains The Same“ von Led Zeppelin und legte den Tonarm auf den Plattenteller. Schon die ersten Töne waren wie Strom. Was für eine wunderbare Musik, dachte ich bei mir und wollte mich wieder setzen, als durch das geschlossene Fenster lautes Geschrei von der Straße zu hören war.

Ich schaute nach, was da vor sich ging.
»Was ist da los?«, fragte sie mich.
Unten auf der gegenüberliegenden Straßenseite standen ein paar Männer und schrien sich an. Sie schubsten sich quer über den Bürgersteig, fielen hin, rappelten sich wieder hoch ...
»Meinungsverschiedenheiten, würde ich mal sagen.«
Sie kam her und öffnete das Fenster. Die Lautstärke schwoll sofort enorm an. Wir konnten uns beide bequem auf die Fensterbank lehnen, das Altbaufenster war breit genug. Obwohl mir die Nähe zu ihr doch etwas unangenehm war. Mein Glas Pflaumenwein tauchte wie aus dem Nichts auf.
»Oh, wie aufmerksam, danke.«
Ich nahm einen kräftigen Schluck und versuchte den Namen der Kneipe zu erkennen. Es waren rote Buchstaben auf schwarzem Untergrund, schwach beleuchtet.
»Wie heißt die Kneipe? Ich kann das kaum lesen.«
»Strohhutbar.«
»Strohhutbar? Ein netter Name. Groß ist sie ja nicht. Jedenfalls sieht sie winzig aus von außen.«
»Groß nicht. Aber er macht einen guten Umsatz. Mehr als zwanzig gehen da nicht rein. Aber die trinken normal für hundert.«
»Ja dann ...«

Der kleinere der Streithähne zog dem größeren urplötzlich eine Flasche über den Kopf. Der fiel wie ein Stein auf die Motorhaube eines davor parkenden Passats. Das ließ sich ein anderer nicht gefallen und holte aus, um den Kleinen umzuhauen. Aber der war schneller und kickte ihn Richtung Eingangstür, die just in diesem Moment aufging. Der Getretene torkelte gegen einen gehenden Gast. Beide fielen in die Kneipe hinein. Nun fuhr gerade der erste Polizeiwagen vor, gleich darauf der zweite.
»Ist ja wie Kino hier«, meinte ich und leerte mein Glas.
»Das ist fast jeden Abend so. Am Schlimmsten aber an den Samstagen, wenn Fußball ist, oder mittwochs, bei Länderspielen.«
»Fußball geht mir völlig ab.«
»Das gefällt mir.« Ich spürte ihren Blick auf mir, aber ich sah nicht hin.
»Noch einen Pflaumenwein?«
»Ja, warum nicht.«
Sie verschwand um ihn zu holen.

Der Pflaumenwein setzte mir doch mehr zu, als ich mir eingestehen wollte. Aber ich versuchte mir nichts anmerken zu lassen. Die Polizisten packten die Streithähne in die Streifenwagen. Inzwischen war auch der Rettungswagen der Feuerwehr eingetroffen, um den Mann auf der Motorhaube zu versorgen. Ich rümpfte die Nase. Ein süßer Duft machte sich breit. Das war doch ... neben mir tauchte eine große Tüte auf. Sie glühte und war wirklich enorm lang. Mehrere Blättchen waren hintereinander verklebt. Sie hielt mir den Joint hin und stellte das frisch gefüllte Glas neben mich.
»Auch einen Zug?«
Ich nahm ihr das rauchende Ungetüm ab und zog einige Male tief durch.
»Komm«, sie klopfte mir auf die Schulter. »Gehen wir fertig essen.«
Ich packte mein Glas und wir setzten uns wieder, ließen uns das Curryhuhn und den Joint schmecken. Der Pflaumenwein war inzwischen leider leer. Aber sie hatte noch eiskalte Coke und Bacardi, so dass wir uns einige Drinks gönnten.

»Hast du morgen erste Schicht?«
Ich überlegte. Es wollte mir nicht einfallen. Plötzlich merkte ich, wie die Welt sich veränderte. Sie wurde um einige Dimensionen größer.
»Äh, ich glaub schon ... sag mal, was ist denn das für ein Kraut? Sind da Muskatnüsse drin?«
Sie lächelte unschuldig, wie ich meinte erkennen zu können.
»Ne, das ist meine Spezialmischung.«
»Die hat es in sich, puh ...«
Mit meinem letzten Bissen fiel mir die Gabel aus der Hand auf den Teller. Das Klappern riss mich wieder in eine Art Wachzustand.
»Ich glaub, ich muss ins Bett«, konnte ich noch sagen.
»Du kannst bei mir schlafen.«

Mein rechtes Augenlid schien schon halb geschlossen. Ein Schatten legte sich über mein Sehfeld. Und mit einem letzten Rest Vernunft und Klarheit hörte ich die Alarmglocken tief in meinem Inneren. War ich das? Wo sollte ich schlafen? Bei ihr? Um Gottes Willen ... wo war denn eigentlich mein Bett? Diese Holzkiste aus verleimten Brettern, die ich mir selbst gebaut hatte. Ich wollte mein Kissen. Mir graute vor einer Nacht ohne mein Kissen.
»Ich will in mein Bett. Ich will nach Hause. Ich brauch mein Kissen«, sagte mein Mund.
»Ich hab ein Kissen.«
Wer hat das gesagt? Da war niemand.
»Hallo?«
Da vernahm ich ein derbes Lachen, es war laut und drang in mich ein. Es bedrängte mich und ich stand auf. Durch einen weichen, sanften Nebel spürte ich, wie ein Stuhl hinter mir umkippte.
»Oh! Tschuldigung ...«
Jemand führte mich in einen Raum und drückte mich auf eine Couch. Dann passierten einige Dinge. Es gab Wind. Etwas Großes wurde heran gezogen.
»Das Fenster ist wohl offen. Hier zieht’s.«
Die derbe Stimme verneinte, dunkel und langsam kamen die Töne.
»Sach mal, was warn das für‘n Zeuch? Fußnägel? Fliegenpilze?«
Hände halfen mir hoch und legten mich auf etwas Weiches. Eine Matratze?
»Gute Nacht.«
»Was?«
Wieder das Lachen.

Irgendwann erwachte ich völlig orientierungslos. Ich war sehr beunruhigt. Die Konturen um mich herum waren mir gänzlich unbekannt. Ein hohes Fenster, eine sehr hohe Decke. Rechts von mir konnte ich unter eine Couch blicken. Ich lag auf dem Boden, aber er war weich ... ah, eine Matratze. Aber wo war ich? Und wie bin ich hierher gekommen? Es war warm unter dieser Decke, und vor allem roch sie nicht wie meine Decke. Ich zog mir die Hose aus. Seltsamerweise hatte ich weder Schuhe noch Socken an. Egal. Noch das T-Shirt, und dann würde ich weiter schlafen. Weit gefehlt ... im Türrahmen stand plötzlich jemand. Im schwachen Gegenlicht war es nur eine Silhouette. Die bewegte sich auf mich zu, kniete sich zwischen meine Beine und beugte sich mit ihrem Kopf genau über meine Unterhose. Ich spürte Haut. Die Silhouette war nackt.

»Na? Wach? Leg dich wieder hin, jetzt wird es noch schöner ...«
»Äh ...«
Die Hände der Silhouette zogen meine Unterhose aus und machten sich an meinem Gemächt zu schaffen. Und warum auch immer, in dem Moment, als sich ein warmer Mund um mein härter werdendes Teil schloss, fiel mir ein, wo ich war.
»He, wart mal!«
Ich wollte mich schnell aufrichten, aber die ruckartige Bewegung setzte mir zu. Mir wurde schwindelig. Ich fiel wieder zurück. Ein neuer Versuch, aber eine kräftige Hand drückte mich zurück.
»Bleib liegen, bitte«, hörte ich undeutlich eine Stimme aus ihrem Mund, der mit meinem Schwanz gefüllt war.
Irrsinnigerweise fiel mir ausgerechnet jetzt eine Belehrung meines Vaters ein, dass man mit vollem Mund nicht reden dürfe. Oh Gott! Ich musste lachen ...

Heftig versuchte ich, ihren Kopf weg zu drücken, aber sie hatte sich festgesaugt. Tod in den Armen eines OctoPUSSY. Warum? War ich nun völlig durchgedreht? Mit einem Ruck drehte ich mich auf die linke Seite. Sie rutschte runter und ich vollführte eine Drehung nach rechts. Mit meinem rechten Arm stützte ich mich ab. Endlich frei. Mein Schwanz war hart wie ein Knochen. Ganz natürlich, dachte ich mir, und doch schämte ich mich. Da kam von hinten eine Hand und drückte mich zurück. Eine immense Kraft. Das hätte ich ihr gar nicht zugetraut. Und ich war ja wahrlich kein schwaches Kerlchen. Zurück auf der Matratze war sie auf einmal über mir und küsste mich. Ihre warme Haut zu fühlen, war nicht unangenehm, diese enormen Brüste, die Brustwarzen groß und steif, drückten sich in meinen Oberkörper, und - verdammt noch mal - es erregte mich. Ich drehte meinen Kopf weg. Sie rückte ihn wieder gerade und küsste mich.
»Verdam ...«

Ihr Mund war wieder auf meinem. Sie schnaufte schwer, spreizte ihre Beine, klemmte mit ihnen meinen linken Oberschenkel ein und rieb sich an ihm. Ich fühlte ihren feuchten Schoß, wie sie ihn gegen mein Bein drückte und dabei zuckte. Warme Nässe breitete sich aus. Mir wurde plötzlich schlecht. Offenbar das schnelle Hin und Her. Ich wollte sie hoch heben, aber ich war einfach zu schwach. Dieses verdammte Zeug hatte mir sämtliche Kräfte geraubt. Oh Mann ...

»Mhm ... geh runter ... bitte!«
War das möglich? Sie lag voll und ganz auf mir, eine Hand knetete meinen malträtierten Schwanz, die andere hatte mich am Haarschopf, und ihr Mund öffnete sich immer wieder und sagte entweder „Bitte, küss mich“ oder ließ die Zunge frei, um sie auf die Suche nach meiner Zunge zu schicken. Sie hatte volle Lippen und der Geruch ihres Atems war undefinierbar. Dann war da auf einmal ein Zucken, heftig, ein Zittern, schnell und vibrierend, sie stöhnte sachte auf, klemmte ihre Beine so stark zusammen, dass mein Schenkel weh tat. Und doch hielt ich sie plötzlich fest. Für diesen Moment Ihrer Erlösung legte ich eine Hand auf ihren Kopf, meine zweite auf ihren verschwitzten Rücken. Aber es hielt nur wenige Sekunden, dann packte mich der Ekel.

Ihr Mund senkte sich neben mein linkes Ohr, ich bekam kaum noch Luft und wollte nur noch weg von hier. Stoßweise atmend rollte sie endlich herunter. Keuchend landete sie neben mir. Eine ganze Zeit lang lagen wir still da. Ich kämpfte mit meiner Übelkeit und sie ... ja, mit was würde sie kämpfen? Mit einem schlechten Gewissen?
»Tut mir leid«, sagte sie leise. Sie stand auf und verließ den Raum.
Ich sank zurück auf die Matratze. Ich fühlte mich dreckig. Und er da unten stand immer noch und tat mir weh. Ich war völlig durcheinander. Hätte ich nachgeben sollen? Nun setzten auch noch Kopfschmerzen ein. Ich war drauf und dran diese Wohnung durch das Fenster zu verlassen, in einen tiefen, kalten Fluss. Aber letztendlich war ich zu müde, wollte nur noch schlafen und diese Übelkeit vergessen.

 

Hey Morphin,

diese Geschichte hat mich echt umgehauen. Ich musste zweimal echt lachen und bin zum Ende hin auch noch irgendwie geil geworden. Respekt.
Hauptgrund für diesen Treffer, direkt in mein Herz, ist wahrscheinlich, dass ich mich gleich gut mit dem Ich-Erzähler identifizieren konnte. Das ist eben so eine Geschichte, die tatsächlich auch passiert. Die vielen Details, die alles verdichten und im Erzählfluss eine kleine Melodie sprudeln, sehr schön. Lobenswert auch die Beschreibung des beginnenden Rauschs und der "Liebesszene".
Da ich jetzt selbst im Rausche des Textes absolut fehlerblind bin und es immer irgendwie gut aussieht wenn was zitiert wird, hier ein paar Zitate:

»Ich will in mein Bett. Ich will nach Hause. Ich brauch mein Kissen«, sagte mein Mund.
»Ich hab ein Kissen.«
Wer hat das gesagt? Da war niemand.
»Hallo?«
Da habe ich das erste Mal gelacht.

»Sach mal, was warn das für‘n Zeuch? Fußnägel? Fliegenpilze?«
Hier nochmal. Lauter.

Naja, das wars schon. Hat mich sehr gefreut diese Geschichte zu lesen.

Schöne Grüße
Lem Pala

 

Servus Lem Pala,

freut mich sehr, dass das Geschichtlein Dich gut unterhalten hat. So soll es sein. Wenn sie auch keinem hohen literarischen Anspruch folgt, ist sie doch einfach ein Stück aus dem Leben. Nicht mehr, nicht weniger.

Dir einen lebendigen Tag.

Morphin

 

Mensch, Heinz, getz dat noch: Back to the roots –

Ich legte eine Originalpressung der „London Sessions“ aus dem Jahre 1970 von Howlin' Wolf auf den Teller des Plattenspielers.
Du muzze ma Taj Mahal hören - aufgenommen 23 Jahre später mit Sitting On Top Of The World von Chester Burnett, der sich selbst Howlin’ Wolf nannte … da waren die Youngsters – war der Richards Keith nich auch dabei? - Waisenknaben und eine Altherrenmannschaft gegen! Bei der fragmentierten Aufnahme von Little Red Rooster belehrt der 62jährige Burnett den 25jährigen Clapton bzgl. des Bottleneckspiels … Getz is bis Spootschau McKinley Morganfield, Ellas Otha Bates McDaniels etc. dran, ma kucken, obbe lieb Nachbaaschaft bekloppt wiid!

Später trottete ich zu ihr wie weiland Heinrich der IV. nach Canossa, um mich zu entschuldigen.
Ja, vom Alter der Heinzen passt’s ja,

lieber Morphin,

so wäre denn Gregor der Gesiebte die Päpstin … & bemerkenswerte Beobachtung

Was den meisten Frauen auf Rubens Gemälden fehlte, waren große Brüste –
Oh Mann! Schönheitspflästerchen kamen erst mit’m Barock auf und Xylonit als erster Kunststoff in der zwoten Hälfte des 19. Jh., kosmetische Chirurgie ist wohl ein ganz moderner Irrtum der Weltgeschichte … da hätt Rubens sich gar nix von träumen lassen und das Modell Twiggy und die Hottentottenthicketittentanten wären erst gar nicht beachtet und den Kuhstall auszumisten geschickt worden … Aber mal wieder ruhig angehn lassen!, dass ich Dein Lob (dank je well mijnheer!) nicht verspiel.
Mit allem[,] was es auf dieser Welt geben konnte, hatte ich gerechnet.
»Im Moment habe ich keine Lust[,] überhaupt mit [irgendjemanden] ins Kino zu gehen.«
Irgendjemand ist auch auch ohne Beugungs- …en korrekt.
Es hörte sich an, wie eine alte Fahrradklingel[,] und erinnerte mich
Eher Flüchtigkeit, da's sonst mit der bloßen Aufzählung gelingt
Der Boden aus kleinen[,] schwarzen und weißen …

Stromfluß
Jung, wir sind Jahrzehnte und eine eher misslungene Rechtscheibreformation weiter: Stromfluss - nach Ausspracheregel […flus], nicht […flu:z]

»Wie kommst Du da drauf?«
Unentschlossenheit? I. d. R. verwendestu das vertraute „du“!
Inzwischen war auch der Rettungswagen der Feuerwehr eingetroffen[,] um den Mann auf der Motorhaube zu versorgen.
Heftig versuchte ich[,] ihren Kopf weg zu drücken, aber …
Octopussy
dt.: Oktopus

Ihre warme Haut zu fühlen[,] war nicht unangenehm, diese
Für diesen Moment Ihrer Erlösung legte ich eine Hand auf ihren Kopf, …

Irrsinnigerweise fiel mir ausgerechnet jetzt eine Belehrung meines Vaters ein, dass man mit vollem Mund nicht reden dürfe. Oh Gott! Ich musste lachen ...
So do Eye and so,

dear Morpin,

schönes Wochenende vom


Friedel

 

Hallo Friedrichard,

für mich einer der schönsten Dialekte im Deutschen. Der Pott. Kannst ruhig weiter so schreiben. Aber zunächst mal meinen Dank für die viele Mühe,die Du dir machst. Habe alles verbessert, bis auf, ja, ich wollte Oktopus und Pussy verbinden. Hab ich jetzt mal anders gemacht.

Mir schwebte beim Schreiben Robert Crumb vor meinem inneren Augen, dessen Comics ich verschlungen habe in den Siebzigern. Und Crumbs gezeichnete Frauen waren immer groß, horrormäßig groß und überlegen, pure Naturgewalten.

Tja ... also auch Dir ein angenehmes Wochenende wünscht

Morphin

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Morphin!

Post coitum omne animal triste praeter gallum, qui cantat
Du beginnst die Geschichte schön langsam: sanfte Bürokratielangeweile, die der Sex vertreiben soll.
Der Icherzähler ist einer der lauen Typen, die nicht wollen, aber das nicht durchsetzen. Da kommt er ja in den richtigen Mund.
Apropos, wieso Hand anlegen, Mund anlegen müsste es heißen.
Gut vorbereitet ist der Höhepunkt der Geschichte:
»Tut mir leid«, sagte sie leise. Sie stand auf und verließ den Raum.
Ein trauriger Satz? Die Lust bleibt sozusagen in der Luft hängen, die Beschämung, dass sie das braucht (vermute ich mal), ist groß.
Ich fühlte mich dreckig.
Das die Quintessenz deiner Geschichte.
Was soll man dazu sagen?
Gut aufgebaut, flott geschrieben, kurzweilig: für einen regnerischen Tag gut geeignet.
Später trottete ich zu ihr wie weiland Heinrich der IV. nach Canossa, um mich zu entschuldigen. Sie war direkt, also musste ich es auch sein.
Wie er getrottet sein soll, wird durchaus unterschiedlich gesehen. In der scheinbaren Unterwürfigkeit war wohl eine gehörige Portion Drohung.

Frauen
KOMMA die sich für meine Schreiberei
Fröhliche Grüße
Wilhelm

 

Guten Abend Wilhelm,

ich war schon im Bett, nun wieder aufgestanden, des Lärmes um mich herum wegen. Da seh ich deinen Beitrag. Vielen Dank fürs Lesen. Ja, am Ende bleibt nur Traurigkeit. Alleinsein. Eine Grenze wurde überschritten. Wie so oft, im Leben der Menschen.

Grüße
Morphin

 

Lieber Morphin,

ich schreibe gleich mal mit.

Seit anderthalb Jahren war ich wieder alleine.
Diesen Satz würde ich streichen.
Ich musste die ersten beiden Absätze zweimal lesen, bevor ich verstand, dass er ja doch nicht allein ist, sondern an den Wochenenden sich in Zweisamkeit begibt. Der zitierte Satz verwirrt daher.

Am besagten Montag machten wir zusammen Feierabend und fuhren rüber zum Eisen-Vogt. Ein Angestellter lud uns fünf Sack Holz in meinen Kadett-Kombi. Sie bezahlte, dann machten wir uns auf den Weg zu ihr nach Hause. Sie wohnte in der Westlichen, kurz vor der Alten Brötzinger Schule. Diese Häuserzeile zwischen der Kreuzung Antoniusstraße und der Einmündung der Maximilianstraße war beidseitig noch aus der Zeit des Jugendstils. Ein paar alte Häuser, die den Krieg überlebt hatten. Alt und ehrwürdig, dafür um so verwahrloster.
Ich habs grad mit dem Streichen. Nee, aber das ist Zufall, dass mir dieser Absatz auffiel, der der Geschichte kein weiteres Fortkommen gibt. Lies bitte deinen Text einmal ohne diesen Absatz und du wirst feststellen, dass er wegfallen kann, ohne dass der Geschichte Schaden zugefügt wird.

Einen CD-Spieler fand ich nicht, obwohl einige CDs auf dem Boden lagen.
Würd ich auch streichen, weil es für den Fortgang der Geschichte nicht wichtig ist, ob sie auch CDs besitzt.
Wenn du vom nächsten Satz einfach das "aber" streichst, kannst du nahtlos anschließen.

Ich hatte nichts gegen Räucherstäbchen. Nur Moschus durfte es nicht sein. Davon bekam ich Kopfweh.
Sicherlich kannst du dir schon denken, dass auch diese beiden Sätze für die Geschichte nicht wichtig sind.


Moment Ihrer Erlösung legte ich
ihrer

Ich fand die Geschichte gut geschrieben und spannend ist sie auch, weil man von Anfang an ahnt, dass sich da etwas hoch Kompliziertes bis Katastrophales anbahnt.

Das Ende fand ich ein wenig zu rasch, ich hätte mir gewünscht, dass sie noch mehr sagt oder dass sie in einer Art Übersprungshandlung etwas völlig Unsinniges tut, was auch immer das ist.

Gefallen hat mir das Thema, das fast schon ein wenig die Umkehrung der üblichen Geschichte ist. Meist ist es ja die Frau, die sich des übergriffigen Mannes erwehren muss. Aber die Welt verändert sich in diesem Punkt ganz erheblich. Es wird immer noch sehr unter dem Teppich gehalten, aber die Anzahl der Männer, die verprügelt werden ist sehr viel höher ist, als wir es uns vorstellen mögen.

Insoweit ist der Übergriff der Frau schon recht zeitgeistig, auch wenn du diese Geschichte schon allein wegen des Röhrenteils, vermutlich etwas weiter zurückliegend angesiedelt hast. Das Thema für sich genommen ist zeitlos.

Vom Ende her, hätte ich mir gewünscht, dass jetzt von der Frau, nach ihrer lauen Entschuldigung genau diejenigen rechtfertigenden Worte kommen, die sonst vom Mann zu hören sind. Dass man ja gezeigt habe, dass man Interesse habe, weil man ja mitgegangen sei und sich den gesamten Abend gegenüber auch sehr zugewandt verhalten habe und daraus dann nur der einzige Schluss gezogen werden konnte, dass man ebenfalls eine sexuelle Begegnung gewollt habe und so weiter.

Der Titel ist einerseits in der Lage, Neugierde zu wecken und zwar nach dem Prinzip sex sells, andererseits findet er sich in der nachfolgenden Geschichte nicht so recht wieder.
Eine gelungenere Alternative kann ich aber grad nicht anbieten.

Gern gelesen!

Lieben Gruß

lakita

 

Nabend lakita,

vielen Dank fürs Lesen. Ich kann Dir gar nicht sagen, ob sie noch irgendwas geredet hat, denn ich war vollkommen dicht und nicht mehr in dieser Welt. Und das ist in dem Fall die Aussage: Das ist, an was ich mich erinnere. Nicht mehr, nicht weniger. Was wiederum heißt, ich habe keinen Anspruch, einem solchen Erlebnis eine andere Intention zu geben, als sie es in Wirklichkeit auch hatte. Nämlich: Menschen überschreiten Grenzen jeden Tag, ohne darüber nachzudenken, aus den unterschiedlichsten Gründen. Es passiert einfach.

Meine Geschichte, zumal die erlebten, sollen niemals belehrend sein oder neue Kenntnisse vermitteln oder die Menschen verbessern. Sie existieren einfach. Bestenfalls sollen sie ein Spiegel sein. Mehr nicht.

Übrigens war der Gutste alleine, auch MIT den Wochenendbesuchen. Auch dies nur zwei Einsame, deren beider Orbit sich annäherten, aber nie wirklich aufeinandertrafen. Man traf sich ohne Ansprüche, Erwartungen, Versprechungen, ohne Worte von Liebe oder verliebt sein.

Das Ganze passierte 1994, kurz vor Weihnachten. Kann mich gut erinnern.

Empfohlene Streichungen merk ich mir vor für nach der Ruhezeit.

Grüße
Morphin

 

Morphin schrieb:
Meine Geschichten […] existieren einfach.

Und ob diese Geschichten jetzt fiktiv oder selbst erlebt sind, ist doch einerlei, sofern sie gut erzählt sind.
Und erzählen kannst du wahrlich gut, Morphin.
Mir war es auf jeden Fall ein Lesevergnügen.

offshore

 

Guten Mor ... Tag, Ernst

stimmt wohl, ist einerlei auf der Leseseite. Hab ich mir auch schon oft Gedanken gemacht. Bei Büchern ... wie viel Erlebtes steckt in den Büchern draußen. Zumindest ähnliche Situationen, Charaktere wird es viele geben, denn als Schreiberling geht man ja doch immer wie ein Schwamm durchs Leben und saugt alles auf.

Danke fürs Lesen am freien Sonntag.

Grüße
Morphin

 

Hallo Morphin,
auf der Suche nach einem echten "Morphin" durchkämmte ich eben Dein Profil. Und bin fündig geworden. Genau so liebe ich Dich. Zwei vom Leben Gebeutelte, die nach einem Strohalm greifend zusammenfinden. Gewürzt mit viel rauch und trinkbarer Weltflucht, um der Dystopie des Daseins zu entfliehen.
Schrecklich melancholisch und real.
"Liebe" hab ich seinerzeit sehr bejubelt, für mich ist diese Geschichte mit der selben Nadel gehäkelt, nur erlöst sie nicht.
Sie lässt einen weiter im destruktiven Sumpf stecken, ich finde das aber toll, gerade heute im verregneten November.
Du bist schon ein sehr Besonderer. Man kauf Dir die Geschichten ab. Wahrscheinlich, weil Du nicht zu tief in die Fiktionkiste greifst und von Dingen schreibst, die Du kennst.

Exorbitant gerne gelesen von Gretha, die Dir an der Stelle noch ein Grüßle stehen lässt.

 
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Tagchen Morphin

Hatte die Geschichte schon gelesen, als sie noch frisch war, sie aber nicht kommentiert, aber jetzt ist sie wieder aufgetaucht und ich dachte, dass ich mich mal ran mache.
Im Allgemeinen gefällt mir die Story. Schön erzählt und ich glaube nicht, dass ich noch irgendetwas konstruktives hinzufügen könnte, was andere Leser nicht schon gesagt haben.
Was mir aber damals schon ins Auge gesprungen ist, sind die ersten beiden Absätze. Als du die Geschichte gerade veröffentlicht hattest, war ich hier auch noch ziemlich neu, deswegen bin ich da nicht weiter darauf eingegangen, weil ich noch nicht wusste, wie persönlich man hier werden darf und damit meine ich die Sache mit den Depressionen.
Meines Erachtens nach wird der Begriff Depression oder auch sie Sache mit dem deprimiert sein viel zu leichtfertig genutzt. Viele Menschen haben mal einen schlechten Tag oder ein paar schlechte Wochen und meinen, dass sie unter wahnsinnigen Depressionen leiden, obwohl ihnen nur langweilig ist, oder eben nichts mit sich anfangen können.
Ich habe vor noch nicht all zu langer Zeit mitbekommen, was diagnostizierte Depressionen sind (ob sie dann als "echter" gelten, oder nicht, sei mal so dahingestellt). Ich habe mitbekommen, wie es sich anfühlt, wenn man am Tag 16 Stunden schläft, keine Anrufe mehr entgegen nimmt, auf keine Nachrichten mehr antwortet und das Haus nicht mehr verlassen kann und die eigenen Innereien ausbrechen, oder explodieren wollen.
Nun, du sagst ja selbst, dass die Geschichte bis zu einem gewissen Grad wahr ist und ich weiß auch, dass man Probleme nicht vergleichen kann; was für die eine Person der Weltuntergang ist, ist für die andere eine Banalität, aber das hier:

Montag, vierzehnter Dezember, nur noch ein paar Tage bis Weihnachten. Das Wetter war nasskalt, sehr ungemütlich. Wie geschaffen für gute Depressionen. Und das näher rückende Weihnachten tat sein Übriges. Seit anderthalb Jahren war ich wieder alleine.
kann ich persönlich dir irgendwie nicht abnehmen. Bald ist Weihnachten, das Wetter ist schlecht und die letzte Beziehung ist schon 1 1/2 Jahre her. Reicht das denn für Depressionen? Ich möchte dich jetzt auf keinen Fall als Mimose oder so darstellen, Gott bewahre, wie schon gesagt, Probleme kann man nicht vergleichen, aber das alles als Grund für wirkliche Depressionen zu nennen, ist mir zu wenig.
Ab und an tauchte Renate in meinem Orbit auf und wir bauten uns für ein Wochenende ein heimeliges Nest aus Glück und Vertrauen. Eine Oase voller kleiner Wunder und heilender Wunden inmitten des wüsten Lebens.
Es war nicht nur der wunderbare Sex, es war diese immense Zärtlichkeit zwischen uns, die mich die Durststrecke bis zum nächsten Wochenende überleben ließ.
Das hier ist ähnlich. Ich habe mal irgendwo gehört, dass das Gegenteil einer Depression nicht Glück ist, sondern Vitalität und das gehört zu den wahrsten Dingen, die ich je gehört habe und ich kann mir nicht vorstellen, dass eine Person, die unter Depressionen leidet, dazu in der Lage ist, sich ein Nest aus Glück und Vertrauen zu bauen und Dinge wie Sex und Zärtlichkeit sind erst recht kaum möglich. Da muss Renate schon eine absolut umwerfende Frau gewesen sein.
watete ich durch das tiefe Tal der Erkenntnis, dass unser aller Leben nicht länger dauerte, als das Zischen eines Wassertropfens auf einer glühenden Herdplatte. Mit dem Unterschied, dass manche von uns den Schmerz spürten.
Das hier ist wiederum absolut genial. Das Fiese an einer Depression ist, dass der Erkrankte denkt, dass er genau jetzt in dieser Situation den absoluten Durchblick hat und die Wahrheit erkennt und merkt, wie grausam diese - oder das Leben - eigentlich ist. Man versteht mehr und denkt man hat das Leben durchschaut und hält andere für dumm, weil sie mit einem Grinsen durch diese ganze Scheiße laufen und das mit der Herdplatte und dem Schmerz halte ich für einen sehr sehr guten Teil...

So. Mehr habe ich nicht zu sagen, glaube ich. Hoffe du kannst mir bei manchen Teilen widersprechen :thumbsup:.

Allerbeste Grüße, zash.

 

Hallo Morphin,

das fängst du gut ein, diese Stimmung. Ihr Werben um ihn, ohne Erfolg, und ihre verzweifelte Übergriffigkeit danach, mitsamt trist-grauem Ende.

"Mein rechtes Augenlid schien schon halb geschlossen. Ein Schatten legte sich über mein Sehfeld. Und mit einem letzten Rest Vernunft und Klarheit hörte ich die Alarmglocken tief in meinem Inneren. War ich das? Wo sollte ich schlafen? Bei ihr? Um Gottes Willen ... wo war denn eigentlich mein Bett? Diese Holzkiste aus verleimten Brettern, die ich mir selbst gebaut hatte. Ich wollte mein Kissen. Mir graute vor einer Nacht ohne mein Kissen."

Dies Stelle gefiel mir besonders gut. Er ist schon halb hinüber, nicht mehr ganz verantwortlich für das Folgende, aber doch noch anwesend genug, um zu leiden. Und süß, die Sehnsucht nach dem eigenen Kissen, ein viereckiges Stück Heimathafen in einer rauhen Welt, das kennt man von kleineren Kindern.

War interessant zu lesen,
viele Grüße,

Eva

 
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Nabend!

Verflixt! Jetzt war ich knapp 2 Wochen krank und krieg kaum was mit hier, und verpass gleich drei Beiträge. Okay, ich geh jetzt pennen, muss einfach sein. Morgen antworte ich Euch Lieben in diesem Beitrag, aber jetzt: Gute Nacht!

14:12 Uhr
So, jetzt bin ich mal wach! Und nach allerlei zusammengelegter Wäsche, gönn ich mir mal ein Tässchen Kaffee.
Gretha
Vielen ehrlichsten Dank für Deine Worte. Bei dieser Geschichte musste ich nicht in die Fiktionskiste greifen. Leider. Ich habe sie mir grade noch mal durchgelesen und an der Realität lässt sich nichts ändern, höchstens am Stil. Ja, und das muss ich sagen, weil mir momentan klar wird, dass sich mein Schreiben in den letzten Monaten verändert hat. Es fällt mir jetzt unmittelbar auf, wie sich meine Antennen für Worte neu ausrichten. Seltsam. Vor zehn Jahren dachte ich, es wäre nun ausgewachsen, das Schreiben, aber tatsächlich bin ich im Fluss. Ob das anderen auch so geht, weiß ich nicht. Ich bin also momentan - immer mal wieder ein Stündchen - dabei, all meine Texte durchzuforsten und teilweise komplett zu überarbeiten. Und gerade bei einem Stück "erlebtem Leben" wie hier, scheint es mir wichtig, den Fokus noch mehr auf die Personen auszurichten und es dem Leser durch die Sprache zu ermöglichen, tief in die Situation einzutauchen. Eine wirklich spannende Sache, und ob ich jemals am Ziel ankomme, ist ungewiss.

Eva Luise Groh
Hi Eva,

auch Dir meinen aufrichtigen Dank. Was Du schreibst, hat mich heute Nacht lange überlegen lassen. Wäre ich auf ihr Werben angesprungen, wenn es den "klassischen" Weg genommen hätte? Ohne die - wie ich empfand - Gewalt? Ich empfand es als abscheulich, obwohl der Abend aus einem Helfen heraus ganz gut begann. Und wenn es noch viele solcher Abende gegeben hätte ... wer weiß? Ich hatte nicht per se was gegen sie. Zwei Einsame sind unter Umständen gegenüber Neuem misstrauischer, vorsichtiger. Ein paar Tage später tat sie mir leid, aber wir haben nie mehr darüber gesprochen. Sicher ein Fehler.

zash
Hi zash, also ich hab Dich mal ans Ende geschoben, weil es einfach länger wird und am Wochenende meinen Grips zusammenkratzen muss. Der Begriff der Depression ... ja, als ich die Geschichte schrieb, wurde kaum über die "Depression" geredet, weder in der Gesellschaft noch in den Medien. Da war der Satz "ein guter Tag für Depressionen" so eine Art ironischer Seitenhieb auf Zustände, die man nicht wirklich will. Aber jetzt, 2014, 20 JAhre später, ist das schon in aller Munde, ebenso wie ADHS und Gendersprache usw. Die Gesellschaft redet über viel mehr und ganz anders als früher. Und bei dem vielen Reden von allen Seiten, fällt das eigentliche Thema oft hinten runter, wird abgewetzt durch das viele Reden, das ist richtig.

Ich kann Dir jedoch versichern, dass ich sehr genau weiß, was eine Depression ist und wie sie im Menschen funktioniert, was sie mit einem macht. Ob ich meine Sprache heute, 2014, ändern sollte, Texte von früher anpassen? Ich habe drüber nachgedacht und stimme Dir zu. Da der heutige Leser den damaligen Kontext nicht mehr nachvollziehen kann, werde ich es ändern, oder aber sprachlich besser ausbauen.

Tja, und Glück kann natürlich nicht das Gegenteil einer Depression sein, denn Glück ist wie Pech nur eine Verkettung von Zuständen, selbst geschaffen oder nicht. Kausalität. Glück und Pech sind nur Strohballen, die vom Leben ins Feuer der Emotionen und Zustände geworfen werden. Sie brennen heftig und kurz. Mehr nicht. Nur wir verbinden sie zu folgenschweren Eindrücken, weil wir sie nicht abstrahieren können. Auch Vitalität ist nicht das Gegenteil von Depression, kann gar nicht, denn sonst würden die Menschen nicht Depression mit Vitalität vertreiben wollen und kläglich scheitern.

Und Renate war die absolut umwerfende Frau, jedoch gewollt einsam, nur ab und an auf Annäherungskurs, wie ein Komet. Voller Schwermut und voller Energie. Depressiv, aber nie tatenlos. Du siehst, es gibt nicht, was es nicht gibt.

Bis dahin ihr lieben Leute.

Morphin

 

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