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10.02.2000
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»Aber wehe, die Zwiebelwürfel sind zu grob geschnitten!«
Ich verdrehte die Augen und blickte kurz an die Decke. Hatte ich das verdient? Natürlich war ich mit meinen 21 Jahren kein Spitzenkoch. Aber es sollte mir möglich sein, Käsespätzle einigermaßen fachgerecht zuzubereiten.
»Hast du gehört, Heinrich?!«
»Jaha! Ich habe es gehört!«
Seit drei Wochen war ich nun für diesen Dienst eingeteilt. Aber selbst schuld, schließlich hatte ich mich freiwillig gemeldet und wurde vom Fahrdienst abgezogen, weil dem ISB Leute fehlten. Dazu kam noch, dass ich Einführungslehrgänge für die Schwerbehindertenbetreuung absolviert hatte.
»Wann ist das Essen fertig!?«
Ich dreh noch durch, dachte ich, und kippte die kalten Spätzle in die Pfanne.
»Fünf Minuten!«
Walter lag nebenan im Schlafzimmer in seinem Pflegebett. Elektrisch gesteuerte, horizontale und vertikale Kippmechanismen, fernbedienbar, mit Anti-Decubitusmatratze, alles vom Feinsten. Walter besaß genug Geld. Wo immer er das auch her hatte.
»Ich hab Hunger!«, rief er.
Wie eine Fontäne stieg die Wut in mir hoch und ich hieb mit der Faust auf die Küchenplatte.
»Verdammt! Ist jetzt bald Ruhe?! Oder ich schmeiß die Pfanne aus dem Fenster!«
»Ja, ist ja schon gut! Du sollst nur nicht trödeln! Und dass Du mir ja die Zwiebeln fein geschnitten hast …«
Ich schickte einen Stoßseufzer gen Küchendecke und streute den Käse über die Spätzle, verschloss die Pfanne mit dem Deckel und schaltete den Herd aus. Die Hitze würde reichen, um ihn zu schmelzen. Konnte ich schon mal Teller und Besteck holen. Ich ging zu Walter ins Schlafzimmer und kontrollierte den Urinbeutel. Er war noch fast leer.
»Ist der Beutel voll?«, fragte er.
»Nein, kaum was drin.«
»Sitzt er auch richtig?«
»Natürlich, sonst hätten wir schon längst eine Pisslache unterm Bett.«
Walter drehte den Kopf hin und her. Ein eindeutiges Zeichen seiner Erregung. Die einzige Bewegung, die ihm noch ohne Einschränkungen gelang.
»Ja, natürlich. Ist ja nur mein Teppich!«
»Es passt alles, Walter. Und jetzt gibt es Essen. Also beruhig Dich.«
Er nickte mit dem Kopf.
»Ich hab einen Riesenhunger«, meinte er und schnalzte mit der Zunge.
Per Knopfdruck stellte ich das Rückenteil an und legte ihm eine riesige Serviette um den Hals.
»Sag mal«, er nickte heftig mit dem Kopf, »hast du eigentlich ne Freundin?«
»Ja, hab ich.«
»Ist die hübsch?«
»Ich hol jetzt erst mal die hübschen Spätzle. Lauf mir nicht weg.«
»Arschloch.«

In der Küche hob ich den Deckel von der Pfanne und begutachtete mein Kochwerk. Anerkennend nickte ich mir zu. Mit dem Schöpfer entnahm ich eine kleine Menge der Spätzle für einen Kinderteller und ging zurück ins Schlafzimmer.
»Lass sehen.«
Er schnüffelte ausgiebig und suchte jeden Quadratmillimeter nach einer zu großen Zwiebel ab.
»Genehmigt.«
»Also dann, Schnabel auf!«
Walter grinste.
»Jawohl, Herr Kaleu.«
Ich begann mit der Fütterung und Walter sezierte mit Zähnen und Zunge jeden festen Bestandteil, sortierte ihn in eine Backenseite und prüfte Größe und Geschmack. Ich enthielt mich jeglichen Kommentars. Kurz nach dem letzten Löffel, der letzten eingehenden Prüfung, präsentierte er mir ein zwar genügend kleines, aber dunkelbraun bis schwarz verbranntes Zwiebelwürfelchen auf seiner Zungenspitze.
»Söhst dö! Verbrönnt!«, triumphierte er mit weit aufgerissenen Augen.
»Schlucks runter, sonst gibt es morgen trocken Brot.«
Er sah mich entsetzt an und ließ das Zwiebelchen im Mund verschwinden.
»Jetzt ein Schluck Wasser.«
Ich hielt ihm den Strohhalm hin und er schnappte nach ihm wie ein Fisch nach Brotkrümeln auf der Wasseroberfläche.
»Ich schalt dir mal die Glotze ein und mach in der Küche sauber. Okay?«
Er spuckte den Strohhalm aus und nickte.

Als ich fertig war, zufrieden mit dem Zustand der Küche, sah ich kurz aus dem Fenster, zwölfter Stock, ein schöner Blick auf die Stadt im Talkessel, der Himmel einladend blau, wattiert mit einigen Sommerwölkchen, kam mir die Idee zu einem kleinen Ausflug.
»Heinrich! Kaffee!«
Der Ruf des Herrn. Ich rieb mir die Hände trocken am Geschirrhandtuch und ging ins Schlafzimmer.
»Hör mal, Walter. Anderer Vorschlag. Draußen ist so schönes Wetter, da können wir zum Seehaus tuckern mit dem E-Rolli und in der Sonne sitzen, was trinken, bisschen quatschen und gemütlich wieder zurück. Wie wär’s?«
Er musterte mich mindestens eine halbe Minute stillschweigend. Die Rädchen in seinem Kopf ratterten.
»Einverstanden. Anziehen. Aber ordentlich.«
»Bei mir ist immer alles ordentlich.«
Walter grinste und ich bereitete alles vor.

Ihn anziehen, Urinbeutel verstauen, E-Rolli holen und hineinzwängen, anschnallen, das war ein Akt von einer Stunde. Aber nun waren wir unterwegs, durch den Kanzlerwald, und Walter steuerte seinen E-Rolli mit nach oben gedrehter Handfläche, den Steuerknüppel zwischen Ring- und Mittelfinger, den Zigarettenhalter im Mund, eine nach der anderen paffend.
»Wunderschön hier, was?«, fragte ich ihn.
»Ja. Scheiß Zigarette ist ausgegangen. Zünd noch mal an.«
»Du bist auch mit dem Schnellzug durch die Kinderstube, oder? ‚Bitte‘, ‚Danke‘ und so, schon mal gehört?«
Den Zigarettenhalter links, zog er den rechten Mundwinkel zu einem Grinsen nach oben. Er beschleunigte und fuhr davon. Ich zündete mir eine an und hörte den Vögeln beim Zwitschern und Trällern zu. Was für ein feiner Tag. Nach einigen Metern holte ich ihn wieder ein, denn seine Zigarette war schließlich immer noch kalt.
»Na? Brennt die Lunte immer noch nicht?«
»Nein, Herr Kaleu. B I T T E anzünden.«
»Aber gerne.«
Ich hielt das Feuerzeug vor die Kippe, zündete und er paffte wie wild den Rauch in sich rein.

Als wir das Seehaus erreichten, kontrollierte ich den Urinbeutel, aber alles war in bester Ordnung. An einem Tisch schob ich die Stühle weg, so dass er seinen E-Rolli an die Platte manövrieren konnte. Ich legte den Hauptschalter um, zog einen Sonnenschirm heran, und schon entdeckte uns die Bedienung.
»Was darf ich ihnen bringen?«
»Export«, meldete Walter an.
Ich schüttelte den Kopf.
»Kein Export. Ein Radler für ihn, bitte.«
Ich hob die Hand und zeigte der Bedienung mit Daumen und Zeigefinger das Maß der Biermenge.
»Bitte nur so viel Export, der Rest Zitronensprudel, und einen Strohhalm dazu.«
»Scheiße! Warum?«
Ich verdrehte mal wieder die Augen und seufzte. Aber der mitfühlende Blick der Bedienung machte alles wett.
»Und sie?«, wollte sie wissen.
»Für mich einen Apfelschorle, bitte.«
Sie nickte und zog von dannen. Walter wackelte mit seinem Kopf hin und her.
»Verdammt! Ich will mich mal wieder besaufen! Das steht mir zu!«
Ich zog tief die würzige Schwarzwaldluft ein.
»Red doch nicht, Walter. Deine Medikamente und Alkohol schließen sich gegenseitig aus. Der Doktor hat dir in der Woche ein wenig Bier erlaubt. Das steckt jetzt im Radler. Sei doch zufrieden.«
Er schmollte und sah auf die Seite. Hinüber zum See, auf dem ein paar Väter mit ihren Kleinen ruderten. Unsere Getränke kamen.

»Da du ja eh nicht mit mir redest jetzt, macht es dir wohl nix aus, wenn ich mal kurz zum See gehe, oder?«
Walter sah in den Himmel.
»Bis gleich“, sagte ich, stand auf und ging mit meinem Apfelschorle zum See hinüber. Es war so still hier, dass man zwischendurch die Fische nach den Fliegen schnappen hörte. Ein kleines Mädchen verfütterte das Brötchen zu ihrer Wurst an ein paar Enten, und ich setzte mich auf eine Bank, streckte die Füße lang, bis kurz vor den See, und dachte an nichts, ließ einfach die wenigen Geräusche in meinen Kopf und entspannte mich zwischen ihnen. Nach einiger Zeit erhob ich mich. Mir fiel der Urinbeutel ein und es war gut möglich, dass er einer Leerung bedurfte. Von Walter war ich vielleicht dreißig Meter entfernt, aber ich entdeckte sofort ein weiteres Exportglas auf seinem Tisch. Verflucht! Ich ging schnell zurück, an ihm vorbei, direkt in die Gaststätte. Die Bedienung war nicht zu sehen, nur der Wirt, dessen Umfang ihm lediglich einen Seitwärtsgang hinter der Theke ermöglichte.
»Guten Tag«, raunte ich ihm entgegen. »Haben Sie dem Rollstuhlfahrer dort draußen ein Export hingestellt?«
»Jo! Zwei Gläser Export.«
»Zwei? Hat ihre Bedienung das gemacht?«
»Wie? Nö, die ist in der Küche und schneidet Kuchen, warum?«
»Wie hat er dann bestellt?«
»Da kam ein älteres Ehepaar rein und hat gesagt, der Mann draußen im Rollstuhl wolle zwei Gläser Export. Und sie haben ihm die beiden Gläser sogar rausgetragen.«
»Das war aber freundlich von denen.«
»Nicht wahr?«
»Ich zahl mal.«
Er zog mir ab und ich marschierte wütend hinaus. Vor allem wütend auf mich selbst. Ich hätte es mir eigentlich denken können. Draußen am Tisch stand ich vor Walter, der in den Himmel starrte, weggetreten vom Export, und lächelte.
Zuerst kontrollierte ich den Urinbeutel. Keine Minute zu spät. Ich stellte das Ventil quer und zog ihn ab. Weit vor mich hebend, trug ich ihn durch die Gaststätte in die Toilette und entleerte ihn. Der Gestank trieb mich zur Eile und ich machte, dass ich raus kam.
»War das etwa mein Export?«, rief mir der Wirt von der Theke zu.
»Jup.«
Ich hörte ihn noch lachen, als ich längst wieder den Beutel angehängt hatte. Walter besah sich noch immer das Blau des Himmels. Da er seinen Rollstuhl nicht steuern konnte, aktivierte ich ihn, stellte mich an die rechte Seite und so fuhren wir los Richtung Heimat. Die ersten paar hundert Meter stieg der Weg durch den Wald leicht an.
»Urgh«, sagte Walter, und wackelte ein wenig mit dem Kopf. Licht und Schatten wechselten sich ab, während wir unter den Tannen dahinzuckelten. Kurz überlegte ich, ob die Akkuladung ausreichend war, aber über Nacht klemmte er in der Regel an der Steckdose. Beruhigt zog ich mit einer Hand eine Lucky aus der Schachtel, steckte sie in den Mund und zündete sie an.
»Urghorch«, sagte Walter, zuckte mit der rechten Hand an den Fahrthebel und drückte ihn nach vorne. Die Beschleunigung eines Elektromotors ist immer linear. Bis zu einem unterbrechenden Moment. In diesem Fall war es der Graben, in den Walter seinen E-Rolli steuerte. Er fuhr schön seitlich immer tiefer hinein, die Antriebsräder drehten durch, dann kippte er in Zeitlupe nach rechts zwischen eine kleine Ansammlung junger Brennnesseln. Das Herz rutschte mir in die Hose und ich sprang hinterher. Aber alles war in Ordnung. Sogar der Urinbeutel war noch heil. Walter lag einfach nur samt Rollstuhl 45 Grad auf der Seite. Allerdings war das Problem nun, einen 120 Kilogramm schweren Elektro-Rollstuhl wieder aus diesem Graben zu bekommen. Mit Walter drin.
»Heinrich?«, sagte Walter. »Was ist los? Wo bin ich?«
»In Walhalla. Ich hol mal eben die Mädels. Lauf nicht weg.«
»Ist gut.«

So schnell ich konnte, rannte ich zum Seehaus und erklärte dem Wirt die Situation. Ein Wunder, dass er während seines dauerhaften Lachanfalls dem Förster überhaupt irgendwas am Telefon zu erklären in der Lage war. Ich rannte also wieder zurück. Walter und der Rollstuhl lagen in gewohnter Position im Graben.
»Walter? Alles klar?«
»Jawohl, Herr Kaleu.«
»Ich klemm den Beutel ab, sonst läuft die Pisse rückwärts«, erklärte ich und tat das Notwendige. Er versuchte den Kopf zu drehen.
»Wo bin ich?«
»Den Rollstuhlführerschein kannst du vergessen. Mit 1,8 Promille in den Graben gefahren.«
»Wie? In welchen Graben?«
»Ja, meinste die Welt ist grundsätzlich so schief gebaut, oder was!?«
Er stutzte.
»Hast du mich da reingefahren?«
Ich schüttelte den Kopf und seufzte ausgiebig. Von der Seehausstraße sah ich einen grünen Jeep kommen. Sicher der Förster. Er raste auf uns zu und bremste kurz vorher energisch ab. Aber nicht eine Tür ging auf, sondern derer drei, und aus dem Auto stiegen ebenso viele Waldarbeiter. Oberarme wie Baumstämme. Sie sahen sich kurz an.
»Wer ist da gekommen, Heinrich?«
»Die Walhalla-Stammbesatzung. Mach dir keine Gedanken. Wir sind im Nu wieder daheim. Geht es dir gut? Kopfweh?«
»Alles in Ordnung, Herr Kaleu.«

»Tag!«, brüllte der eine der Schwergewichte. »Hier soll ein Rollstuhl in den Graben gefahren sein …«
Das ‚sein‘ brachte er nur gepresst heraus. Er haute mit seiner Pranke auf die Motorhaube des Jeeps, so dass ich im Sonnenlicht schön die Verformung des Blechs sehen konnte. Alle drei brachen in homerisches Gelächter aus. Dann, wie auf einen unhörbaren Befehl, verstummten sie, und kamen in den Graben.
»So! Geh mal weg, Junge!
Ich trat auf die Seite.
»Ihr zwei hinten, ich vorne. Geht’s dem Opa gut?«
»Der ist in Ordnung«, bestätigte ich.
»Also, auf DREI! Eins … zwei … DREI!«
Sie hoben den Rollstuhl aus dem Graben und stellten ihn auf dem Weg ab. Es sah aus, wie Superman, der ein wenig mit dem Amboss jonglierte. Ich war heilfroh und Walter wackelte ordentlich mit dem Kopf. Schnell zückte ich meine Zigaretten und bot jedem der Gewichtheber eine an. Sie nahmen sie dankend.
»Vielen Dank. Auch in Walters Namen.«
»Wie ist er denn überhaupt in den Graben gekommen, Junge?«
»Bisschen zu viel getrunken, und zack ...«, ich vollführte eine entsprechende Handbewegung.
»Wenn ich das meiner Alten erzähle …«, meinte einer von ihnen.
»Kommt, wir müssen wieder zur Arbeit.«
Sie verabschiedeten sich und fuhren ebenso schnell wieder davon. Ich stellte mich vor Walter und sah ihn ernst an.
»Das wird dir jetzt hoffentlich eine Lehre gewesen sein. Beim nächsten Mal lass ich dich liegen.«
»Jawohl, Herr Kaleu.«
Unschuldig starrte er in die Tannenwipfel.
»Ich fahre, du hältst die Hände ruhig.«
»Jawohl, Herr Kaleu.«
Weiter ging es Richtung sicherer Hafen.

Als wir das Hochhaus erreichten, war Walter schon wieder recht klar im Kopf. Ich öffnete die Haustür und ließ ihn selbst fahren. Meine Sorge galt dem Urinbeutel. Ich drückte den Fahrstuhlknopf und holte den Schlüssel aus meiner Hosentasche. Mit einem Glockenton schoben sich die beiden Schiebetürhälften auseinander. Ich aktivierte die Türbremse und schloss die hintere Absperrung auf, die extra für größere Transporte zur Verfügung stand. Walter rollte rückwärts herein.
»Fahr mir nicht über den Fuß.«
»Ich bin noch nie jemandem über den Fuß gefahren.«
Er sah mich an.
»Haben wir noch Spätzle übrig?«
Ich entriegelte und drückte auf die Zwölf.
»Klar. Ich habe die ganze Packung gemacht.«
»Und Fleisch?«
»Ich klopf ein Schnitzel und mach Cordon bleu. Einverstanden?«
Seine Augen leuchteten.
»Und wie ich einverstanden bin. Aber lass es nicht anbrennen.«
Ich hielt kurz meine Nasenwurzel mit Daumen und Zeigefinger und schloss die Augen. Wie hieß noch die Sendung aus den Siebzigern? Unser Walter? Mit dem nächsten Glockenton erreichten wir den zwölften Stock, und als die beiden Türhälften sich öffneten, bekam Walter einen epileptischen Anfall. Seine rechte Hand krallte sich um den Joystick, und der durchstreckende Arm schob ihn nach vorne.

Mit maximaler Beschleunigung rollte er aus dem Fahrstuhl. Über meinen linken Fuß. Das Hochhaus war sternförmig gebaut, der Flur ein großes Achteck. Walter krächzte und rammte seine Fußablagen in die gegenüber liegende Holztür des Nachbarn. Die Tür knirschte und gab einige Zentimeter nach. Walter hob es leicht aus seinem Sitz.
»Scheiße«, flüsterte ich. Die Fahrstuhltür schloss sich. Ich verstand zuerst nicht warum? Bis mir einfiel, dass ich ja immer noch IM Fahrstuhl stand. Fix donnerte ich die Faust auf den Öffnen-Schalter und sah Walter rückwärts den Blumenkübel der Birkenfeige zertrümmern. Zwei der anderen Wohnungstüren öffneten sich vorsichtig, entsetzte, überraschte Gesichter. Ich musste an den Hauptschalter kommen! Egal wie! Walter krampfte und krampfte. Ich rannte aus dem Fahrstuhl raus, dem Rollstuhl hinterher. Die Nachbarn schlugen ihre Türen zu und der alte Lehrer von nebenan, dessen Tür Walter lädiert hatte, zog auf, was von ihr übrig war.
»Gehen sie wieder rein!«, rief ich ihm zu.
Um Haaresbreite verfehlte ich den Hauptschalter des E-Rollis, weil Walter in eine scharfe Linkskurve ging. Kurzzeitig fuhr er auf den beiden rechten Rädern, fing sich wieder und raste auf die doppelflügelige Glastür zu.
»Oh nein!«
Mit einem Sprung aus dem Lauf hechtete ich nach vorne und erreichte das Kontrollmodul, riss am Schalter und der Elektromotor stand still, das Gefährt rollte aus und Walter hing völlig erschlafft in seinem Gurtsystem. Der Lehrer trat auf den Flur und räusperte sich. Ärger kam auf uns zu. Zunächst jedoch rappelte ich mich auf, und ließ erst mal meinen Blick durch den Flur kreisen. Nur noch heute Nacht, dachte ich. Morgen früh um sechs kommt die Ablösung.
Walter war ungewöhnlich still. Der Lehrer und der Hausmeister bekamen von mir die Nummer der Haftpflichtversicherung, ich schrieb kurz auf, was wie wann passierte, ließ aber den Alkohol weg, dann klopfte ich das Fleisch und belegte es mit Schinken und Käse. Der Fernseher plärrte im Schlafzimmer und ohne irgendeine Unterbrechung bezüglich Anbrennen oder zu großer Zwiebelwürfel, kochte ich fertig und stellte das Essen vor das Bett. Walter schlief. Ich musste ihn wecken, denn die Einnahme seiner Medikamente duldete keinen Aufschub, keine Verzögerung. Vorsichtig klopfte ich auf seine Stirn.
»Walter! Aufwachen! Essen ist fertig.«
Nichts. Ich beschloss, das Cordon bleu klein zu schneiden, und dabei laut seinen Namen zu rufen. Nach einigen Minuten schlug er die Augen auf.
»Oh, Herr Kaleu … hab ich geschlafen?«
»Fast wie tot.«
Er sagte nichts. Ungewöhnlich.
»Komm, mein Cordon bleu schmeckt erstklassig. Panade vom Feinsten, knusprig braun.«
Ich pikste ein Stück auf die Gabel und steckte es ihm in den Mund. Walter kaute vorsichtig, bearbeitete es von allen Seiten, aber es kam keine Reaktion.
»Schmeckt es nicht?«
»Doch, doch, ganz ordentlich. Fast wie das von meiner Frau …«
»Ganz ordentlich?«
Dann fiel mir erst das Wort ‚Frau‘ auf. Er hatte nie über sie geredet.
»Deine Frau? Erzähl doch mal«, forderte ich ihn auf, gab ihm ein zweites Stück. Bevor er die Medikamente einnahm, musste etwas im Magen sein.
»Muss das sein?«
Diese Gegenfrage und sein Blick überraschten mich ein wenig.
»Nein, natürlich nicht. Steht dir vollkommen frei, mir von deiner Frau zu erzählen. Aber schließlich hast du mich ja auch nach meiner Freundin gefragt, nicht wahr?«
Das dritte Stück. Er kaute einfach nur noch, ohne es mit Zunge und Zähnen zu obduzieren. Seit ich hier meinen Dienst verrichtete, hatte ich noch keinen solch nachdenklichen Moment an ihm erlebt.

»Hab ich dir schon mal erzählt, was ich früher gemacht habe?«
Der Richtungswechsel war abrupt, aber vielleicht auch der Einstieg zu seinem Leben. Keiner von uns Jungspunden machte sich großartig Gedanken, was hinter den Schicksalen steckte. Wir taten unseren Dienst, gewissenhaft und sehr gut, aber deren Leben davor?
»Nein. Ich glaube nicht.«
»Ich war Hausmeister.«
»Hausmeister?«
»Bitte ein paar Spätzle zum Fleisch.«
Eine Gabel Spätzle mit Fleisch folgte. Walter kaute schnell.
»Ja, Hausmeister. Nicht so Studierte wie ihr.«
»Ich bin kein Studierter. Ich bin Landwirt.«
Er sah mich erstaunt an.
»Also Hausmeister«, animierte ich ihn.
»Ja, für die Stadt. Ich habe die Vereinsheime kontrolliert. Kannst du dich noch an den Tornado erinnern?«
»Dunkel. Da war ich fünf.«
»Da gab es einen Alarm-Rundruf. Kontrolle aller Fenster und Rollläden und so, nachts um elf. Ich mit dem Auto die Runde gemacht. Draußen im Industriegebiet hat es mich dann erwischt. Das Dach kam runter und ein Balken hat das Rückgrat zertrümmert. Meine Frau hat mich vor drei Jahren verlassen. Es war ihr einfach zu viel.«
Er schwieg und ich füllte seinen Mund.
»Aber kochen konnte sie. Meine Herren, da war alles dran. Die feinsten Sachen …«
Im Licht der Abenddämmerung entdeckte ich einen feuchten Schimmer in seinen Augen.
»Ist so schönes Abendrot draußen. Ich lass mal das Licht aus, oder?«
Er nickte und kaute mein Cordon bleu.

Als er satt war, kontrollierte ich den Urinbeutel, gab ihm die Abend-Medikamente und versorgte die wundgefährdeten Stellen mit den diversen Salben und Cremes. Ich wusch ihn an den Füßen, legte ihm eine frische Windel unter, dann ließ ich ihn in Ruhe, denn es sah so aus, als sei er recht müde. Also ging ich in die Küche und machte dort klar Schiff.
Gegen acht stand ich am offenen Küchenfenster und blickte auf die Stadt, rauchte eine Zigarette und dachte über Walter nach. Im Graben hätte ihm sehr viel mehr passieren können, und so wie vom Arzt und in den Unterlagen beschrieben, löste eine bestimmte Menge Alkohol einen mehr oder weniger schweren epileptischen Anfall aus. Ich spürte, dass wir Glück hatten. Er und ich. Dann blies ich die letzte Rauchfahne aus dem Fenster, und plötzlich kam mir der Gedanke, dass er sich vielleicht gar kein Glück wünschte? Das Gegenteil war aber ebenso möglich. Ein letzter Blick auf die Stadt, dann schloss ich das Fenster und ging zu Walter ins Schlafzimmer. Er schlief, ich setzte mich neben ihn, und las mein Buch an der kleinen Nachttischlampe.

»Warum Landwirt?«
»Was?«
Ich war ganz vertieft in Hemingways ‚In einem anderen Land‘, dass ich seine Worte gar nicht verstand.
»Warum Landwirt?«
Ich sah auf den Wecker. Kurz vor elf.
»Ich musste weg von zu Hause. Sonst wären mein Vater und ich uns an die Gurgel. Weit weg. Also hab ich einen Hof inmitten von Nichts gesucht und meine Lehre begonnen. Das war der einfachste Weg.«
»Wie alt warst du da?«
»Grade achtzehn geworden. Vor drei Jahren.«
»Und hat es dir gefallen?«
Ich atmete tief ein.
»Es waren die zähesten und längsten Jahre meines bisherigen Lebens. Zwölf, dreizehn Stunden täglich, in der Erntezeit durcharbeiten, kaum Schlaf, niemanden Gleichgesinntes um sich. Und als Stadtkind eine extreme Umgewöhnung.«
»Aber du hast es durchgezogen?«
»Bis zum Ende. Als Zweitbester bin ich aus der Prüfung für Nordbaden. Ich vermisse es. Eine einsame Arbeit, aber genau richtig für mich.«
»Das ist gut«, nickte er, »das ist gut. Dann bist du ein wenig abgehärtet, nicht wahr?«
»Abgehärtet?«
»Na, die Knochenarbeit, die Tiere …. hattet ihr Tiere?«
»Ja, ziemlich viele.«
»Habt ihr selbst geschlachtet?«
»Einmal im Monat, ja.«
»Du kennst also den Tod.«
»Was Tiere betrifft, zur Genüge.«
Er nickte.
»Krieg ich ne Zigarette?«
»Lucky? Oder von deinen komischen Reemtsma?«
»Gib mir mal eine von deinen.«
Ich zündete die Lucky an, klemmte sie in den Zigarettenhalter und diesen in Walters Mund.
»Du musst mir nachher noch ein Medikament geben«, erklärte er. »Das brauche ich nach so einem Anfall immer.«
»Was für ein Medikament?«
»Schau mal im Kühlschrank. Da muss im Eierfach so eine rote Verpackung liegen. Hol die mal. Und einen Zuckerwürfel und einen Löffel.«
»Ist gut. Ich guck mal.«
Tatsächlich entdeckte ich die rote Schachtel. Sie war mir bisher eher beiläufig aufgefallen. Ich nahm es heraus, einen Esslöffel aus der Schublade und die Zuckerwürfelbox vom Tisch, dann gesellte ich mich wieder zu Walter. Der paffte seine Lucky Strike.
»Gar nicht mal so schlecht, das Kraut.«
»Besser als Reemtsma allemal.«
»Du musst mir zwanzig Tropfen auf einen Zuckerwürfel geben.«
Ich drehte die Schachtel auf alle Seiten, nichts stand darauf. Keine Dosierung, kein Hersteller, nur eine rote Schachtel. Drin war ein handelsübliches, dunkelbraunes Fläschchen, mit einer Flüssigkeit drin, noch zu zwei Dritteln voll.
»Was ist das?«
»Das hilft bei epileptischen Anfällen.«
»Aha. Aber er ist doch schon Stunden vorbei. Das nächste Mal passe ich besser auf. Da gibt es kein Export mehr.«
»Nun mach schon. Ich will noch abführen und dann schlafen.«
Also nahm ich einen Zuckerwürfel aus der Box, legte ihn auf den Löffel und öffnete den Verschluss. Ich zählte zwanzig Tropfen und ein strenger Marzipanduft stieg in meine Nase. Ich hob den Löffel, um mich zu vergewissern, dass diese Flüssigkeit so roch.
»Nicht!«, rief Walter erregt.
Ich erschrak.
»Was ist das für ein Zeug?«
Ihm stiegen dicke Tränen in die Augen. Schwer und schnell rollten sie seine Schläfe hinab. Ich kräuselte die Stirn und starrte auf den Löffel, dann stand ich auf und schmiss ihn in der Küche in den Mülleimer. Mir lief es kalt den Rücken hinunter und gleich wieder hoch. Schwer atmend stützte ich mich am Waschbecken ab und hatte Bedarf nach kaltem Wasser in meinem Gesicht.
»Heinrich! Schmeiß das nicht weg! Hörst du!?«
Ich ignorierte ihn.
»Heinrich! Bitte!«
»Halt deine Fresse!«
Er begann zu schluchzen, zu wimmern, wie ein altes Klageweib.
»Heinrich …«
Ich schwieg, zündete mir eine Zigarette an, öffnete das Fenster, blickte auf die Lichter der Stadt. Beinahe, dachte ich. Beinahe …
Nach ein paar Zügen stieg eine immense Wut in mir auf. Ich schnippte die Kippe hinaus und ging zu Walter, der mit roten Augen und nass geheultem Kopfkissen wie ein Häufchen Elend in diesem enormen Bett lag. Seinen Zigarettenhalter hatte er auf den Boden gespuckt. Ich hob ihn auf und setzte mich.
»Was ist das für Zeug, Walter?«
»Hab ich schon lange. Hat mir ein Arzt gegeben. Er sagte: Zwanzig Tropfen genügen. Wenn Sie es nicht mehr aushalten …«
Ich nickte. Mit den Gedanken woanders, mitten zwischen all den möglichen Morgen, wenn es geklappt hätte.
»Ich will nicht mehr, Heinrich. Du kannst das tun. Du bist nicht so ein Weichei! Du weißt, um was es geht.«
Ich sah ihn erstaunt an.
»Um was geht es denn? Du krepierst, und ich komm in den Knast?«
»Du bist noch jung. Beihilfe zum Sterben. Du kannst sagen, dass du dachtest, es wäre Medizin. Du kommst noch nicht mal in den Knast. Bestimmt nicht …«
Ich explodierte, rastete aus. Stand auf, der Stuhl kippte um. Wie von Sinnen rammte ich meine Faust in seine Schranktür und schlug ein Loch hinein. Der Schmerz machte mich noch rasender.
»Und mein Gewissen!? Du Egoist! Dass mein Gewissen bis an mein Lebensende dann in seinem eigenen Knast steckt, daran denkst du nicht, was!?«
Ich hastete hinaus, ins Wohnzimmer, auf die große Terrasse mit dem gemauerten Grill. Von hier oben erschien mir die Welt so leicht, den Vögeln näher.
»Heinrich! Bitte!«
Wütend rannte ich wieder rein und schlug die Schlafzimmertür zu. Aber das nutzte nichts. Er rief nur umso lauter. Wieder hinaus in die Nacht. Eine Zigarette auf der Terrasse klärte meine Gedanken ein wenig. Noch bis morgen früh, dann eine ganze Woche frei. Ich hörte ihn rufen. Er gab einfach nicht auf. Mit dem Leben schon. Was sollte ich tun? Die Polizei rufen? Die würde nur gelangweilt wieder abziehen, den Notarzt holen, der dann eine Einweisung nach Hirsau ausstellte, wo sie ihn aber nicht aufnähmen, weil keiner für Querschnittsgelähmte ausgerüstet war. Also blieb am Ende nicht viel. Der Pfarrer? Ich verwarf den Gedanken gleich wieder. Walter schrie sich die Lunge aus dem Leib, und das sägte an meinen Nerven. Ich holte tief Luft. Also auf ein Neues.
Ich riss die Tür zum Schlafzimmer auf, stürmte hinein, an die Stirnseite seines Bettes und schlug einige Male auf das Gestänge.
»Ruhe jetzt! Sei verdammt noch mal ruhig! Es ist Mitternacht durch und die Nachbarn wollen schlafen! Wir hatten schon genug Ärger heute.«
Er zog den Rotz hoch, wackelte mit dem Kopf. Verfluchter Mist! Aus der Tempobox nahm ich ein Taschentuch und hielt es ihm unter die Nase. Er schnäuzte hinein. Immerhin war er still.
»Weißt du, wie viele Jahre ich schon liege?«
»Ich habe die Anamnese gelesen.«
»Und?«
»Was und?«
»Wolltest Du hier liegen? Jahr für Jahr? Fünfzehn Jahre sind es jetzt! Ich bin jetzt 65. Darf ich nicht sterben, wann ich es möchte?«
»Nicht bei mir.«
Sein Blick wurde zornig. Er schnappte nach Luft.
»Warum nicht? Bist du der Herrscher über mein Leben?«
»Ich bin dein Zivi. Für dich verantwortlich. Für dein Leben. Nicht für deinen Tod.«
»Aber ich kann nichts mehr selbst erledigen! Ich kann mich nicht selbst umbringen!«
»Und wir dürfen dich nicht umbringen! Wir leben zusammen hier dein Leben! Kapierst du das nicht? Wir geben uns Mühe und reißen uns den Arsch auf, damit es dir so gut geht wie möglich. Tag und Nacht lassen wir uns von dir beschimpfen, wegen zu großer Zwiebeln oder vollem Urinbeutel oder zu kaltem Wasser! Wir tun das, weil wir es gerne tun. Weil wir es wollen! Wir lachen mit dir und leiden mit dir! Wir haben nicht das Recht, dein Leben zu beenden!«
Ich ging wutentbrannt im Zimmer auf und ab, betrachtete das Loch in der Tür und meine zerschundene Hand.
»Bitte! Heinrich! Bitte, ich kann nicht mehr …«
Er begann wieder zu weinen. Der Rotz lief über seinen Mund, es blubberte, als er ausatmete.
»Verfluchte Scheiße!«
Ich stapfte in die Küche, holte zwei Esslöffel.
»Was hast du vor?«
Ich legte zwei Zuckerwürfel auf beide Löffel, tropfte je 30 Tropfen von dem Zeug drauf.
»Du willst doch sterben, oder?«
»Ja, aber …«
»Sei einfach ruhig.«
Ich stellte das Rückenteil an und setzte mich vor ihn. Dann nahm ich einen der Löffel.
»So. Mund auf. Gute Reise.«
Walter öffnete seinen Mund, die Rotze zog Fäden, in die andere Hand nahm ich den zweiten Löffel und führte ihn an meinen Mund, öffnete ihn. Mein Herzschlag begann mit dem Trommelwirbel, seinen Löffel schob ich vor, ein Drittel in seinen Mund, meinen ebenfalls. Einfach zuschnappen müssten er und ich. Ein klein wenig nach vorne beugen, die Lippen sanft um den Zucker schließen, mit Spucke auflösen, schlucken und warten. Auf die kalte Hand aus tiefer Dunkelheit. Walter starrte mit weit aufgerissenen Augen an die Wand, sein Kopf zitterte.
»Mhm … mhm«, kam es aus seinem Rachen.
Ich zog beide Löffel zurück.
»Was ist? Feige?«
»Ich will doch gar nicht sterben … ich will nicht sterben! Oh Gott …«
Vorsichtig drehte ich die Löffel weg, warf sie in den Eimer für den Spritzenabfall und schloss meine Augen. Alle Geräusche dieser Welt konnte ich in diesem Moment hören. Alle. Jedes Atmen eines jeden Menschen. Jede Angst riechen. Jede Hoffnung sterben sehen. Ich brach in Tränen aus und nahm Walters Hand, kühl wie sie war, legte sie auf meinen Schoss. Bald darauf war er eingeschlafen, und ich deckte ihn zu. Eine halbe Stunde danach schmiss ich alles samt roter Schachtel und Flasche in den blauen Sack, fuhr mit dem Fahrstuhl in den Keller und beförderte den Mist in den Container.

Kurz nach sechs hörte ich Volker zur Wohnungstür hereinkommen. Er fand uns im Schlafzimmer, zog die Jacke aus, setzte Kaffee auf und kam dann mit zwei dampfenden Bechern wieder ins Schlafzimmer. Ich gähnte.
»Danke, Volker. Biste wach?«
»Ich war schon laufen heute Morgen.«
»Bin ich froh dich zu sehen.«
»War es schlimm?«
»Alles in Ordnung. Das übliche Generve, weißte ja, kleine Zwiebeln und so Kram.«
Er grinste und ich trank den Kaffee leer.
»Handschuhe gehen aus, diese fette Wundsalbe ist auch fast leer. Außerdem brauchen wir wieder Windeln. Hab dir alles aufgeschrieben.«
»Okay. Danke.«
»Ich gehe jetzt.«
»Ist gut, Heinrich. Was machst du in der freien Woche?«
»Zwei Tage saufen. Dann mal sehen.«
Volker lachte hinter vorgehaltener Hand.
»Volker?«
»Ja?«
»Pass auf ihn auf.«
Er nickte.
»Natürlich. So wie immer.«

 

Hallöchen,

die Zeit, als es noch den Zivildienst gab ...

ISB
Individuelle Schwerbehinderten-Betreuung

Decubitus
Wundliegen von Körperstellen durch den beständigen Druck darauf. Gibt spezielle Matratzen, Betten und auch verändern der Körperposition wirken dem entgegen.

Die Haut
Je mehr Zeit vergeht seit der Lähmung, desto mehr leidet auch die Durchblutung der Haut. Kleine Stöße verursachen sofort Hämatome, salzige Tränen oder aggressive Waschsubstanzen greifen die Haut an.

Morphin

 
Zuletzt bearbeitet:

Verdammt, Heiko, nach „Patricia“ hast du mir mit dieser Geschichte schon wieder ordentlich eine reingewürgt, aber echt.
Das Leben schreibt die besten Geschichten, heißt es. Das stimmt nur insofern, dass es sich die Geschichten gerademal ausdenken kann. Schreiben aber kann sie nur derjenige, der sie auch in Worte zu fassen weiß. Und du, Heiko, beweist hier einmal mehr, dass du das einfach saugut kannst.
Geschichte aus dem selbsterlebten Alltag hin oder her, für mich ist das Literatur im besten Sinn. Da stimmt für mich einfach alles: deine Erzählsprache, die sich vollkommen zurücknimmt, und mich trotzdem wie an einem Nasenring durch den Text zieht, weil einfach jedes Wort, jede Formulierung stimmt, zwei Figuren in ihrer ganzen Tragik lebendig werden lassen, richtig lebendig. Und überhaupt ist da so viel Leben drin, echtes, wahres Leben, und so viele Gefühle. Jessas, diesen Heinrich muss man einfach mögen, wegen all seiner Empathie für den Alten, wegen seiner Hingabe an seinen Zivi-Job. Ich meine, der ist gerademal einundzwanzig, so gesehen zwar ein erwachsener Mann, aber es schnürt einem schier das Herz zusammen beim Gedanken daran, dass einer schon in diesem Alter sich mit solch abgrundtiefem Elend auseinandersetzen muss. Gänsehaut.
Mag sein, dass mich der Text auch deshalb so berühren konnte, weil momentan mein älterer Sohn gerade seinen Zivildienst in einem Altersheim leistet, ich dadurch also täglich konfrontiert bin mit genau diesem Gefühlsdurcheinander, das einen jungen Menschen, sofern er keinen Stein anstelle des Herzens in der Brust trägt, zu schaffen macht. Angesichts der Grausamkeit des Lebens, angesichts des Wunders des Lebens.

Wieder eine ganz starke Geschichte, Heiko.

offshore

 

Guten Morgen Ernst,

das freut mich sehr, wenn die Geschichte dich mitgenommen hat auf eine kleine Reise. Ich hab im Anhang ganz vergessen zu erzählen, was denn mit dem Walter dann so passiert ist.

Nach nem halben Jahr mit uns, hat er sich dann entschlossen, die Eigentumswohnung zu verkaufen, in eine Art "Betreutes Wohnen" zu ziehen, am Flussufer. Als alles vollzogen war, sahen wir ihn dann oft in der Stadt mit seinem E-Rolli, in Eiscafés, in der Fußgängerzone, im Kaufhof, Schuhe kaufen, alles alleine, immer den Zigarettenhalter im Mund. Er hielt und redete mit den Menschen, fuhr lachend über die Fußgängerüberwege, wir fuhren an ihm vorbei, hupten, grüßten ... der Walter (Name zwar anders, aber egal). Er hat gelacht. Das ist in meinem Kopf von ihm übrig. Er hat am Ende fast immer gelacht. Er war fröhlich.

Der Zivildienst hat uns Zwanzig tiefgreifend verändert. Geformt. Man ist nicht erwachsen in diesem Alter, aber da beginnt es.

Grüße

Morphin

 

Hallo Morphin,

eine Geschichte, die erzählerisch leichtfüssig daherkommt, obwohl sie doch auch als Drama konzipiert sein könnte.

Was mir sehr gefiel ist dieser Alltagsausschnitt, den du zur Handlung gewählt hast. Fast nebenbei erfährt der Leser, der sich in der Materie wahrscheinlich nicht so auskennt, was es nur schon bedeutet, einen Spaziergang für einen Schwerbehinderten vorzubereiten; dass Walter nicht mal ein richtiges Bier vergönnt ist; der Pfleger dauernd über den Urinbeutel nachdenken muss und ihn keine Sekunde aus den Augen lassen darf. Dann das Dilemma, wenn so ein Stuhl umkippt!
Was für Probleme, über die man normalerweise nicht nachdenkt, sondern nur im Fokus hat, dass der arme Mensch im Rolli sitzt und nicht mehr aufstehen kann und von anderen abhängig ist.

Auch den verbal ruppigen Umgang, den Walter wohl braucht, wird in den Dialogen gut aufgezeigt.

Ja, und dann das Essen. Hat Walter doch nur noch seinen Mund mit Zunge und Geschmacksknospen, mit denen er richtig hantieren, fühlen, spüren kann. Da ist es natürlich wichtig, dass er eine liebevolle Mahlzeit bekommt. Wer schon mal im Krankenhaus war, weiß, wie sich die scheinbar wichtigen Dinge im Leben auf Schmerzbekämpfung und die Mahlzeiten reduzieren.

Eigentlich bräuchte Walter auch jemanden, der ihn gerne küsst. Dann hätte er wirklich noch was Schönes im Leben.

So ein ganz klein bisschen an den Haaren herbeigezogen kamen mir dann diese Todestropfen vor. Wieso will er das gerade jetzt, nachdem er schon 15 Jahre im Rolli sitzt? Oder hat er es schon mit mehreren Pflegern versucht und jeder hat abgelehnt? Nun ja, es gibt der Geschichte noch etwas Dramatisches.

Mir fiel noch auf:


Er musterte mich mindestens eine halbe Minute stillschweigend. Die Rädchen in seinem Kopf ratterten.
»Einverstanden. Anziehen. Aber ordentlich.«
»Bei mir ist immer alles ordentlich.«
Walter grinste und bereitete alles vor.
Was kann denn Walter vorbereiten?


Mit dem nächsten Glockenton erreichten wir den zwölften Stock, und als die beiden Türhälften sich öffneten, bekam Walter einen epileptischen Anfall. Das, was in seinem Körper noch an Muskeln funktionierte, krampfte und zuckte willenlos. Angefangen bei seinen Armen und Händen.

Mit maximaler Beschleunigung rollte er aus dem Fahrstuhl, über meinen linken Fuß.

Bei dieser Szene war mir nicht klar, dass Walter durch den Anfall die Hände um den Joystick verkrampft hatte.
Erst als ich das:

Um Haaresbreite verfehlte ich den Hauptschalter des E-Rollis, weil Walters krampfender Arm den Joystick nach links drehte und infolge dessen in eine scharfe Linkskurve ging.

einige Sätze später gelesen habe, ist mir klar geworden, wieso das im Flur so chaotisch wurde. Ich würde dir vorschlagen, diese Info mit Krampf im Arm und Joystick gleich am Anfang der Fahrstuhlszene, wenn sie im 12. Stock sind, einzubauen.


Liebe Grüße
bernadette

 
Zuletzt bearbeitet:

Tagchen bernadette,

vielen Dank fürs Lesen, "ich" und Änderungen ein-/umgebaut.

Zum Saft im Fläschchen ... dieses Fläschchen stand einfach im Kühlschrank. Nachdem ich es weg geschmissen hatte, verloren wir nie wieder ein Wort über Herkunft oder vorherige Benutzung. Aber ... Walter war bis zur Übernahme durch uns Zivis im Pflegeheim gewesen, und hatte dort die Mannschaft wohl so weit terrorisiert, dass die Pflegeleitung einen Dienst wie uns suchte, um ihn daheim zu pflegen. So kam er nach Jahren im Pflegeheim raus und wir übernahmen diese "Mission Impossible".

einige von uns scheiterten auch an dieser Aufgabe, vor allem am ständigen Mäkeln und Motzen. Aber nach den Tropfen, man kann sagen im Jahre 0 N.d.T., änderte er sich rapide und wurde selbständig. Seine Lebensfreude kam zurück.

Für mich selbst, damals als Zivi, war das die Ultima ratio der Prüfungen. Und niemand muss mich fragen, was ich gemacht hätte, wäre er nicht eingeknickt.

Griasle
Morphin

 

»Heinrich?«, sagte Walter. »Was ist los? Wo bin ich?«
»In Walhalla. Ich hol mal eben die Mädels. Lauf nicht weg.«
»Ist gut.«​

Hallo Heinrich,

da bistu ja schon wieder zahlreich vertreten! Wahnsinn, diese Produktivität und das bei gleichbleibend hohem Niveau. Aufarbeitung eigener Vergangenheit, autobiografische Skizzen, wie hingeworfen. Nackter Realismus. Nach der Erzählung des Großvaters (Winterstarre/Kindheit, 60-er Jahre) und dem Harvest Moon, pardon, Erntemond (Notizen des unsichtbaren Heinrich aus Beobachtungen während der Ausbildung/Jugend) Schlag auf Schlag nun Anfang der 80-er Jahre der Zivildienst des Twens, weiß gar nicht mehr, wann die Volljährigkeit, volle Rechtsmündigkeit auf 18 herabgesetzt wurde – wag sogar noch, das Jahr zu benennen: 1981 f., (für die Jüngeren: der Zivildienst fiel wie das Einzugsdatum für die Wehrwilligen für die wenigsten auf den Januar-Termin). Wie komm ich darauf? X-mal

»Jawohl, Herr Kaleu.«
will’s mir verraten. Der wiederholte „Kaleu“ spricht dafür – wenn Du nicht Buchheims Klassiker Das Boot (veröffentlicht 1973, von mir verschlungen worden, wie nachher die Festung) gelesen hast, so ist doch Petersens kongeniale Verfilmung des Boots von 1981 latent vorhanden, was durch
homerisches Gelächter
eher noch verstärkt wird, wenn ich auch Petersens Troja-Verfilmung eher für einen typischen Hollywood-Schmarren halte. Ich wette, Du kennst die Ilias so gut wie die Odyssee, hast sie zumindest gelesen und einiges ist hängengeblieben und im Œuvre(wie könnte man das verflixte siebente Jahr besser beschreiben als mit einer/-m Calypso/ - den’s zu homerischen Zeiten ja gar nicht gab), obwohl ja durchs Bezirzen die mannigfachen Genossen ihr dem bürgerlichen Empfinden schweinischen Gehabe offenbarten, als wären alle Kerle gleich – außer ihrem Chef natürlich. Die Wette kann ich nur verlieren, wenn nur die Hälfte der Vermutungen zutreffen würde …

Wir begleiten auf diesen ca. zwölf Seiten Manuskript zwo Symbionten, einen Zivi (der junge Heinrich) und seinen 65-jährigen Pflegling, Walter, durch einen Dienst-Alltag (das ist die Zeit von Dienst-/Arbeitsbeginn bis Feierabend, fürs Jungvolk, und wenn’s am frühen Morgen wäre). Wobei der gelähmte und unselbständige, somit aufs äußerste unfreie Pflegling – um im Bild der Symbiose zu bleiben – den Einsiedlerkrebs abgäbe.

Zivis, Zivildienstleistende, um auch das dem jungen Publikum zu erklären, sind zwar Vorfahren, aber nur sehr entfernt mit dem heutigen Bufdi verwandt. In einer Zeit, da diese Seite der Medaille so sehr auf Freiwilligkeit beruhte wie deren Rückseite, die Armee der Wehrpflichtigen, wie immer sie auch geheißen wurde, es war eine Volksarmee – übrigens eine Erfindung der Französischen 89-er Revolution und somit der bürgerlichen Welt schlechthin (denn nichts anderes erzeugte die Wehrpflicht, durch die die Wehrmacht unseligen Angedenkens noch hindurchschimmert). Dieser Zivi, der den Wehrdienst verweigert hat – wozu immer schon mehr Mut gehörte, als einen mutmaßlichen Feind auf Befehl an was auch immer zu hindern, und sei's das Leben – schwenkt ggfs. die Pfanne und putzt bei Bedarf dem Behinderten den Arsch. Dieser Zivi in unserer Geschichte wäre demnach – um im Bild der Symbiose zu bleiben – die Seeanemone. Kein zartes Pflänzchen, wie der Name vorgaukelt, sondern ein streitbares Getier mit sich wiegenden Tentakelkränzen und mörderisch giftigen Nesselkapseln, die Feinde des genannten Krebses – wie etwa den Tod – abschrecken. Und genau das macht der junge Heinrich mit dem ihm anvertrauten Pflegling, indem er ihm die scheinbar größte Freiheit des selbstbestimmten Todes verweigert.

Darf ich nicht sterben, wann ich es möchte?
und somit nicht nur das Gesetz erfüllt, sondern auchs Gebot, dass jeder des andern Last trage und der Herr das Leben gegeben habe und auch wieder nehme. Denn dem jungen Menschen ist – bei allem Humor, der in der Geschichte aufscheint – es Ernst mit seinem Dienst am Menschen (sonst hätte er sicherlich nicht den Weg des Pisspottschwenkers übernommen).

’n paar Trivialitäten

Das Gegenteil schien ebenso möglich.
Ach Mann, sonst hat’s doch geklappt – selbst hier gelegentlich, nur zwo Beispiele
…, schien mir Walter schon wieder recht klar im Kopf zu sein.
Er schien nicht aufgeben zu wollen.
„Getzt muss ich Dich doch ne“ Geschichte“ von Anfang der 60-er erzählen, denn der Deutschlehrer auf der Realschule sagte uns immer, nur die Sonne scheine, alles andere habe sich nur das Licht geliehen. Und es stimmt ja! – So hat das Verb scheinen den Status des „brauchen“ erreicht und ruft nach dem Infinitiv. Der Grammatikduden umgeht übrigens dieses Problem, indem er statt der Grundform scheinen oft erscheinen wählt.

Eine winzige Flüchtigkeit mit einem abschließenden Gänsefüßchen, das entlaufen ist …

»Heinrich! Bitte!
Nur'n Aussagesatz?
»Was hast Du vor.«

Du besserst Dich in puncto Flüchtigkeit (mehr kann’s ja nicht sein) von Text zu Text. Und gegen Fluchtverhalten ist keiner, mich eingeschlossen, gefeit.

Gruß aus der pausierenden Sintflut (obwohl’s gestern fast ausschließlich genäselt hat und dem Wettergott momentan das Wasser wohl richtig ausgegangen ist)

Friedel

 

Hallo Friedrichard,

bin grad schon die Fehler am Ausbessern, bevor ich die Kürbissuppe mache. Ja, schien ... wo kommt das her? Umgangssprachlich sicher, aufgrund der vielen Dialekträume, die ich so durchwanderte.

Ja, der Zivildienst war kein Pappenstiel für uns junge Kerle. Die Pragmatiker flutschten noch ganz gut durch. Ich erinnere mich an einen Zivi-Kollegen, der nachträglich verweigerte und zuerst fünf Monate bei den Pionieren in der Westpfalz versauerte. Als die Mit-Pioniere dann erfuhren, wes Geistes Kind er plötzlich war, fiel sein Lebensstandard dort in der Kaserne ins Bodenlose. Ob er einen Vater dieser Pioniere pflegte bei uns? Der Mutter half, es zu ertragen? Gesoffen wurde sicher ebenso viel. Hm, na ja, manches Glas war dem Alter geschuldet, viele aber der Hilflosigkeit.

Der Walter war im Krieg auf einem U-Boot, aber das war mir für die Geschichte jetzt nicht wichtig. Die Wochen bis zu seiner Unabhängigkeit hat er dann viel erzählt, aber das ist eine andere ...

Danke fürs Lesen und Gedanken machen.

Gruß
Morphin

 

Hallo Morphin,

auch mir hat die Geschichte sehr gut gefallen. Alles was ich anzumerken habe, sind Peanuts, aber vielleicht kannst du das eine oder andere verwenden für das Finetuning:

Bilderbuchmäßig, der abrupte Einstieg und wie du dann einen Schleier nach dem anderen wegnimmst, bis man die Lage halbwegs überblickt. So wird man als Leser am Anfang gut weitergetrieben, bleibt neugierig. Es ist also nur von Vorteil, wenn man nicht genau weiß, was ISB ist. Vielleicht könnte man die Infos aus diesem Absatz sogar noch etwas zurücknehmen:

Seit drei Wochen war ich nun für diesen Dienst hier eingeteilt. Aber selbst schuld, schließlich hatte ich mich freiwillig gemeldet und wurde vom Fahrdienst abgezogen, weil dem ISB Leute fehlten. Dazu kam noch, dass ich Einführungslehrgänge für die Schwerbehindertenbetreuung absolviert hatte.

-----

und streute die Käseraspel über die Spätzle
Für mich das Gerät, mit dem man Käse reibt.

artgerecht
passt mir nicht. Vielleicht fachgerecht?


Er zog mir ab und ich marschierte wütend hinaus. Vor allem wütend auf mich selbst. Ich hätte es mir eigentlich denken können. Draußen am Tisch stand ich vor Walter, der in den Himmel starrte, weggetreten vom Export, und lächelte.

Zuerst kontrollierte ich den Urinbeutel. Keine Minute zu spät. Ich stellte das Ventil quer und zog ihn ab.


das zweite „zog“ vielleicht umschreiben.


Ich hielt mir kurz meinen Nasenrücken mit Daumen und Zeigefinger und schloss die Augen. Wie hieß noch die Sendung aus den Siebzigern? Unser Walter? Mit dem nächsten Glockenton erreichten wir den zwölften Stock, und als die beiden Türhälften sich öffneten, bekam Walter einen epileptischen Anfall. Das, was in seinem Körper noch an Muskeln funktionierte, krampfte und zuckte willenlos. Seine rechte Hand legte sich um den Joystick, und der durchstreckende Arm schob ihn nach vorne.

Oft erreicht man die gewünschte Wirkung, wenn man so eine Sensation ganz en passant fallen lässt. Hier bin ich mir nicht ganz sicher, ob das aufgeht. Vielleicht passiert mir als Leser auch plötzlich zu viel, und die Kurzgeschichte wird zur Erlebnisgeschichte, oder wie das heute in der Schule heißt. Das nimmt den Focus von dem aufgeladenen Psychospiel zwischen den beiden Protagonisten. Ich sehe allerdings, dass du den Anfall brauchst für das Medikament.
Es ist ein Problem, das ich selber dauernd habe bei vergleichbaren Szenen.

„Es war ihr wohl einfach zu viel.“

Das höre ich nicht. Es riecht auf eine ungute Art nach geschriebener Literatur. Fast immer muss man diesen „Wohls“ gnadenlos zu Leibe rücken, weil sie so schnell unnatürlich wirken. (Man stelle sich vor ein Kumpel sagt am Telefon: „Ich habe dir wohl noch nicht gesagt, was ich letztes Wochenende ...“)

»Bitte! Heinrich! Bitte, ich kann nicht mehr. Ich möchte sterben, bitte …«

Vielleicht könnte man statt sterben eine milieugerechte Umschreibung finden, die weniger pathetisch ist. Und auch zum Ausdruck bringt, dass er es sich selber (aber auch seinem Sterbehelfer) leichter machen will. Kann hier nur mit Wiener Ausdrucken dienen, hier gibt es eine ganze Menge, aber die sind nicht verpflanzbar.

Danke für die Geschichte

baronsamedi

 

Grüß di Gott baron,

auch Dir meinen Dank fürs Lesen. Habe mich um die "wohls" gekümmert und um einige andere Kleinigkeiten. Käseraspel ... so sagt man hier, aber ich hab einfach Käse draus gemacht.

Sind ja inzwischen einige Wiener hier, wir mir auffällt ...

Grüße
Morphin

 

Lieber @Morphin,

dass dieser Text sich an mein Herz geschlichen hat, habe ich Dir schon gestern bei der Lesung gesagt. Und auch, dass ich ihn wirklich gern mehrfach gelesen habe (zur Übung) - was wirklich nicht oft vorkommt, meist ist ja auch irgendwann gut. Aber ich mochte immer wieder und wieder und wieder. Die letzte Situation am Ende, wie es den einen und den anderen erging, wie der eine sterben möchte und der andere ihm diesen Wunsch nicht erfüllen kann/darf/will oder eben doch - das ist menschlich alles ganz großes Kino. Beide Figuren sind in ihren Motiven so stark und echt, ich verstehe den einen wie den anderen so gut und das macht dieses Dilemma so tragisch und traurig und ach ... eben sehr lesenswert. Eine Schande, dass er damals nur 4 Kommentare bekam. Noch ein guter Grund mehr für mich, auf diesen deiner vielen Texte für die Lesung zurückzugreifen. Ich fand, der Text sollte gehört/gelesen werden. Und wie ich gerade ein paar meiner Lieblingsstellen raussuchen wollte, sehr ich, Du hast den Text kürzlich noch einmal bearbeitet. Aber sie sind noch da :D.

und dachte an nichts, ließ einfach die wenigen Geräusche in meinen Kopf und entspannte mich zwischen ihnen.
Einfach nur schön!
»Heinrich?«, sagte Walter. »Was ist los? Wo bin ich?«
»In Walhalla. Ich hol mal eben die Mädels. Lauf nicht weg.«
»Ist gut.«
Ich mag die Art, wie die beiden miteinander umgehen. Auch das: Jawohl, Herr Kaleu - vom Walter - immer wieder schön.
Nach ein paar Zügen stieg eine immense Wut in mir auf. Ich schnippte die Kippe hinaus und ging zu Walter, der mit roten Augen und nass geheultem Kopfkissen wie ein Häufchen Elend in diesem enormen Bett lag.
Da steckt in einem einzigen Satz das ganze Drama.
Ich explodierte, rastete aus. Stand auf, der Stuhl kippte um. Wie von Sinnen rammte ich meine Faust in seine Schranktür und schlug ein Loch hinein. Der Schmerz machte mich noch rasender.
Diese emotionale Achterbahnfahrt zum Ende hin - das ist wirklich zum niederknien für mich.
Alle Geräusche dieser Welt konnte ich in diesem Moment hören. Alle. Jedes Atmen eines jeden Menschen. Jede Angst riechen. Jede Hoffnung sterben sehen.
:herz:

Danke für diesen Text! Ein Tag, der für den Rest des Lebends bleibt, Einer von denen, die einen Menschen verändern und dem Leben eine Richtung geben. Eine Situation, die einen 21Jährigen hart überfordern muss, wo man Dank der Jugend aber irgendwie durchkommt. Wahrscheinlich sogar besser, als man es mit 40 tun würde. Ich möchte an diesem Abend nicht in deiner Haut gesteckt haben. Ein Dilemma. Und danke an Walter, das er so reagiert hat, wie er reagiert hat, es hätte alles auch ganz anders ausgehen können.

Liebe Grüße, Fliege

 

Moin,

hab seinerzeit wohl die folgende Frage

... bin grad schon die Fehler am Ausbessern, bevor ich die Kürbissuppe mache. Ja, schien ... wo kommt das her? Umgangssprachlich sicher, aufgrund der vielen Dialekträume, die ich so durchwanderte.
übersehn, also lieber verspätet als nie eine Annäherung an das Problem des verbalen "scheinen"s mit Dank an @Fliege!

Das ahd. (8. Jh., die Zeitangabe des dwds [DWDS – Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache, zitiert heute gegen acht Uhr MESZ] kann nur grob sein, denn das erste schriftliche Zeugnis - und was anderes kann nicht als Grundlage genommen werden, wenn Hörbeispiele fehlen – liegt mit dem Vertrag von Verdun 843 (also 9. Jh.) unter den Enkeln des großen Karl vor,also

das ahd. skīnan, mhd. schīnen in der Bedeutung von

a) »strahlen, glänzen, leuchten, erscheinen, sichtbar werden, dem Schein nach (aber nicht in Wirklichkeit) sein«

und b) im übertragenen Sinne von

»aussehen als ob, zu Vermutungen Anlass geben« (Anpassung des A. durch mich) -
was bereits im gotischen skeinan (die Schwäger Chlodwig und der große Theoderich brauchten wahrscheinlich keinen Dolmetsch, wenn sie sich je begegnet wären) durchschimmert (erstes schriftliches Zeugnis die Bibelübersetzung Ulfilas, 4. Jh.)

»Scheinen bezeichnet anfangs vor allem das Leuchten der Himmelskörper, steht dann (bereits ahd.) für ‘zum Vorschein kommen, sichtbar werden’ (im Nhd. dafür erscheinen, ...) ...« eine Bedeutungsvielfalt bis hin zu Geldschein und Scheintod.

Überwiegend ist „scheinen“ inzwischen ein Modalverb, wenn etwas zu scheinen meint, äh, scheint, was es nicht tut, wie die rote Birne eines Ertappten ja auch nur zu leuchten scheint.

Die Dudenredaktion umgeht das Problem überwiegend, indem sie „scheinen“ durch das Präfix „er“ schlicht den Status des Vollverbs sichert.

Wenn noch Fragen sind - nur zu ...

Bis bald

Friedel

* Anpassung an die neuere dt. Rechtscheibung durch mich

 

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